Das Haus am Ende der Träume - Michael Siefener - E-Book

Das Haus am Ende der Träume E-Book

Michael Siefener

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Beschreibung

Der Tod Hans M. Frankens war nicht einmal wichtig genug für eine kurze Notiz im Regionalteil der Zeitung, obwohl die Begleitumstände mehr als merkwürdig waren. Franken wurde leblos in seiner Wohnung aufgefunden; sein Körper war stark geschrumpft, ausgetrocknet und steif und kalt wie ein Stück Gefriergut, wie eine Hülse, die schon seit langer Zeit leer war – doch seine Nachbarin hatte ausgesagt, ihm nur zwei Tage zuvor im Treppenhaus begegnet zu sein. Und sein Neffe, der die Leiche gefunden hatte, versicherte mir, etwas Schrecklicheres als Frankens Augen habe er nie gesehen. Sie seien völlig schwarz gewesen, und es habe etwas tief in ihnen gefunkelt, sodass es zunächst den Eindruck erweckt hatte, als würde er noch leben. Dieses Funkeln, das dem Neffen aufgefallen war, als er sich zu seinem am Boden liegenden Onkel heruntergebeugt und vergeblich nach dessen Puls getastet hatte, sei ihm »wie die Miniatur eines gewaltigen Universums«vorgekommen. Diese Sammlung enthält 23 Kurzgeschichten des Autors. Mit Illustrationen von Timo Kümmel. »Siefeners an klassischen Vorbildern geschulte unheimliche Geschichten gehören zum Besten, was die deutsche Phantastik bislang hervorgebracht hat.« (Joachim Körber) »Auf dem Gebiet der Weird Fiction ist Michael Siefener stilistisch wie inhaltlich einer der besten, wenn nicht der beste deutschsprachige Autor der Gegenwart.« (Carsten Kuhr)

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Inhalt

Statt eines Vorworts: Die Angst und der Autor

Im Schatten

Der Besuch

Die Kälte jenseits der Träume

Die Rückkehr

Die Versuchung

Das schwärzeste Buch

Das Haus am Ende der Träume

Die Angst und die Stadt

Willkommen

Hotel Kehrwieder

Liber Nominum Mortuorum

Wiedersehen mit Kingsport

Das neue Leben

Das Erbe

Der Anruf

Eine Bibliotheksphantasie

Hinter dem roten Fenster

Die Messe für das besondere Buch

Die Traumsuche nach dem unbekannten R’lyeh

Kult

MUTTER

Die Fabrik

Die Magie des Enchiridion Leonis Papae

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Weitere Atlantis-Titel

Michael Siefener

Das Haus am Ende der Träume

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Dezember 2022 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild, Innengestaltung und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-869-4 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-870-0 Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Statt eines Vorworts: Die Angst und der Autor

Vortrag, gehalten anlässlich der Feier zum fünfhundertfünfzigjährigen Bestehen der Universität zu Basel

»Die Angst und der Autor« – das ist mein Thema als Autor der Angst. Erlauben Sie mir zunächst, mich kurz vorzustellen, da weder ich noch meine Texte den meisten bekannt sein dürften. Seit etwa 1990 beschäftige ich mich eingehend mit dem Verfassen von phantastischer Literatur und habe seitdem einige Erzählungen und Romane veröffentlicht, deren gemeinsames Merkmal nicht nur das Hervorrufen von Angst beim Leser (im »günstigsten« Falle), sondern auch die Beschreibung von Ängsten im Allgemeinen ist.

Die Phantastik ist diejenige Literaturgattung, die in besonderem Maße mit der Angst – sowohl des Lesers als auch des Autors – befasst ist. Gestatten Sie mir zunächst eine kurze persönliche Definition (eine tiefer gehende Betrachtung über den schillernden Begriff der Phantastik gehört nicht hierher; sie füllt inzwischen Bände, und eine allgemein anerkannte, endgültige Definition ist noch immer nicht in Sicht). Ich empfinde die Phantastik als jene Literatur, die einen Riss in der – werkimmanenten – Welt beschreibt, die also Phänomene betrachtet, die im wissenschaftlichen und logischen Kontext des jeweiligen Werkes als unmöglich und den Naturgesetzen widerstreitend angesehen werden. Es handelt sich um die Beschreibung eines gegenwärtigen Unmöglichen, im Gegensatz zur Science-Fiction, die es vornehmlich mit einem zukünftigen Möglichen zu tun hat. Bestimmt lässt sich gegen diese Sichtweise einiges einwenden, doch ich möchte mir erlauben, sie gleichsam als »Privatdefinition« meinen folgenden Ausführungen voranzustellen.

»Angst ist ein menschliches Grundgefühl, welches sich in als bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert«, so definiert es Wikipedia, der Brockhaus des modernen Menschen. Und welche Situation wäre bedrohlicher als die, sich in der eigenen, zuvor noch so vertrauten Welt plötzlich nicht mehr auszukennen und sich Gefahren gegenüberzusehen, deren Beherrschung mangels einschlägiger Erfahrungen unmöglich ist? Dies ist das Gefühl des Ausgeliefertseins, des vollkommenen Kontrollverlustes. Viele Werke der phantastischen Literatur stellen die fest gefügte Wirklichkeit infrage und ziehen dem Leser, in dessen alltäglicher Welt sie scheinbar spielen, gleichsam den Boden unter den Füßen hinweg. Somit ist die Phantastik – trotz all ihrer trivialen Auswüchse – eigentlich eine zutiefst philosophische Literaturgattung, die immer wieder die Frage nach dem Bestand der Wirklichkeit stellt.

Die Phantastik bringt also – im Idealfall – den Leser »ins Schwimmen«; sie verängstigt ihn durch die Konfrontation mit dem Unmöglichen, das durch seine Unbeherrschbarkeit bedrohlich wirkt und im Leser die Frage hervorruft: »Was wäre, wenn mir dieses eigentlich unmögliche Ereignis doch zustoßen würde?«

Das ist die eine Seite der Angst – die Angst des Lesers. Doch wie steht es um die Angst des Autors? Ist es auch in diesem Falle so, dass nur dann ein literarisch befriedigendes Ergebnis erzielt werden kann, wenn der Autor über das schreibt, was er kennt? Anders ausgedrückt: Müssen die Autoren der Angst selbst verängstigt sein, um dieses Gefühl an andere weitergeben zu können?

Es gibt Beispiele, bei denen diese Frage durchaus bejaht werden kann, und auf diese möchte ich zunächst kurz eingehen, bevor ich mir erlaube, meine eigene Haltung zur Angst und deren Auswirkung auf meine Literatur zu beleuchten.

Howard Phillips Lovecraft (1890–1937), der wohl einflussreichste Autor phantastischer Literatur im 20. Jahrhundert, leitete seine noch immer sehr lesenswerte Abhandlung über die phantastische Literatur Supernatural Horror in Literature mit den folgenden Worten ein: »Das älteste und stärkste Gefühl der Menschheit ist die Angst, und die älteste und stärkste Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.« Die Angst – und zwar die Angst vor dem Unbekannten und Unbegreiflichen – ist das zentrale Thema von Lovecrafts Erzählungen.

Als Lovecraft zwei Jahre und acht Monate alt war, brach bei seinem Vater die Syphilis aus – mit allen erschreckenden Begleiterscheinungen dieser Krankheit, vor allem mit unerklärlich scheinenden Verhaltensweisen, welche die bisherige Vorstellung des kleinen Howard von der fest gefügten Wirklichkeit sicherlich gehörig durcheinandergewirbelt haben. Der geistige Zustand von Lovecrafts Mutter verschlechterte sich während der Zeit der Krankheit ihres Mannes beträchtlich, und nach dessen Tod klammerte sie sich verzweifelt an ihren Sohn und bemühte sich nach Kräften, ihn von allen Gefahren fernzuhalten, ihn gleichsam in Watte zu packen. Sie wurde zunehmend seltsam und musste im Jahre 1919 in ein Krankenhaus eingeliefert werden, wo sie zwei Jahre später starb – nicht aufgrund ihres geistigen Zustandes, sondern an einer misslungenen Gallenblasenoperation. Lovecrafts Angst vor allem, was ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte, ist aufgrund dieser Erfahrungen als Kind und Jugendlicher durchaus nachvollziehbar. Lovecraft ist berühmt für seinen Cthulhu-Mythos, in dem er ungeheuerliche, fremdartige, aus den Abgründen von Raum und Zeit kommende Monstren auftreten lässt, die jene Individuen bedrohen, welche sich ihnen – zumeist aus wissenschaftlicher Neugier – zu nähern wagen. Oft enden sie im Wahnsinn. Auch Lovecrafts Angst vor Angehörigen fremder, ihm unheimlich erscheinender Kulturen findet häufigen Ausdruck in seinen Werken; sie werden – genau wie sein monströses Pantheon – als unverständlich und damit bedrohlich erfahren und dargestellt.

Ein anderer Autor, der als Kind äußerst seltsamen Erfahrungen ausgesetzt war, ist Robert Fordyce Aickman (1914–1981). Aickman ist berühmt für seine beklemmenden, verrätselten Geschichten voller unerklärlicher Ereignisse, die den Leser ratlos und zweifelnd an jeglicher objektiven Wahrnehmung zurücklassen. In seiner Autobiografie The Attempted Rescue schreibt Aickman, sein Vater – der mit der Familie im selben Haus wohnte, aber praktisch ein eigenes, abgetrenntes Leben führte – habe die beängstigende Angewohnheit besessen, schreckliche gurgelnde Laute auszustoßen, die einem rhythmischen Schema folgten und sich beständig steigerten, wenn er gewisse Gegenstände vermisste, die er in jenem Augenblick als wichtig ansah. Diese Laute, die den kleinen Robert entsetzlich verängstigt haben müssen, hörten nie von selbst auf, sondern steigerten sich stets zu ungeheuren Schreien, die immer nur durch die schließliche Intervention der Mutter beendet wurden. Solches geschah beinahe täglich. Und das war keineswegs das einzige seltsame Verhalten von Robert Aickmans Vater, das in dem Jungen große Angst auslöste.

Auch einer der bedeutendsten zeitgenössischen Vertreter der phantastischen Literatur, Ramsey Campbell (geb. 1946), hat in einem Interview angegeben, dass seine Eltern wie Fremde im selben Haus zusammenlebten. Eine Weile war er selbst das Sprachrohr für die beiden, bis dann sein Vater im Haus verschwand und Campbell ihn etwa zwanzig Jahre lang nicht mehr zu Gesicht bekam, obwohl er eine spürbare Präsenz in dem Gebäude blieb. Seine Mutter wurde schizophren, und für ihn selbst blieben nur Einsamkeit und Angst. Da ist es wahrlich kein Wunder, dass er sich zum modernen Meister der literarischen Angst entwickelte, in dessen Erzählungen und Romanen sich die Wahrnehmung der Protagonisten verschiebt, bis diesen angesichts einer unverständlich gewordenen Welt nichts mehr bleibt als ihre eigene Angst.

Von diesem »Höhen« der Phantastik erlaube ich mir nun in die Niederungen meiner eigenen Erzählungen und Romane abzusteigen, in denen die Angst ebenfalls eine große Rolle spielt. Als Beispiel möchte ich zunächst meinen Roman Albert Duncel. Ein biografischer Versuch anführen, der anhand des erfundenen Autors Albert Duncel mit den Mitteln der Biografie die Entwicklung eines dem Untergang geweihten Künstlers untersucht.

Der fiktive Autor schreibt in seiner ebenfalls fiktiven, Fragment gebliebenen Autobiografie: »Mein erstes Wort war nicht Mama oder Papa, es war Angst. Dies war das Wort, das ich am häufigsten gehört hatte. Angst vor einem neuen Krieg. Angst vor einer Rezession, Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut. Angst davor, dass ich zurückgeblieben und ein Klotz am Bein sein könnte. Natürlich verstand ich all diese Gründe der Angst damals nicht, aber es genügte, um mein erstes Wort, um mein erstes Verständnis von der Welt zu prägen: Angst.« Teils handelt es sich hier um Befürchtungen, teils auch um diffuse, wenngleich mit einem konkreten Begriff belegte Ängste wie der Angst vor Armut oder einem neuen Krieg. Bei Albert Duncel verselbständigt sich die Angst, wird zum irrationalen Grundgefühl seines Lebens, gegen das er bis zum Ende anschreibt.

In seinen Romanen lässt er Personen auftreten, die von Angst und Unsicherheit getrieben und die zu Mördern werden – genau wie er selbst, als ihm sein Leben vollends entgleitet.

Der Autor sagt über sich selbst: »… Ich will mich nicht über die Welt erheben, ich stehe nicht über ihr, aber meilenweit neben ihr. Und das ist eine beständige Quelle meiner Angst.« Es ist die vollkommene Orientierungslosigkeit, die vollständige Haltlosigkeit und der absolute Verlust aller Kontrollmöglichkeiten, die ihn in einer ihm unentwirrbar verrätselten Welt untergehen lassen.

In einem anderen meiner Romane löst sich die Welt des Protagonisten so sehr auf, dass er irgendwann Fiktion nicht mehr von Wirklichkeit unterscheiden kann, was für ihn zu Gefühlen der Angst und des Schreckens führt. In Die Magische Bibliothek wird Albert Moll, ein unglücklicher Rechtsanwalt und leidenschaftlicher Leser von unheimlicher Literatur, von seiner Kanzlei auf eine Burg in der Eifel geschickt, wo er das Testament eines Grafen aufnehmen soll, der ein wichtiger Mandant seiner Kanzlei ist. Natürlich fühlt sich Moll sogleich in einen seiner geliebten phantastischen Romane versetzt – hier konkret in Dracula von Bram Stoker –, und während seines Aufenthalts in dem kleinen Ort, über dem die Burg thront, sowie später in der Burg selbst gerät er immer öfter in Situationen, die ihn an konkrete literarische Vorbilder erinnern. Während er dieses Gefühl des langsamen Realitätsverlustes zunächst noch genießt, übernimmt jedoch bald die Welt der Fiktion, des Unwirklichen, des Grauenvollen die Oberhand und zerrt ihn in einen Strudel ungeheuerlicher Ereignisse, die schließlich sein Leben zerstören.

In meiner Novelle Nonnen ist es ein Amateurschriftsteller, dem die sogenannte Wirklichkeit übel mitspielt. Benno Durst, ein unbedeutender Angestellter in einem Versicherungsunternehmen, träumt sich mithilfe seiner phantastischen Geschichten in eine andere Welt. Auf dem Kölner Friedhof Melaten entdeckt er das Grab von einigen Nonnen, die alle am selben Tag gestorben sind, und darüber erfindet er eine Erzählung, während er gleichzeitig versucht, etwas über die Nonnen in Erfahrung zu bringen. Je tiefer er in deren Geheimnisse eindringt, desto stärker verwirren sich – wieder einmal – Wirklichkeit und Fiktion, bis Benno Durst von den Gespenstern, die er durch seine Erzählung heraufbeschworen hat, in das Reich der Finsternis gezogen wird.

Diese drei Beispiele mögen genügen, um meine eigene, spezifische Ausprägung der Angst zu verdeutlichen. In meinen Texten geht es sehr oft darum, dass die Protagonisten in eine Situation geraten, in der sie Wahn oder Einbildung nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden können. Sie erleiden also einen vollkommenen Kontrollverlust. Sie geraten auf unbekanntes, bedrohliches Terrain, in dem ihnen ihre Erfahrungen des Alltags nicht mehr helfen.

Meine Annäherung an dieses Thema geschah nicht durch die Lektüre entsprechender psychologischer Literatur; ich habe mich ihm also nicht von außen genähert, sondern von innen. Wie Albert Duncel kann auch ich behaupten, dass Angst eine meiner frühesten Empfindungen war.

Diese Aussage führt mich zu der schwierig darzustellenden Frage, wie meine eigenen Erfahrungen meine Literatur beeinflusst haben mögen. Darüber habe ich noch nie öffentlich gesprochen, und ich bin mir deutlich bewusst, dass dies eine Gratwanderung ist. Wie aber soll ich erklären, auf welchen Wegen ich – zunächst als Leser, später als Autor – zur Literatur der Angst gekommen bin, ohne meine persönliche Affinität zu ihr offenzulegen? Dazu muss ich Sie kurz in meine eigene Kindheit entführen.

Ich lebte zusammen mit meinen Eltern und meinen Großeltern mütterlicherseits in einer etwa achtzig Quadratmeter großen Wohnung in Köln und hatte kein eigenes Zimmer, was damals (zu Beginn der Sechzigerjahre) durchaus nicht unüblich war. Um das Jahr 1964 ließ mein Großvater Anzeichen einer zerebralen Erkrankung erkennen – ob es sich um Demenz oder Alzheimer handelte, kann heute nicht mehr entschieden werden; damals wurden diese Krankheitsbilder oft unter den Sammelbegriffen »Verkalkung« oder »Durchblutungsstörungen im Gehirn« abgehandelt. Somit änderte sich das Verhalten meines Großvaters erheblich. Es war ein schleichender Prozess, der bis zu seinem Tod im Jahre 1969 andauern sollte und dazu führte, dass mein Großvater aggressiv, unberechenbar und – fremd wurde. Ich selbst habe an diese Zeit nicht mehr die geringsten Erinnerungen und bin auf die Schilderungen meiner noch lebenden Mutter angewiesen. Offensichtlich hat meine Psyche diese Jahre völlig ausgeblendet, was darauf schließen lässt, dass Dinge vorgefallen sind, die mich zum Mindesten tief erschüttert haben. Ob es zu körperlichen Übergriffen und Handgreiflichkeiten gekommen ist, weiß ich nicht; meine Mutter bestreitet dies, und es gibt für mich keinen Anlass, ihr nicht zu glauben. Jedoch werden die – für mich als Kind von drei oder vier Jahren – völlig unverständlichen Handlungen meines Großvaters ausgereicht haben, um meine Vorstellung von der Wirklichkeit – und gleichzeitig von ihrer Relativität – entscheidend zu prägen. Ich wurde angehalten, still zu sein, meinem Großvater aus dem Weg zu gehen und ihn nicht zu erzürnen; so hat es mir meine Mutter beschrieben. Es ist allerdings sehr schwer, jemanden nicht zu erzürnen, wenn es für diesen Zorn keinen rational nachvollziehbaren Grund gibt und man daher nicht wissen kann, welche Handlung – oder Nicht-Handlung – geeignet ist, Zorn zu erregen. Ich konnte – zumindest meinem Großvater gegenüber – die Reaktionen auf meine Taten nicht abschätzen. Das ist es wohl, was die Psychologen mit Kontrollverlust bezeichnen. Da ich – wie schon gesagt – keine Erinnerungen an diese Zeit habe, bin ich auch im Hinblick auf meine eigenen Reaktionen auf Konjekturen und Zweithandberichte angewiesen, doch bereits die Tatsache, dass Jahre meines Lebens als Kind unter einem schwarzen Schleier verborgen liegen, deutet darauf hin, dass diese Zeit für mich sehr angstbesetzt gewesen sein muss. Ich vermute, dass ich das tägliche Leben – die »Realität« – als eine Abfolge von unbegreifbaren und entsetzlichen Ereignissen angesehen habe, die in mir die grundlegende Angst hervorgerufen haben, jederzeit das Falsche tun oder sagen zu können. Ich vermute, dass ich damals gelernt habe, die Welt nicht als fest gefügt und der Kausalität unterworfen anzusehen, sondern als chaotisches Konglomerat, das die eigene Existenz jederzeit ohne Vorwarnung und ohne einen erkennbaren Grund zu bedrohen imstande ist.

Nach dem Tod meines Großvaters – damals war ich acht Jahre alt – änderte sich die häusliche Situation natürlich radikal. Ein halbes Jahr später starb auch meine Großmutter; die langen Jahre der Krankheit ihres Mannes hatten sie physisch und psychisch gebrochen. Und ich erhielt ein eigenes Zimmer und eine eigene Sphäre. Kurz darauf entdeckte ich die phantastische Literatur und spürte sogleich die große Affinität zu meinen eigenen Empfindungen. Vor allem hatten es mir jene Erzählungen angetan, die von dunklen, unerklärlichen Dingen und unbegreiflichen Schrecken handelten; weniger interessant fand ich das Skurrile und Groteske, und das ist bis heute so geblieben.

Je tiefer ich als Leser in die dunkle Phantastik eindrang, desto mehr faszinierte sie mich, aber desto deutlicher spürte ich auch, dass kein Werk meinen eigenen irrationalen Fantasien vollkommen entsprach. So entschloss ich mich irgendwann, diese eigenen Fantasien zu Papier zu bringen. Zu Beginn waren es – traurig unbeholfene – Geschichten über den Verlust der Wirklichkeit und die daraus resultierende Angst – es waren vermutlich eher exorzistische als literarische Versuche. Ich hoffe, dass ich die Methoden des literarischen Ausdrucks in der Zwischenzeit ein wenig verfeinern konnte, aber grundsätzlich bin ich dem Thema des Wirklichkeitsverlustes und der daraus resultierenden Angst treu geblieben. Dabei habe ich zu keiner Zeit die Lektüre wissenschaftlicher Bücher – seien es Werke über Psychologie oder Neurologie – zur Erfassung oder Verdeutlichung meiner literarischen Versuche eingesetzt, das heißt, ich schöpfe nur aus meinem Inneren, nicht aber aus dem Äußeren, also dem wissenschaftlichen Diskurs. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben meine frühkindlichen Erlebnisse zu meiner Vorliebe für die Literatur des Irrationalen geführt, um dessen adäquaten Ausdruck ich mich seitdem bemühe, und ich gehe davon aus, dass ich diese Bemühungen noch so lange fortsetzen werde, wie ich den Griffel halten oder eher die Finger über die Tastatur bewegen kann – immer in der Hoffnung, den Widerhall meiner eigenen Ängste einzufangen und zu bannen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Im Schatten

Der alte Mann hielt die Brillengläser dicht über das braune Papier. Kaum mehr konnte er die Buchstaben erkennen und noch weniger den Sinn der Worte greifen. Er seufzte, legte die geschliffenen Gläser auf den Folianten und erhob sich mühsam. Mit steifen Schritten schlich er in der niedrigen, mit Büchern vollgestopften Studierstube umher. So viel angehäuftes Wissen, dachte er müde, gesammelt in beinahe sechzig Jahren. Und was hat es mir genützt? Habe ich es gefunden? Habe ich ihn gefunden?

Er hatte die Werke der großen Naturwissenschaftler studiert, sich mit Albertus Magnus, mit dem Aquinaten, mit Augustinus beschäftigt, hatte die dunklen Traktate der Alchimisten gelesen und sogar den Malleus maleficarum zurate gezogen, aber alles war umsonst gewesen. Mit neu erwachtem Eifer hatte er sich auf die jüngsten Werke Reuchlins gestürzt, besonders auf das De verbo mirifico, das er bereits kurz nach dessen Erscheinen in der Hand gehalten hatte, doch auch hier wurde er enttäuscht. Das ganze Wissen der Welt hatte ihn nicht einen einzigen Schritt weitergebracht.

Er hatte Gott nicht gefunden.

»Theophilus!«, rief er mit brüchiger Stimme. Ein junger Mann in einem zerschlissenen Wams betrat die stickige Studierstube. »Ihr habt gerufen, Meister?«, sagte er. Auch seine Stimme klang müde.

»Ich habe entschieden, dass mein Lebenswerk gescheitert ist«, sagte der alte Mann. »Mach Feuer im Kamin.«

»Es ist doch Sommer«, entgegnete Theophilus.

»Tu, was ich sage.«

Ohne ein weiteres Wort schichtete Theophilus im kleinen Kamin gegenüber dem Fenster Holz auf, entzündete dann einen Fidibus und brachte das Feuer vermittelst eines kleinen Blasebalges in Gang. »Hier herrscht eine Hitze wie in der Hölle«, beschwerte sich Theophilus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Und nun hilf mir, die Bücher zu verbrennen.«

Theophilus riss ungläubig die Augen auf. Mit zitternden Händen nahm der alte Gelehrte bereits die ersten Bände von den Regalen und schleuderte sie voller Abscheu in die züngelnden Flammen. Einige Bücher fielen neben den Kamin. Theophilus hob sie auf und legte sie beinahe behutsam ins Feuer. Bald loderten sie hell. Und sie stanken.

Nach vielen Stunden war die Arbeit vollbracht. Theophilus hatte das Fenster geöffnet, damit der beißende Rauch abziehen konnte, und die Studierstube verlassen, als die Regale leer waren. Nun war nur noch jenes Buch übrig, das der alte Gelehrte zu entziffern versucht hatte, als die Verzweiflung über ihn gekommen war. Er schleppte sich zum Tisch, schlug das Buch zu, sah kaum den Staub, der von ihm hochwirbelte, und trug es hinüber zum Kamin. Er hatte es gerade den Flammen übergeben, als plötzlich jemand an der Tür seiner Kammer klopfte.

»Komm herein, Theophilus«, rief der Gelehrte.

Aber niemand trat ein.

Der alte Mann mühte sich zur Tür und zog sie auf. Niemand stand vor ihr. Während er sie wieder schloss, spürte er einen Lufthauch an sich vorüberziehen. Er drehte sich um – und gefror in seiner Bewegung.

Mitten im Zimmer stand ein Mann. Der Gelehrte kniff die Augen zusammen. Oder war das nur der wirbelnde Rauch, den das letzte Buch von sich gab? »Euer Lehrling Theophilus sagte mir, Ihr braucht Hilfe«, meinte die Gestalt mit fester, jugendlicher Stimme.

Der Gelehrte machte einen Schritt auf ihn zu. Es war kein Rauch, keine Phantasmagorie, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Der Gelehrte musste ihn übersehen haben, als er ins Zimmer getreten war. Entsetzt begriff er, dass er bald vollständig erblinden würde. »Ich brauche keine Hilfe«, sagte er mürrisch. »Wer seid Ihr?«

»Euer Gehilfe hat mir erklärt, was Ihr sucht. Ich kann Euch das verschaffen, wonach Ihr Euch Euer ganzes Leben lang gesehnt habt«, sagte der junge Mann. Der Gelehrte näherte sich ihm noch mehr und ahnte nun, wie schön dieser Fremde war. Sein Lächeln hatte etwas Beruhigendes, Strahlendes. Er zog einen kleinen Gegenstand unter seinem altmodischen Umhang hervor und reichte ihn dem Gelehrten.

Es war ein Taschenspiegel, so wie ihn putzsüchtige Frauen benutzten. Er war geschliffen, steckte in einem schlichten Goldrahmen und hatte einen kleinen, schlanken Griff. »Seht nur immer hinein«, sagte der schöne junge Mann. »Dann werdet Ihr erkennen.«

Der Gelehrte fühlte sich benommen. Bevor er wusste, was er tat, hatte er den Spiegel ergriffen und fragte: »Was muss ich dafür bezahlen?«

»Die Gegenleistung ist leicht: Ihr sollt Euch nur aufrichtig an dem erfreuen, was Ihr darin seht«, gab der junge Mann zurück. Er ging zur Tür, riss sie mit großem Schwung auf und verließ die Studierstube.

In der Nacht hatte der alte Gelehrte einen Traum. Er hatte den Spiegel aufgenommen und hineingeblickt, aber nichts darin gesehen. Eine innere Stimme sagte ihm, er müsse genauer hinschauen. Und tatsächlich regten sich in dem Spiegel nun graue Schemen.

Am Morgen erhob sich der Gelehrte verwirrt von seinem Lager, stolperte in die Studierstube und nahm den Spiegel vom Tisch auf. Er sah das, was er zu sehen erwartet hatte. Es waren Umrisse, wahrscheinlich seine eigenen, doch er konnte sie kaum erkennen. Auch als er seine Brille aufsetzte, wurde es nicht viel besser. Doch immer wieder warf er einen Blick in den Spiegel, wenn er an seinem leeren Tisch saß. Und allmählich sah er sich deutlicher.

Nach einigen Tagen brauchte er nicht einmal mehr seine Brille.

Später hatte er einen weiteren Traum. Er betrachtete gerade wieder sein deutliches, fest umrissenes Spiegelbild, als plötzlich daraus ein Leuchten hervorging. Es war ein warmes Glimmern wie von einem ruhig und stetig brennenden Feuer und es verursachte dem Gelehrten ein Gefühl größer Freude.

In den folgenden Tagen veränderte sich der Gelehrte. Er sah das Leuchten nun auch im wachen Zustand; er erkannte, wie sein Antlitz sich ein wenig verjüngte und freudiger, friedlicher und glücklicher wurde. Es leuchtete geradezu vor Fröhlichkeit. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren sah er überdeutlich all den Staub und Unrat in seiner Stube. Er befahl Theophilus zu sich und gemeinsam säuberten sie die Kammer. Theophilus machte keine Bemerkung über die Veränderung, die mit seinem Meister vorging, doch das Verhalten und die glückliche Miene des Gehilfen sprachen für sich.

Der Gelehrte hatte gar nicht bemerkt, dass es schon Frühling geworden war. Eines Morgens öffnete er das Fenster und sah den Apfelbaum davor, der in voller Blüte stand. Eine Amsel sang in ihm ihr Morgenlied.

Und so war es nun jeden Morgen.

Dann hatte er einen neuen Traum. In ihm begriff er, von wem dieses Leuchten ausging, das sein Spiegelbild noch immer durchglühte. Er begriff, dass er schließlich doch an das glückliche Ende seiner Suche gekommen war. Als er dies erkannt hatte, öffnete sich im Traum die Tür seiner Studierstube und der schöne junge Mann trat ein. »Es freut mich, dass Ihr am Ziel Eurer Wünsche angelangt seid«, sagte er. »Nur wenigen Menschen ist das vergönnt. Aber Ihr habt es Euch verdient, weil Ihr Euer ganzes Leben lang danach gesucht habt. Das hier braucht Ihr nun nicht mehr.« Er nahm den Spiegel an sich und steckte ihn unter seinen Umhang. Beim nächsten Lidschlag war der junge schöne Mann verschwunden. Nur noch ein zarter Lufthauch, in dem der Duft von Apfelblüten lag, zeugte davon, dass er da gewesen war.

Es verwunderte den Gelehrten nicht, als er am nächsten Morgen den Spiegel nicht mehr fand. Er brauchte ihn nicht mehr. Er setzte sich an das geöffnete Fenster, betrachtete den Baum und hörte der Amsel zu. All das stand in Beziehung zu ihm selbst und zu dem, der alles geschaffen hatte. Und es war sehr gut.

Und lange Zeit war es sehr gut. Doch es kam der Tag, da der Apfelbaum verblüht war und die Amsel nicht mehr sang. Nun hatte der Baum saftige Blätter, und Nachtigallen und Finken sangen, und noch später trieb der Baum rote Äpfel aus, aber der Gelehrte hatte keinen Blick mehr dafür übrig. Noch immer sah und spürte er das Abbild des Schöpfers in aller Schöpfung und vor allem in sich selbst. Aber das genügte ihm nicht mehr. Es wurde ihm langweilig, immer nur den Schatten und niemals den zu sehen, welcher den Schatten warf. Er öffnete das Fenster nicht mehr und starrte nur noch die leeren Regale an. Auch sein Gehilfe konnte ihn nicht aufmuntern; er wurde schließlich so mürrisch wie sein Meister.

»Ich will das Geheimnis in mir selber sehen! Nur zu ahnen und nicht zu wissen, ist das Schrecklichste, was es gibt!«, rief der Gelehrte eines Tages, als der Herbst bereits die Blätter färbte. Da kehrte der junge schöne Mann zurück. Er klopfte nicht an, er trat nicht ein, er war einfach da. Der Gelehrte wusste nicht, ob er wachte oder träumte. »Wer bist du in Wirklichkeit?«, wollte der Gelehrte von dem jungen Mann wissen. »Bist du ein Engel oder ein Dämon? Bringst du Glück oder Unglück?«

»Ich bin das, was du willst, und ich bringe das, was du begehrst«, antwortete er. »Was spielt es da für eine Rolle, wie du mich nennst?«

»Wenn du mir wirklich das bringst, was ich begehre, dann verlange ich von dir, dass du mir Schöpferkraft verleihst.«

»Du hast sie«, antwortete der Mann. »Du hast sie schon immer besessen.«

»Bin ich Gott?«

»Du bist wie Gott.«

»Dann will ich, dass aus diesem Tisch ein Krokodil wird.«

Der Tisch war verschwunden, und das Krokodil schnappte mit grausigen Zähnen nach dem Gelehrten. Er sah, dass es nicht gut war, was er da getan hatte. Sofort wünschte er, dass sich das Krokodil in einen Schmetterling verwandelte. Und so geschah es.

Der Schmetterling strebte dem Licht zu, das durch das geschlossene Fenster hereinfiel. Er stieß gegen die Scheiben und versuchte verzweifelt, aus dem Zimmer zu entkommen. Es erbarmte den Gelehrten und er wünschte sich das Fenster offen.

Und es stand offen.

Der Schmetterling flog hinaus. Doch der kalte Herbsttag zerdrückte ihm die Flügel. Er stürzte ab und war nicht mehr zu sehen. Frostig wehte es von draußen herein.

»Ich sehe, dass du mich nicht belogen hast«, sagte der Gelehrte stolz. »Ich halte die Welt in meinen Händen.«

»Du sagst es«, meinte der junge Mann.

»Dann will ich, dass außer mir selbst die gesamte Schöpfung verschwindet«, rief der Gelehrte und hob majestätisch die Hände.

Der junge Mann war fort. Die Studierstube war fort. Die Welt vor dem Fenster war fort. Es gab nichts mehr außer ihm selbst. Und der Gelehrte sagte zu sich selbst: »Nun will ich dich sehen, Gott. Ich will, dass du der Spiegel für meine eigene Göttlichkeit bist.«

* * *

Am Morgen fand Theophilus seinen Meister auf dem Boden der Studierstube liegend. Als er den toten Körper umdrehte und in das Gesicht blickte, wurde Theophilus’ Haar weiß. Von jenem Tag an brachte er bis zu seinem frühen Tod kein vernünftiges Wort mehr heraus.

Der Besuch

Nun war es schon drei Monate her. Während dieser Zeit lag er hier, in diesem Bett, in diesem Zimmer mit seinen kleinen, hohen Fenstern, die zwar wenig Licht, aber dafür die ganze Augusthitze hereinließen. Er wartete.

Wie jeden Tag.

Ihm gegenüber hing an der Wand eine Farblithografie, die eine uralte Stadt irgendwo in Nordafrika oder Palästina darstellte; zumindest schien es ihm so. Zu Beginn hatte er das Bild deutlich erkennen können, doch jetzt war es verschwommen wie eine Doppelbelichtung – als liege etwas anderes hinter der Stadt mit ihren hohen Mauern und vielen Türmen.

Und manchmal schienen die Geräusche, die er hörte, geradewegs aus diesem Bild zu kommen. Natürlich wusste er, dass es nicht so war. Die Seh- und Hörstörungen kamen von der Metastase im Gehirn; das hatte ihm der Oberarzt eingehend erklärt. Der Leberkrebs hatte rasch gestreut, und neben zwei Tumoren in der Lunge hatte sich eben auch einer – ein erschreckend großer, wie auf der Computertomografie deutlich zu sehen gewesen war – im Gehirn festgesetzt, und zwar in der Nähe jener Region, die für die Bewegungen der rechten Seite zuständig war. Das hatte zur Folge, dass er seit etwa zwei Monaten, nach einem schrecklichen, vier Stunden dauernden Krampfanfall, halbseitig gelähmt war. Und allmählich hatte auch die linke Körperhälfte Schwierigkeiten gemacht. Niemand wusste, warum, aber inzwischen war sein linker Arm ebenfalls gelähmt, und er konnte nicht mehr aus eigener Kraft im Bett hochrutschen, wenn er wieder nach unten in die Kuhle gesackt war. Er kam nicht einmal an die Klingel heran, um eine Schwester zu rufen.

Aber seine Gedanken funktionierten noch. Er seufzte. Wenn er wenigstens nicht allein in diesem großen Zimmer unmittelbar unter dem Dach läge! Andererseits wäre es ihm sehr peinlich gewesen, sich mit jemandem unterhalten zu müssen, denn seit dem Krampfanfall kämpfte er mit erheblichen Sprachstörungen.

Warum kämpfte er überhaupt noch? Die Ärzte und Schwestern versuchten jedes Mal, wenn sie sein Zimmer betraten, ihn etwas aufzumuntern, doch ihm entgingen ihre mitleidigen Blicke nicht. Es war hoffnungslos. Aber er wollte nicht sterben. Noch nicht. Nicht jetzt. Nicht mit einundvierzig Jahren. Das halbe Leben wartete auf ihn.

Schwester Margret kam herein, begrüßte ihn freundlich und brachte das Frühstück mit: ein Brötchen, Margarine, Marmelade und Kaffee. Wie jeden Morgen, wie bei jeder Mahlzeit musste er gefüttert werden. Es war so erniedrigend, auch wenn die Schwestern ausnahmslos sehr geduldig und zuvorkommend waren.

Nach dem Frühstück erhielt er wieder seine Infusion. Er wusste nicht, woraus sich die klare Flüssigkeit an dem Ständer links neben ihm zusammensetzte, aber er vermutete, dass sich darin ein nicht geringer Anteil von Beruhigungsmitteln und vermutlich auch Morphium befanden. Man hatte ihn aufgegeben; das war ihm klar. Als die Schwester das Zimmer verlassen hatte und er wieder allein war, weinte er.

Allein. Das ganze Leben allein. Immer allein. Allein in der Kindheit, in der Jugend, als Erwachsener. Keine Liebe – keine gegeben, keine genommen. Und jetzt das! Er wollte jemanden für sein Elend verantwortlich machen, wollte jemanden zur Rechenschaft ziehen, aber da war niemand. Gott, gibt es dich?, fragte er in einem stummen Aufschrei. Zeig dich, du Feigling, du Sadist, du Mörder! Zeig dich und sieh dir an, was du mit mir gemacht hast.

Er hörte, wie sich die Tür öffnete.

Matt wendete er den Kopf nach links und sah am Rande seines Blickfeldes eine dunkle Gestalt. Sie kam herüber und stellte sich vor sein Bett. Es war ein Mann in einem schwarzen Anzug. Am Revers blinkte etwas Silbernes. Ein Kreuz? Der Kranke kniff die Augen zusammen, doch es gelang ihm einfach nicht, den Mann vor sich deutlich zu erkennen. Ist es schon so weit?, dachte der Patient. Haben sie mir den Krankenhausgeistlichen geschickt, weil sie glauben, dass es bald mit mir zu Ende geht?

Der Mann lächelte ihn an und packte mit beiden Händen den Rahmen am Fußende des Bettes. »Man hat mir gesagt, dass Sie mich sprechen wollen«, meinte er.

»Das muss ein Irrtum sein«, antwortete der Kranke – und stutzte. Wie lange war es her, dass er einen ganzen Satz richtig ausgesprochen hatte? Er probierte es gleich noch einmal. »Wer sind Sie?«

»Der Hauspriester.« Er ließ die Stange los und hob abwehrend die Hände. »Glauben Sie bitte nicht, dass ich hier bin, um Ihnen die Sterbesakramente zu spenden.«

»Warum dann?«

Die Worte kamen klar wie früher über seine Lippen. Doch nun wich das anfängliche Staunen einem Begreifen, das einen Hoffnungsschimmer in sich trug. Er hatte seit Wochen nicht mehr laut gesprochen; offenbar hatte die Therapie, die in der vergangenen Woche ausgesetzt worden war, späte Früchte getragen und den Hirntumor verkleinert. Warum hatte ihm das niemand gesagt? Es wurden doch laufend Untersuchungen an ihm durchgeführt. Er sah zwar immer noch verschwommen und in seinen Ohren rauschte es weiterhin, aber ein Anfang war gemacht.

»Um mit Ihnen zu reden. Ich hörte, dass Sie keinen Besuch bekommen«, erklärte der Geistliche.

»Ich will keinen Besuch haben. Glauben Sie, es ist schön, mich in diesem Zustand begaffen zu lassen?«

»Ich verstehe Sie.«

»Gar nichts verstehen Sie. Können Sie sich etwa in meine Lage versetzen?«

Der Priester antwortete darauf nicht, aber er schien zu lächeln.

Der Kranke fuhr fort: »Warum? Können Sie mir sagen, warum ich hier liegen und so elend krepieren muss? Sie haben doch angeblich einen guten Draht zum Himmel.«

»Ich kann Ihnen nicht sagen, warum Sie sich in dieser Lage befinden. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie ein schweres Kreuz erhalten haben und es bewundernswert tragen.«

»Blödsinn!« Der Kranke bäumte sich auf; es gelang ihm tatsächlich, sich einige Zentimeter im Bett hochzuschieben. »Salbaderei!«

»Sind Sie gläubig?«

»Wenn ich es einmal gewesen wäre, dann wäre spätestens jetzt damit Schluss.«

»Warum? Wollen Sie Gott für Ihren Zustand verantwortlich machen?«

»Wen denn sonst, falls es ihn überhaupt gibt?«

»Ihre Krankheit ist von niemandem verschuldet. Sie ist ein Ergebnis der biologischen Freiheit und Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Doch selbst wenn Ihr Körper sterben sollte, bleibt etwas von Ihnen übrig.«

»Was denn?«, höhnte der Kranke. »Mehr als Kot und Urin?«

»Unendlich viel mehr: das Göttliche in Ihnen.«

»Das Göttliche! Wo ist denn das Göttliche bei einem Wrack wie mir, das man füttern und dem man den Hintern abwischen muss?«

Der Priester trat einen Schritt zurück; sein Kopf schien mit dem Bild an der Wand hinter ihm zu verschmelzen. »Was Sie beklagen, ist das Äußere. Sie schauen auf die Verpackung, nicht aber auf den Inhalt. Das Göttliche in Ihnen ist wie in jedem Menschen der Motor, der Ihr Leben in Gang hält. Es ist der Funke, der Sie antreibt. Sie haben ein schweres Kreuz zu tragen, sollten sich aber vergegenwärtigen, dass auch Jesus ein schreckliches Kreuz hatte. Er war der Sohn Gottes, und in gewisser Weise sind Sie das auch. Jeder Mensch ist es. Gott ist nicht nur mit Ihnen in dieser schlimmen Zeit, sondern auch in Ihnen.«

»Pfaffengewäsch!«, schimpfte der Kranke. »Gott hat also auch Krebs und scheißt ins Bett?«

»Ja und nein. So wie Ihr Körper ausscheidet, so werden auch Sie Ihren Körper ausscheiden. Sie – das ist unendlich viel mehr als dieser sterbende Körper, in dem Sie noch stecken.«

»Ach ja? Und was habe ich von diesem ›unendlich viel mehr‹, wenn ich tot bin?« Lange würde es der Kranke nicht mehr aushalten. Dieser Priester war unerträglich.

»Das können Sie nicht einmal erahnen. Aber bald werden Sie es wissen.«

Nun reichte es. »Gehen Sie!«

Der Priester ließ die Schultern hängen; plötzlich sah er sehr zerbrechlich aus. Er erwiderte nichts mehr, sondern ging – aber nicht zur Tür. Es war, als trete er immer weiter vom Fußende des Bettes zurück, bis er die Wand erreicht hatte. Dann wurde er kleiner. Der Kranke kniff die Augen zusammen. Bildete er sich ein, dass der Priester in dem Bild der alten Stadt verschwand – dass er in diese Stadt hineinging? Oder hatte der Tumor die Lage verändert und gaukelte ihm jetzt Visionen vor? Mühsam drehte der Kranke den Kopf nach rechts und links. Der Priester war nirgendwo mehr zu sehen. Schwester Margret kam herein und sah nach der Infusion.

»Schwester, wer hat diesen Priester gerufen?«, fragte der Kranke.

Margret sah ihn mit großen Augen an. »Sie können ja wieder sprechen!«, sagte sie verwundert. Dann erst schien sie seine Frage zu verstehen. »Einen Priester? Niemand hat Ihnen einen Priester geschickt. Pfarrer Ulbrich ist heute gar nicht im Hause.« Sie ging wieder.

Den ganzen Tag hindurch dachte der Kranke über den Besuch des seltsamen Geistlichen nach. Wer war er gewesen? Und – lag nicht eine gewisse Wahrheit in seinen Worten? Er erkannte, dass er nun gern mit ihm weiterreden würde. Aber es war zu spät. Er selbst hatte den Priester fortgeschickt. Er bedauerte es.

Er war so müde. Er schlief ein. Und er träumte. Er träumte, er befinde sich in der Stadt auf dem Bild in seinem Zimmer und stehe dort, in einer stillen Straße unmittelbar hinter der Mauer, sich selbst gegenüber – aber nicht wie in einem Spiegel. Sein anderes Selbst war mindestens zwanzig Jahre jünger als er, und es sah irgendwie verändert aus. So wie der Kranke in seinem Leben hätte aussehen können. Sein Spiegelbild sagte nichts; es streckte nur die Arme aus. Und der Kranke konnte in seinem Traum wieder laufen. Er lief seinem Bild entgegen. Und je näher er ihm kam, desto deutlicher sah er es. Und er hörte es. Ja, das Bild konnte er nicht nur sehen, sondern auch hören und riechen und sogar fühlen, obwohl er es noch gar nicht erreicht hatte. Und wie in einer Doppelbelichtung erkannte er plötzlich den seltsamen Priester in seinem Spiegelbild – in sich selbst.

Dann war er angekommen.

* * *

Schwester Margret fand ihn, als sie die Infusion wechseln wollte. Er hatte aus eigener Kraft die Hände über der Brust gefaltet. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln.

Die Kälte jenseits der Träume

Er trat aus seinem Traum heraus und befand sich in der kalten Stadt. Erstaunt erhob er sich von den harten, kalten Stufen und sah sich um. Eine Dunkelheit, die aus der Unendlichkeit des Himmels herbeizuwehen schien, küsste den scheidenden Tag. Erste Lichter dämmerten wie träumende Seelen über den Spitzen der schwindelnd hohen Gebäude, waren wie ein vages Ziel für die stählernen und gläsernen Finger, zu dem sie sich bei jedem Einbruch der Dämmerung erneut auf den Weg machten – fort von den kalten Straßen, von den kalten Plätzen, von den kalten Träumen, mit denen ihre Fundamente gefesselt waren. Er sah, dass alles in dieser Stadt nach oben strebte; selbst die Passanten, gefangen im pulsierenden Strom der Straße, schienen die Blicke sehnsuchtsvoll in den sich schwärzenden Himmel zu senken.

Warum war er hier? Wer hatte ihm gesagt, dass er hier etwas über den toten Künstler erfahren konnte? War es jemand aus seinem Traum gewesen? Aus welchem Traum?

Jemand kam auf ihn zu; er trug einen grauen Anzug und hatte schwarzes, glattes Haar und Augen, in denen sich die Seele der Sterne spiegelte. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind«, sagte der Mann mit unbeteiligter, kalter Stimme.

»Wie haben Sie mich erkannt?«

Der graue Mann lächelte. »Wie hätte ich Sie nicht erkennen sollen?« Er streckte die Hand aus. »Ich kenne Sie beide. Kommen Sie.«

Der graue Mann führte ihn durch die Gedärme der kalten Stadt. Ihn fröstelte; er zog den Kragen seines schwarzen Mantels enger und verkroch sich tiefer in sich selbst. Die Menschen, die ihnen hier begegneten, waren grell und schienen gar nicht zu dieser Stadt zu passen. Sie waren wie Viren, huschten umher, verbissen sich in die Häuser, drangen in Türporen ein, wühlten das Innerste auf, entzündeten es, sodass es immer wieder neues grellgelbes Licht hinaus auf die Straße spie.

Ein Platz lag wie ein Magen im Sternenlicht. Er bewegte sich, zuckte; es waren vielleicht nur die Platanen, deren letzte, schwarz gewordene Blätter im Wind wogten.

»Hier hinunter.« Der graue Mann zeigte in die Erde. Eine Metro-Station? Nein. Es war ein Tunnel, ein Tunnelsystem, ein Labyrinth. Wie konnte er es wagen, diesem fremden grauen Mann zu folgen?

Die verästelten Gänge, durch die sie liefen, waren von denselben Menschen bevölkert wie draußen, wie oben, wie in der Nacht. Hier war Tag. Neontag. Ewig. Weiße Kacheln. Kalte Kacheln. Und grelle, huschende Farben davor. Die Passanten hielten den Blick starr auf den schmutzigen Boden gerichtet.

»Wie ist er gestorben?«, fragte er leise aus seinem schwarzen Mantel heraus.

»Wer?«

»Der Künstler.«

»Sie werden es begreifen, wenn Sie es sehen.«

Der graue Mann ging immer schneller; er lief beinahe. Nahmen diese Tunnel denn nie ein Ende? Die Wände waren nicht mehr gekachelt. Bloßer Beton bäumte sich auf und verlor sich hoch oben in Schwärze. Wie aus dem Nichts hingen an langen Kabeln nackte Glühbirnen herab. Einige brannten, einige waren tot. Einige flackerten. Auch in den Betonwänden flackerte es. Es phosphoreszierte. Ablagerungen, Schwefel, wegen der Feuchtigkeit, dachte er. Das Flackern zog nicht nur seine Blicke an, sondern auch seine Gedanken.

»Der Leichnam des Künstlers – warum ist er verschwunden?«, fragte er flüsternd.

»Sie werden es sehen. Und dann werden Sie es verstehen.« Er spürte, wie ihn ein fauliger, warmer Luftzug von vorn anwehte. Lebenswarm. Menschenwarm. Er begann in seinem schwarzen Mantel zu schwitzen.

»Sehen Sie dort hinten die Nische? Da ist es. Gehen Sie nur hin, trauen Sie sich«, sagte der graue Mann.

Er sah die Nische im Licht der Glühbirnen und der flackernden Wände. Rasch ging er auf sie zu. Etwas lag dort auf dem harten, kalten Boden. Jemand. Er bückte sich. Es war der verschwundene, verschollene Leichnam des Künstlers. Und dieser Leichnam hatte das Gesicht desjenigen, der sich nun über ihn beugte. Er sprang entsetzt hoch und wirbelte herum. »Was …?«

Der graue Mann war nicht mehr da.

Die Wärme wurde unerträglich. Er zog den schwarzen Mantel aus. Und sah erstaunt, dass er darunter einen grauen Anzug trug. Er strich sich mit einem Lächeln, das aus plötzlicher Erkenntnis geboren war, über das glatte, schwarze Haar und berührte den reglosen, kalten Körper unter sich. Der Körper zitterte, und der Künstler hob traumverloren den Kopf.

Ihre Blicke begegneten sich. Der graue Mann half dem toten Künstler, sich zu erheben, und dann führte er ihn endlos weit hinauf hinter die flackernde, ahnungssatte Dunkelheit.

Die Kälte jenseits der Träume verschlang sie.

Die Rückkehr

Ich betrat den schwarzen Kiefernwald und hatte das Gefühl, mit diesem Schritt den einzigen lichten Abschnitt meines Lebens hinter mir zu lassen. Doch der Gedanke an Daphne und an das, was sie mir angetan hatte, warf auch auf diese Zeit draußen in der Stadt einen bedrückenden Schatten. Der sandige Boden des gewundenen Pfades knirschte unter meinen Schuhen. Es war ein Geräusch, das alte, in seltsamem Zwielicht schwebende Erinnerungen in mir wachrief. Als Schuljunge war ich jeden Morgen diesen Weg zur nächsten Straße und zum Bus gegangen, und jeden Nachmittag war ich heimgekehrt in den raunenden Traum des Waldes und dessen, was dahinter lag.

Der Weg schlängelte sich an den niedrigen Bäumen mit den breiten Kronen vorbei, die ein beinahe zusammenhängendes dunkelgrünes Dach bildeten, durch das nur wenig Licht auf den Sandboden fiel. An etlichen Stellen hatten sich Flechten und Gräser über ihn ausgebreitet; er war daher viel dunkler, als ich ihn in Erinnerung hatte.

Ich fragte mich, was mich erwarten würde. In dem Anruf hatte etwas Flehendes, Drängendes gelegen, dem ich mich nicht hatte entziehen können. Zwar hatte ich damals geschworen, diesen Ort nie wieder zu betreten, doch die Not meines Vaters hatte mich sofort umgestimmt – beängstigend schnell.

Über dem Nadeldach brauste der ewige Wind, der vom Meer her landeinwärts blies. Die Bäume schienen sich unter ihm zu ducken und aneinander Halt zu suchen. Hier unten, auf dem Weg, war hingegen kaum ein Luftzug zu spüren. Es war, als schnaube der Wald aus riesigen Nüstern himmelwärts.

Ich kam an die alte Mauer, die schon damals, zu meiner Kinderzeit, baufällig gewesen war. Nun hatten sich braune Moose auf ihr ausgebreitet; sie schienen die zerbröckelnden Steine stärker zusammenzuklammern als der locker gewordene und an vielen Stellen herabgefallene Mörtel. Das ehemals grün gestrichene Holztor mit dem halbrunden oberen Ende zeigte nur noch Reste von Farbe. Ich drückte die Klinke herunter. Wie üblich war das Tor nicht verschlossen. Die Angeln knarrten und quietschten, und ich musste mich heftig gegen das Holz stemmen, bis das Tor endlich nachgab und aufschwang.

Als ich durch die Mauer trat, wechselte ich in eine andere Welt. Vor mir erstreckte sich eine ausgedehnte Rasenfläche, die weit hinten an der Steilküste abbrach. Die Wellen bildeten den grauen Horizont, der mit herbeisegelnden, regenträchtigen Wolken verschmolz, die umso schwärzer wurden, je näher sie dem Land kamen. Das Meer wütete mit raubtierhaften Lauten gegen die von hier aus unsichtbaren Felsen tief unten am steinigen Strand. Die Mauer, die an der Steilküste begann und endete, zog sich in einem weiten, annähernd vollkommenen Halbkreis um den Turm. In diesem Halbkreis wuchs kein Baum, kein Strauch. Das bedrohliche Walddunkel hörte an der Mauer auf, wurde von ihr wie unter großer Mühe zurückgehalten.

Ich schloss das Tor wieder und warf einen Blick zurück auf die pilzartigen, im Winde zitternden Kronen der Kiefern. Schon damals, in meiner Kindheit, war mir der Wald wie ein lebendes Wesen vorgekommen, das irgendwann die Mauer überwinden, den Turm verschlingen und sich und uns ins Meer stürzen würde.

Langsam drehte ich mich um und ging auf den Turm zu, der so dicht an der Küste stand, dass seine westliche Mauer beinahe über dem Ozean zu schweben schien. Jeder Schritt brachte mich meiner Kindheit näher – den Stunden, die ich zwischen diesen bedrückenden Mauern zugebracht hatte, verzehrt von dem Wunsch, die Küste und den Wald hinter mir zu lassen und irgendwo draußen ein frisches Leben zu beginnen.

Wie lange mochten meine Eltern den Turm nicht mehr verlassen haben?

Aus dem schmalen Fenster im dritten Stock fiel gelbes Licht in die vom Meer hereinwehende Dämmerung. Darüber und darunter klebte Dunkelheit an dem steinernen, quadratischen Klotz und dem Spitzdach über der Brustwehr mit den erkerartigen Ausgucken an jeder Ecke. Der kleine runde Treppenturm rechts von dem massigen, wie ein drohender Finger aus dem Gras aufragenden Quader schmiegte sich Hilfe suchend an die altersdunklen Steine.

Sicherlich erwarteten meine Eltern mich bereits. Dass in ihrem Schlafzimmer Licht brannte, beruhigte mich ein wenig. Doch als ich auf dem Weg über den Rasen aufmerksam das erleuchtete Fenster in der Hoffnung betrachtete, jemand beobachte meine Ankunft oder winke mir gar zu, stellte ich verwirrt fest, dass sich an der Fassade eine schillernde Spur bis zu dem hellen Fenstergeviert hochzog; sie schien geradewegs in das Licht einzubiegen. Dann hatte die schwarze Regenwand das Festland erreicht, und es ging ein Schauer nieder, der den gesamten Turm mit einer feucht glitzernden Schicht überzog und die seltsame Spur auslöschte.

Ich lief auf den Treppenturm zu, doch als ich endlich unter dem kleinen Vordach stand, war ich bereits durchnässt. Ich holte den altertümlichen großen Schlüssel aus meiner Manteltasche, sperrte die Tür auf und eilte die finstere Wendeltreppe hoch, auf deren ausgetretenen Stufen ich sogar im Schlaf nicht gestrauchelt wäre. Ich kannte jede Unebenheit, kannte alle unregelmäßigen Abstände der einzelnen Stufen zueinander, kannte den Grad ihrer Drehung. Ich brauchte kein Licht.

Ich öffnete die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern. Sie ruhten nebeneinander in dem großen Himmelbett, inmitten eines Meeres von Kissen und Laken, die offenbar schon lange nicht mehr gewechselt worden waren. Meine Mutter lag wie in tiefem Schlaf da, doch mein Vater hob die Hand. Ich ging um das Bett herum und ergriff sie. Das Gesicht meines Vaters war eingefallen, abgemagert und von einer pergamentartigen Beschaffenheit. Große, braune Flecken hatten sich im Gesicht und an den Händen ausgebreitet und erinnerten mich an die Flechten, die sich draußen über die Umfassungsmauer zogen.

»Es ist gut, dass du gekommen bist«, sagte mein Vater mit brüchiger Stimme. Ich nickte; es war mir nicht möglich, ein Wort zu sagen. Ich erkannte diesen Mann, der da vor mir inmitten der unsauberen Bettwäsche lag, kaum wieder. Mehr als zehn Jahre war ich fort gewesen, hatte meine Eltern seitdem nicht mehr gesehen, nur Briefe mit ihnen gewechselt und sie dann und wann angerufen. Ich war so froh gewesen, diesem Turm, diesem Küstenland, diesem Leben entronnen zu sein.

Mein Vater strich mir mit seiner klauenartigen Hand über die Wange. Ich zitterte vor Mitleid, Liebe und Abscheu. »Du bist aber ein wenig zu früh«, sagte er leise. »Wir haben erst morgen mit dir gerechnet.«

»Ich bin so schnell wie möglich gekommen«, antwortete ich. »Schläft Mutter?«

Vater nickte. »Sie schläft schon seit gestern. Sie wird nicht mehr aufwachen. Aber sie ist noch unter uns. Sie hat so auf dich gewartet.«

Ich sah hinüber zu meiner Mutter. Tränen traten mir in die Augen.

»Ruh dich aus von der weiten Reise«, flüsterte mein Vater, den das Sprechen sehr anzustrengen schien. »Du bist ganz nass. Geh auf dein Zimmer. Morgen reden wir weiter.«

Wortlos gehorchte ich. Als ich bei der Tür stand, warf ich einen letzten Blick in das große Schlafzimmer. Vor dem Himmelbett stand noch immer die Barocktruhe und an der Wand gegenüber der Tür der Walnussschrank. Die Frisierkommode meiner Mutter befand sich an ihrem üblichen Platz links neben dem Fenster, das auf den Wald hinausschaute und zu dem die schillernde Spur geführt hatte. Stühle, Bilder – alles wie früher, unverändert. Als wäre die Zeit erstarrt.

Auch in meinem eigenen Zimmer im vierten und obersten Stockwerk hatte sich nichts geändert. Das Bett mit den hohen Seitenteilen, fest an die Wand geschoben, von dort der Blick durch das Fenster auf den Himmel landeinwärts und auf die fließenden Kronen der Kiefern. Der kleine Kleiderschrank, in dem immer noch meine Hemden, Hosen, Pullover hingen, der Schreibtisch unter dem anderen Fenster, das zum Meer hinausging und an dem ich viele Stunden ziellosen Umherdenkens verbracht hatte, der Ohrensessel neben dem kalten Kamin, das Regal mit den Büchern, die ich bei meinem Auszug nicht hatte mitnehmen wollen: All das begrüßte mich, als sei ich nur einen Tag weg gewesen.

Ich war müde von der langen Reise und ging sofort zu Bett, nachdem ich mir den Staub der Reise und der Außenwelt abgewaschen hatte. Die Laken rochen zwar etwas muffig, aber sie waren sauber, unbenutzt seit vielen Jahren. Ich hatte Träume von meinen Eltern, von Dunkelheiten und rätselhaften Spuren, und ich erwachte unausgeschlafen und mit Kopfschmerzen, als die Sonne durch das Waldfenster lugte, wie ich es immer genannt hatte. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war, doch dann drang mir das Zimmer ins Bewusstsein – und damit auch der Zustand meiner armen Eltern. Rasch kleidete ich mich an und huschte hinunter über die Wendeltreppe, durch deren schachtartige Fensteröffnungen nun ein wenig Tageslicht fiel. Meine Überraschung war unbeschreiblich, als ich die Schlafzimmertür öffnete und sah, dass neben der Bettseite meines Vaters auf einem herbeigezogenen Stuhl jemand saß.

»Komm ruhig herein«, sagte mein Vater, dessen Stimme etwas fester als am vergangenen Abend klang. Ich regte mich nicht, sondern starrte den Fremden an. Es war ein Mann etwa in meinem Alter, doch damit hörten die Gemeinsamkeiten auf. Während ich blond bin, war er schwarzhaarig. Er war dürr, hatte spitze, kantige Gesichtszüge, eine leicht nach unten gebogene Nase und ungeheuer langgliedrige Finger, mit denen er die rechte Hand meines Vaters umschlossen hielt. Ausdruckslos erwiderte er meinen Blick.

Ich blieb bei der geöffneten Tür stehen und fragte: »Wer ist das?«

Mein Vater flüsterte dem Mann etwas zu, der sich daraufhin erhob. Sein schwarzes, seidig glänzendes Hemd raschelte. »Es ist schon in Ordnung«, sagte er zu mir mit einer angenehmen, dunklen Stimme. »Du kannst dir ein wenig die Zeit vertreiben. Komm später wieder.« Dann setzte er sich, nahm abermals die Hand meines Vaters zwischen seine langen, zarten Finger und redete leise auf den Sterbenden ein. Mein Vater nickte einige Male und lächelte den Fremden dabei an. Ich wagte endlich, das Schlafzimmer zu betreten. Niemand hielt mich davon ab. Ich ging hinüber zu meiner Mutter und beugte mich über sie. Sie atmete sehr flach und nahm nichts in ihrer Umgebung wahr. Trotzdem streichelte ich ihre Wange. Dann schaute ich auf und sah, dass der Fremde mich wohlwollend beobachtete. »Geh jetzt«, sagte er.

Ich gehorchte ihm, wie ich gestern Abend meinem Vater gehorcht hatte.

Zuerst begab ich mich in das Wohnzimmer im zweiten Stock. Auch hier war alles so, wie ich es in Erinnerung hatte: die drei Sofas im rechten Winkel zueinander vor dem Kamin, die Beistelltische, die Stühle, die Gobelins an den Wänden, der große Lüster, der von der schwarzen, hohen Balkendecke herabhing, die alten, fadenscheinigen Teppiche über den Holzbohlen des Fußbodens. Ich hielt es hier nicht lange aus, denn ich dachte daran, wie viele Abende ich in diesem Zimmer mit meinen Eltern verbracht hatte – meinen Eltern, die über mir ihrem Tod entgegendämmerten. Ich lief hinunter in den ersten Stock, wo sich statt nur eines einzigen Zimmers wie in den oberen Etagen ein kleiner Speiseraum und, durch später eingezogene Wände davon abgetrennt, die Küche und das Bad befanden. Ich entdeckte an den Wänden Spuren derselben braunen Flechten wie draußen an der Umfassungsmauer. Die Luft roch abgestanden. Hier war schon lange nicht mehr gelüftet worden. Und lange nicht mehr gekocht und gespeist.

Das Erdgeschoss wurde von einem großen, fensterlosen Raum mit einem flachen Kreuzrippengewölbe eingenommen, der als Keller diente. Den einzigen Zugang dazu bildete eine Falltür im Küchenboden. Schon als Kind war ich nur sehr ungern über die schmale Holzleiter in diesen schwarzen Raum hinabgestiegen.

Ich ging zurück in den Treppenturm, lief nach unten, ins Freie. Der Tag war sonnig, nur weit draußen auf dem Meer bildeten sich ein paar weiße, aufgebauschte Wolken, die wie geblähte Segel durch den blauen Himmel trieben. Tief in Gedanken versunken, schlenderte ich an dem Halbkreis der Umfassungsmauer entlang und dachte über den seltsamen Fremden nach. Es war nicht der Arzt meiner Eltern, das war eindeutig. Aber mein Vater schien ihn zu kennen und fühlte sich in seiner Gegenwart offenbar wohl – wohler als in meiner.

Nachdem ich der Mauer vom einen Ende bis zum anderen gefolgt war, schaute ich über das Meer und auf die Felsen, an denen weiße Gischt unter endlosem Dröhnen und Tosen zerstob. Ich erkannte mit Erstaunen, dass ich draußen in der Stadt diese Geräusche vermisst hatte.

Lange stand ich da und blickte auf die Wellen hinaus, auf das ferne, blasse Grau des Horizonts, auf die darüber sich erhebende blaue Mauer des Himmels. Der Wind zerrte an meinen Haaren, schien durch mich hindurchzufahren. Ich lief zurück in den Turm.

Als ich mit bangen Gefühlen erneut das Schlafzimmer meiner Eltern betrat, war der Fremde verschwunden. Ich atmete auf, ging an die Bettseite meines Vaters – der Zustand meiner Mutter schien unverändert – und fragte ihn, wer der Mann gewesen sei. Er sah mich mit verschleierten Augen an, lächelte schwach und bewegte den Kopf langsam nach rechts, nach links. Dann sackte er wieder nach rechts, wie unter dem Druck einer unsichtbaren Hand. Die Augen meines Vaters starrten mich an – und sahen nichts mehr. Er war gestorben.

Ein rascher, verzweifelter Blick auf meine Mutter machte mir klar, dass sie ebenfalls tot war. Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube fest, dass sie beide in derselben Sekunde das Leben verlassen haben. Sie waren eins im Leben, sie waren eins im Tod.

Ich weinte. Es hätte noch so viel zu sagen gegeben, so vieles hätte klargestellt werden müssen, so vieles verziehen. Wenigstens war ich bei ihnen gewesen. Nun waren sie von mir gegangen, und ich war allein. Was ich so viele Jahre hindurch gesucht und mit aller Kraft verteidigt hatte, war in einem gemeinsamen letzten Atemzug Wirklichkeit geworden. Ich war allein. Meine Eltern, gegen die ich andauernd aufbegehrt hatte, lebten nicht mehr. Ich war allein. Nicht mehr aus eigenem Willen, sondern von den Ereignissen dazu gezwungen. Ich weinte um meine Eltern.

Und ich verabscheute mich, weil ich auch um mich und um das weinte, was ich mit ihnen verloren hatte.

Der fremde Mann betrat das Schlafzimmer.

»Es ist alles vorbereitet«, sagte er, während er neben dem Leichnam meiner Mutter stehen blieb.

Ich sah ihn verständnislos an.

»Für die Beisetzung«, sagte er, als sei damit alles erklärt.

Natürlich, meine Eltern mussten beerdigt werden. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ihr Sterben war für mich ein Prozess innerhalb eines von der Wirklichkeit losgelösten Raumes gewesen, dem weltenfernen Ort angemessen, an dem es sich vollzogen hatte. Ich streichelte meinem Vater über das Gesicht und schloss dabei die starren Augen. Dann ging ich um das Bett herum, an die Seite meiner Mutter, und streichelte auch sie zum Abschied. Der Fremde war verständnisvoll zurückgewichen.

Nachdem ich eine Weile neben dem Bett gestanden und an unser gemeinsames, zurückgezogenes, friedliches und zugleich bedrückend enges, quälendes, hoffnungsloses Leben gedacht hatte, an das Lachen und Weinen innerhalb der altersdunklen Mauern des Turmes, an das Licht des Meeres und die Finsternis des Waldes, legte mir der Fremde plötzlich eine Hand auf die Schulter. Ich schaute auf und sah in sein spitzes, vogelartiges Gesicht. Er nickte und sagte:

»Wir beginnen mit deinem Vater. Ich packe ihn unter den Schultern, und du nimmst die Beine.« Schon hatte er den alten Mann zur Hälfte aus den fleckigen Laken gezogen. Damit er nicht ganz aus dem Bett rutschte, packte ich rasch die in einer alten, gestreiften Schlafanzughose steckenden Beine und war entsetzt, als ich spürte, wie dünn sie waren. Bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, ging der Fremde bereits voran zur Tür. »Vorsicht auf der Treppe«, sagte er, als würde ich sie nicht kennen.

Wir trugen meinen Vater hinunter in den ersten Stock, in das Speisezimmer und durch es hindurch in die Küche. Erstaunt sah ich, dass die Falltür zum fensterlosen Gewölbe des Erdgeschosses weit offen stand. Von unten flackerte uns Fackelschein entgegen.

»Ich gehe voran«, sagte der Fremde und war schon halb in der Bodenöffnung verschwunden, als mir klar wurde, was er vorhatte.

»Sie können ihn doch nicht im Keller …« Weiter kam ich nicht, denn der Fremde zerrte an dem Leichnam, und wenn ich meinen Vater nicht fallen lassen wollte, musste ich dem Mann in schillerndem Schwarz wohl oder übel folgen.

Wir tasteten uns auf der steilen Leiter nach unten, und mehrfach drohte ich von den Sprossen abzurutschen. Einmal musste ich mich mit der Hand rasch an der Leiter festhalten. Dabei schwang das eine Bein meines Vaters nach unten. Entsetzt packte ich es, nachdem ich das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, und balancierte weiter in die zuckenden Schatten und das rötliche Fackellicht hinein.

Ich atmete auf, als wir endlich den Boden erreicht hatten. Mehr als vier Meter über uns klaffte die kleine Öffnung in der Decke, wie mit einem Faustschlag in das ansonsten makellos glatte, flache Gewölbe hineingetrieben. Der Fremde ließ mir keine Zeit, mich umzusehen, sondern ging auf eine Wand zu, vor der Regale mit spinnwebverklebten, staubigen Weinflaschen standen. Es war, als wolle er geradewegs in die Regale hineinlaufen. Erst als er kurz vor ihnen stand, hielt er inne, nahm eine der Flaschen heraus, die nicht weniger staubbedeckt war als die anderen und sich in nichts von ihnen unterschied, und fuhr mit der Hand in die entstandene Höhlung. Das Nachbarregal schwang in den Kellerraum hinein.

Und enthüllte eine in die Tiefe führende Wendeltreppe.

Ohne abzuwarten, dass sich mein Erstaunen legte, denn ich hatte nie etwas von dieser Treppe gewusst, lief der Mann auf ihren obersten Absatz zu. Mit weit hinter sich ausgestreckten Händen hielt er meinen Vater scheinbar mühelos bei den Schultern gepackt, während mir die Arme allmählich lahm wurden. Ich stolperte hinter dem Mann her, weiter hinunter, immer tiefer in die Eingeweide der Erde. Ich mutmaßte, dass wir uns unter dem runden Treppenturm befanden, dessen Spiegelbild sich hier in die Tiefe fraß.

Ich weiß nicht, wie lange wir die steilen, kaum ausgetretenen Stufen hinabgeschritten waren, als wir schließlich einen Schachtboden im Innern der Felsen erreichten. Von fern hörte ich die Wellen gegen die Küste anbranden. Vermutlich befanden wir uns hier auf der Höhe des Meeresspiegels oder sogar darunter. Mechanisch ging ich hinter dem Fremden her, konnte meinen Vater kaum noch tragen, keuchte schwer; mein Atmen brach sich an den glänzend feuchten Felswänden, die mit ungeheurer Sorgfalt behauen und geglättet worden waren.

Dass sich unsere Umgebung veränderte, bemerkte ich zuerst an meinem Atmen. Hatte es zuvor noch dumpf geklungen, verursachte es nun einen ungeheuren, fernen Hall. Verblüfft sah ich, dass sich der Schacht zu einem gewaltigen unterirdischen Saal geweitet hatte, der sich fern in der Dunkelheit verlor. In die Wände waren Halterungen mit Fackeln eingelassen, deren rotes Licht seltsame, über den Fels huschende Schatten erschuf. Im Abstand von etwa zehn Metern trugen gemauerte Pfeiler das Deckengewölbe, dessen Makellosigkeit jeder Kirche zur Ehre gereicht hätte. Ich fragte mich, wer diesen gewaltigen Raum entworfen und erbaut hatte. Und wozu er diente.

Der Boden war genauso glatt wie die Wände und die gewölbte Decke, und die in weitem Abstand voneinander brennenden Fackeln reichten nicht aus zur Beleuchtung des gesamten Raums. Der Fremde lief mit dem Leichnam meines Vaters in das Zwielicht hinein, und ich eilte mühevoll hinter ihm her. In einiger Entfernung vor mir bemerkte ich regelmäßige Umrisse auf dem Boden. Je näher wir ihnen kamen, desto deutlicher traten sie aus den zuckenden Schatten hervor. Es waren rechteckige Erhebungen, etwa einen Meter breit und zwei Meter lang. In Höhe der ersten Erhebungen hörten die Fackeln auf; wie viele Reihen dieser vollkommen regelmäßigen Gebilde in der Dunkelheit folgen mochten, war daher nicht einmal zu erraten.

Der fremde Mann ging mit dem Leichnam meines Vaters zur ersten Reihe der merkwürdigen, scharfkantigen Kästen. Jetzt sah ich, dass die Abdeckung des äußersten linken Kastens abgehoben war. Und endlich begriff ich, dass ich vor einem Gräberfeld stand.