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Der Rechtsanwalt und Büchernarr Albert Moll wird auf die Burg des undurchsichtigen Grafen Roderich von Blankenstein gerufen, um mit diesem ein Testament aufzusetzen. Dabei stößt er auf zwei betörende Frauen und den Hinweis auf eine wertvolle magische Bibliothek, die auf der Burg verborgen sein soll. Eine Bibliothek, von der er schon immer geträumt hat. Und bald steckt er mitten in Ereignissen, die den Geschichten Stokers, Blackwoods, Lovecrafts und Poes entsprungen sein könnten ...
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Seitenzahl: 277
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Weitere Atlantis-Titel
Michael Siefener
Die magische Bibliothek
»Es war offenkundig, dass etwas sehr Aufregendes geschah oder erwartet wurde; aber obgleich ich jeden meiner Reisegefährten fragte, keiner gab mir nur die kleinste Erklärung. Dieser Zustand der Aufregung hielt einige Zeit; schließlich konnten wir die östliche Passöffnung erkennen.«
So weit war es leider noch nicht.
Albert Moll saß im Nahverkehrszug nach Kyllburg in der Eifel und freute sich. Immer wieder sagte er die wenigen Zeilen aus Dracula still für sich auf. Seine Lippen bewegten sich dabei; er bemerkte es kaum. Ihm gegenüber saß eine ältere Frau mit weißen Haaren und einer randlosen Brille, hinter der sich die Runzeln um die Augen kräuselten wie die windgepeitschte Oberfläche eines Sees, wenn sie ab und zu einen fragenden und abschätzigen Blick auf ihren seltsamen Reisegefährten warf. Schließlich wandte sie den Kopf mit einer ruckartigen Bewegung ab und sah starr aus dem Fenster. Albert Moll folgte ihrem Blick.
Hinterhöfe, nass glänzende Straßen, die zögerlich das Neonlicht der Schaufenster festzuhalten schienen, Autos mit weißen und roten Leuchtfingern. Darüber ein dunkelgraues Tuch, das die Stadt bedrückte und nicht einmal eine Ahnung des Himmels schenkte. Ein trüber Frühlingsnachmittag, der wie die Drohung einer Nacht wirkte. Ein guter Tag für eine Flucht.
Was mochte ihn am Ende seiner Reise erwarten? Natürlich, er kannte den Grafen; er hatte ihn schon zwei- oder dreimal zusammen mit seinem Diener in der Kanzlei gesehen, doch noch nie hatte er ihn auf seiner Burg besucht. Auf dieser sagenumwobenen, verwinkelten, gewaltigen Burg mitten in der Eifel, wo Alberts Bruder schon mehrmals Gast gewesen war. Sein Bruder …
Albert seufzte und stand auf. Die Frau ihm gegenüber riss den Blick von der nasskalten, grauen Stadt los, die nach einem unverständlichen Tagtraum wie in Tränen gebadet schien, und sah ihren seltsamen Mitreisenden erneut von der Seite an. Sie beide waren allein in diesem muffig riechenden Abteil. Albert wäre es viel lieber gewesen, ohne Gesellschaft reisen zu können. Er wollte seine Träume nicht durch die Gegenwart eines anderen Menschen beschmutzen. Also holte er sich aus seinem Aktenkoffer, der auf den Gepäckstangen über ihm lag, einen Roman, den er sich für die Reise ausgesucht hatte.
Den Roman.
Dracula.
Etwas anderes kam für diese Reise nicht infrage.
»Bistritz, 3. Mai. München ab am 1. Mai 8:35 Uhr abends.«
Natürlich, es passte nicht exakt zu seiner eigenen Situation, aber auch er war ein Reisender in einer geschäftlichen Angelegenheit, kein Notar, sondern ein Rechtsanwalt. Und er war zum Schloss eines leibhaftigen Grafen unterwegs. Durfte man eine größere Übereinstimmung der Literatur mit dem Leben erwarten? Er erschauerte, als er sich die möglichen unmöglichen Abenteuer vorstellte, die ihn in jenem sagenhaften Schloss erwarten mochten.
Die Runzeldame kniff die Augen zusammen. Ihre und Molls Blicke trafen sich; beide schauten sofort wieder in eine andere Richtung. Ich bin ihr unheimlich, dachte Albert und freute sich darüber. Wenigstens wurde er einmal wahrgenommen. In der Kanzlei war das nicht immer so. In der Kanzlei …
»Wien am frühen Morgen des nächsten Tages …«
Er hätte viel darum gegeben, weiter als nur bis in die Eifel reisen zu dürfen – so weit, dass er sich selbst verlieren konnte. Nach Wien, nach Bistritz, in die Karpaten – oder nach Amerika, an die Ostküste, nach Arkham – oder nach Irland, zu Hodgsons Haus auf der Grenze. Er sah kaum die Buchstaben des Romans, die sich in einem seltsamen Muster vor seinen Augen auslegten. Das Rattern des Zuges wirkte ermüdend, einschläfernd.
Was blieb ihm, wenn er die Literatur nicht mehr hätte? Die Literatur des Unwirklichen, Überwirklichen, Fantastischen? Sie war sein einziger Rettungsanker in dieser Welt, die er nicht verstand und die ihn nicht verstand. Sie war der Hafen, in den er nach jedem grässlichen Tag in der Anwaltskanzlei zurückkehrte. Sie war der Weg in eine andere Welt, deren Schrecken seine kärgliche Wirklichkeit auszublenden vermochten. Manchmal träumte er von diesen papiernen Welten; manchmal rutschte ihm in der Kanzlei ein Zitat aus einem seiner Herzenswerke heraus, was seinem Bruder immer nur Anlass zu hohntriefenden Reden gab.
Wie großartig war doch sein Bruder! Einserjurist! Spezialist für Wirtschaftsrecht. Guru der Kanzlei; alle anderen Anwälte hingen an seinen Lippen. Aber er war in seinen beruflichen Entscheidungen gebunden. Gebunden an seinen unfähigen Bruder, der die Examina nur mit allergrößter Mühe geschafft hatte (das zweite hatte er wiederholen müssen), dem aber die Kanzlei zusammen mit seinem Bruder je zur Hälfte gehörte.
Albert musste lächeln. Es war ein weiser Entschluss seines Vaters gewesen, die Kanzlei zu gleichen Teilen an seine beiden Söhne zu vererben. Auch wenn Albert lieber Germanistik studiert hätte oder gar Schriftsteller geworden wäre, ermöglichte ihm sein ungeliebter Beruf doch ein angenehmes Auskommen und viel Geld für seine Bücher. Es gefiel ihm, dass sein Bruder in allen wichtigen Entscheidungen auf ihn angewiesen war. Und manchmal gefiel ihm auch der bodenlose Hass seines Bruders auf ihn. Auf ihn, den angeblichen Schmarotzer, den viel zu wohlhabenden Nichtstuer, den nutzlosen Tagträumer.
»… der Zug aber hatte eine Stunde Verspätung.«
Möglich; er war bereits mit einer halben Stunde Verspätung von Köln abgefahren und nun standen sie in irgendeinem Vorort auf einem Abstellgleis. Was war bloß los? Wie peinlich, wenn er nicht pünktlich in Kyllburg eintraf, denn dort wartete der Diener des Grafen auf ihn, um ihn weiter nach Fangenburg zu fahren.
Die Frau ihm gegenüber strich ihren geblümten Rock glatt und trommelte mit den Fingern auf der plastiküberzogenen Armlehne. Sie vermied es, Albert anzusehen; stattdessen tat sie so, als gäbe es da draußen etwas höchst Interessantes.
Da draußen: nass glänzende Fassaden. Vereinzelte Lichter in fernen Wohnungen. Hier und da ein gnädiger Baum, dessen Grün im klebrigen, noch mit aller Kraft an der schon lange vergangenen Nacht haftenden Licht kränklich blass wirkte. Ein Hinterhof, braun vor aufgewühlter Erde, mit einer Hühnerschar, die sich in schmutzig weißem Geflatter um etwas drängte, das man vom Abteil aus nicht erkennen konnte.
Ein Ruck ging durch den Zug; die Hydraulik heulte; die Räder quietschten. Der Hühnerhof und die Lichter in den fernen Wohnungen zitterten vorbei und waren verschwunden.
Das Ziel rückte näher. Die Burg. Der Graf.
Graf Dracula hatte ein einfaches Anliegen an Jonathan Harker gehabt, weswegen er ihn nach Transsylvanien bestellt hatte. Es war um den Erwerb eines Grundstücks in England gegangen. Albert Moll hingegen wurde auf die Fangenburg gerufen, um zusammen mit dem Grafen an dessen Testament zu arbeiten.
Er hatte diesen Auftrag von seinem Bruder erhalten, der erst gestern Morgen lächelnd in Alberts Büro im fensterlosen Souterrain der Kanzlei gekommen war. »Ich habe hier etwas Interessantes für dich, das deinen bizarren Neigungen eigentlich sehr entgegenkommen müsste«, hatte er gesagt und Albert die Bahnfahrkarten in die Hand gedrückt. »Mit dem Auto wäre es zwar bequemer, aber mein hinterwäldlerischer Bruder kann sich ja immer noch nicht entschließen, den Führerschein zu machen«, hatte er hinzugefügt. Er ließ nie eine Möglichkeit aus, Albert zu demütigen.
Albert hasste ihn und seine mondäne Frau Beatrice, deren Welt nur aus Partys, Shopping und Reitstunden bestand. Wie gut, dass ich allein bin, redete Albert sich immer dann ein, wenn er Beatrice zu begegnen gezwungen war, zweimal im Jahr anlässlich seiner Geburtstagsfeier und der seines Bruders.
Alberts Reaktion auf die Reise in die Eifel war zwiespältig gewesen. »Ich habe hier noch einen sehr wichtigen Vorgang, eine Terminsache, die keinen Aufschub duldet«, hatte er eingewendet.
»Kein Problem«, hatte ihn sein Bruder beruhigt. »Kramer von der Zivilabteilung führt die Sache zu Ende; ich habe schon mit ihm geredet. Du weißt, dass der Graf einer unserer wichtigsten Klienten ist. Er hat sich plötzlich in den Kopf gesetzt, sein Testament zu machen, und da stehen wir ihm natürlich in allen rechtlichen Fragen bei, egal ob er sie hier, auf seinem Schloss oder auf dem Mond erörtern will. Da er als Besprechungsort nun einmal sein Schloss gewählt hat, wirst du gleich morgen dorthin fahren.«
»Kann das denn nicht einer der anderen Anwälte machen? Richards hat im Augenblick nichts Brandeiliges …«
»Der Graf besteht darauf, dass einer von uns beiden kommt, die erste Garde sozusagen.« Sein Bruder lachte hämisch. »Ich bin nicht abkömmlich; die Sache mit der Bau AG hält mir terminlich den Hals zu. Also bleibst nur noch du übrig. Mach dir ein paar schöne Tage in der Eifel. Ich kann dir versprechen, dass die Burg deine kühnsten Tagträume übertreffen wird.« Mit einem weiteren, schief klingenden Lachen war er aus dem Raum gehuscht.
Und plötzlich waren die Wände seines kleinen Büros im Souterrain zusammengerückt wie in der Geschichte Grube und Pendel von Edgar Allan Poe. Er musste all das hier hinter sich lassen. Und wenn Kramer seine Terminsache übernahm … Worüber sollte er sich dann noch Sorgen machen? Er hielt die Eintrittskarten zu einer Flucht aus seinem Alltag in der Hand. Wann hatte er zum letzten Mal die Stadt verlassen, wann zum letzten Mal Urlaub gemacht? Mehr noch: Es waren nicht nur Eintrittskarten zu einer Flucht, sondern auch zu einem Eintauchen in die Welt seiner Fantasie, solange er sie auf der bevorstehenden Reise aufrechterhalten konnte.
Langsam und zögerlich ließ die Vorstadt den Fensterausschnitt los. Grünes Zweiggewirr strich an dem Zug entlang, Felder schlichen herbei; die Landschaft weitete sich. Das Himmelstuch glitt höher. Die verhasste Stadt war fort. Albert atmete auf und versuchte, sich wieder auf Dracula zu konzentrieren.
»Manchmal sahen wir kleine Schlösser und Türme auf steilen Hügeln, ganz wie man sie in Chroniken abgebildet sieht; zuweilen passierten wir Flüsse und Bäche, die, nach den breiten Geröllstreifen auf beiden Seiten zu schließen, wohl häufig aus ihren Ufern treten.«
Er sah aus dem Fenster. Die Dame ihm gegenüber war nicht mehr da für ihn. Er bemerkte kaum mehr ihren Schatten. Die Zeilen des Romans hatten sie fortgezaubert.
Tatsächlich erkannte er in der Ferne die Silhouette eines kleinen Schlosses, vielleicht einer Ruine auf einem steilen Hügel. Und es gab ein Bächlein, das jedoch zahm dahinfloss – im Augenblick. Da sage einer, Literatur bilde nicht das Leben ab! Beglückt klappte Albert das Buch zu, schloss die Augen und atmete tief durch. Könnte er diese Minuten so intensiv erleben, wenn er sie durch sein Buch nicht bereits so viele Male vorerlebt hätte? Die Ereignisse und Anblicke des Lebens erhalten erst dann ihren Sinn, wenn sie nicht mehr für sich allein stehen, sondern in Übereinstimmung mit den persönlichen Innenwelten geraten. Nichts ist realer als die Fiktion, dachte Albert. Nichts ist wirklicher als Literatur, die einem den Ausbruch aus dem Gefängnis der Wirklichkeit ermöglicht und die Realität nach den eigenen Gesetzen umzubauen vermag.
Albert spürte, wie ihn eine Welle des Glücks durchströmte. Er hatte sein Leben hinter sich gelassen. Nichts zerstörte seinen Traum auf ein neues Leben, auch wenn es nur wenige Tage – vielleicht sogar nur wenige Stunden – währen sollte.
Die Runzeldame ihm gegenüber hatte inzwischen eine Frauenzeitschrift aus ihrer überdimensionierten Handtasche gekramt und sich hinter bunten Bildern verschanzt.
Wie konnte man solche Zeitschriften lesen, fragte sich Albert. Auf jeder Seite grinste einen die abscheulichste Alltäglichkeit an; nichts führte hinaus in eine andere Welt. Da lobe ich mir meine Fantastik, dachte Albert. Sie beginnt im Alltäglichen, sodass ich mich in der Ausgangssituation wiederfinden kann. Und von dort aus gehe ich – ich selbst – in die fremden, beängstigenden Dimensionen ein, die alles Gewöhnliche aus meinem Blick filtern. Bei der Science-Fiction und der Fantasy gelingt mir das nicht, denn sie haben keine Verankerung in meiner eigenen Welt. Nichts, was dort geschieht, könnte mir passieren, also kann ich mich auch nicht dorthin wegträumen. Diese Bahnfahrt könnte ich niemals mit einem SF- oder Fantasyroman in Beziehung setzen. Solche Bücher stehen nur für sich selbst, nicht aber für mich.
Er erfreute sich an seinen Gedanken und bemerkte kaum, wie die Landschaft immer bewaldeter und einsamer wurde. Er sank hinab in seine eigene Vergangenheit.
Flüchtige Bilder aus seiner Kindheit zogen an seinem geistigen Auge vorbei: Bilder von Nacht, von Feuchtigkeit, von Neonlicht, das sich in Pfützen spiegelte, und das Bild eines hell erleuchteten Schaufensters, dessen farbige Auslage ihn anzog. Es war eine Buchhandlung und sie befand sich vor der Bushaltestelle, an der sein Vater, sein Bruder und er seit einem Monat jeden Abend standen, wenn sie aus dem Krankenhaus kamen. Ende Oktober war Mutter eingeliefert worden. Mutter, die Albert so sehr liebte, die als Einzige für seine Träumereien Verständnis gehabt hatte, die im Gegensatz zu Vater seinen Bruder ihm nicht vorzog.
Albert erinnerte sich an die weißen Atemfäden in der regenschweren Luft und an das endlose Warten auf den Bus, wenn sein Vater es nicht mehr im Krankenhaus ausgehalten und die Flucht nach draußen angetreten hatte.
Krankenhaus nannte Vater es immer, doch es war eine psychiatrische Anstalt, in die Mutter nach ihrem Selbstmordversuch eingeliefert worden war. Albert erinnerte sich an den starren Blick seiner Mutter und an ihren seltsamen Gesichtsausdruck. Doch das Schlimmste war, dass sie ihn nicht mehr erkannte, dass sie niemanden mehr erkannte.
An jenem dunklen Abend Ende November mussten sie eine halbe Stunde auf den Bus warten. Albert hatte einen Blick in das Schaufenster der Buchhandlung geworfen wie schon so oft, doch heute war darin etwas anders. Bisher hatten nur Bücher für Erwachsene die Auslage beherrscht, langweilige Bücher mit unverständlichen Titeln. Heute aber lagen hier Jugendbücher mit bunten, lockenden Umschlägen. Die meisten tat Albert als Kinderkram ab, auch wenn er selbst erst vor ein paar Tagen elf geworden war; an einem Buch allerdings blieb sein Blick hängen. Es zeigte auf dem Umschlag einen Mann, der mit einem Kerzenleuchter in der Hand in einem See stand. Vor ihm ragte ein aus Wasser gebildetes Gespenst auf. Das Wassergespenst von Harrowby Hall lautete der Titel des Buches. Es handelte sich um Gespenstergeschichten! Noch nie hatte Albert etwas Ähnliches gesehen und der Gedanke an die heimeligen Unheimlichkeiten, die zwischen jenen Buchdeckeln lauerten, nahm ihm fast den Atem. Er könnte mithilfe dieses Buches auf schaurige Reisen gehen, könnte allmählich in eine andere Welt eintreten, könnte sich fortträumen aus seiner eigenen trostlosen und traurigen Welt, hätte einen Leitfaden, den er selbst sich nicht zu schaffen vermochte. Hier war Hoffnung! Er musste das Buch haben, koste es, was es wolle.
Natürlich hatte die Buchhandlung schon geschlossen.
Am nächsten Tag schwänzte er die letzte Schulstunde – so etwas hatte er noch nie getan – und fuhr mit dem Bus zu der Buchhandlung gegenüber dem Krankenhaus. Mit klopfendem Herzen suchte er die Auslage ab. Das Wassergespenst hatte auf ihn gewartet. Er hastete in den Laden und verlangte nach dem Wunsch seines Herzens. Die junge Buchhändlerin schaute ihn belustigt an, holte für ihn das Buch aus der Auslage und gab es ihm. Er legte das Geld dafür auf die Theke und rannte aus dem Laden, als sei er auf der Flucht.
Von der Bushaltestelle aus konnte er das Krankenhaus sehen. Heute Abend, in der Dunkelheit, würde er wieder hier stehen. Doch dann würde er eine Fluchtburg haben. Dann würde er sich nach seiner Heimkehr mitten in der Dunkelheit in den Geschichten verlieren, die nun in seinem Ranzen steckten.
Der Besuch bei seiner Mutter war wie immer gewesen. Wie immer hatte sie niemanden erkannt, wie immer hatte der Arzt traurig den Kopf geschüttelt, wie immer war Vater früh geflohen, zu früh für den Bus, wie immer hatten sie lange an der Haltestelle gestanden. Aber später an jenem Abend hatte Albert in der relativen Sicherheit seines kleinen Zimmers neue Welten entdeckt, in denen er sich lustvoll verlor. Es waren Geschichten von Benson, Middleton, Lovecraft, Poe und vielen anderen Größen der Fantastik gewesen, die in diesem gar nicht kinderhaften Kinderbuch versammelt waren und deren volle Bedeutung er erst sehr viel später erkannt hatte. Dieser Tag jedoch hatte sein Leben in eine andere Richtung gelenkt.
Er seufzte, als er in dem schaukelnden Zugabteil an seine erste fantastische Leseerfahrung zurückdachte. Neununddreißig war er nun und die Liebe zur Fantastik hatte ihn nie mehr losgelassen. Seit jenem Tag vor achtundzwanzig Jahren hatte er sein ganzes Geld zu Buchhändlern und später zu Antiquaren gebracht, um zu vergessen, zu vergessen, zu vergessen. Sein Leben in diesen Büchern war viel wirklicher als sein Leben in der Welt. Seine Bücher hatten es ihm ermöglicht, über den Tod seiner Mutter hinwegzukommen. Sie war ein halbes Jahr später an den Folgen ihres bizarren Selbstmordversuches gestorben, ohne Albert oder sonst jemanden auch nur ein einziges Mal wiedererkannt zu haben.
Das gleichmäßige Grau des Himmels löste sich zu helleren und dunkleren Wolken auf; Albert versank wieder in seinem Roman. Er las jeden einzelnen Satz so, wie man guten Wein oder gutes Essen genießt. Man weiß, was einen erwartet, und will den Genuss so lange wie möglich währen lassen. Natürlich kam er so kaum mit dem Text voran.
Endlich gelangte er an die Stelle, die er zu Beginn der Reise vor sich hin gemurmelt hatte, übersprang sie und las weiter: »Dunkle drohende Wolken flogen über unseren Häuptern dahin und in der Luft lag eine schwere, drückende Schwüle. Es war, als trennte der Gebirgszug zwei grundverschiedene Atmosphären und als träten wir nun in die der Gewitter.«
Genauso empfand er es. »Ist es noch weit bis Kyllburg?«, fragte er die Runzeldame.
Sie schaute hinter ihrer Zeitschrift hervor. In ihren Augen lagen Vorsicht und eine gelinde Überraschung darüber, dass ihr Gegenüber offenbar einen zusammenhängenden Satz formulieren konnte. »Nein«, sagte sie heiser. »Wir sind gleich da.«
Und wirklich bremste der Zug bereits keuchend und quietschend.
»Ich hielt nun selbst Ausschau nach dem Gefährte, das mich zum Grafen bringen sollte …«
Er klappte das Buch wieder zu, stand auf und steckte es zurück in den Aktenkoffer. Dann nahm Albert seinen bleischweren Reisekoffer herunter und kämpfte sich aus dem Abteil, während er sich murmelnd von seiner Reisegefährtin verabschiedete. Sie gab ihm eine unverständliche, brummende Antwort.
Der Zug hatte tatsächlich eine ganze Stunde Verspätung.
Auf dem Bahnsteig wartete Paulus, der Chauffeur und Diener des Grafen, geduldig auf die Ankunft Albert Molls. In der bereits einsetzenden Abenddämmerung wirkte der Diener wie eine gewaltige, schwarze Schaufensterpuppe, die reglos auf ihre Belebung wartete. Erst als er Albert bemerkte, kam Leben in ihn. Mit automatenhaften Schritten ging er auf den Anwalt zu und streckte ihm die Hände entgegen.
»Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen, Herr Moll«, sagte er mit jener lächerlich hohen, in keinerlei Verhältnis zu seinem majestätischen Körper stehenden Stimme, die Albert bereits bei den wenigen Besuchen des Dieners in der Kanzlei belustigt hatte. Er unterdrückte ein Lächeln, setzte Koffer und Aktentasche ab und schüttelte Paulus die Hand. War Paulus sein Vor- oder Nachname? Oder beides? Albert wusste es nicht.
Paulus nahm die Koffer und geleitete seinen Gast durch das kleine Bahnhofsgebäude hinaus auf den Parkplatz, wo der alte, riesige Bentley des Grafen geparkt war. Paulus legte Alberts Gepäck in den Kofferraum, in dessen schwarzer Weite es beinahe verschwand, öffnete dann den Schlag und zwängte sich selbst hinter das große Lenkrad.
Albert lehnte sich in dem bequemen Rücksitz nach hinten und fuhr mit der Hand über das polierte Walnussholz, das an vielen Stellen durch das Leder brach. Dann entschuldigte er sich dafür, dass Paulus wegen der Verspätung so lange am Bahnsteig hatte warten müssen.
»Das macht nichts«, entgegnete Paulus piepsig. »Wir sind ja so froh, dass Sie nun bei uns sind.«
Albert runzelte die Stirn. Froh? Über die Ankunft eines Anwalts? Über Testamentsverhandlungen? Er bemerkte, wie Paulus ihn im Rückspiegel aufmerksam beobachtete. Was mochte ihn in Wahrheit erwarten? Er zitterte leicht vor unfassbarer Vorfreude.
Der Wagen ließ Kyllburg hinter sich, fuhr durch den winzigen Ort Malberg, dessen Schloss auf einer Bergkuppe über dem Ort thronte, tauchte in einen Wald ein, in dem sich schon die Schatten der Dämmerung geballt hatten, und kam schließlich zu einem bewaldeten Kamm, der von der Straße nur an einer einzigen Stelle durchbrochen wurde.
Als sie auf die andere Seite des Kamms gelangten, war es Albert, als sei er in eine fremde, abgeschirmte Welt eingedrungen.
Der Kamm war nichts anderes als der Kegel eines erloschenen Vulkans, der sich in einem fast vollkommenen Rund um Wiesen und ein Dorf schloss, an dessen Rand sich ein Hügel wie ein drohender Zeigefinger erhob. Auf diesem Hügel hockte die Burg mit ihren Türmen und Zinnen wie ein Schatten aus einer anderen Welt.
Ein Abendsonnenstrahl, der zaghaft hinter der aufreißenden Wolkendecke hervorblinzelte, traf eines der hohen, schmalen Fenster des mächtigen Gebäudes – ein goldgleißendes Auge starrte in den Abend und auf den ankommenden Gast.
Sie fuhren am gelben, ausgeblichenen Ortsschild vorbei.
Fangenburg.
Albert fragte sich, wie wohl sein Zimmer aussehen mochte. Lag es in einem der Türme oder war es ein hochherrschaftlicher Raum mit einem uralten Himmelbett, einer altersdunklen Holztäfelung und unheimlichen Porträts an den Wänden? Er hatte noch nie auf einer Burg übernachtet.
Der Bentley rollte die Hauptstraße entlang, bog dann nach links in eine kleine Gasse ein und glitt zwischen gedrungenen, weiß gekalkten Häusern hindurch, die sonderbar verlassen wirkten. Wiederum an der linken Seite führte eine schmale Straße bergan und auf das Schloss zu.
Albert war verwirrt, als der Bentley nicht dort hochfuhr, sondern weiter der kleinen Gasse folgte, die geradewegs in das Herz des stillen Dorfes zu stoßen schien. Sicherlich gab es irgendwo eine zweite Auffahrt, die für den schweren Wagen geeigneter war.
Zur Rechten bemerkte Albert eine neugotische Kirche, die für das winzige Dorf viel zu groß zu sein schien. Links neben ihr erstreckte sich ein Platz, unter dessen Linden bereits die Nacht eingekehrt war.
Der Bentley hielt auf diesem Platz, der an der linken Seite von einem zweistöckigen Haus mit eifeltypischen Sandsteineinfassungen um die lichtlosen Fenster begrenzt wurde. Über der modernen, hellen Holztür hing ein neongrelles Schild mit der Aufschrift: Zum Roten Ochsen.
»Ich hoffe, Sie werden hier einen angenehmen Aufenthalt haben«, meinte Paulus und schaltete den Motor aus.
»Bekomme ich kein Zimmer in der Burg?«, fragte Albert mit tiefer Enttäuschung in der Stimme. Er sah im Rückspiegel, wie Paulus lächelte.
»Ich bedaure zutiefst, dass das nicht möglich ist«, gab der Diener zurück. »Wir haben oben auf der Burg nicht die Mittel, es einem Gast Ihres Ranges bequem zu machen. Wir sind nicht auf Besuch eingerichtet.«
»Aber mein Bruder …«
»Auch Ihr Bruder hat noch nie eine Nacht auf der Fangenburg verbracht«, schnitt ihm Paulus das Wort ab. »Seien Sie versichert, dass Sie im Roten Ochsen besser aufgehoben sind.« Der Diener stieg aus und hielt Albert die Tür auf. Es war eine höfliche, zugleich aber auch sehr bestimmende Geste. Als Albert in der kalten Abendluft stand und sich zwischen den Schattenseen des Platzes umschaute, fröstelte ihn. Er schaute hoch zur Burg. Das goldene Fensterauge war erloschen.
Schon hatte Paulus sein Gepäck auf den Platz gestellt. »Der Graf erwartet Sie morgen früh.« Ohne dem Rechtsanwalt die Hand zu geben, stieg er wieder in den Bentley und fuhr davon.
Adieu, Dracula, dachte Albert. Hier endet die Übereinstimmung des Lebens mit dem Traum. Es wäre ja auch zu schön gewesen.
Wie still es hier war. Kein Laut drang an seine Ohren. Kein Hundegebell, keine Kinderstimmen, kein Motorenlärm, kein Hühnergegacker oder Gänsegeschnatter. Er warf einen letzten Blick auf die plötzlich so fern wirkende Burg, wuchtete seufzend den Reisekoffer hoch, nahm mit der anderen Hand den kleinen, schwarzledernen Aktenkoffer auf und tauchte in die Lindenschatten ein.
Der Schankraum war leer und dunkel. Die Lichtreste, die durch die niedrigen Fenster an der Platzseite drangen, gaben Albert bloß eine Ahnung gedrungener, labyrinthischer Balken, etlicher Tische und Stühle und einer breiten Theke.
Er stellte sein Gepäck ab und rief: »Hallo?«
Niemand antwortete ihm.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Zwielicht. Die Tische waren poliert und hatten keine Decken; auf jedem stand eine kleine Vase mit frischen Blumen. Balkenkonstruktionen bildeten Nischen um einige der Tische und verwirrten die Konturen des Raumes zu einem hölzernen Irrgarten.
»Hallo?« Sollte das ein Witz sein? Hatte man ihn als Zielscheibe für eine Posse auserkoren? Es wäre nicht das erste Mal in seinem Leben. Albert spürte, wie jegliche Gefühle von Freude und Wunder aus ihm abflossen und einer verzweifelten Wut Platz machten. »Ist denn hier niemand?«
Ein Lichtspalt erschien neben der Theke und warf einen hellen, sich rasch verbreiternden Balken auf den Boden. Eine gedrungene Gestalt erschien im Türdurchgang. Sie machte einen Schritt in den Schankraum hinein, dann blieb sie stehen.
»Hallo, Sie da!«, rief Albert. Er rührte sich nicht von der Stelle. »Hier ist offenbar ein Zimmer für mich bestellt worden. Albert Moll ist mein Name. Sind Sie der Wirt?«
Wie ein Blitz sprang Licht ihn an. Die Gestalt hatte die Beleuchtung eingeschaltet. Schatten flohen mit leisem Gewisper. Langweilige Formen und Farben ordneten sich zur Alltäglichkeit einer Dorfkneipe.
»Moll?«, fragte die Gestalt mit tiefer, heiserer Stimme und glitt hinter die Theke. Albert hörte, wie ein Buchdeckel aufgeschlagen wurde und Papier raschelte. »Albert Moll? Ein Zimmer, bestellt vom Grafen. Ja. Hier ist der Schlüssel.«
Es klapperte auf der Theke.
Albert nahm seine beiden Koffer auf und stellte sie vor dem Tresen wieder ab. Der alte Mann dahinter trug einen fleckigen Pullover, aus dem viele Fäden hervorlugten; er war unrasiert; seine grauweißen Bartstoppeln erinnerten an ein abgeerntetes Feld. Die Lippen waren eingefallen; offenbar hatte der Mann keine Zähne mehr im Mund.
Er sah Albert mit forschendem Blick an. »Aus der Stadt, nicht wahr? Sie haben das schönste Zimmer. Gleich unter dem Dach. Gemütlich und groß. Wird Ihnen gefallen. Nummer 14.« Er schob Albert den Schlüssel entgegen. »Nehmen Sie ihn mit, wenn Sie heute Abend noch ausgehen. Obwohl ich nicht wüsste, wo Sie hingehen sollten.«
»Kann ich bei Ihnen ein Abendessen bekommen?«
»Wir haben heute Ruhetag.«
»Gibt es hier am Ort noch ein anderes Restaurant?«
»Nein.«
»Und was soll ich jetzt machen?« Alberts Wut kochte höher.
»Auf das Frühstück warten. Gibt’s morgen früh ab sieben. Sie sehen nicht so aus, als würden Sie in der Zwischenzeit verhungern.« Er starrte seinen Gast frech an.
Sollte Albert es diesem verlotterten Alten mit gleicher Münze heimzahlen? Nein, das war es nicht wert. Er würde eine oder zwei Nächte hier verbringen und dann diesem Ort den Rücken kehren für immer und ewig. »Wo ist die Treppe nach oben? Einen Fahrstuhl haben Sie ja wohl nicht, oder?«
»Einen Fahrstuhl für zwei Etagen? Unsere Gäste sind normalerweise noch so rüstig, dass sie ihr Gepäck zu Fuß raufbringen können. Die Treppe ist da hinten.« Er zeigte auf eine Tür rechts neben der Theke; dann verschwand er ohne ein weiteres Wort hinter der Tür, durch die er gekommen war.
Albert schleppte sich ächzend mit seinem schweren Reisekoffer ab. Auf der schmalen, steilen Treppe wäre er beinahe gestürzt, konnte sich aber gerade noch am Geländer festhalten. Schließlich stand er in einem fensterlosen Gang, der wie ein schwarzer Schlauch ins Nichts zu führen schien. Albert tastete nach einem Lichtschalter. Als er ihn endlich gefunden hatte, quälte sich das kranke Licht einer Energiesparlampe durch den Korridor, von dem nur drei Türen abzweigten. Nr. 14 war das letzte Zimmer. Resigniert schloss Albert die Tür auf, schaltete das Licht dahinter ein und sah sich um.
Der Raum machte einen geräumigen, sauberen und frischen Eindruck; er passte keinesfalls zu der Erscheinung des verwahrlosten Wirtes. Die beiden Gaubenfenster besaßen gerüschte Gardinen; die Bettwäsche war vom selben Stoff; der alte Schreibtisch unter dem rechten Fenster hatte eine Schreibunterlage aus grünem Leder und am Schlüssel des verspiegelten Kleiderschrankes baumelte ein Lavendelsäckchen.
Albert wuchtete den Reisekoffer auf das Bett, das kaum nachgab. Den Aktenkoffer legte er daneben und verließ das Zimmer. Er musste nach draußen, an die Luft, musste ein paar Schritte gehen, um Ordnung in seine Gedanken und Wünsche zu bringen.
Das Licht in der Schankstube war bereits wieder ausgeschaltet. Albert durchquerte den Raum an der verlassenen Theke und den Balkennischen entlang und trat nach draußen in den Frühlingsabend.
Die Sonne war bereits hinter dem Kraterrand versunken; die Bäume des kreisförmigen Bergkamms stachen wie Nägel in den tiefblauen Himmel. Alle Wolken hatten sich verzogen. Albert ging die Gasse zurück, durch die Paulus ihn gefahren hatte, und bog dann nach rechts in die steil ansteigende Straße ein, von der er vermutete, dass sie zur Burg führte.
Die Häuser rechts und links wirkten verlassen; kein Lichtschein drang aus ihren Fenstern. Niemand war auf der Straße zu sehen; nicht einmal ein Hund bellte, als Albert sich den Berg hochkämpfte. Er war nicht gerade leichtgewichtig und schwitzte stark, als er endlich die Hügelkuppe erreicht hatte. Der Torbau des Schlosses erhob sich zu seiner Linken; er war genauso tot und abweisend wie all die anderen Häuser. Zwischen zwei zinnenbewehrten Türmen steckte ein uraltes Holztor, das nicht den geringsten Ausblick auf die Burg dahinter freigab. Lediglich die hexenhutartigen Schieferdächer einiger Rundtürme ragten hinter den Mauern so hoch in den Himmel, dass sie auch vom Tor aus zu sehen waren.
Albert war traurig, nicht innerhalb dieser Mauern logieren zu dürfen. Er war traurig, dass sein Dracula-Traum zerstoben war. Aber was hatte er denn erwartet? Früher oder später mussten all seine Fluchten an der Wirklichkeit zerschellen. War es eigentlich nicht genau das, was er wollte? Was wäre denn, wenn er plötzlich einen Schritt hinter die Wirklichkeit machte und mitten in eine seiner papiernen Fantasien stolperte? Was wäre, wenn er keine Rückzugsmöglichkeit mehr hätte, wenn er selbst in eines der Bücher geriete, die er über alles schätzte, und deshalb nicht mehr einfach den Band zuklappen konnte, um seine Geister zu bannen? Ihn fröstelte.
Er wandte sich von der Burg ab und war erstaunt, dass die Straße hier oben keineswegs zu Ende war. Sie verengte sich zu einem unasphaltierten Weg und verlief über einen schmalen Grat, der den Burghügel mit dem kreisförmigen, bewaldeten Kraterrand verband. Eine kleine Wandertafel kurz vor dem Grat zeigte einige Rundwege. Sie zerstörte mit ihrer spießigen Normalität die letzten Wunderreste, die noch in der kühlen Abendluft um die Mauern der alten Burg gelagert hatten.
Albert hatte keine Lust, jetzt schon zum Roten Ochsen zurückzukehren; also betrat er den Gratweg.
Der Pfad wurde von einigen Fichten gesäumt, zwischen denen man nach rechts und links einen beunruhigenden Blick auf den Grund des Kratertals hatte. Der Weg schien in der Luft zu schweben wie eine Hängebrücke über einem geheimnisvollen Urwaldtal. Albert hätte sich kaum gewundert, wenn der Boden unter ihm plötzlich zu schwanken begonnen hätte.
Doch er blieb fest und unbewegt und rasch hatte Albert die enge Schlucht überquert. Der Kamm dahinter war viel breiter, als es von unten den Anschein gehabt hatte. Der bequeme Weg verlief zunächst auf der Kammhöhe, dann führte er ein Stück weit abwärts und schmiegte sich an die Bergflanke.
Albert blieb bald stehen. Der Himmel wechselte langsam von Dunkelblau zu Schwarz. Schon sah er das Funkeln der ersten Sterne über den Wipfeln. Es war zu gefährlich, in diesem Düster weiterzugehen; wie schnell konnte er sich den Knöchel verstauchen oder gar einen Fehltritt machen!
Da bemerkte er neben sich in der Bergflanke ein aufklaffendes Gittertor. Zuerst hatte es im ungewiss gewordenen Licht wie Gestrüpp ausgesehen, doch als Albert näher heranging, entdeckte er, dass sich hinter dem spärlichen Unterholz eine Grotte oder gar eine Höhle in den Fels bohrte. Sie war mannshoch und das offen stehende Gitter wirkte wie eine Einladung.
Höhlen faszinierten Albert. Man konnte sich in ihnen so vieles vorstellen, wenn man sie nicht allzu eingehend untersuchte. Er erinnerte sich an die unzähligen Höhlen und Tunnelsysteme, die das Werk Howard Phillips Lovecrafts durchzogen, und an die grausigen Geheimnisse, die diese lichtlosen Kavernen bargen. Ein wohliger Schauer durchrieselte ihn. Dracula war vergessen. Er machte einen Schritt in die Höhle hinein.
Dunkelheit sprang ihn an. Es war, als sei er vom einen Augenblick auf den anderen erblindet. Beißende Gerüche stiegen ihm in die Nase: Erbrochenes, Exkremente. Nach ein paar weiteren Schritten drehte er sich um.
Der Höhlenausgang war kaum mehr zu erkennen.
Hinter ihm raschelte etwas.
Er wirbelte wieder herum und blinzelte in die Finsternis. Das Rascheln hörte auf; einige Minuten herrschte völlige Stille, doch dann setzte ein schabendes Geräusch ein.
Es kam auf ihn zu.
Es klang wie etwas Großes, das über den Boden schleifte. Wie etwas sehr Großes.
Albert floh nach draußen. Hinter dem offenen Gitter hielt er kurz an. Das Geräusch war verstummt.
Inzwischen hatte samtene Schwärze die letzten Reste des Tages geschluckt. Albert konnte kaum mehr etwas sehen. Er ertastete sich seinen Weg zurück und ging so vorsichtig, als wandle er über dünnstes Eis. Langsam beruhigte er sich wieder. Bestimmt hatte er nur ein Tier in dieser Höhle aufgescheucht, das mindestens genauso viel Angst gehabt hatte wie er selbst.
Nein, dort in den Eingeweiden des Berges war er seinen Träumen zu nahe gekommen; das spürte er. Es war besser, die Fantasie über die Wirklichkeit zu stülpen und nicht die Fantasie mit der Wirklichkeit zu erschlagen.
Er fand den Gratweg wieder. Hier war er besonders vorsichtig; schließlich wollte er keinen Absturz riskieren. Trotzdem kam er einmal dem Abgrund gefährlich nahe. Sein Fuß fand keinen Halt mehr und er geriet ins Trudeln. Rasch klammerte er sich an eine der Fichten und verhinderte so in letzter Sekunde seinen Fall in die Tiefe. Seine Beine wurden weich und gaben nach. Mit klopfendem Herzen setzte er sich auf den Boden des Pfades.