Das Haus der finsteren Träume - Shaun Hamill - E-Book
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Das Haus der finsteren Träume E-Book

Shaun Hamill

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Beschreibung

Die USA in den 1960er-Jahren: Harry Turner, ein geradezu fanatischer Verehrer von H. P. Lovecraft, macht sich an die Verwirklichung eines gewaltigen Vorhabens. Auf seinem Grundstück soll ein Geisterhaus entstehen, und zwar das größte und unheimlichste, das Amerika je gesehen hat. Harrys komplette Familie arbeitet an dem Projekt mit, obwohl seine pragmatisch veranlagte Frau und seine beiden Töchter die Augen vor der gruseligen Wahrheit verschließen: Die Monster, die im Geisterhaus der Turners ihr Unwesen treiben, sind echt. Der einzige, der diese Tatsache akzeptiert, ist der jüngste Turner-Spross Noah. Doch als er eines Tages beschließt, den Ungeheuern die Tür zu öffnen, wird das Leben der Turners zum Albtraum ...

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Seitenzahl: 524

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Das Buch

Die USA in den 1960er-Jahren: Harry Turner, ein geradezu fanatischer Verehrer von H. P. Lovecraft, verliebt sich in die Buchhändlerin Margaret. Sie heiraten, gründen eine Familie und leben in bescheidenen, aber glücklichen Verhältnissen, obwohl Margaret immer wieder von nächtlichen Schreckensvisionen heimgesucht wird, die direkt aus Lovecrafts Horrorgeschichten stammen könnten. Auch die drei Kinder Sydney, Eunice und Noah werden ständig von Albträumen geplagt. Selbst an Harry gehen die grausamen Bilder nicht vorüber, und so beschließt er eines Tages, auf seinem Grundstück ein Geisterhaus zu bauen, und zwar das größte und unheimlichste, das Amerika je gesehen hat. Was ihm leicht gelingt, denn die Monster, die darin ihr Unwesen treiben, sind echt. Der Einzige, der diese Tatsache akzeptiert, ist Noah. Als er eines Tages den Ungeheuern die Tür öffnet, wird das Leben der Turners zum Albtraum …

Der Autor

Shaun Hamill wurde in Arlington, Texas, geboren und verbrachte seine Kindheit mit jeder Menge Horrorromane und -filme. Er machte 2008 seinen Abschluss in Englischer Literatur an der University of Texas und absolvierte 2016 erfolgreich den renommierten Iowa Writers’ Workshop. Das Haus der finsteren Träume ist sein Debütroman. Shaun Hamill ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in den dunklen Wäldern Alabamas.

Shaun Hamill

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Jürgen Langowski

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der OriginalausgabeA COSMOLOGYOFMONSTERS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 05/2020

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2019 by Shaun Hamill

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,unter Verwendung eines Motivs von alx_rmnwsky / Shutterstock

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-23644-1V001

www.heyne.de

Dieses Buch widme ich meiner Mutter Patricia Hamill,meiner Mentorin Laura Kopchickund meiner Frau Rebekah H. Hamill.

Er war ein Mensch, der unser Innerstes auszuleben verstand. Irgendwie gelang es ihm, in die Schatten vorzustoßen, die tief in uns liegen, unsere geheimsten Ängste zu packen und sie auf die Leinwand zu werfen. Lon Chaneys Geschichte ist die Geschichte einer unerwiderten Liebe. Er bringt diesen Anteil in uns zum Vorschein, weil wir alle fürchten, nicht geliebt zu werden, weil wir fürchten, nie mehr geliebt zu werden, und weil wir fürchten, wir hätten etwas Groteskes an uns, von dem die Welt sich nur abwenden könne.

Ray Bradbury

Nachdem er eingeschlafen war, befiel ihn ein noch nie dagewesener Traum von riesigen Zyklopenstädten aus titanischen Blöcken und vom Himmel gestürzten Monolithen, die vor grünem Schlamm troffen und unheilvolle Schrecken bargen. Wände und Säulen waren von Hieroglyphen bedeckt, und von unten, unbestimmbar von wo, war eine Stimme erklungen, die keine Stimme war; eine chaotische Sensation, die nur der fantastischste Wahnsinn in Laute übersetzen konnte, die er durch die fast nicht aussprechbare Unordnung von Buchstaben, durch »Cthulhu fhtagn« wiederzugeben suchte.

H. P. Lovecraft, Cthulhus Ruf

Erster Teil

Das Bild im Haus

1

Als ich sieben Jahre alt war, begann ich damit, die Abschiedsbriefe meiner älteren Schwester Eunice zu sammeln. Ich bewahre sie bis heute in einem schwarzen Schnellhefter in der untersten Schreibtischschublade auf. Sie gehörten zu den wenigen Dingen, die ich mitnehmen durfte, und ich habe sie in den letzten Monaten oft gelesen, als ich Trost, Weisheit oder wenigstens einen kleinen Fingerzeig dafür suchte, dass ich für uns alle die richtigen Entscheidungen getroffen habe.

Irgendwann fand Eunice heraus, dass ich ihre Briefe aufhob, und begann damit, sie direkt an mich zu richten. In einem meiner liebsten Abschiedsbriefe schreibt sie: »Noah, so etwas wie ein Happy End gibt es nicht. Es gibt nur gute Gelegenheiten zum Aufhören.«

Meine Familie ist eine Katastrophe, wenn es ums Aufhören geht. Mit solchen Situationen können wir nicht würdevoll umgehen. Mit Anfängen kommen wir allerdings auch nicht gut zurecht. Das erste Viertel dieser Geschichte habe ich beispielsweise erst vor Kurzem erfahren. Als Jugendlicher und junger Erwachsener habe ich mich wie Jervas Dudley vor der versiegelten Grabstätte unserer Familiengeschichte herumgetrieben. Wer immer Sie auch sind, genau diesen Kummer will ich Ihnen ersparen. Damit dies gelingt, muss ich im Herbst 1968 am äußersten Rand der Schatten, die über meiner Familie liegen, mit meiner großen, hellhäutigen und rothaarigen Mutter Margaret Byrne beginnen.

2

Wie ich selbst war auch meine Mutter in der Ehe ihrer Eltern eine Nachzüglerin. Im Gegensatz zu mir konnte sie jedoch die Vorzüge eines wohlhabenden Elternhauses genießen. Ihr Vater Christopher Byrne arbeitete bei Dillard’s als Einkäufer für Damenmode und unterhielt eine enge persönliche Beziehung zum Inhaber William T. Dillard.

Margaret kannte ihren Vater nicht sehr gut; sie hielt ihn für einen adretten Fremden, der nach Zigaretten roch und von seinen Reisen nach New York immer Geschenke mitbrachte – meist Originalaufnahmen der Broadway-Musicals, die er dort gesehen hatte –, mit denen sie nicht viel anfangen konnte. Sie wuchs in einem Vorort von Memphis, Tennessee in einem geräumigen Haus auf, verfügte dauerhaft über ein großzügig bemessenes Taschengeld und bekam schöne Kleider, Autos sowie zu gegebener Zeit einen Studienplatz an der Alma Mater ihrer Eltern: an der Tilden University, einem kleinen, christlich-konservativen Institut in Searcy, Arkansas.

Über Geld musst du dir niemals Sorgen machen, sagte Margarets Mutter ihr, und im Jahre 1965 schien das der Wahrheit zu entsprechen. Mein Großvater war bei Dillard’s so erfolgreich, dass er, als meine Mutter sich 1966 am College immatrikulierte, seine Anstellung im Kaufhaus aufgeben und einen eigenen Laden eröffnen konnte. Im Winter 1967 gingen die Geschäfte jedoch schlecht, und im Sommer 1968, als Margaret die Ferien daheim verbrachte, musste die Mutter ihr mitteilen, dass das Geschäft Bankrott gemacht hatte. Die Byrnes konnten ihr noch ein Jahr lang die Ausbildung bezahlen, mussten ihr aber das Auto, das Taschengeld und das Geld für die Unterkunft streichen.

Als Margaret ihre Eltern darauf aufmerksam machte, dass sie mindestens noch zwei Jahre brauchte, um den Bachelor in Anglistik zu erhalten, ganz zu schweigen vom angestrebten Master in Bibliothekswissenschaft, sagte ihre Mutter: »Ich würde vorschlagen, dass du die Arbeit an deinem MRS-Status beschleunigst, ehe du dir über den BA den Kopf zerbrichst.«

Einigermaßen eingeschüchtert bemühte Margaret sich, aus der unmöglichen Situation das Beste zu machen. Als sie im Herbst nach Searcy zurückkehrte, nahm sie einen Job bei Bartleby’s an, dem einzigen Buchladen des Ortes, und mietete ein Zimmer bei dessen Inhaberin Rita Johnson, deren einzige Religion das geschriebene Wort war und die sich politisch eher an Betty Friedan als an Richard Nixon orientierte. Mrs. Johnson lebte in einem gemütlichen zweistöckigen Haus in Campus-Nähe, verlangte an Miete kaum mehr als ein Almosen und stellte so gut wie keine Regeln auf. Es war ihr egal, wie lange Margaret aufblieb, solange sie keine Jungs in den ersten Stock mitnahm. Außerdem durfte Margaret nach Belieben den Fernseher und den Plattenspieler benutzen, solange sie den Ton nicht zu laut aufdrehte.

Diese neuen Freiheiten waren eine abrupte, fast erschreckende Veränderung gegenüber den strengen Regeln des Studentenwohnheims. Eigentlich hatte Margaret gar nicht auf die Tilden gehen wollen, wo man moralische Verpflichtungserklärungen unterschreiben und zwangsweise am Sonntagmorgen den Gottesdienst besuchen musste. Sie hatte sich nur dort eingeschrieben, weil es die einzige Universität war, für die ihr Vater zahlen wollte. In der Hoffnung auf den Collegeabschluss, einen Beruf und ein eigenständiges Leben hatte sie die frommen Rituale über sich ergehen lassen. Jetzt, bei Mrs. Johnson, bekam sie einen Vorgeschmack, wie dieses Leben aussehen könnte.

Margaret liebte ihr neues Quartier, die neue Freiheit und vor allem das schwache Licht und die schmalen Gänge im Bartleby’s. Es gefiel ihr, die Neuerscheinungen einzusortieren, Bücher nach Themen geordnet auszustellen und den Kunden, den verwandten Geistern, dabei zu helfen, die passenden Geschichten zu finden. Den einzigen Makel ihres Arbeitslebens bildete ein junger Mann namens Harry, der zweimal in der Woche vorbeikam und Fragen stellte, deren Antworten er ihrer Ansicht nach sowieso schon kannte: Wer schrieb Große Erwartungen? Wo stehen hier die Biografien? Stets bedankte er sich bei Margaret für die Informationen, doch unabhängig von dem, was ihn angeblich interessierte, trieb er sich in der Science-Fiction-Abteilung herum und las die Bücher, ohne jemals auch nur ein einziges zu kaufen.

Er war jung, etwa in Margarets Alter, und sie nahm an, dass er wie sie an der Tilden studierte. Sie fragte sich, wie er die Zeit fand, so viel zu lesen und trotzdem noch zum College zu gehen. Und wenn er schon die Tilden besuchte, konnte er es sich vermutlich auch leisten, die Bücher zu kaufen. Warum also hing er hier herum? Es ging ihr auf die Nerven, doch wann immer sie ihn darauf ansprach, stellte er das Buch einfach zurück ins Regal, entschuldigte sich und ging.

Eine Zeit lang arbeitete sie zweiunddreißig Stunden die Woche im Laden, besuchte den Unterricht und lernte in der Freizeit. Diese Einteilung erwies sich jedoch als unerwartet schwierig. Die Arbeit, selbst die relativ leichte Tätigkeit in der Beschaulichkeit bei Bartleby’s, war anstrengend. Nach einer vollen Schicht taten ihr die Füße weh, und ihr Kopf fühlte sich an wie ein ausgewrungener Schwamm. Danach wollte sie sich nur noch auf Mrs. Johnsons Sofa legen und fernsehen. Wenn sie sich abends doch einmal überwand und lernte, wurde es ein langsamer, mühsamer und von Wiederholungen geprägter Prozess. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren, und musste viele Abschnitte (oder gar einzelne Sätze) mehrmals lesen, um wenigstens andeutungsweise deren Sinn zu erfassen. Die ganze Zeit über war sie müde und verschlafen, sie versäumte den Unterricht und reichte Hausarbeiten zu spät oder gar nicht ein. Ende September waren ihre Noten schlechter denn je.

Ihr Sicherheitsnetz, das ihre Mutter ihr so spöttisch eingeflüstert hatte, der Status als »Mrs.«, erschien in Gestalt von Pierce Lombard, der wie sie das Seminar über Europäische Kulturgeschichte belegt hatte. Der große dürre Bursche mit einem Kurzhaarschnitt, der seit zehn Jahren aus der Mode war, den dicken Lidern und den dunklen Ringen unter den Augen wirkte ewig schläfrig und sah ein Jahrzehnt älter aus, als er tatsächlich war (zwanzig), doch er lud Margaret mindestens einmal in der Woche ein, und er stammte aus einer Hähnchendynastie. Wenn man Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts irgendwo im Süden der USA im Supermarkt einkaufte, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man ein Hähnchen von Lombard erwarb. Manchmal versuchte Pierce, Margaret die Branche zu erklären, doch jedes Mal, wenn er damit anfing, schweiften ihre Gedanken ab.

Sie gingen nicht oft ins Kino, weil Pierce die meisten Filme nicht mochte (er war selbst nach den Maßstäben der Tilden sehr konservativ und gläubig), und wenn sie doch einmal hingingen, saß er wie in Habachtstellung da und lächelte, aber lachte nie. Manchmal beobachtete Margaret im Dunkeln lieber ihn, als den Film anzuschauen. Jetzt sah er aus wie dreißig. Wie mochte er in zehn oder zwanzig Jahren aussehen, wenn der Druck auf den Erben des Hähnchenimperiums allmählich seine Spuren hinterließ?

Er war höflich, hielt ihr immer die Tür auf und sagte »bitte« und »danke«. Wenn sie mit seinem Mercedes irgendwohin zum Knutschen fuhren, wirkten seine Küsse mathematisch berechnet, um genau auf der Grenze zwischen Leidenschaft und guten Manieren zu bleiben, während er sie an der Hüfte, am Bauch und im Gesicht berührte. Margaret war ein »braves Mädchen«, immer noch Jungfrau und stellte sich vor, die wahre Liebe müsse wie ein heftiger und gefährlicher Kampfsport sein. Etwas, das man auf Eisenbahngleisen oder auf dem Waldboden tat. Zwei Körper, die miteinander rangen, um der Reinheit des Geistes Ausdruck zu verleihen. Sie fragte sich, ob Pierce, der ebenfalls ein »braver Junge« war, darauf wartete, dass sie spirituelle Verbundenheit zeigte, ehe er diese Art Leidenschaft an den Tag legte. Eines Abends Anfang Oktober griff sie ihm in den Schritt und drückte kräftig. Er fuhr auf, stieß sie weg und zog sich zur anderen Seite des Fahrersitzes zurück.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte er.

»Weil ich es wollte«, antwortete sie.

»Darum geht es nicht«, erwiderte er. »Wir sollten das nicht tun.«

Danach fuhr er sie heim und küsste sie nicht zum Abschied.

Sie hatte immer angenommen, Religion sei etwas, das man in höflicher Gesellschaft tat, aber nicht im Privatleben. Den Unsinn, dem man sich sonntags unterwarf, konnte doch niemand tatsächlich glauben. Pierce war ein Junge. Sollte er sie nicht ein wenig bedrängen und herausfinden, was sie ihm gerade noch durchgehen ließ? Glaubte wirklich irgendjemand, Jesus Christus interessierte sich auch nur einen Dreck dafür, was sie mit ihren Geschlechtsteilen anstellten? Pierce sollte doch überglücklich sein, dass sie ein wenig Interesse an seinem Penis gezeigt hatte, oder nicht?

Nachdem Margaret ihn begrabscht hatte, rief er nicht mehr an und suchte sich im Kursraum und im Gottesdienst immer einen Platz, der möglichst weit von ihrem entfernt war. Die neu gefundene Freizeit trug allerdings nicht dazu bei, dass ihre Noten besser wurden. Sie fiel nacheinander bei drei Prüfungen durch. Als der Mathematiklehrer ihr die Halbjahresprüfung mit einer fetten Sechs auf dem Titelblatt zurückgab, murmelte er: »Miss Byrne, reißen Sie sich zusammen.«

Sie empfand eine vage Wut, weil alles so unfair war. Warum bekam sie Probleme, wenn ihr Vater ein schlechter Geschäftsmann war? Warum war sie dafür zuständig, eine vertrottelte Schnarchnase zu überreden, ihren Körper zu genießen? Wie sollte man denn unter diesen Umständen Erfolg haben?

An dem Tag, als sie die Mathematikprüfungsarbeit zurückbekam, nahm sie die Wut in ihre Schicht bei Bartleby’s mit. Mrs. Johnson erfasste die emotionale Großwetterlage und teilte sie dazu ein, allein die Science-Fiction-Abteilung zu bestücken. An sich wäre das in Ordnung gewesen, doch Harry hockte mit dem Rücken zum Regal mitten im Gang und hatte ein aufgeschlagenes gebundenes Buch auf den Knien. Direkt über seinem Kopf hing das Schild: »Dies ist kein Lesesaal!«

Mit verschränkten Armen funkelte sie ihn an. Durch das Fenster hinter ihr schien die Sonne herein, und ihr Schatten wanderte den Gang hinab, bis Harry im Dunkeln hockte.

»Hallo, Margaret«, sagte er und lächelte sie an. »Haben Sie vielleicht etwas von Philip Roth?« Als sie das Lächeln nicht erwiderte, fragte er: »Was ist los?«

»Können Sie lesen?«, gab sie zurück. »Verstehen Sie die Worte auf den Seiten, die Sie umblättern? Oder sind Sie nur hier, weil Sie für die Passanten klug aussehen möchten?«

»Ich kann lesen«, antwortete er.

»Warum können Sie dann nicht …« Sie riss das Schild mit dem Hinweis, dass dies kein Lesesaal sei, vom Regal ab und wollte es ihm vor die Nase halten. Das dünne Papier flatterte wie ein fallendes Herbstblatt zwischen ihnen und sank schlaff auf den Boden. Harry beobachtete es, bis es gelandet war, und sah sie erneut an.

»Was kann ich?«

»Warum können Sie nicht … Sie … wenn Sie es lesen, müssen Sie es kaufen!« Sie packte ihn an der Schulter. »Aufstehen!«

Von ihrem Wutausbruch überrascht, gehorchte Harry und ließ sich widerstandslos von Margaret zu Mrs. Johnson an der vorderen Theke führen. Das Buch hielt er offen in den Händen.

»Harry möchte bezahlen«, sagte Margaret. Sie schubste ihn zur Kasse.

Er warf ihr einen gequälten Blick zu, legte jedoch das Buch auf die Theke. Es war ein großer glänzender Band, wie man ihn vielleicht auf dem Kaffeetisch zur Schau stellte.

Mrs. Johnson nahm das Buch und betrachtete das Preisschild auf dem vorderen Einband. »Sind Sie sicher, Harry?«

Er grunzte zustimmend. Mrs. Johnson bediente die Kasse. Er schnitt eine Grimasse, als er den Preis sah, zückte jedoch die verschlissene, rissige Geldbörse und zahlte. Mrs. Johnson steckte das Buch in eine Tragetasche. Er bedankte sich murmelnd und ging.

Sie wartete, bis er draußen war, ehe sie sich an Margaret wandte. »Was war das denn jetzt?«

»Nichts weiter«, antwortete Margaret.

»Wirklich nichts oder nichts, über das Sie reden wollen?«

»Das können Sie sich aussuchen, Mrs. Johnson.«

»Junge Dame, hüten Sie Ihre Zunge!«

Margaret machte sich wieder daran, die Regale aufzustocken. Im Laufe der Schicht flaute der Ärger ab und verflog, bis sie sich selbst über ihren heftigen Ausbruch wunderte. Einige Einzelheiten fielen ihr immer wieder ein. Dinge, die sie vorher nie bei Harry bemerkt hatte: der ausgefranste Ärmel am Button-down-Hemd, wo der Stoff nach viel zu vielen Waschgängen ausfaserte, die ausgebleichten Knie der Jeans, ein leicht fettiger Geruch, den sie nicht einordnen konnte, der aber alles zu durchdringen schien, wenn man ihm nahe kam.

Am Ende ihrer Schicht empfand sie eine dumpfe Scham, die sich noch verstärkte, als sie sah, dass Harry auf dem Parkplatz auf sie wartete. Er hockte im Schneidersitz auf der Haube eines verbeulten alten Chevys und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Derart alte Autos sah man kaum auf dem Campus. Vielleicht war er ein Stipendiat? Oder er versuchte wie sie, seine Ausbildung mit eigener Arbeit zu finanzieren. Mit heißem Gesicht überwand sie sich und ging zu ihm.

»Das Buch war ziemlich teuer«, sagte er.

»Sie können es zurückbringen. Wenn Sie die Quittung haben, bekommen Sie das Geld zurück.«

Er schnitt eine Grimasse. »Das könnte ich Mrs. Johnson nicht antun. Sie ist immer so nett zu mir.«

»Soll ich es bezahlen?« Schon suchte sie die Geldbörse in der Handtasche.

Er bewegte den Kopf hin und her, als sei er mit sich selbst uneins. »Ich wollte heute Abend ins Kino. Wenn Sie wirklich etwas in Ordnung bringen wollen, könnten Sie die Karten kaufen.«

»Ich soll mit Ihnen ins Kino gehen?«

»Ich fahre«, sagte er. »Sie kaufen die Tickets.«

»Was wollen Sie denn anschauen?«

»In Little Rock ist gerade Rosemary’s Baby angelaufen«, erklärte er.

Margaret hatte von dem Film gehört. Der Prediger hatte ihn letzte Woche in der Kirche mit gewaltigen, aufregenden Begriffen geschmäht. Blasphemisch, vulgär, grässlich. Jeder Schüler, der den Film sah (oder den Roman von Ira Levin las, auf dem er beruhte), würde von der Schule verwiesen. Aber weder Dr. Landons Warnung noch den Zetteln, die überall auf dem Campus hingen, konnte man Einzelheiten über den Film entnehmen. Warum war er so vulgär? Und warum blasphemisch?

Hätte Margaret noch im Wohnheim gelebt, dann hätte sie nicht einmal darüber nachgedacht. Doch Mrs. Johnson würde sie nicht verraten. Die Inhaberin von Bartleby’s war der Ansicht, alle Geschichten sollten allen Menschen ohne Rücksicht auf irgendwelche Moralvorstellungen zugänglich sein. Sie wäre stolz darauf gewesen, dass Margaret sich selbst ein Bild machen wollte.

Allerdings war Little Rock fünfzig Meilen von Searcy entfernt, und Margaret hatte die Chemieaufgaben noch nicht erledigt, was sie Harry auch sagte.

»Ich fahre auf dem Hinweg und dem Rückweg extra schnell«, versprach er ihr.

Sie betrachtete ihren schlichten Pullover und den Rock, den sie schon am Morgen im Unterricht getragen hatte. Nicht gerade ein herausragendes Ensemble für ein erstes Date, aber es ging schließlich um Wiedergutmachung und nicht um Romantik. Die Kleidung half sogar, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte.

»Dann lassen Sie uns fahren«, willigte sie ein.

3

Es war ein Horrorfilm mit dem Mädchen aus Glut unter der Asche über ein junges Ehepaar, das in eine neue Wohnung zog und von den älteren, scheinbar sehr zugewandten Satanisten nebenan umgarnt wurde. Margaret kaufte die Karten, Harry bezahlte Popcorn und Limonade. Während des Films berührten sich ihre Finger einige Male im Popcornbecher, doch Harry versuchte nicht, ihre Hand zu halten oder sie in den Arm zu nehmen. Vielmehr starrte er entrückt die Leinwand an.

Der Film arbeitete nicht mit billigen Schockeffekten, sondern war auf einer tiefen, urerlebnishaften Ebene verstörend. Margaret identifizierte sich mit der Hauptdarstellerin, die von ihrem Mann und den Nachbarn herumgestoßen und isoliert und vom Teufel vergewaltigt wurde, bis sie völlig hilflos war und nichts mehr sein konnte außer der Mutter eines Sprösslings aus einer unheiligen Vereinigung. Als Rosemary das Baby in der schwarzen Wiege schaukelte und der Nachspann lief, saß Margaret benommen auf ihrem Platz. Durfte ein Film wirklich so enden? Nachdem der Teufel triumphiert hatte und die Heldin besiegt war?

Der Bann des Films hielt an, bis Harry auf dem Parkplatz das Schweigen brach. »Wenn wir uns beeilen, kann ich Sie um halb elf zu Hause absetzen.«

Margaret ließ sich von ihm den Wagenschlag aufhalten und betrachtete sein Gesicht. Er hatte eine große Nase, einen kleinen Mund und ein spitzes Kinn, dichte und dunkle Augenbrauen über braunen Augen. Auf einer Party hätte sie ihn von der anderen Seite des Raumes aus kaum bemerkt, aber er war angenehm und charmant. Die Dunstschleier des Films verflogen.

»Wollen wir etwas essen?«, fragte sie. »Ich verhungere.«

»Ich könnte auch etwas gebrauchen«, antwortete er.

Er fuhr mit ihr zu einem McDonald’s-Restaurant, das nur ein paar Blocks entfernt und anscheinend das einzige geöffnete Lokal der Stadt war. Als sie ausstiegen, nahm Margaret den Beutel von Bartleby’s mit, der zwischen ihnen lag.

»Ich möchte mir ansehen, was mich heute Abend so viel Lernzeit gekostet hat«, erklärte sie.

»Vielleicht warten Sie lieber bis nach dem Essen, ehe Sie sich darin vertiefen«, sagte Harry. »Es ist ziemlich krass.«

Er bat sie, sich einen Platz zu suchen, während er bestellte. Sie entschied sich für eine Nische an einem Fenster, zog das Buch hervor und legte es flach auf den Tisch: Visionen Cthulhus: Illustrationen nach H. P. Lovecraft. Das Titelbild zeigte ein großes, grässliches Scheusal, annähernd von menschlicher Gestalt, mit dicken, muskulösen grünen Armen und Beinen. Die Hände und Füße liefen in langen Krallen statt in Fingern und Zehen aus. Es hatte einen Kopf wie ein Tintenfisch, der einem Albtraum entsprungen schien, klobig und mit vielen Augen sowie einer Unmenge Tentakel, die bis über den Brustkorb und den gewaltigen runden Bauch des Wesens herabhingen. Auf dem Rücken entsprangen zwei gezackte, irgendwie zerbrechlich wirkende Flügel. Margaret fragte sich, wie ein so übergewichtiges Geschöpf überhaupt fliegen konnte.

»Ich hoffe, Sie haben immer noch Appetit auf diese Sachen.« Harry stand mit einem Tablett mit Burgern, Fritten und Mineralwasser neben ihr.

Margaret tippte auf den Bucheinband. »Ist das Cthulhu?« Sie sprach es wie Kit-huluh aus und entnahm seinem Lächeln, dass sie den Namen falsch ausgesprochen hatte.

»So stellt ihn sich ein Künstler vor, ja«, antwortete er. »Man sagt übrigens Kah-thu-lu.«

Sie zog das Buch zu sich herüber und schuf Platz, damit er das Essen servieren konnte. »Er sieht nicht beängstigend aus. Nur irgendwie eklig wie die Monsterversion eines fetten Buddhas in einem Chinarestaurant.«

Er lachte und neigte den Kopf, um das Bild näher zu betrachten. »Ja, das trifft es irgendwie.«

»Soll er denn beängstigend sein?«

Er setzte sich ihr gegenüber. »In der Geschichte ist er furchtbar. Aber vielleicht ist das eines dieser Dinge, die man nicht in Worte kleiden kann, ohne etwas Wesentliches zu verlieren. Möglicherweise funktioniert es nur in der Fantasie.«

Sie öffnete das Buch, schlug aufs Geratewohl eine Seite auf und entdeckte das Abbild eines anderen Ungeheuers. Dieses Exemplar besaß keine klaren Konturen und war eher amorph, im Grunde ein Fleischbrocken mit vier schwarzen Augen und einem glühenden, wie eine Vulva geformtem Maul voller spitzer Zähne. Auf dem Rücken saß ein Gestrüpp von Tentakeln. Das Wesen schwebte zwischen den Sternen, ein Stern im Vordergrund wirkte daneben winzig.

»Und das ist sein Freund?«, fragte sie.

»Azathoth.« Er nahm einen Cheeseburger und wickelte ihn aus.

Mit einem gewissen Widerstreben klappte Margaret das Buch zu und legte es neben sich auf den Sitz. Sie zupfte eine Fritte aus einer fettigen kleinen Tüte auf dem Tablett. »Demnach beruht jedes Bild in dem Buch auf einer Geschichte von diesem Lovecraft?«

Harry nickte kauend.

»Das ist ein dickes Buch«, fuhr sie fort. »Anscheinend hat er ziemlich viele Monster erfunden.«

Harry hielt sich eine Hand vor den Mund und antwortete, ehe er alles hinuntergeschluckt hatte. »Eine ganze Menge, ja. Und sie stehen alle miteinander in Verbindung.«

»Heißt das etwa, sie sind verwandt wie Familienangehörige?«

Er schluckte und trank etwas Mineralwasser. »Einige von ihnen schon. Ich meinte damit aber eher, dass sie in ein und derselben Welt existieren. So ähnlich wie die Filme, wo Dracula auf Frankensteins Monster trifft, verstehen Sie?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich kenne nur den Film, in dem Abbott und Costello dem Wolfsmenschen begegnen.«

»Das ist im Grunde das Gleiche. Sie leben alle in einem Reich und atmen dieselbe Luft. Genau wie viele Bücher von William Faulkner in ein und demselben Land spielen.«

»Haben Sie diesen Vergleich mal im Englischunterricht erwähnt?«

»Schon länger nicht mehr«, antwortete er. »Ich habe meine Lektion gelernt.«

»Die Lehrer mochten es wohl nicht, was?«

Er setzte an, als wollte er etwas sagen, schob sich aber nur eine Fritte in den Mund.

4

Kurz vor Mitternacht hielten sie vor Mrs. Johnsons Haus an, saßen im Auto und wussten nicht recht, was sie sagen sollten.

»Also«, begann Harry schließlich, »danke für den Film.«

»Danke, dass Sie ein teures Buch gekauft haben«, erwiderte Margaret. »Wir stehen Ihnen immer gern zu Diensten.« Sie lachte über ihren eigenen Scherz. Es klang ein wenig schrill und zu laut.

Er starrte geradeaus und lächelte schief. »Dann sehen wir uns wohl im Laden.«

»Gute Nacht, Harry.« Sie rutschte hinüber und küsste ihn auf die Wange. Sie war rau von nachgewachsenen Bartstoppeln.

Dann stieg sie aus, lief die Zufahrt hinauf und überlegte, ob sie erleichtert oder froh war, dass er nichts versucht hatte. Dieser Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als ihr die Hausaufgaben einfielen – sie hatte mit der Arbeit zur amerikanischen Literatur noch nicht einmal angefangen, und die chemischen Reaktionsgleichungen waren alles andere als gelöst.

»He!«

Sie drehte sich um. Harry lief ihr hinterher, er hatte etwas in der Hand. Einen halben Schritt vor ihr blieb er stehen und reichte ihr ein kleines Taschenbuch mit rissigem Rücken: Das Grab und andere Kurzgeschichten von H. P. Lovecraft. Der Einband war schwarz mit weißer Schrift, und darauf prangte das Gesicht eines Mannes, dessen Stirn in der Mitte gespalten war. Aus dem Inneren des Kopfes, wo das Gehirn hätte sein sollen, krabbelten rote Käfer.

»Sie können es ja mal probieren«, bot Harry an. »Meine Mutter hat mir das Buch zum dreizehnten Geburtstag geschenkt.«

Margaret nahm es entgegen. »Danke, das klingt nett …«, setzte sie an. Er unterbrach sie, indem er den letzten Schritt machte, die Hände auf ihre Wangen legte und sie küsste. Ehe Margaret überhaupt begriff, wie ihr geschah, war es schon wieder vorbei. Er trabte zum Auto zurück, während sie verblüfft die Treppe zum Haus hinaufstieg, mit den Schlüsseln nestelte und sich wünschte, sie hätte einen Burger ohne Zwiebeln bestellt.

5

Margaret blieb die ganze Nacht auf und las Das Grab, als sei in dem Buch mit seinen Genies, den Verrückten und den fast unbeschreiblichen Schrecken ein Schlüssel verborgen, der ihr half, diesen jungen Tunichtgut zu durchschauen, mit dem sie einen kurzen, nach Zwiebeln schmeckenden Kuss ausgetauscht hatte.

Das Buch half ihr nicht. Harry war gewiss kein Irrer und kein Monster, und wohl auch – bei aller Freundschaft – kein Genie. Sie erfuhr nicht mehr über ihn, als dass er eine Vorliebe für makabre Geschichten hegte und eine außerordentliche Geduld mit einem trockenen, überladenen Schreibstil an den Tag legte. Sie fand Lovecraft beinahe unlesbar. Die Personen in den Geschichten waren farblos und blass, sie wuchsen nicht, sie veränderten sich nicht und zeigten keinerlei menschliche Regungen. Wenn sie sprachen, klang es nach einem Lehrbuch für Menschlichkeit aus einer anderen Dimension. Meist drehten sich die Erzählungen um einen einsamen Überlebenden, der von einer Expedition in uralte Ruinen berichtete, wo er den Verstand verloren hatte, als sich herausstellte, dass die Ruinen von irgendeiner vorzeitlichen Schreckgestalt erbaut worden waren, die immer noch dort hauste. Es war eine schwülstige Sprache voller Adjektive, die sich nicht einmal annähernd mit dem hinreißenden Grauen der Bilder in Visionen Cthulhus messen konnte.

Andererseits drehten sich viele Erzählungen um faszinierende düstere Enthüllungen und die allmähliche Erkenntnis des Erzählers, dass die behagliche »reale Welt« der Menschen lediglich ein dünner Schleier war, hinter dem sich, wenn man ihn fortriss, jederzeit ein Abgrund voller namenloser Schrecken auftat. In gewisser Weise war es das Gegenteil von Moses und dem brennenden Busch oder Paulus auf der Straße nach Damaskus. Die grundlegenden Ideen waren denen der Religion ähnlich – die Welt ist nicht die Welt –, nur eben verzerrt.

Als sie am nächsten Morgen in den Kurs über Europäische Kulturgeschichte stolperte, rang sie immer noch so heftig mit dieser Idee, dass sie zunächst nicht bemerkte, wie Pierce herüberkam und sich neben sie setzte.

»Oh, redest du wieder mit mir?«, fragte sie.

Er seufzte, die Nasenflügel bebten. »Ich muss zugeben, dass ich überreagiert habe. Aber was du getan hast …«

Sie lehnte sich zurück und zog die Augenbrauen hoch. Das versprach interessant zu werden.

Er schlug sich die Hand vor das Gesicht. »Ich möchte mich entschuldigen.« Dann legte er die Stirn in Falten. Es kam ihr irgendwie bekannt vor.

»Du bist wirklich erstaunlich darin. Spektakulär.«

»Darf ich dich heute Abend einladen? Damit wir uns unterhalten können wie Erwachsene?«

Zum ersten Mal seit fast einer Woche hörte Margaret die unangenehme, fordernde Stimme ihrer Mutter im Hinterkopf. Die Buchstaben »MRS« standen vor ihrem inneren Auge wie ein Brandzeichen. Sie war zu müde, um die Einladung abzulehnen.

Er führte sie in das teuerste Restaurant von Searcy, das Fisch und Fleisch anbot. Es hieß Captain Bill’s, und an den Decken und Wänden hingen alte Fischernetze und Harpunen. Er forderte sie auf, sich zu bestellen, was sie wollte, und wählte selbst den Hummer, um ihr zu zeigen, dass er es ernst meinte. Margaret nahm einen Salat. Hummer hatte sie noch nie gegessen. Wenn sie ihren Eltern dabei zusah, fand sie es ekelhaft – die Lätzchen, die Menge an Flüssigkeit, die geknackten Schalen mit den Fleischbröseln darin. Einfach widerlich. Ihre Mutter und ihr Vater hätten ebensogut große rote Käfer essen können. Sie musste an das Titelbild von Das Grab denken und war unendlich dankbar, dass sie sich für den Salat entschieden hatte.

Sie war längst fertig, als Pierce noch eifrig mit Knacken, Stochern, Dippen und Mampfen beschäftigt war. Sogar im schwachen Licht des Restaurants sah man seine Stirn glänzen. Sie überlegte, ob er jetzt schon kahl wurde. Außerdem fragte sie sich, ob er wirklich wegen eines Hummers ins Schwitzen geriet. Das konnte doch nicht sein, oder?

Als der Kellner die Rechnung brachte, legte Pierce sie mitten auf den Tisch, während er die Geldbörse aus der Jacke zog. Sie blickte zwischen der Rechnung und Pierce hin und her. Ihr entging keineswegs, dass er aufpasste, ob sie die Summe auch wirklich gesehen hatte. Er tat so, als wäre nichts weiter dabei, warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und sagte dem Kellner, er könne den Rest behalten.

Er gibt sich Mühe, schalt sie sich selbst.

Nach dem Essen (und nach einer Handvoll Pfefferminzbonbons als Dreingabe) fuhren sie zu einem Parkplatz am Stadtpark. Es war eine sternenklare Nacht. Die Sternbilder erinnerten Margaret an Azathoth aus Visionen Cthulhus, das Vagina-Monster, das mithilfe von Tentakeln durch den Weltraum segelte. Schläfrig fragte sie sich, was Harry gerade tat, und wünschte, sie hätte vor der Verabredung ein wenig geschlafen.

Sie war beinahe schon eingenickt, als Pierce sagte: »Du musst nicht so weit weg sitzen.« Sie fuhr auf, als er neben sich auf den Sitz klopfte.

Sie rutschte hinüber. Er nahm sie in den Arm, und sie lehnte sich an. Es war gar nicht so unangenehm. Es hatte etwas Tröstendes. Etwas Menschliches.

»Bist du noch böse auf mich?«, fragte er.

»Nein.«

»Ich könnte verstehen, wenn du es wärst. Ich habe mich benommen wie ein Idiot.«

»Schon gut.« Sie tätschelte seine Brust. Im Grunde, das wurde ihr jetzt bewusst, war es ihr herzlich gleichgültig.

Er holte tief Luft. »Die Wahrheit ist, dass ich ein bisschen Angst hatte, als … als du es gemacht hast. Wir kennen uns noch nicht so lange, und es kam so früh. Ich habe mich nicht wie ein Mann verhalten. Ich bin weggelaufen wie ein kleiner Junge und habe mich vor dir versteckt. Ich habe Gott gefragt: ›Warum hat sie das getan? Sie ist ein braves Mädchen.‹ Und endlich hat er mir geantwortet: Sie hat es getan, weil sie dich liebt.«

Margaret erstarrte. »Redest du oft mit Gott?« Abgesehen vom Gottesdienst oder von Mahlzeiten mit anderen Christen betete sie nie, und selbst dann neigte sie nur den Kopf, schloss die Augen und sagte Amen, wenn es so weit war. Sie nahm an, dass es alle so hielten, auch wenn es sich nicht gehörte, es auszusprechen.

»Jeden Tag, den ganzen Tag«, antwortete er. »Jedenfalls hat Gott mir erklärt, dass du mich liebst, und außerdem, dass ich weggelaufen bin, weil ich dich auch liebe, und dass ich noch nicht bereit war, es zuzugeben.« Er rutschte auf seinem Sitz herum und spähte zu ihr hinab. Seine Stirn blendete beinahe im Mondlicht. Am Haaransatz hob sich eine Ader ab. Pochte sie? Ging es ihm nicht gut? »Ich liebe dich, Margaret. Ich weiß, es kommt schnell, aber meine Eltern sagen, wenn man es weiß, dann weiß man es eben. Wenn du es wirklich ernst meinst, dann bin ich bereit. Ich möchte, dass du zu Thanksgiving zu mir nach Hause kommst, damit ich dich meiner Familie vorstellen kann.«

Margaret richtete sich auf. Pierce lächelte sie mit einer Art Wohlwollen an – ein Ausdruck, den sie mit der Miene ihres Vaters am Weihnachtsmorgen in Verbindung brachte. Das Gehabe eines Mannes, der jemandem ein großes Geschenk machte.

»Das … das ist ein gewaltiger Schritt«, sagte sie.

»Ich liebe dich, Margaret.« Er beugte sich vor und küsste sie. Sie ließ zu, dass er sie auf den Sitz drückte und auf sie kroch. Sie nahm die Küsse und die ungeschickten Handgreiflichkeiten hin. Während er sie in die Ohren und in den Hals biss, bemerkte sie etwas aus den Augenwinkeln – etwas in Pierce’ Fenster. Als sie sich bewegte, um es genauer zu betrachten, war es fort. Sie versuchte, sich wieder auf die Zärtlichkeiten zu konzentrieren, legte ihm die Hände auf die Wangen, küsste ihn und ließ zu, dass er ihr die Zunge in den Mund schob wie einen dicken, schmierigen Wurm. Sie öffnete die Augen, und dieses Mal pulsierte die Ader auf seiner Stirn tatsächlich, während er auf ihrem überwiegend passiven Körper seine Leidenschaft entwickelte. Sie hob den Kopf, blickte in die Ferne und sah draußen etwas anderes, dieses Mal auf ihrer Seite des Wagens – eine große Gestalt mit breiten, gebeugten Schultern und zwei Augen, die hinter der Scheibe orangefarben glommen.

Erschrocken gab sie ein leises Geräusch von sich und legte Pierce die Hände auf die Schultern, um ihn wegzuschieben, damit er die Zunge aus ihrem Mund nahm und sie ihn warnen konnte. Er stöhnte jedoch nur und fummelte umso heftiger. Die Ader hatte sich mittlerweile über die ganze Stirn ausgedehnt und teilte diese in zwei getrennte Flächen schwitzender Haut. Sie wand sich, um sich zu befreien. Auf der Stirn bewegte sich etwas unter der Haut. Die Ader pochte einmal, zweimal und barst.

Pierce’ Kopf platzte auf, und Hunderte von winzigen roten Insekten krabbelten auf ihr Gesicht, in ihre Haare, in die Falten zwischen ihrem Kleid und der Haut. Tausend winzige Beine kämpften zappelnd um die Freiheit. Sie stieß Pierce mit dem Knie von sich, kreischte, fuhr zurück und klopfte sich dabei ab. Sie musste die Insekten abschütteln, sie musste aus dem Auto raus, sie würde sterben, wenn sie nicht nach draußen kam …

Endlich packte sie den Türgriff und zog. Die Tür sprang auf, sie stürzte hinaus. Pierce kroch über den Sitz auf sie zu. Sie wollte sich aufrichten und weglaufen, nur weg von ihm, ehe sie wieder sein Gesicht sehen musste, ehe sie die Spinnen sah, die sich in seine Augen wühlten, die in seine Nasenlöcher strömten und in seinen Mund rannten, um ihn von innen heraus zu fressen. Doch sie war zu müde, nachdem sie die ganze Nacht gelesen hatte, zu erschöpft vom Kreischen, und sie bewegte sich zu langsam. Als das Mondlicht sein Gesicht traf, musste sie hinschauen.

Er war ein wenig verschwitzt und verlegen, das Gesicht von der gestörten Erregung und vielleicht vor Schreck gerötet, aber sonst in Ordnung. Die Ader war verschwunden, die wächserne Stirn glatt und eben.

»Was ist denn los?« Er stieg aus und kniete sich vor sie.

Keuchend blinzelte sie einzige Male. »Es geht mir gut«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. »Alles in Ordnung.«

6

Sie erklärte ihm, sie hätte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen und womöglich eine Art Albtraum gehabt. Er spielte den besorgten Freund und stellte nicht allzu viele Fragen. Allerdings hatte sie schon wieder Hunger und fragte Pierce, nicht zuletzt um weiteren Fummeleien zu entgehen, ob sie vielleicht einen Imbiss zu sich nehmen könnten.

Bald darauf war sie zum zweiten Mal an zwei Abenden bei McDonald’s und starrte aus dem Fenster des Autos, während Pierce für sie Fritten und einen Milchshake bestellte. Ihr Gesicht fühlte sich wund an, als hätte sie mit Sandpapier geschmust. Sie wollte nicht reden, sie wollte nicht nachdenken. Sie wollte nur aus dem Fenster starren und sich treiben lassen. Sollte Pierce sich mit der körperlosen Stimme herumschlagen, die aus dem Lautsprecher des Drive-in kam. Trotzdem fand sie diese unschuldige Unterhaltung, diesen Austausch von weniger als fünfzig Worten, beunruhigend. Was war nur los mit ihr? Woher kam diese diffuse Panik, die sie in der Brust spürte? Sie drehte sich auf dem Sitz um und betrachtete das Innere des Autos, um die Quelle des Unbehagens zu entdecken, verstand es aber erst, als sie an der Ausgabe anhielten. Harry öffnete das Schiebefenster, um das Geld in Empfang zu nehmen.

Als sein Blick Margaret traf, öffnete er überrascht den Mund.

»Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«, fragte er lächelnd, während er ihr den Milchshake reichte. »Da könnten Tanniswurzeln drin sein.«

»Wie bitte?«, fragte Pierce.

Margaret schüttelte leicht den Kopf. Harry wandte sich wieder an Pierce.

»Nichts weiter, es tut mir leid«, sagte Harry.

»Was macht das noch gleich?«, fragte Pierce.

Harry sagte es ihm, und Pierce bezahlte. Harry zählte das Geld ab und schloss das Fenster, Pierce fuhr weiter. Auf dem Weg zu Mrs. Johnsons Haus hielt Margaret den Milchshake mit beiden Händen fest, konnte sich aber nicht überwinden, einen Schluck zu trinken. Als sie im Haus war, brachte sie das Getränk in die Küche und kippte es in den Ausguss, ehe sie nach oben ging. Vielleicht waren es wirklich Tanniswurzeln.

Sie schlief fast auf der Stelle ein und träumte von Gebell, als litte ganz in der Nähe ein Wolf oder ein Hund große Schmerzen.

7

Margarets Mutter freute sich, als Margaret sie anrief und erzählte, was sie an Thanksgiving vorhatte. Sie sprach so laut, dass Margaret den Hörer vom Ohr weghalten musste.

»Braves Mädchen«, sagte Mrs. Byrne.

»Meine Noten sind furchtbar«, gestand Margaret. »Ich bin in allen Fächern im Hintertreffen.«

»Du musst nur noch lange genug durchhalten, um alles unter Dach und Fach zu bringen«, meinte Mrs. Byrne. »Das schaffst du, meine Prinzessin.«

»Mom.«

»Was ist?«

»Es fühlt sich nicht gut an.«

»Was fühlt sich nicht gut an?«, fragte Mrs. Byrne.

Es fühlt sich nicht richtig an, dachte Margaret. Stattdessen sagte sie: »Es fühlt sich noch nicht so an, als wäre es wahr.«

»Das kommt schon noch«, versicherte Mrs. Byrne ihr, als hätte sie verstanden, was ihre Tochter nicht ausgesprochen hatte. »Übe dich nur darin, verliebt zu sein, und warte es ab.«

Wenn sie sich morgens für die Schule fertigmachte, wiederholte Margaret immer wieder das Mantra. Wir sind verliebt. Wir sind verliebt. Während sie sich die Zähne putzte, stellte sie sich vor, wie Pierce neben ihr stand und sie abwechselnd ins Waschbecken spuckten. Wenn sie sich die Haare richtete und sich anzog, versuchte sie, Pierce zu vermissen, und fragte sich, wo er war und was er gerade tat. Sie versuchte, Sehnsucht zu empfinden und sich auf die Europäische Kulturgeschichte zu freuen. Sie rannte und hielt den Drachen ihrer Beziehung über dem Kopf, damit er endlich flog. Anscheinend brauchte er immer wieder einen Anstoß.

Harry kam nicht mehr in den Buchladen. Sie verstand, warum er ausblieb – er hatte ihr nicht verraten, wo er arbeitete, und nun hatte sie ihn nicht nur zufällig entdeckt, sondern war auch noch mit einem anderen Mann dort gewesen. Mit einem Mann, der einen Mercedes fuhr. An seiner Stelle hätte Margaret sich auch nicht mehr blicken lassen. Doch sie hatte noch Das Grab, das ihm gehörte. Ein Geschenk seiner Mutter. Er wollte es sicher wiederhaben, und Margaret brannte darauf, es loszuwerden. Sogar zwei Wochen nach ihrem Anfall in Pierce’ Auto hatte sie noch Albträume voller lauernder Gestalten und fernem Heulen. Sie war ziemlich fest überzeugt davon, dass es an dem Buch lag. Das Grab enthielt eine Geschichte mit dem Titel »Der Hund«, in der es um zwei Grabräuber ging, die einen seit Jahrhunderten toten Zauberer ausgruben und im Sarg etwas Nichtmenschliches fanden. Es starrte dem Erzähler »aus phosphoreszierenden Augenhöhlen lebendig entgegen, während mich sein blutverschmierter, mit scharfen Zähnen bewehrter Fang verzerrt angähnte, voller Hohn angesichts meines unvermeidlichen Verderbens«.

Sie borgte sich aus Mrs. Johnsons Garage ein Fahrrad und fuhr quer durch die Stadt zum McDonald’s, kam während der mittäglichen Stoßzeit an und fand Harry an der Kasse, wo er eine lange Reihe von Gästen abarbeitete. Als sie sich in die Schlange stellte, bemerkte er sie nicht, denn er konzentrierte sich immer nur auf die Person, die direkt vor ihm stand. Er wirkte glücklich, als wäre jeder Kunde genau der Mensch, den zu sehen er gehofft hatte. Dies änderte sich schlagartig, als Margaret an der Reihe war. Nun interessierte er sich brennend für die Kasse.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

»Ich will Ihnen Ihr Buch zurückbringen.«

»Dann geben Sie es mir zurück.«

»Wann haben Sie Pause?«, fragte sie.

»Die hatte ich schon.«

»Wann ist Ihre Schicht vorbei?«

Er seufzte. »Um drei.«

Sie sah auf die Uhr. Es war 13:45 Uhr. »Ich nehme …«, sie öffnete die Geldbörse und untersuchte den spärlichen Inhalt. »Die kleinste Portion Fritten. Zum Hieressen.«

Er kassierte und gab ihr eine winzige Tüte auf einem Tablett. Sie ging damit zu einem Tisch in der Ecke, setzte sich und aß so langsam wie möglich – so langsam, dass die letzten Fritten längst kalt und matschig waren, ehe sie fertig war. Trotzdem dauerte es nur fünfzehn Minuten. Ihre Aufmerksamkeit wanderte zum Fenster, zum blauen Himmel draußen und zu Harry, der an der Kasse Bestellungen entgegennahm. Wie konnte jemand nur derart beharrlich guter Dinge sein?

Um fünf nach drei schlenderte Harry endlich zu ihr herüber und ließ sich stöhnend auf der anderen Seite des Tisches nieder. Als er saß, ging eine nach Bratfett riechende Wolke von ihm aus. Margaret knurrte der Magen. Er fummelte mit seiner kleinen, weißen McDonald’s-Kappe herum, während sie sich unterhielten.

»Margaret, was kann ich für Sie tun?«, begann er.

Sie schob Das Grab über den Tisch. »Ich wollte Ihnen das Buch zurückgeben.«

»Vielen Dank, aber das war nicht nötig.«

»Sie haben es von Ihrer Mutter bekommen. Es war doch ein Geburtstagsgeschenk.«

Er rieb sich das Gesicht und blickte blinzelnd zur Decke. »O ja, diese Sache.«

»Was meinen Sie damit?«

»Nichts. Aber … wenn Sie sich das Datum der Veröffentlichung ansehen … es ist erst zwei Jahre her. Das passt nicht zusammen. Es sei denn, Sie denken, ich sei fünfzehn.«

Margaret schnappte sich das Buch und überprüfte das Datum. »Warum haben Sie gelogen?«

»Ich dachte, das verbessert meine Aussichten auf ein zweites Date.« Er musterte sie nachdenklich. »Aber deshalb sind Sie nicht hier.«

Sie blätterte im Buch und überlegte, wie sie darauf antworten sollte.

»Schon gut«, fuhr er fort. »Ich verstehe. Ich habe die Kleidung und das Auto Ihres Freundes gesehen. Da fällt die Entscheidung leicht – der Collegestudent mit dem Mercedes oder der arme Schlucker, der an der Kasse arbeiten muss.«

»Mir war gar nicht klar, dass Sie nicht die Tilden besuchen«, antwortete sie. »Ich dachte, Sie sind pleite und schlagen sich irgendwie durch, genau wie ich.«

»Das hätte ich klarstellen können«, gab er zu. »Aber … na ja, das zweite Date.«

»Dann sind Sie also kein Student? Warum sind Sie dann nicht in Vietnam?«

»Mein Daddy ist tot, und meine Mom leidet an paranoider Schizophrenie«, erklärte er. »Ich bin zurückgestellt.« Er wirbelte die Kappe auf dem Zeigefinger herum. Margarets Lippen arbeiteten, doch kein Wort kam heraus. Schließlich sagte er: »Schon gut. Sie müssen mir nichts erklären.«

»Können wir denn Freunde sein?«

Die Kappe flog vom Finger und landete auf dem Boden. Er bückte sich und hob sie auf. »Wie würde sich Captain Mercedes damit fühlen?«

»Er heißt Pierce«, erwiderte sie. »Er ist ein guter Mann. Ein guter Christ.«

»Ist Ihnen das wichtig?«

»Ich besuche ein christliches College«, erinnerte sie ihn. »Glauben Sie nicht an Gott?«

Er warf die Kappe auf den Tisch. »Der Kerl ist mir nie begegnet.«

Sie schnaubte empört.

»Demnach ist Ihre Familie reich genug für die Tilden, aber nicht so reich, dass Sie ohne Job auskommen«, überlegte er.

»Daddy sagt immer, wir kämen gut zurecht, aber reich seien wir nicht.« Sofort bereute sie die Worte. Es gefiel ihr nicht, wie es klang.

Er zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, es gibt Reiche und besonders Reiche. Von hier unten sieht das alles ziemlich gleich aus.«

Nun zuckte sie mit den Achseln. »Wenn Sie meinen. Jedenfalls haben wir jetzt kein Geld mehr. Deshalb musste ich mir einen Job besorgen.«

»Ich habe Jobs, seit ich vierzehn bin«, erwiderte er. »Ich habe während der ganzen Highschool gearbeitet.«

»Versuchen Sie das mal auf dem College.«

»College? Sie meinen die Schule, wo man nur zwölf Stunden die Woche Unterricht hat?«

»Es ist schon ein bisschen mehr als das«, widersprach sie. »Hausarbeiten, Aufgaben. Prüfungsarbeiten in der Mitte und am Ende des Semesters.«

»Was studieren Sie?«

»Marketing«, behauptete sie und staunte selbst, wie glatt ihr die Lüge über die Lippen kam.

Er verdrehte die Augen. »Wollen Sie und der gute Christ Marketingjobs annehmen, wenn Sie verheiratet sind? Stellen Sie sich vor, wie Ihre harte Arbeit in den nächsten zehn Jahren eine gewaltige Dividende abwirft, während Sie eine Hausfrau mit drei Kindern sind?«

Ihr Gesicht wurde heiß. »Er heißt Pierce«, wiederholte sie.

»Schön für ihn.«

»Also.« Sie trommelte mit den Fingern auf das Buch. »Sie sind ein erwachsener Mann und lesen immer noch Geschichten von Gespenstern und Monstern.«

»Das wussten Sie ja bereits«, erwiderte er.

»Bis jetzt hatte ich noch nicht weiter darüber nachgedacht«, gab sie zurück. »Kommen Sie sich nicht albern vor? Sollten Sie nicht eher Bücher für Erwachsene lesen?«

»Ich halte Horrorgeschichten für die wichtigsten Bücher der Welt«, entgegnete er.

Beinahe hätte sie ihm von dem Ding vor Pierce’ Wagenfenster erzählt, von den roten Käfern und den Wochen voller Albträume. Beinahe hätte sie ihn angebrüllt, weil er ihr mit seinem dummen Buch die nächtlichen Schrecken in den Kopf gepflanzt hatte. Stattdessen lachte sie ihn aus. »Das da?«, sie deutete auf das Buch. »Das ist selbstgefälliger, unlesbarer Müll.«

Er nahm das Buch an sich. »Margaret, was wollen Sie von mir?«

»Nichts. Ich wollte Ihnen nur das Buch zurückgeben. Das Buch voller Lügen, wie man es wohl nennen sollte.«

Er lachte wieder, aber es klang nicht mehr so gemein. Nur überrascht.

»Was ist?«, fragte sie.

Beschwichtigend hob er beide Hände. »Nichts. Ich mag es, wie Sie sich ausdrücken, wenn Sie wütend sind. Ich verstehe schon, warum Sie Marketing studieren.«

»Das war genau genommen eine Lüge«, gab sie zu. »Ich studiere Anglistik.«

Nun beugte er sich vor, stützte den Kopf in die Hände und lachte sogar noch lauter.

»Sie müssen sich nicht noch über mich lustig machen«, wehrte sie ab. »Es ist mir jetzt schon peinlich.«

Er wischte sich die Tränen von den Wangen und rang um seine Fassung. »Warum geben wir uns so große Mühe, uns gegenseitig zu beeindrucken? Hören Sie, das mit der Hausfrau ohne Job und den drei Kindern tut mir leid. Ich bin das Kind einer alleinstehenden Mutter, die zwei Jobs hatte. Sie hat mich etwas ganz anderes gelehrt.« Er sah auf die Uhr und schnitt eine Grimasse. »Da wir gerade davon sprechen, ich muss nach Hause und nach ihr sehen.«

Sie standen auf. Margaret betrachtete Mrs. Johnsons Fahrrad, das draußen an das Geländer gekettet war, dann sah sie Harry an. »Könnten Sie mich nach Hause bringen?«

8

Als sie bei Mrs. Johnsons Haus eintrafen, stieg Harry aus und half Margaret, das Fahrrad aus dem Kofferraum zu holen.

»Dann ist es zwischen Ihnen und dem guten Christen wohl ziemlich ernst«, meinte er.

Sie knuffte ihn am Arm. »Hören Sie auf damit. Und ja, ich werde zu Thanksgiving seine Familie kennenlernen.«

»Wir haben noch nicht einmal Halloween«, wandte er ein. »Bis Thanksgiving ist noch viel Zeit.«

»Und was soll das heißen?«, fragte sie.

Er klappte den Kofferraumdeckel zu und lehnte sich mit verschränkten Armen an das Auto. »Meine Mom hat erst mit den Dates aufgehört, als sie meinen Vater heiratete. Sie hatte noch am Abend vor der Hochzeit eine Verabredung.«

»Hatte sie bestimmt nicht«, widersprach Margaret.

»Ich schwöre bei Gott …«

»An den Sie nicht glauben …«

»Sie sagte, sie wollte sich ganz sicher sein.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Harry?«

»Sie sind noch nicht verheiratet. Es ist noch nicht einmal Thanksgiving. Vielleicht könnten wir uns bis dahin noch ein paarmal treffen.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Ich glaube, das würde Pierce nicht gefallen.«

»Dann bin ich froh, dass ich nicht ihn gefragt habe«, antwortete Harry. »Wen kümmert es schon, was er will? Was wollen Sie?« Als sie nicht sofort antwortete, fuhr er fort: »Lassen Sie es uns wenigstens noch ein letztes Mal versuchen.«

»Sie werden mich nicht umstimmen«, sagte sie.

»Wahrscheinlich nicht«, gab er zu. »Aber ich will Sie auch noch nicht ganz aufgeben.«

Wir sind verliebt, sagte Margaret zu sich selbst und versuchte, sich Pierce vorzustellen. Wir sind verliebt.

9

Auch bei ihrem zweiten Date fuhr Harry mit Margaret aus Searcy hinaus und folgte den Hinweisschildern nach Little Rock. In der Stadt zog er einen Notizzettel aus der Hemdtasche und las die Wegbeschreibung zu einem Bezirk in der Innenstadt ab. Sie fuhren in eine heruntergekommene Gegend, wo alte, unterschiedlich stark verfallene Häuser standen – geborstene Fenster, eingesunkene Veranden, baumelnde Regenrinnen. Früher waren die Häuser sicher schön gewesen, doch Margaret fragte sich, wer hier überhaupt noch leben mochte.

An einer Ecke hielten sie im Schatten eines zweistöckigen Gebäudes mit kleinen Türmchen an. Im Vorgarten hatte jemand ein Schild aufgestellt: »SPUKHAUS!« Vor der Veranda hatte sich eine Warteschlange versammelt, die bis auf den Gehweg reichte.

»Was ist das für ein Haus?«, fragte Margaret.

1968, ein Jahr vor der Eröffnung der Geistervilla in Disneyland und eine geraume Zeit, ehe im ganzen Land zahlreiche Nachahmer entstanden waren, konnte Harry noch nicht auf die später so verbreiteten Gruselkabinette zurückgreifen und musste sich mit dem begnügen, was es gab.

»Es soll so sein wie ein Spiegelkabinett auf einem Jahrmarkt, oder wie eine Geisterbahn«, erklärte er, während er auf der Suche nach einem Parkplatz um den Block herumfuhr. »Aber das hier ist ein richtiges Haus. Es ist so ähnlich, als betrete man tatsächlich ein Spukhaus.« Er beugte sich an ihr vorbei zum Handschuhfach vor und zog eine zusammengefaltete Zeitung heraus. Margaret sah eine Schlagzeile (EINHEIMISCHERJUNGEVERMISST), ehe er sie umdrehte und ihr übergab. Dann zeigte er auf eine kleine Anzeige in der Ecke.

Margaret hielt die Zeitung schräg, damit sie im Laternenlicht etwas erkennen konnte, während er dem Spukhaus gegenüber rückwärts einparkte. Die Anzeige bestand aus einem kleinen schwarzen Quadrat, auf dem ein Gespenst wie aus einem Comicheft zu sehen war. Darunter stand in weißen Blockbuchstaben: »Kommen Sie ins Spukhaus – ERLEBENSIEAMEIGENENLEIBEEINENECHTENALBTRAUM!«

»Und so was finden Sie lustig?«, fragte sie.

»Wenn Sie nicht wollen, ist es auch in Ordnung«, antwortete er. »Dann gehen wir ins Kino, oder ich bringe Sie wieder nach Hause.« Sie hörte, wie angespannt er war. Er wollte unbedingt mit ihr dort hinein, aber er wollte auch ein guter Verlierer sein.

»Nein, lassen Sie es uns tun«, entgegnete sie. »Wie oft bekomme ich schon die Gelegenheit, am eigenen Leibe einen echten Albtraum zu erleben?«

Sie stellten sich an und schlurften etwa alle zwanzig Minuten ein Stück weiter zur Tür, während Gruppen lachender Menschen seitlich aus dem Haus kamen. Endlich standen sie vor dem Schalter. Eine ältere dicke Frau mit schlaffem grauen Haar, die sich eine Zigarette in den Mundwinkel geklemmt hatte, bediente sie. Harry bezahlte. Die Frau gab das Wechselgeld heraus und deutete auf den Eingang.

»Sollen wir … wie funktioniert das?«, fragte Harry.

»Gehen Sie rein. Sie werden schon sehen«, erklärte die Frau. Die Stimme klang, als rieben Steine aufeinander.

Die Vordertür stand offen, baumelnde orangefarbene Bänder versperrten jedoch den Blick nach drinnen. Margaret und Harry schoben sich hindurch und standen in einem schwach beleuchteten Flur mit flackernder Glühbirne und orangefarbenen Lichterketten, die man um das Treppengeländer gewunden hatte. Die Lichterketten verschwanden oben im dunklen ersten Stock. Margaret beugte sich vor und spähte die Treppe hinauf. Dort bewegte sich etwas, irgendeine Gestalt, die sich kurz gegen die Finsternis abhob, um rasch wieder zu verschwinden. Margaret wich zurück und prallte gegen Harry.

»Alles klar?«, fragte er.

»Schon gut«, murmelte sie. Vielleicht war das doch keine so gute Idee.

Hinter ihnen kam eine Gruppe Jugendlicher herein, zwei Pärchen, die sich kichernd aneinanderschmiegten. Ihre Energie war körperlich spürbar und beruhigend. Harry und Margaret traten beiseite, um ihnen den Vortritt zu lassen. Sie folgten den jungen Leuten den Flur hinunter, der auf der rechten Seite ins Wohnzimmer führte. Dort hockten vier Personen auf einem wuchtigen, unbequem wirkenden Sofa. Sie waren auf eine seltsame, aber nicht direkt beängstigende Weise kostümiert. Anscheinend war es eine Familie. Der Vater trug einen Anzug und hatte einen dicken schwarzen Schnurrbart, die Mutter langes, glattes, schwarzes Haar und ein enges, figurbetontes Kleid. Dazu ein pummeliger Junge mit gestreiftem T-Shirt und Topfschnitt, außerdem ein kleines Mädchen in schwarzem Kleid, dessen dunkle Zöpfe neben dem mürrischen, beleidigten Gesicht herabhingen. Sie beobachteten einen Fernseher, der nur graues Flimmern zeigte.

»Willkommen.« Der Vater winkte. »Wir sehen uns gerade den Wetterbericht an.«

»Es scheint, als würde es wieder schneien, Gomez«, sagte die Mutter zum Vater.

Gomez? Woher kannte Margaret nur diesen Namen?

»Es sieht immer aus wie Schnee«, meinte das kleine Mädchen.

»Weißt du, Wednesday, da hast du sicherlich recht«, räumte Gomez ein.

Wednesday? Gomez?

»Oh, das ist genau wie in der Serie«, sagte eines der jungen Mädchen. »Die … äh, wie hießen sie noch gleich?«

»Die Addams Family«, erklärte Harry so leise, dass nur Margaret es hören konnte. Sie sah ihn an. Er zog eine verlegene Miene. Sie betrachtete die Addams-Darsteller. Jetzt erkannte sie es auch – aber sollte die Addams Family nicht eine Sitcom sein, die sich über Monster lustig machte? Dabei ging es doch um Verwechslungen und nicht um Horror. Die Anzeige in der Zeitung hatte nicht den Eindruck erweckt, es würde lustig werden.

»Da wir eingeschneit sind, müssen Sie uns zum Essen Gesellschaft leisten«, verkündete Gomez. »Lurch!«

Nun schlurfte ein überdurchschnittlich großer Mann durch den Flur zu den Besuchern. Er trug einen Smoking und Make-up, mit dem er wie das Frankenstein-Monster aussah. Er gab ein Stöhnen von sich, das nach einer Frage klang.

»Lurch, führen Sie die Gäste bitte ins Esszimmer«, sagte Gomez.

Das Smokingmonster stöhnte abermals. Margaret, Harry, Gomez und die Jugendlichen folgten ihm den Flur hinab zu einem großen, mit Kerzen beleuchteten Esszimmer, wo eine Tafel für zwölf Personen gedeckt war. Lurch ging um den Tisch herum und zog sechs Stühle ab. Als niemand Anstalten machte, der Einladung Folge zu leisten, beugte er sich vor und hob von einer Servierschüssel, die mitten auf dem Tisch bereitstand, den Deckel ab. Er deutete auf den Inhalt, eine schwarze Masse, die im unsteten Licht zu wabern schien.

Da die Gäste immer noch zögerten, griff Lurch in die Schale, nahm eine Handvoll des Inhalts heraus und bewarf die Gäste damit. Die Masse teilte sich in der Luft. Margaret bemerkte Spinnenbeine und einen Glanz wie von Plastik. Die Jugendlichen kreischten, als das schwarze Zeug sie traf, abprallte und schmatzend auf den Boden fiel. Margaret betrachtete es genauer. Gummispinnen. Lurch warf mit Gummispinnen nach ihnen. Wenigstens waren sie nicht rot.

»O je«, meinte Harry.

»Lurch, ich habe Ihnen doch oft genug gesagt, dass man nicht mit dem Essen spielen darf«, schalt Gomez ihn. Er stand viel näher neben Margaret, als ihr lieb war, und sein Atem stank nach Zigaretten. »Jetzt müssen wir unsere Gäste säubern!« Sie war dankbar, dass er nach vorne ging und sie alle zu einer Tür am Ende des Flurs führte. Durch den Spalt unter der Tür quoll Rauch hervor.

Sie schlurften in eine Küche, wo man vor Nebelschwaden den Boden nicht sehen konnte. Mitten im Raum stand ein Mann mit Schutzbrille und weißem Kittel und rührte in einem dampfenden Topf herum.

»Es lebt!«, klagte er. »Es lebt!«

Harry ließ die Schultern hängen und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Henry, wie ist die Suppe?«, fragte Gomez.

»Es schwimmt tapfer, Mister Addams!«, antwortete der Mann mit dem Laborkittel. Dann schlug er mit der Suppenkelle auf irgendetwas ein, das sich im Topf bewegte. Wasser spritzte auf den Herd.

»Das freut mich zu hören!«, erwiderte Gomez. »Haben Sie zufällig ein sauberes Handtuch? Im Esszimmer ist ein kleines Missgeschick passiert.«

»Leider nichts Sauberes«, gestand Henry. »Es sei denn … bedeutet blutig das Gleiche wie schmutzig?« Er hob ein weißes Handtuch voller roter Flecken. Die Jugendlichen stöhnten angewidert.

»Das ist schade!« Gomez wandte sich wieder an die Besucher. »Ich glaube, wir haben noch ein paar Handtücher im Bad im ersten Stock. Wenn Sie sich bitte dorthin begeben würden?«

»Wir sind nicht schmutzig«, widersprach Harry. »Können wir nicht einfach auf dem gleichen Weg wieder hinausgehen?«

»Unsinn«, beharrte Gomez. »Wir haben erst kürzlich das obere Bad renoviert. Sie müssen es einfach sehen. Lurch?«

Lurch erschien in der Küchentür.

»Führen Sie unsere Gäste nach oben und geben Sie ihnen saubere Handtücher«, sagte Gomez.

Lurch grunzte und scheuchte die Besucher wieder in den Flur. Margaret machte den Anfang, Harry blieb direkt hinter ihr.

»Das Haus ist nicht groß«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie spürte den heißen Atem am Hals. »Es kann nicht mehr viel kommen.« Einen Moment später fügte er hinzu: »Es tut mir leid.«

Margaret stieg als Erste die Treppe hoch und machte oben auf dem Absatz Platz, damit die anderen nachrücken konnten. Schließlich waren sie in einem schmalen, schwach beleuchteten Gang versammelt, von dem auf beiden Seiten geschlossene Türen abgingen. Der Treppe gegenüber stand eine völlig unpassende große Topfpflanze an der Wand. Margaret beugte sich über das Geländer und blickte zum Erdgeschoss hinunter. Sie dachte über die Gestalt nach, die von hier aus hinabgesehen hatte, als sie eingetreten war. Das war ihr überhaupt nicht überzogen oder wie ein Scherz vorgekommen. Sie löste sich vom Geländer und wandte sich der eng beisammenstehenden Besuchergruppe zu.

»Wohin jetzt?«, fragte ein Jugendlicher.

Da ging die Tür am Ende des Flurs auf. Lurch drehte sich um, marschierte los und ließ sie allein.

Sie wanderten weiter. Keine Ghule oder Dämonen sprangen hervor. Das Haus schien stiller denn je. Verlassen.

Der Raum am Ende des Flurs wurde von einem kränklichen rosafarbenen Licht erhellt und war eingerichtet wie das Schlafzimmer einer alten Frau. Links stand eine alte Kommode oder ein Waschtisch, in der anderen Ecke ein Doppelbett. Das Bett hatte einen Metallrahmen mit Kopf- und Fußenden, die so groß waren, dass es einer Wiege für Erwachsene ähnelte. Unter der Decke lag ein regloser Klumpen.

An den Wänden hingen alte Schwarz-Weiß-Fotos: lächelnde und lachende kleine Kinder an einem Sommertag am Strand; das Porträt eines Soldaten in Paradeuniform mit schief aufgesetzter Mütze, was damals wohl als keck gegolten haben mochte; ein frisch vermähltes Paar, das aus einer Kirche lief, die Köpfe eingezogen und die Hände gehoben, um den Schauer aus Reiskörnern abzuwehren; ein Foto von einem Unfall, ein Wagen hatte den anderen seitlich erfasst, die Beifahrerseite des ersten Fahrzeugs war verbeult und eingedrückt, die hintere Stoßstange des zweiten war mit einem »Frisch vermählt«-Schild verziert, und hinten hing eine Kette leerer Dosen daran. Daneben ein zweites Unfallfoto, dieses Mal ein Toter unter einem Laken, das auf einer Seite mit Blut bedeckt war. Eine Hand ragte heraus, weiße Spitze reichte bis zum Handgelenk, im Sonnenlicht glitzerte der Diamant eines Eherings. Dieses Foto starrte Margaret lange an. War es echt? Oder nur gestellt?

»Ich kapiere das nicht«, sagte ein Mädchen. »Klar, es ist gruselig, aber wo ist jetzt der Witz?«

»Und was hat das mit der Addams Family zu tun?«, fragte Margaret.

»Keine Ahnung«, gestand Harry.

Ein Mädchen zeigte auf den Klumpen im Bett. »Was ist das?«

»Schau es dir doch an«, schlug das andere Mädchen vor.

»Auf keinen Fall.«