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Das Schreibfeder Kollektiv lädt ein, das Haus der verlorenen Seelen zu betreten. Hier triffst du in verschiedenen Räumen auf Seelen, die sich nach Angst sehnen. Auf nie endende Träume. Auf Seelen, gefangen hinter den Tapeten und Fenstern. Folge den dunklen Korridoren und wandere immer weiter abwärts bis zu den stillen Wasser.
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Seitenzahl: 107
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Autor:innenkollektiv Schreibfeder
Das Haus der verlorenen Seelen
© 2024 Laura Pellizzari, Elise Marai, Madelaine Dunschen, Christine Kulgart, Noá Lunara
Weitere Mitwirkende: Tina Flocke, Adam DelRey, Nina Grevener, Herbert Glaser, Laura C. Lys, Celine-Michelle Kammer, Jürgen Artmann, Jeanny O’Malley, Jace Moran, Helmut Blepp
Druck und Distribution im Auftrag der Autor:innen:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Softcover 978-3-384-37130-0
eBook 978-3-384-37131-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autor:innen verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autor:innen, zu erreichen unter: Autor:innenkollektiv Schreibfeder, Im Wiblinger Hart 128, 89079 Ulm, Germany.
Vorwort
Haus | /Haús/
Substantiv, Neutrum [das]
1a. Gebäude, das Menschen zum Wohnen dient
1b. Gebäude, das zu einem bestimmten Zweck errichtet wurde
Woran denkst du, wenn du das Wort Haus liest? An dein eigenes Zuhause, das du dir liebevoll und gemütlich eingerichtet hast? An ein kleines, typisches Haus, wie du es als Kind gezeichnet hast? Eine durchgängige Linie, die das Haus des Nikolaus darstellt? Oder denkst du an Hexenhäuschen, an Pilzhäuser von Gnomen, vielleicht auch an Puppenhäuser, mit denen du gespielt hast? Vielleicht denkst du auch wie viele unserer Autor:innen an Spukhäuser, Häuser die ein Eigenleben zu führen scheinen oder in denen etwas Schreckliches passiert ist, dessen Echo noch heute nachhallt. Es ist ein Haus mit ächzenden Dielen und quietschenden Türen, das alle Geschichten in dieser Anthologie vereint. Mal ist es nur der Schauplatz, mal ist es der Protagonist, doch immer ist es der rote Faden, der sich durch die oft unheimlichen Kurzgeschichten zieht.
Bist du bereit, die Tür zu öffnen und dich in den Gängen des Hauses der verlorenen Seelen zu verlieren?
Unser Spendenziel
Wenn die Tage wieder kürzer und dunkler werden und die Blätter von den Bäumen fallen, werden wir jeden Tag mit der Vergänglichkeit und dem ewigen Kreislauf von Leben und Tod konfrontiert. Und während so mancher die Wunschvorstellung hat, eines Tages zufrieden einzuschlafen und nicht mehr zu erwachen, ist das nicht jedem Menschen vergönnt. Genau deshalb gibt es Hospize. Hier können Schwerkranke und Sterbende ihren Lebensabend so gut wie möglich genießen und erhalten genau die Pflege, die ihren Bedürfnissen gerecht wird.
Das erste Hospiz im Sinne der „Palliative Care“ wurde bereits 1967 im Vereinigten Königreich eröffnet, in Deutschland öffnete erst 1986 ein Hospiz seine Pforten. Übrigens ist es nicht korrekt, dass Menschen tatsächlich zum Sterben in ein Hospiz kommen. Sie erlernen dort allerdings den Umgang mit Tod und Sterben, während es eines der Ziele der Hospizbewegung ist, den Tod in den eigenen vier Wänden beziehungsweise in häuslicher Umgebung zu ermöglichen.
Ein Großteil der Einnahmen unserer Anthologie „Das Haus der verlorenen Seelen“ wird daher an den Deutschen Hospiz- und PalliativVerband e.V. (DHPV) und den Dachverband HOSPIZ ÖSTERREICH gespendet. Wir wollen mit unseren Geschichten die großartige und wichtige Arbeit von Hospizen unterstützen. Mit jedem Kauf hilfst auch du, Hospize weiterhin aufrecht zu erhalten.
Die Frau auf dem Bild
Von Tina Flocke
Content-Warnung: Grusel, Geister, unangenehme Umgebung, Tod, Unfall
Oma Trudi war die gute Seele der Familie, hielt schützend ihre Hände über jene, die sie liebte. Tatsächlich war sie sogar meine Uroma, und auch als Kind war mir bereits bewusst, wie besonders es ist, die eigenen Urgroßeltern überhaupt kennenlernen zu können.
Umso trauriger war ich, als sie eines Tages schwer erkrankte und schließlich nach kurzer Zeit an ihrer Erkrankung verstarb. Ich war erst acht, wusste jedoch, dass sie nun nicht mehr da sein würde. Sie fehlte mir furchtbar und so wollte ich unbedingt eines ihrer Wandgemälde behalten. Es zeigte eine mit Ölfarben gemalte, sommerliche Szenerie: Eine Leiter lehnt an einem imposanten Apfelbaum, auf der eine junge Frau in einem hellen Kleid steht, ihre langen braunen Haare zum Zopf gebunden. Mit graziler Leichtigkeit pflückt sie Äpfel. Noch heute liebe ich einfach alles daran.
Aus einem unerklärlichen Grund hatte ich immer Sorge, die Frau würde von der Leiter stürzen und von der Wand auf den Boden fallen. Letzten Endes nahm Oma Trudi es ab.
„Siehst du, Ava, mein Schatz, jetzt kann sie nicht mehr runterfallen.“ Liebevoll wischte sie mir dabei die Tränen aus dem Gesicht.
Ihre Abwesenheit war spürbar, allgegenwärtig, äußerte sich selbst in der Atmosphäre des Hauses. War es zuvor einladend, gemütlich und stets so lustig zugegangen, lag nun eine bleierne Schwere in der Luft. Hatten einst Musik und Gelächter die Räume mit Leben und Liebe gefüllt, so war jetzt Düsternis eingekehrt. Ein beklemmendes Gefühl von Angst und Unruhe, als würde in dunklen Ecken etwas lauern, nur darauf wartend, die langen Klauen auszustrecken und alle von uns widerlich kichernd ins Verderben zu ziehen.
Meine Cousine Josi und ich fühlten uns nie wieder unbeschwert und sicher in diesem Haus. Unsere Großeltern waren nämlich nicht an lautem Lachen und fröhlichen Kindern interessiert. Oma Trudis Haus hatten sie nur allzu gerne übernommen und seitdem machten sie auch die Regeln. Wir wurden mucksmäuschenstill, stets darauf bedacht, bloß nicht auf uns aufmerksam zu machen.
Unter dem Dach befand sich einst ein riesiges Atelier mit allerhand Materialien wie leeren Leinwänden, Farben, Pinseln, Staffeleien und einer Vielzahl an Pflanzen, die das Ganze zusätzlich quasi in einen kleinen Garten verwandelten. Ein Plattenspieler ließ täglich Musik erklingen und während Oma Trudi ihre Kreativität auslebte, waren Josi und ich bei jeder Gelegenheit dabei und staunten darüber, wie talentiert sie doch war. Eine wahrhaftige Künstlerseele. So hatte sie in ihrer Jugend Opa Levin kennengelernt, der leider weder meine noch Josis Geburt mitbekommen sollte.
Wir liebten dieses Atelier, dort entstanden nämlich Träume und in unserer Vorstellung wurden sie dort auch lebendig. Dieser, unser Safe Space, war der Erste, der dem Umbauwahn unserer Großeltern zum Opfer fiel. Es entstand ein großzügiges Schlafzimmer mit karger, liebloser Einrichtung, gänzlich farblos und mit leeren Wänden, in das wir Kinder in den Ferien verbannt wurden.
Oma Trudi würde sich im Grab umdrehen, dachte ich.
Einige Jahre später lagen Josi und ich also wieder einmal in unseren Betten im Dachgeschoss, während draußen ein Sturm wütete. Beständiges Donnergrollen gepaart mit unheilvollen, den Nachthimmel erhellenden Blitzen. Sie schlief wie ein Stein und ich versuchte es zumindest.
Plötzlich ein dumpfes Geräusch.
Das wird sicher vom Gewitter kommen, davon war ich überzeugt.
Doch im nächsten Moment war es wieder da und wieder und wieder und wieder. Als würde etwas permanent auf den Boden plumpsen.
„Josi?!“, murmelte ich im Halbschlaf, „Warst du das?!“
Keine Antwort. Ich rieb meine Augen und war noch ganz benommen. PLOPP. Da kullerte ein Apfel neben mein Bett, und blieb neben einer bereits vorhandenen kleinen Menge an Äpfeln liegen.
„Das ist ein Traum“, hörte ich mich leise sagen, bis eine sanfte, liebevolle Stimme an mein Ohr drang.
„Ava.“
„Wer ist da?“
Meine Augen wanderten verwirrt durch den Raum und suchten im Dunkeln umher. Und da stand sie, keine zwei Meter von meinem Bett entfernt. Die Frau von dem Bild, in ihrem hellen Kleid, die langen braunen Haare zum Zopf gebunden.
„Ava, mein Schatz, weck Josi auf und dann verlasst sofort das Dachgeschoss.“
Mit offenem Mund starrte ich sie an.
„Wer bist du? Was ...“
„Bitte, Ava. Es bleibt nicht viel Zeit. Verlasst das Dachgeschoss. JETZT!“
Ich war mir nicht sicher, was hier gerade passierte; ob hier gerade überhaupt etwas passierte oder ich einfach träumte.
„Okay“, sagte ich, während ich mich zu Josi drehte. Leise rief ich nach ihr.
Nur Knurren und Schnarchen. Als ich meinen Blick wieder der Frau zuwenden wollte, war sie verschwunden. Samt der Äpfel, die zuvor noch neben meinem Bett gelegen hatten. Das hier war verrückt, und ich war es vielleicht auch. Doch sie hatte weder böse noch bedrohlich gewirkt.
„Josi, wach auf!“ Ich krabbelte aus meinem Bett und rüttelte zaghaft an ihrer Schulter.
„Hmmm?!“ Sie sah mich mit verschlafenem Gesicht an. „Wasnlooos?“
„Wir müssen hier raus. Komm schon!“
Da sie jünger und auch kleiner war, nahm ich sie kurzerhand Huckepack.
Nachdem wir sämtliche Treppenstufen hinter uns gebracht hatten, kamen wir im großen Eingangsflur an. Es dauerte nicht lange, bis unsere Großmutter uns bemerkte.
„Was macht ihr denn hier unten? Zurück ins Bett!“, schrie sie mich an.
„Nein! Wir fühlen uns nicht sicher dort oben.“ Angestrengt versuchte ich, ihrem Blick standzuhalten.
Sie funkelte mich böse an.
Als Sekunden später der ohrenbetäubende Lärm die unangenehme Stille zwischen uns zerbrach, war sie die Erste, die zusammenzuckte.
Die nächsten Stunden erlebte ich wie in einer Blase, dumpf und leicht verschwommen. Das Haus war in kürzester Zeit voller Menschen: Feuerwehr, Schaulustige aus der Nachbarschaft, unsere Eltern.
Der Dachstuhl war in dieser Nacht unter dem Gewicht eines darauf gestürzten Baumes eingebrochen. Unsere Betten, die genau darunter gestanden hatten, waren vollständig zertrümmert. Die Frau auf dem Bild hatte uns vor dem sicheren Tod bewahrt.
Josi und ich sind danach nie wieder in dieses Haus des Schreckens zurückgekehrt.
Monate später fragte ich meine Mom nach eben jenem Bild.
„Das habe ich im Keller eingelagert. Kannst es dir aber gerne in dein Zimmer hängen“, sagte sie. „Aber … wie kommst du jetzt eigentlich darauf?“
Nach kurzem Zögern erzählte ich ihr die Geschichte, wie Josi und ich wirklich dem Unglück entkommen waren. Meine Mom lächelte jedoch nur.
„Das passt zu Trudi.“
„Das versteh ich nicht.“
„Die Frau auf dem Bild, Ava, das ist Trudi in ihrer Jugendzeit. Levin hat es gemalt.“
Meine Oma Trudi war eine außergewöhnliche Frau, und selbst aus dem Jenseits heraus hat sie ihre schützenden Hände über uns gehalten.
Durch das Fenster
Von Adam DelRey
Content-Warnung: Tod, Anspielungen auf Homophobie
„Ich hatte mir das Haus dunkler vorgestellt“, bemerkt der junge Reporter mit Blick zum Fenster, nachdem er sich artig für die Einladung in das gedrungene Heim des Dioramenbauers bedankt hat. Sie warten in der alten Küche auf das Pfeifen des Teekessels. Er blickt ins Grüne, dahinter die Fassaden der Stadthäuser im Abendlicht. Eine Oase zwischen hohen Bauten, unberührt von der jüngeren Geschichte der Stadt.
„Die Fenster sind klein, aber gut geplant. Es gibt kaum einen Winkel des Hauses der nicht lichtdurchflutet ist“, entgegnet Leif mit einem dünnen Lächeln, während seine ruhigen alten Hände die Zuckerdose und ein Kännchen Milch auf das Tablett stellen. „Mein Mitbewohner hatte sich damals sofort in dieses Detail verliebt.“ Es sind nicht mehr die 1970er, und trotzdem, immer nur ‚Mitbewohner‘, nie ein anderes Wort. „Das eigene Zuhause ist eine Linse, die einem einen besonderen Blickwinkel auf die Welt gibt. Mich hat es dazu inspiriert, die Lebendigkeit und Fragilität von Momenten festzuhalten. Zur Ansicht.“
„Lebt ihr Mitbewohner …“ Der Reporter stockt, verschluckt das ‚noch‘, „… heute woanders?“
Leif gießt den Tee auf. „Nein, er ist bald darauf verstorben. Setzen wir uns.“
Eine knarzende kleine Treppe führt in das höher liegende Teezimmer mit der sepia-marmorierten Tapete, den niedrigen Bücherregalen, dem dunklen Gebälk, unter dem sich Hauke nicht wegducken muss, aber wegducken möchte.
Sie sitzen an einem Tisch, der zur Hälfte von der neuesten Arbeit des Interviewten eingenommen wird – dem Diorama eines niedrigen Zimmers mit sepia-marmorierter Tapete, niedrigen Bücher-regalen, einem Tisch mit Teeservice und einem winzigen Diorama. Zwei Figuren, nicht größer als ein Daumennagel, sitzen einander gegenüber. Eine davon ist Leif Hanssen, dem Dioramenbauer, nachempfunden. Die andere zur Hälfte weiß wie Kunststoff.
Hauke wird unangenehm zumute.
„Wie es begann, nun ja. Zuerst war es nur ein Hobby, dann hat es mir das Leben gerettet. Allein hier zu wohnen ist nicht leicht, wissen Sie?“ Der alte Mann wählt eine Emaille-Farbe aus der Schublade, deren Lindgrün dem Polohemd des Reporters entspricht, setzt eine andere Brille auf, lehnt sich über das Diorama und malt mit gekonnten, kurzen Pinselstrichen den Oberkörper einer der sitzenden Figuren damit an. Die Bluejeans hat er scheinbar vorab erraten.
Hauke ist von dem ganzen Taschenspielertrick irritiert, aber er hat sein Skript, macht sich eine Reihe fragender Notizen auf seinem Tablet. „Und was fasziniert Sie am Dioramenbau im Speziellen?“
„Ein Diorama erweckt eine Geschichte zum Leben. Gibt ihr Plastizität und Perspektive, macht sie real.“
„Wie denken Sie über interaktive 3D-Modelle? Ich meine, solche die man …“ Ein Klopfen von unten unterbricht ihn, aber sein Interviewpartner ignoriert es. „… mit einer VR-Brille begehen kann?“
„Oh, davon halte ich herzlich wenig. Ich kreiere Szenen, die Echtheit und Leben, Maßstab und Fragilität vermitteln. Bildschirme, ob man sie nun vor den Augen oder auf den Augen hat, tun das Gegenteil. Sie sind ein Vorhang der Künstlichkeit.“ Wieder lächelt der Dioramenbauer sein dünnes, wissendes Lächeln. „Und mein Publikum tut sich schwer damit.“
Ein Schauer fährt Hauke über den Nacken. Alte Menschen, die handbemalte Modellfiguren bewundern also, denkt er sich. Vor dem Fenster errötet der Himmel. „Kommen wir zum Preis, den Ihnen die Stadt für Ihr Diorama der Gründungsszene verleiht.“
„Nicht mein wichtigstes Werk, wenn Sie mich fragen, aber nur zu …“