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Eine magische Reise. Ein Land voller Geheimnisse. Eine junge Frau, die allen Gefahren trotzt. Niam begibt sich auf eine gefährliche Reise, die sie in die Anderswelt führt. Sie muss die Königreiche der Alben, Elfen, Zwerge und Nixen finden und von ihnen heilige Artefakte erhalten. Während sie abseits der Welt zur Frau reift und ihre Stimme magische Kräfte entfaltet, stürzt Lord Balzôrc das gesamte Reich in einen verheerenden Krieg … Das grandiose Fantasy-Epos, das die sagenhafte Welt der keltischen Mythologie lebendig werden lässt! "Dieser Roman wird jeden Freund der klassischen Fantasy begeistern." www.bibliotheka-fantastika.de Jetzt als eBook: „Das helle Kind II - Anderswelt“ von Katharina von Pannwitz. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.
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Seitenzahl: 305
Über dieses Buch:
Niam begibt sich auf eine gefährliche Reise, die sie in die Anderswelt führt. Sie muss die Königreiche der Alben, Elfen, Zwerge und Nixen finden und von ihnen heilige Artefakte erhalten. Während sie abseits der Welt zur Frau reift und ihre Stimme magische Kräfte entfaltet, stürzt Lord Balzôrc das gesamte Reich in einen verheerenden Krieg …
Das grandiose Fantasy-Epos, das die sagenhafte Welt der keltischen Mythologie lebendig werden lässt!
„Dieser Roman wird jeden Freund der klassischen Fantasy begeistern.“ www.bibliotheka-fantastika.de
Über die Autorin:
Katharina v. Pannwitz wurde 1964 geboren. Nach einer Ausbildung zur Industrie- und Verlagskauffrau studierte sie Kommunikations- und Theaterwissenschaften. Später entschied sie sich, in der Filmindustrie zu arbeiten. Heute lebt Katharina von Pannwitz gemeinsam mit ihrem Mann in München und ist dort als Autorin tätig. »Das helle Kind« ist ihre erste Fantasy-Trilogie.
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eBook-Neuausgabe April 2016
Dieses Buch erschien bereits 2004 als Teil eines Romans unter dem Titel Die Macht der magischen Steine bei Beltz & Gelberg
Copyright © der Originalausgabe 2004 Beltz & Gelberg
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München
Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-96053-159-3
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Katharina von Pannwitz
Das helle Kind II
Anderswelt
jumpbooks
Zweites Buch
Anderswelt
Süden:
An Alban Elfed zuerst nach West, nach Thierna Og im Meer. Den Stellvertreter der Menschheit Rest erwarten die Nixen sehr. Aus Morgâs Schoß, Nihussâs Kind, den Cauldron in der Hand, mit dem die Mächte verbunden sind, auf immer Morgâs Pfand.
An Oiche na Spiánna nach Nord, zum tiefen Reich der Zwerge, nach Brug-Na-Boinne, dem geheimen Hort, geschützt durch hohe Berge. Verbunden mit dem Blut der Nacht, den Mantel von Mananan, zum Schutz von Naddreds Glut gemacht, Antarrs Macht gibt Prèachán.
An Óimelc nach Ost, die dritte Station, nach Némes, versteckt und alt. Doane Shís grüner Reigen der Lohn, der Tanz durch den Zauberwald. Mit den heiligen Beeren des Trefuilngid, oh Menschenhinder, hört her: Nach 72 Jahren das letzte Glied, des Königs Wiederkehr.
Zuletzt nach Süd an Cetshamain, dem Sonnenlichte gleich.
Das kleine Boot war schnell. Schon bald hatte es das seichte Uferwasser von Emain Ablach hinter sich gelassen und fuhr hinaus auf das große Meer. So weit das Auge reichte, war nur die unermessliche Weite des Ozeans. Die Wellen veränderten nun ihre Form. Majestätisch rollten sie gegen das Segelschiff und ließen es auf und ab tanzen. Zu Beginn war dieses Schwanken ungewohnt für Niam. Sie machte sich so klein wie möglich und rührte sich nicht. Zusammengekauert saß im hinteren Teil des Bootes und klammerte sich an die Reling.
So gewaltig hatte sie sich das Meer nicht vorgestellt. Nun erst verstand sie Gwydóns Worte über die Meerenge von Méneái. Die Grenzenlosigkeit der offenen See war wirklich etwas ganz anderes. Das Boot wirkte wie eine hilflose Nussschale im der Gewalt der Elemente, und Niam war es ziemlich unbehaglich. Insbesondere, als sich eine heftige Windböe in den Segeln fing und das Schiff in eine steile Schieflage legte. Erschreckt hielt Niam den Atem an und zog den Kopf ein in Erwartung ihres baldigen Todes. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, als Niam nach einer Weile vorsichtig die Augen wieder öffnete, sah sie Gwydón, der entspannt am Ruder saß und leise ein Lied pfiff. Ihm schien das Schaukeln nichts auszumachen. Auch Brânwi saß ruhig auf der Reling und genoss den Fahrtwind. Niam stöhnte hörbar auf.
Gwydón lächelte sie an: »Na, Niam, wie gefällt dir das Meer?«
»Ich weiß nicht so recht.« Niam zuckte mit den Schultern. »Es ist so gewaltig!«
»Ja, das ist es. Das Meer ist die Verkörperung der Urkraft des Wassers, mächtig, grenzenlos und unwiderstehlich.«
»Ich hätte nie gedacht, daß es so viel Wasser auf einem Fleck gibt.«
»Dabei ist das noch lange nicht alles. Dies hier ist das Westmeer, eines der drei großen Weltenmeere. Daneben gibt es das Südmeer an der südlichen Küste von Dumnón, die See von Lýmnía. Und zuletzt das schwarze Meer im Norden. Es ist ein dunkler Ort – man sollte ihn meiden. Aber dieser Ozean ist friedlich. Das Meer ist unser Freund. Sieh, wie sicher uns die Wellen auf ihren Rücken tragen.«
Langsam kamen Niams Gedanken zur Ruhe. Viel war passiert seit gestern. Zuerst diese sonderbare Konferenz in Môn und dann die Offenbarung ihres Schicksals. Es war schon sonderbar. Ausgerechnet sie, die nie gerne unter Menschen gewesen war und die Traumwelt bevorzugte, sollte nun das Geschick der Menschen entscheiden. Niam Schloß die Augen. Ja, ihr altes Leben war unwiderruflich vorbei. Diese schaukelnde Fahrt über das Wasser eröffnete das erste Kapitel ihres neuen Lebens, das des hellen Kindes. Diesem Schicksal musste Niam folgen, ob sie nun wollte oder nicht.
Sie sah Gwydón nachdenklich an. »Gwydón, hast du es gewußt? Kanntest du das Schicksal, das mich erwartet?«
»Gewußt habe ich es nicht, wohl aber vermutet. Schon immer war etwas Besonderes um dich.« Er sah Niam tief in die Augen und erkannte, daß sich ihre Farbe verändert hatte. Das sonst so strahlend helle Blau hatte sich der Umgebung angepaßt und leuchtete nun im mysteriösen Schimmer des weiten Ozeans.
Das Boot fuhr stetig nach Süden, der Sonne entgegen. Niam hatte sich inzwischen vollständig an das Schaukeln der Wellen gewöhnt und genoss die schnelle Fahrt. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, passierten die Reisenden die Klippen von Aberón, den westlichsten Punkt des Königreiches Brigant. Wie ein Hauch der Erinnerung und ein letzter Abschiedsgruß erschienen die fernen Uferlinien am Horizont.
Nachdem sie die Klippe umfahrfen hatten, die wegen ihrer speziellen Strömungen und den wechselnden Winden immer gefährlich waren, stellte Gwydón das Ruder auf den Südkurs zur Mündung des Teíti im Königreich Sîl ein. Dann setzte er sich neben Niam und streckte die Beine aus.
Niam sah ihn nachdenklich an. »Gwydón, erzähle mir noch etwas über die Überlieferung. Was genau ist diese ‘Prophezeiung vom hellen Kind‹? Seit wann kennt ihr sie? Hat sich das Leben nach ihrer Entdeckung verändert?«
»Ja, das hat es. Die Vorfahren wussten nichts von der Bedrohung, die das Schicksal ausersehen hatte. Doch kurz nach der Landung in der neuen Welt hatte Talrún, der damalige Oberdruide von Brigant, eine Vision. Während einer Geistesreise weihten ihn die Götter ein und kündeten von drohendem Unheil. Kurz darauf wurde in den Bergen von Aldérion im Norden von Brigant das erste Teilstück der Überlieferung gefunden. Ein Hirte, der seine Schafe und Ziegen in die hohen Berge führte, entdeckte zufällig eine Höhle. Dort kamen sie zum Vorschein, die alten Steintafeln. Doch ihr Zustand war bedenklich. Sie waren beschädigt, einige bröckelten schon. Es hat viel Arbeit, Mühe und Geduld gebraucht, sie zu rekonstruieren. Und noch immer befinden sich viele von uns auf der Suche nach den übrigen Teilen. Denn wir merkten schnell, daß die Tafeln in der Höhle nicht vollständig waren. Es war uns bewusst, daß es noch mehr Teile geben musste. Die Zeichen ergaben keinen Sinn. Oft erhellte erst ein neu gefundenes Anschlussteil den Inhalt der vorherigen Platten. Trotz vieler Rückschläge haben wir bis heute zumindest eine Art Grundgerüst der alten Prophezeiung entschlüsselt. Diesen Teil hast du gehört.«
»Und der Rest?«
»Der Rest ist erst in groben Zügen bekannt, denn hier fehlen noch die meisten Steintafeln.«
»Betrifft dieser Teil meine Reise?«
Gwydón nickte. »Das vermuten wir. Deine Reise ist bis jetzt nur in den Stationen und dem Zeitplan, wann du die vier verschiedenen Geisterwelten betreten musst, bekannt.«
»Was genau sagt die Prophezeiung über meinen Weg?«
»Es beginnt folgendermaßen:
An Alban Elfed zuerst nach West, nach Thierna Og im Meer. Den Stellvertreter der Menschheit Rest erwarten die Nixen sehr.
Der Rest fehlt. Wir nehmen an, daß hier dein Aufenthalt in Thierna Og geschildert wird und die Hilfe, die du dort erhalten wirst.«
»Was ist Alban Elfed?«
»Das ist der rituelle Name für Lughnasa, der ›Jahres-Abend‹, den Herbstanfang. Früher war das die gebräuchliche Bezeichnung, doch heute kennt fast niemand mehr diesen alten Namen.«
»Und wie geht es weiter?«
»An Oiche na Spiánna nach Nord, zum tiefen Reich der Zwerge, nach Brug-na-Boinne, dem geheimen Hort, geschützt durch hohe Berge.
Auch hier ist der Rest noch nicht gefunden. Oiche da Spiánna ist der alte Name von Samhain, der ›Jahres-Nacht‹, dem Beginn des Winters.«
Niam nickte und schaute Gwydón weiter aufmerksam am.
Gwydón fuhr fort: »Über deinen nächsten Aufenthalt wissen wir sogar noch weniger, nur das Folgende:
An Óimelc nach Ost, die dritte Station, nach Némes, versteckt und alt.
Óimelc heißt heute Imbolc, ›Mitt-Winter‹ oder auch der ›Jahres-Morgen‹. Und an Beltaine, in der alten Sprache Cetshamain, dem ›Jahres-Mittag‹ und Beginn des Sommers, musst du nach Inis Wytrin. Über den Schluss deiner Reise heißt es:
Zuletzt nach Süd an Cetshamain, dem Sonnenlichte gleich. Das Ziel soll Inis Wytrin sein, das helle Albenreich.«
»Wie lange wird meine Reise dauern?«
»In der Welt der Menschen wirst du deine Reise in Jahresfrist beenden. Zwischen den Etappen hast du jeweils drei Monate Zeit, genug für die zu überwindende Entfernung.«
»Und wie lange soll ich das alte Volk jeweils besuchen?«
»Das müsstest du nach deiner Ausbildung eigentlich wissen.«
Niam nickte. Ja, in Môn hatte sie gelernt, daß ein Aufenthalt in der Anderswelt immer eine Nacht und einem Tag dauerte. Dieser magische Zeitraum umfasste die Ewigkeit und war festes Gesetz im Umgang mit den Überirdischen. Still rechnete sie: Wenn sie jeweils nur ein Tag und eine Nacht die Anderswelt betreten würde und die Etappen durch die neue Welt wirklich jeweils nur drei Monate dauerten, dann könnte sie ihre Reise schon nach einem Jahr beenden. Das würde bedeuten, daß sie bereits im kommenden Jahr nach Emain Ablach und Môn zurückkehren könne, um ihre Ausbildung als Meistersängerin zu beenden. Denn das war immer noch ihr Ziel. Erfreut teilte sie Gwydón ihre Überlegungen mit.
Dieser aber zuckte nur mit den Schultern und murmelte »Wir werden sehen …« in seinen Umhang.
Unterdessen war es Abend geworden. Leuchtend versank der himmlische Feuerball im Meer. Seine letzten Strahlen erröteten den westlichen Himmel und spiegelte sich feurig im bewegten Wasser. Dann verschwand das Tageslicht endgültig und tausend Sterne zeigten sich am Firmament. Der Wind ließ nach und das Meer beruhigte sich. Gwydón überprüfte noch einmal das Ruder, dann legte er sich neben Niam. Sicher fand das Boot seinen Weg durch die Dunkelheit. Die frische Seeluft forderte schnell ihren Tribut und bald fiel Niam in einen tiefen Schlaf, begleitet von dem gleichmäßigen Schaukeln der Wellen.
Kurz vor Sonnenaufgang des nächsten Tages erwachte Niam. Sie schlug die Augen auf und blickte in Gwydóns lachendes Gesicht. Während der Nacht hatte das Boot die Reise weiter fortgesetzt. Nun sah Niam bereits die Küste von Sîl am Horizont. Am späten Vormittag erreichte das Boot die Mündung des Flusses Teíti. Das Ende der Seereise war gekommen. Noch leicht schwankend betraten Gwydón und Niam wieder festen Boden. Schnell entluden sie das Boot. Als das letzte Gepäckstück sicher an Land war, verließ das Boot wie von Geisterhand gezogen das Ufer und steuerte nach Norden über das offene Meer zurück nach Emain Ablach. Niam und Gwydón blickten ihm nach und sandten einen Gruß an die Herrin Aífe und die ferne Heimat.
»Willkommen im Königreich Sîl.« sagte Gwydón. »Das ist die Myriddische Hügelkette. Dorthin müssen wir.« Er deutete auf die Erhebungen im Südwesten. »Diese Hügel markieren die Hälfte unseres Weges nach Thierna Og.«
Im hellen Sonnenlicht flog Brânwi vor ihnen her. Sie zeigte den Reisenden den Weg.
Währenddessen erzählte Gwydón: »Sîl, das westliche Reich der neuen Welt, wird von den Silurern bewohnt. Sie kamen zusammen mit den Briganten hierher. Deine Vorfahren zogen weiter nach Norden, während die Silurer hier blieben und dieses fruchtbare Land besiedelten. Sie sind ein stolzes und mutiges Volk. Ihre starke Königslinie garantiert ihnen bis heute ein friedliches Leben. Der jetzige König von Sîl, König Líath, hat kräftige Söhne und Prinz Brégon, der Thronfolger, sichert die Nachfolge der nächsten Generation. Obwohl auch der Krönungsstein von Sîl geraubt wurde, trifft Sîl dieser Verlust noch nicht so stark, denn Prinz Brégon ist der anerkannte Nachfolger seines Vaters. Viele Silurer leben von der reichen Salzmine in der Hügelkette von Faór unweit des KönigsSchloßes Camallate. Ihr Salz verkaufen sie in die ganze Welt. Die Silurer gelten als hervorragende Schiffer. Niemand versteht es besser, die Fluten zu reiten.«
Gegen Abend erreichten sie endlich die Hügelkette. Im Dämmerlicht waren ihre Konturen nur verschwommen zu erkennen. Gwydón schlug ein Lager auf und entzündete ein kleines Feuer. Hell flackerten die Flammen auf, während die Grillen mit ihrem Gesang die laue Sommernacht feierten. Gedankenverloren schaute Niam in den sternklaren Himmel. Dort lachten ihr tausende Himmelskörper entgegen. Niam erkannte die meisten Sternenbilder, wenngleich sie auch ein wenig anders und etwas versetzt waren. Darüber fiel sie in einen traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde Niam von Gwydón kurz nach Sonnenaufgang geweckt. Im frühen Morgenlicht sah sie den vor ihr liegenden Bergrücken deutlich. Es waren keine richtigen Berge, eher ein gewaltiges Massiv hügeliger Wellen. Die runden Wipfel wölbten sich mächtig in die Höhe, bewachsen von den Bäumen der Gegend. Neugierig beäugte Niam die Anhöhe.
Gwydón bemerkte es und erklärte: »Der Hügel dort hinten ist der Myrrid, der dieser Hügelkette seinen Namen gab. Er ist ihr höchster Punkt und misst etwa tausend Ellen. Aber diese Hügel sind nur schwer zu besteigen. Sie liegen an keiner der bekannten Handelsrouten und haben also keine befestigten Straßen. Doch Brânwi und ich kennen den Weg.«
Zur Bestätigung flog der schwarze Vogel auf Niams Schulter.
Es war bereits Nachmittag, als sie die Anhöhe endlich erklommen hatten. Vor ihnen breitete sich weites grünes Land aus. Dichter Wald besiedelte die Ebene bis zum fernen Horizont.
Auf dieser Seite waren die Myriddischen Hügel sanft. Hier kamen Gwydón und Niam schneller voran. Während des Weges erzählte Gwydón Niam weitere Geschichten. Niam erfuhr viel über die restlichen Völker der neuen Welt. Jeder der vier Stämme hatte im Laufe der Jahre eine Spezialität entwickelt, nach dem sich seine Lebensart richtete. Jeder konnte etwas, das die anderen nicht konnten. Zum allseitigen Wohl tauschten sich die Völker der neuen Welt aus. Neben den Silurern im Westen waren da die Briganten im Norden, Niams Stamm. Sie widmeten sich dem Ackerbau und vor allem dem Bergbau. Auf diesem Gebiet hatten sie im Laufe der Zeit eine hohe Perfektion entwickelt. Der Ômes war von vielen Minerallinien durchzogen. Die vereinzelten Goldfunde, aber vor allem zahlreichen Zinn-, und Kupferminen versprachen lohnende Erträge. Die Dumnónii im Süden lebten hauptsächlich vom Moor und dem fruchtbaren Torf. Die Âtrebiten siedelten im Osten. Von diesem Volk hatte Niam schon gehört. Schließlich kam ihre Schulfreundin Déira aus Âtron. Die dortigen Wälder waren tief und ertragreich. Der mächtige Wald von Lyneí im Süden von Âtron gehörte zu den ältesten Wäldern der neuen Welt. Neben der Waldwirtschaft lebten die Âtrebiten vom Ackerbau und der fruchtbaren Erde, die sie ernährte.
Wie vorhergesagt bewältigten Gwydón und Niam den Abstieg bis zum Abend und übernachteten in der lauen Sommernacht am Fuß der Myriddischen Hügel.
Die frühe Morgensonne wärmte und weckte sie. Der Sommer erreichte nun seinen Höhepunkt. Bald war Lughnasa, die Krönung des Sommers 236 und außerdem Niams fünfzehnter Geburtstag.
Gwydón riss sie aus ihren Gedanken: »Jetzt haben wir es bald geschafft. Heute Nachmittag erreichen wir die Klippen von Thierna Og. Und wir sind pünktlich. Nächste Nacht zieht Lughnasa über das Land und öffnet dir die Tür in die Anderswelt.«
Niam schluckte. Der Kloß im Hals wurde dicker und das mulmige Gefühl in der Magengegend nahm zu.
Zaghaft sah sie Gwydón an: »Wie sind die, die ich sehen werde?«
»Wer? Die Nixen?«
»Die und die anderen. Ich meine das alte Volk generell. Kennst du sie?«
»Teilweise« antwortete Gwydón.
»Und wie sind sie?«
»Ganz unterschiedlich. Als sich die Stämme des alten Volkes zurückzogen, nahmen sie das Wesen ihres Elementes an. Entsprechend unterscheiden sie sich, sowohl im Aussehen als auch im Temperament. König Attalanius, den du morgen besuchen wirst, ist wie das Meer, weit und weich, aber auch mächtig und grausam. Doch du musst keine Angst haben. Als Herrscher ist er gütig. Und er ist weise, denn er ist so alt wie das Meer. Thierna Og im Westen von Sîl heißt das Reich, wo er und sein Volk seit dem Auszug leben. Thierna Og ist ein herrliches Land. Es liegt im Westmeer am tiefsten Punkt des Meeresgrundes. Tí Sorcha, das Schloß von König Attalanius, ist ein wahres Wunder. Du wirst es ja bald selber sehen.«
»Aber wie soll das gehen? Wenn Thierna Og unter dem Meer liegt, dann ertrinke ich doch!«
»Niam, hast du wirklich so wenig Vertrauen in dich und dein Schicksal? Hast du denn noch nicht begriffen, daß du kein normaler Mensch bist? Du hast nichts zu befürchten. Wenn Attalanius dir Zugang in sein Reich gewährt, dann stehst du unter seinem Schutz. Und vergiss nicht, der Segen der großen Mutter begleitet deine Reise. Niemand wird dir etwas zuleide tun. Auf deinen Schultern liegen die Hoffnungen der guten Seelen, du bist die Auserwählte. Daran solltest du dich langsam gewöhnen.«
Niam nickte beklommen. Um sie abzulenken, erzählte Gwydón weiter von Thierna Og und seinen fabelhaften Bewohnern. Er berichtete von Attalanius und ganz besonders von dessen Frau, der Dame vom See.
»Die Dame vom See ist eine wundervolle Frau, gütig und voller Liebe. Während ihr Mann die Macht des Ozeans und des fließenden Gewässers verkörpert, steht sie für die stillen und tiefen Wasser in Teichen, Seen und Tümpeln. Du wirst sie mögen.«
»Und die anderen Fürsten des alten Volkes? Kannst du mir auch etwas über sie erzählen?«
»Nicht von allen. Ich kenne nicht alle Stämme des alten Volkes persönlich. Da sind zunächst die Zwerge. Sie werden von König Elfric regiert. Sein Reich ist Brug-Na-Boinne in der Bergkette von Aldérion im Norden von Brigant. Brug-Na-Boinne muss gewaltig sein, denn das Volk der Zwerge ist zahlreich. Auch Tâin Beo, die Burg des Erdkönigs, soll beeindruckend sein. Ich selber war allerdings noch nie da. Von den Elfen weiß ich nur, daß sie in ihrem Zauberwald Némes tief im Osten von Âtron hinter den Hardénischen Wäldern leben. Dort herrscht Königin Flûr. Ihr ElfenSchloß heißt Tomhân. Mehr kann ich dir über die Elfen leider nicht erzählen.«
»Und die im Süden? Kennst du die auch nicht?«
»Doch. Vor einigen Jahren hatte ich das Privileg, Königin Belisama und ihre Lichtalben in Inis Wytrin besuchen zu dürfen.«
»Wie ist es da?«
»Herrlich. Dort im Süden ist das Licht zu Hause. Inis Wytrin ist ein wundersamer Ort, wie eine Insel aus Glas. Überall funkelt und leuchtet es. Es ist atemberaubend schön.«
»Und die Königin?«
»Belisama? Sie ist eine ausgesprochen imponierende Frau, sehr weise und gerecht, aber auch unnahbar. Manchmal wirkt sie nach menschlichem Verständnis fremd und grausam. Die Lichtalben haben sich am meisten vom irdischen Leben entfernt. Von allen Stämmen des alten Volkes leben sie am längsten in der Anderswelt. Ihr Auszug eröffnete den Abschied des alten Volkes. Sie waren die Ersten, die verschwanden. Doch eines musst du immer bedenken beim Umgang mit dem Übernatürlichen: Das Wesen des alten Volkes ist geheim und darf von uns Sterblichen weder geschaut noch gefragt werden. Jeder gewalttätige Zugriff zerstört das Wunderbare, so wie der Schmelz des Schmetterlingsflügels durch die menschliche Berührung zerstört wird. Deshalb ist ihr Wissen geheim. Also darfst du auf deiner Reise Folgendes nie vergessen: Alles, was du erfahren wirst, ist nur für dich bestimmt. Denn das, was du sehen wirst, wird die menschlichen Grenzen übersteigen.«
Nach insgesamt drei Tagen Wanderung hatten Niam und Gwydón die Ebene mit ihren Hügeln, Wäldern und Wiesen durchquert. Die Bäume zogen sich zurück und gaben den Blick frei auf das offene Meer. Jäh fielen steile Klippen in die Tiefe. Weit unten brodelte die Brandung. Gefährlich sahen die Felsenklippen aus, schroff und halsbrecherisch.
Niam sah Gwydón fragend an. »Und wo ist Thierna Og?«
»Direkt vor deinen Füßen. Dort hinunter mußt du, denn da unten liegt Thierna Og..«
Erneut betrachtete Niam den Abgrund zweifelnd. »Und wie? Ich kann hier doch nicht einfach springen.«
»Diese Antwort kennst nur du allein. Die Wege in die Anderswelt sind unergründlich und für jeden anders. Horche tief in dich hinein. Dort wirst du die Lösung finden. Es ist wichtig, daß du vertraust, Niam. Nur wenn du wirklich an dich glaubst, kann sich das Wunder entfalten.« Dann verabschiedete sich Gwydón. »Den Besuch bei den Nixen musst du alleine machen. Das ist dein Schicksal und dein Lebensweg.«
»Aber die Herrin Aífe hat doch gesagt, daß du mich auf meiner Reise begleiten wirst. Was ist dann mit meiner nächsten Station? Ich finde den Weg zu den Zwergen doch nie alleine.«
»Natürlich bringe ich dich nach Brug-Na-Boinne. Nach deinem Aufenthalt in Thierna Og werden wir uns unter diesem alten Baum wiedertreffen. Dann gehen wir gemeinsam nach Brug-Na-Boinne.«
»Und Brânwi? Darf sie wenigstens mitkommen?« Verzweifelt klammerte Niam sich an diesen letzten Strohhalm.
»Nein, auch Brânwi darf dich nicht begleiten. Versteh doch endlich, Niam: Niemand kann das. Du bist das helle Kind, die Auserwählte, die Hoffnung der Menschen und der guten Geister.«
Wie ein letzter Abschiedsgruß flog Brânwi dreimal um Niams Kopf, dann ließ sie sich auf Gwydóns Schulter nieder, der mit dem Vogel in der Dunkelheit des Waldes verschwand.
Niam blieb allein zurück. Noch lange blickte sie in Gwydóns Richtung. Dann drehte sie sich um. Vor ihr lag nur das offene, schäumende Meer. Zögernd näherte sie sich den Klippen und schaute vorsichtig hinunter.
Dann sank sie auf die Knie und begann zu beten. Die Worte fanden wie von selbst ihren Weg. Sie sprach zu den Göttern ihrer Vorfahren, den Geistern der Welt und der großen, alten Muttergöttin und bat um Beistand und Ratschlag. Inzwischen kündete ein leuchtender Sonnenuntergang vom Tagesende und dem baldigen Anbrechen der heiligen Nacht. Niam drehte sich um und betrachtete ihre Umgebung. Während ihr Blick über das Tal, die Klippen und das weite Meer glitt, begann sich die innere Stimme zu regen. Gwydóns Forderung nach Mut und Urvertrauen ging ihr nicht aus dem Sinn. Plötzlich verstand sie, was er gemeint hatte. Es ging darum, den Glauben zu zeigen. Eine Mutprobe musste sie bestehen, durch die sie ihr Vertrauen in sich und ihr Schicksal beweisen konnte. In diesem Moment spürte sie eine ungewohnte Regung in ihrem Inneren. Es war eine neue Art Selbstvertrauen, die sie zwang, aktiv zu werden.
Da verschwanden die letzten Sonnenstrahlen am Horizont und die hohe Lughnasa-Nacht senkte sich über das Land. Niam trat ganz nah an den Abgrund und Schloß die Augen. Unter sich hörte sie das gewaltige, tosende Meer. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Die frische Meeresbrise streichelte sanft ihr Gesicht und ihr Herz beruhigte sich. EntSchloßen öffnete Niam ihre Augen wieder und breitete die Arme aus. Der Wind erfasste ihren Umhang und spielte leise damit. Da eroberte ein Bild ihren Kopf. Aus dem Nebel des Unterbewusstseins trat ihre Mutter. Klar und deutlich stand Alania vor Niams innerem Auge und lächelte ihr aufmunternd zu. Beruhigend redete sie mit ihrer Tochter, und Niam spürte, wie ihr Mut wuchs und die Angst bändigte. Dann streckte Alania Niam die Hand entgegen und forderte sie auf, den nächsten Schritt zu tun.
Niam stürzte tief. In Todesangst erwartete sie den baldigen Aufprall. Doch ihr Sturz wurde weich aufgefangen. Verwundert öffnete Niam die Augen. Ihre Umgebung hatte sich blitzartig verändert. Die Brandung, die eben noch mit gewaltiger Wucht an die steilen Klippen rollte, war schlagartig ruhig geworden. Das Meer war überzogen mit einem seltsam anmutenden, weißen Teppich. Im Bruchteil eines Augenblicks hatten die Algen des Meeres zu blühen begonnen und bedeckten das Wasser der Bucht mit ihrem weichen Schaum. Niam fiel in eine flauschige Wolke. Wunderbare Seerosen hießen sie mit ihren leuchtenden Farben willkommen. Ein silbriges Licht kam vom Grund des Meeres und erhellte die ganze Bucht. Die Klippen warfen das Leuchten zurück und die Wellen der offenen See fingen es tausendfach auf. Es war ein wunderbarer Anblick.
Plötzlich teilte sich der Blütenteppich und öffnete den Blick nach Westen auf den weiten Ozean. Am Horizont sah Niam weiße Rösser, die den Schaumkronen der Wellen entstiegen. Herrlich waren sie, von edlem Wuchs und rassigem Temperament. In Windeseile jagten sie von den Tiefen des Meeres bis zur Küste. Vor Niam kamen sie zum Stehen und warfen feurig ihre Köpfe in die Höhe. Sie zogen eine prächtige Muschel mit genügend Platz für Niam. Weiche Kissen lagen auf glänzendem Perlmutt und das durchsichtige Dach schillerte wie eine Seifenblase. Mit klopfendem Herzen ließ sich Niam auf den samtenen Polstern nieder, dann machten sich die weißen Pferde pfeilschnell auf den Rückweg nach Westen, der Mitte des Ozeans entgegen. Delphine und Lachse begleiteten Niams Fahrt. An der tiefsten Stelle des Meeres schloß sich die große Muschel und der Zug tauchte ab. So durchbrach Niam das Tor zur Anderswelt, zum magischen Reich der Nixen.
Erschrocken hielt Niam die Luft an. Mit Erstaunen merkte sie aber schnell, das sie in der Kutsche ebenso leicht atmen konnte wie über dem Wasser. Vor ihrem Auge öffnete sich die unbekannte Welt des weiten Meeres, und sie sah sich fasziniert um. Alles um sie herum war fließend, in stetiger Bewegung. In kunstreichen Figuren durchschnitten die Meeresbewohner ihr nasses Element. Lachse in immer größeren Schwärmen schwammen neben dem Muschelgefährt. Ihre silbrigen Leiber blitzten im dunklen Meer auf. Sie hatten während des Tages die Sonnenstrahlen in ihrem perlmuttfarbenen Gewand gespeichert und warfen sie nun bei Nacht tausendfach zurück. Dieses Leuchten tauchte das Meer in ein wundersames Licht, und die Umgebung sah aus wie eine Zauberwelt. Durchscheinende Quallen zogen gemächlich vorbei, lautlos gefolgt von ihren feingliedrigen, langen Armen, kleine Fische in bunten Regenbogenfarben, aber auch Tintenfische und Wale. Sogar der seltene Riesenkrake der Tiefsee gab Niam sein Geleit. Dann waren sie endlich angekommen. Vor Niam auf dem Meeresgrund lag Thierna Og, das Zentrum des Wasserreiches. Durch das Licht seltsamer Leuchtfische hell erleuchtet sah Niam auf grüne Wiesen, die sich über weite Ebenen spannten. Blühende Gärten mit allerlei Früchten und Blumen umsäumten eine große Stadt mit breiten Straßen und prächtigen Palästen. Im Zentrum all dieser Herrlichkeit aber lag die größte Kostbarkeit: Tí Sorcha, das KönigsSchloß von Attalanius, dem Herren der Meere. Majestätisch erhob sich der gewaltige Korallenstock. Die vielen zackigen Wipfel waren mit den wertvollsten Kleinodien der Meere geschmückt, und den Eingang zierten zinnoberrote Korallenblüten.
Hier öffnete sich die Muschel lautlos und Niam verließ vorsichtig ihr Gefährt. Da kam ein großer Salm auf sie zugeschwommen. Seine langen, seidigen Barthaare verrieten sein hohes Alter.
Er verneigte sich vor Niam und sprach: »Folge mir, König Attalanius erwartet dich.«
Niam hatte auf der Reise hierher so viele wunderbare Dinge gesehen, daß sie sich nicht wirklich wunderte, daß sie die Sprache des Fisches verstand. Zu Beginn hatte sie allerdings Schwierigkeiten, denn der Fisch sprach sonderbar. Er blubberte bei jedem Wort und es klang, als redete er mit vollem Mund. Der alte Fisch führte Niam über korallene Stufen durch das große Eingangsportal. Ebenso wie bei Tír Taingire, dem Schloß der Herrin Aífe, war auch das Burgportal von Tí Sorcha mit der Doppelspirale verziert, der Signatur der großen Muttergöttin. Ehrfürchtig betrat Niam das Schloß des Meereskönigs.
Gwydón hatte nicht übertrieben: Tí Sorcha war wirklich wunderschön. Alle Sehenswürdigkeiten und Kostbarkeiten der Meere waren hier versammelt. Seltsame Fabelwesen und magische Erscheinungen schwammen durch die hohen Hallen des Schloßes, die in kunstfertiger Handarbeit in den harten Korallenstamm geschlagen waren. Durch Scheiben aus leise herabfallendem Wasser, die wie eine Wasserscheide wirkten, konnte man auf Thierna Og und das gesamte blühende Land sehen. Der alte Salm schwamm in hohem Tempo vor ihr her, und Niam musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie durcheilten weite Gänge, hohe Hallen und festliche Säle. Überall sah Niam prächtige Symbole des Schwans, die hier an nahezu jeder Ecke angebracht waren. Dann erreichten sie die große Kuppelhalle. Dies war das Herz von Tí Sorcha, das Zentrum der Macht von Thierna Og.
Dort war der gesamte Hofstaat versammelt. Es waren hauptsächlich Fische und Seehunde, aber auch vereinzelt menschliche Geschöpfe. Viele der Gestalten konnte Niam nur als Mischwesen bezeichnen, halb Mensch und halb Fisch. Es waren meist Frauen, die als Nixen mit ihren langen, perlmuttschimmernden Fischschwänzen durch den Saal tanzten. Die Luft war hier fließend wie Wasser, und so schwebten sie durch die Hallen, als schwämmen sie im Meer. Sie waren geschmückt mit den Blumen der Meere und ihr Lachen war perlend und bezaubernd. Wie ihr Element, das Wasser, waren sie glänzend und durchsichtig, azurblau und silberfarben. Ihre großen Augen schimmerten und ihr Haar war lang und glänzend. Bei Niams Eintritt verstummte die Menge. Alle drehten sich zu ihr und lächelten ihr aufmunternd zu. Dann gaben sie den Blick frei auf das Zentrum der Kuppelhalle, den Thron des Meereskönigs. Dort saß er, Attalanius, der Beherrscher der Meere, und neben ihm seine Gemahlin, die Dame vom See.
Als der Meereskönig Niam sah, erhob er sich. Er war groß, größer als Niam erwartet hatte. In seiner Hand ruhte Tethròn, der mächtige Dreizack. Sein Gewand hatte die undurchdringliche Farbe des tiefen Meeres und schimmerte in den tausend Farbtönen des Perlmutt. Über seinen Bauch floss ein mächtiger, weißer Bart, dessen Enden an die kleinen Wellen erinnerten, die in sanften Berührungen das Uferland küssten. Doch als Erstes fiel Niam die Farbe seiner Augen auf. Sie waren ebenso strahlend Blau wie Niams. Auch die Dame vom See hatte solche Augen. Langsam trat der König der Meere auf sie zu. Der Saum seines Gewandes war von Wasser umsäumt und wo seine Füße den Boden berührten, zeigte eine Wasserspur seinen Weg. Niam fühlte sich seltsam angezogen. Unwillkürlich ging auch sie dem Meereskönig entgegen. Auf der Hälfte des Weges zwischen dem Thron und dem Eingangsportal trafen sie aufeinander.
Attalanius lächelte sie an: »Niam, ich freue mich sehr, dich endlich zu sehen. Mit glücklichem Herzen begrüße ich dich und heiße dich in Thierna Og willkommen. Sei Gast in meinem Haus. Lange haben wir auf den Tag deiner Ankunft gewartet.« Auch er blubberte, aber bei ihm klang es anders als bei dem Fisch. Seine Stimme war wie das gewaltige Rauschen der Meeresbrandung, und Niam hatte nur geringe Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Er legte seine Hände auf Niams Schulter und drückte sie fest.
Niam war überrascht. Nie hätte sie eine so herzliche Begrüßung erwartet. Woher der König der Meere wohl ihren Namen kannte? Doch sie kam nicht zum weiteren Nachdenken, denn inzwischen hatte auch die Dame vom See ihren Platz verlassen.
Leise war sie hinzugetreten: »Niam, bist das wirklich du?«, blubberte sie. »Bei der Göttin, du siehst ja aus wie deine Mutter! Komm an mein Herz, geliebtes Kind.« Damit nahm sie die erstaunte Niam in die Arme und drückte sie an ihren weichen Busen.
Ein warmes Rauschen umfing Niam und sie versank in einem tief vertrauten Gefühl. Unwillkürlich musste sie an ihre Mutter denken.
Dann lockerte die alte Dame ihre Umarmung und betrachtete Niam aufmerksam. »Lass dich ansehen. Dreh dich und zeige deine Schönheit von allen Seiten. Du machst mich glücklich. All die Jahre seit dem Tag deiner Geburt habe ich auf diesen Tag gewartet. Endlich begegnen wir uns. Mein altes Herz ist sehr froh. Wie sehr du doch deiner Mutter ähnelst.«
Niam war nun noch erstaunter. »Ihr kanntet meine Mutter?«
»Natürlich. Weißt du das denn nicht …? Aber nein, woher solltest du …«
Niam sah die Dame vom See fragend an, doch diese schüttelte lächelnd den Kopf: »Gedulde dich noch ein wenig. Zuerst stärke dich nach deiner Reise. Wir haben dir zu Ehren ein Festmahl vorbereitet. Dabei musst du uns von dir und den Menschen erzählen.«
Attalanius und die Dame vom See begleiteten Niam den langen Weg zum Thron. Er war überaus prächtig. Sein Sockel war in feinster Handarbeit aus dem Herzen des Korallenstockes, der das Schloß bildete, gemeißelt. Kunstvolle Figuren und Symbole aus Edelstein schmückten seine Lehnen und zwei prachtvolle Karfunkel in Form eines Schwans zierten den Baldachin. Der alte König setzte sich auf die samtenen Kissen und bat Niam, neben ihm Platz zu nehmen. Auch die Dame vom See ließ sich auf ihrem Prunksessel nieder. Dann klatschte Attalanius in die Hände. Wie von Geisterhand zog sich die Wand zurück und gab den Blick frei auf eine reich beladene Tafel. Noch nie hatte Niam solche Köstlichkeiten der Meere gesehen. Doch sie zögerte. Zuerst wollte sie ihre Aufgabe erfüllen.
»Könnt Ihr mir helfen, das zu finden, was ich suche?«
»Das kommt darauf an, was du suchst.« Die warme Stimme der Dame vom See erklang, sanft wie das Plätschern eines Regentropfens, der die Seeoberfläche berührt. »Sage uns, liebe Niam, was suchst du?«
»Die Krönungssteine der Menschen.«
»Das meine ich nicht. Ich rede von dir, Niam, nicht dem helle Kind. Frage deine Seele und dann sage uns, was du suchst.«
Niams Herz schlug bis zum Hals. Ein Bild und ein einziger Gedanke bemächtigten sich ihres Geistes. Sie zögerte, doch dann gab sie sich einen Ruck: »Es gibt schon etwas … Meine Mutter.« Niam seufzte. »Hier in Eurem Reich denke ich so viel an sie wie schon lange nicht mehr.«
»Ja.« Die Dame vom See sah auf einmal betrübt aus. »Deine Mutter war mit dem Reich des Wassers sehr verbunden und das Reich des Wassers mit ihr. Auch wir haben ihren Tod sehr betrauert. Das Reich Thierna Og leidet seit damals unter dem großen Verlust. Schließe die Augen und lausche, dann wirst du verstehen.« Damit hob die Dame vom See die Hand.
Eine Nixe eilte herbei und setzte sich zu Füßen des Thrones. Mit ihrer klaren Stimme sang sie eine alte Weise:
»Im Westen regiert seit Beginn der Zeit Attalanius über das Nass so weit. der hohe Herrscher über das große Meer die Wasserbewohner lieben ihn sehr.
Denn er vereinte königlich, es herrschte Frieden ewiglich; zwischen Menschen und den Wasserfeen wuchs Freundschaft an den tiefen Seen.
Doch mit der Zeit vergaß, oh Leid, die Menschheit ihre Dankbarkeit. Voll Übermut und ohne Verstand brach sie das alte Friedenspfand.
Die Menschen jagten dann all die, die einstmals waren Freunde für sie. Die Wasserbewohner in hohen Zahlen mussten dies mit dem Leben bezahlen.
Attalanius brannten die Augen vom Sehen, er wusste, nun musste etwas geschehen! Mit schwerem Herzen und Tränen im Blick erfüllte er dann sein traurig' Geschick.
Und schickte die Beste aus seinem Geschlecht, zu kämpfen für des Meeres Recht. Der hellste Stern des Meeres war da, die hohe Prinzessin Morygana.
Mit dieser Bestimmung war sie geboren, schon immer vom Schicksal auserkoren, zu schmieden erneut das heilige Band, den hohen Weltenfriedenspfand.
Mit großer Macht war sie ab nun, der Schwan, auf dem die Hoffnung ruhn. Die Heldin, ersehnt seit Ewigkeit, versöhnte das Meer und die Menschenheit.«
»Das ist ja das L’Tue Morygana, das Lied der Wasserfee Morygana!« Niam sah die Dame vom See aufgeregt an. »Das kenne ich. Ich habe diese Ballade in Môn studiert wie jeder angehende Barde. Aber wieso singt ihr mir jetzt diese Legende? Was hat das mit meiner Mutter zu tun?«
»Alles. Denn die, die ihr Alania nanntet, hieß hier im Reich des Meeres Morygana. Die Fee dieser Legende ist Alania, deine Mutter. Es war ihr Schicksal, als Mensch zu sterben. Und es war es ihr vorherbestimmt, in der Welt der Menschen eine Tochter zu gebären. Als Morygana - oder Alania - dir das Leben schenkte, da erfüllte sie ihr Schicksal, eng verknüpft mit der Zukunft der Menschen. Morygana erlebte ihre eigene Metamorphose: Sie, die Tochter des Meeres, musste Mensch werden und ihr Leben opfern, um dem Licht das Leben zu geben.« Mit diesen Worten legte die alte Dame Niam liebevoll die Hand auf den Kopf und strich ihr sanft über die blonden Locken. »Deine Mutter war eine Angehörige des alten Volkes. Sie war eine Wasserfee. Und sie war meine älteste Tochter.«
Niam war sprachlos. Es dauerte eine Weile, bis sie die Tragweite des Gehörten begriff.
»Ja, liebe Niam, du bist von meinem Blut. Attalanius und ich sind deine Großeltern. Wie sehr habe ich diesen Tag herbeigesehnt. Würdest du deine Mutter gerne einmal sehen? Sie ist zwar tot, aber die Erinnerungen an sie und ihr leider viel zu kurzes Leben sind immer noch hier. Folge mir, dann werde ich es dir zeigen.«