Das Herz der Wildnis - Matt Graham - E-Book

Das Herz der Wildnis E-Book

Matt Graham

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Beschreibung

Er lebte ein halbes Jahr lang völlig auf sich allein gestellt in menschenleerer Wildnis. Er wanderte die gesamte Küste Kaliforniens entlang, mit Sandalen, Lendenschurz und einem prähistorischen Steinmesser. Er rannte fünfundsechzig Meilen durch das brennend heiße Death Valley, mit nur einem Liter Wasser im Gepäck ... Matt Graham, bekannt aus den TV-Sendungen "Das Survival-Duo" und "Wildnis wider Willen", nimmt uns mit auf eine Reise in die wilde und einsame Schönheit der Natur. Er erzählt von der Sehnsucht, Besitztümer und Zivilisation hinter sich zu lassen – und von seinen sagenhaften Abenteuern als Jäger und Sammler. Überdies verrät er uralte Überlebenstechniken für die Wildnis und zeigt, wie sich das Verhältnis des Menschen zur Erde verändert, wenn man als Teil von ihr lebt.

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Das Buch

Die Sehnsucht nach Abenteuer und Wildnis hat Matt Graham seit frühster Kindheit geprägt. Seit er fünfzehn Jahre alt ist, verbringt der Survival-Experte jedes Jahr sechs Monate allein in der Wildnis von Utah. Er ist Triathlet, Rock-Climber und der zurzeit weltbeste Athlet in der Disziplin des Atlatl – dem Schleudern prähistorischer Speere. Er jagt mit dem Langbogen, beherrscht Judo, Tae Kwan Do, Wushu Kungfu und gerbt Leder mit einer Lösung aus tierischem Hirnsaft.In seinem außergewöhnlichen Buch nimmt Matt Graham den Leser mit auf eine Reise in die Steinzeit, in das Herz der Wildnis. Er schildert seine größten Outdoor-Abenteuer und erklärt, was es bedeutet, ein Leben als Jäger und Sammler zu führen und sich völlig abgenabelt von jeglicher Zivilisation durch die Wildnis zu schlagen. Überdies verrät er uralte Überlebenstechniken und zeigt, wie sich das Verhältnis des Menschen zur Erde und Umwelt verändert, wenn man als Teil von ihr lebt.

Die Autoren

Matt Graham unterrichtet »Primitive Skills« an der Outdoor Survival School in Boulder (Utah) und begleitet ein therapeutisches Programm für gefährdete Jugendliche. Wo andere aufgeben, schlägt er sich mit einfachsten Mitteln durch. Der praktizierende Steinzeitler ist einer der weltweit besten Athleten im Atlatl, dem Schleudern prähistorischer Speere.

Josh Young ist Journalist, u.a. für die New York Times und das LIFE Magazine, und war Co-Autor zahlreicher Sachbücher, von denen fünf auf der New-York-Times-Bestsellerliste standen.

MATT GRAHAM

mit JOSH YOUNG

DAS HERZ DER WILDNIS

Meine Abenteuer als Jäger und Sammler

Aus dem Amerikanischen von Nina Pallandt

ullstein extra

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ISBN 978-3-8437-1171-5

Die Originalausgabe erschien erstmals im Juli 2015 unter dem Titel Epic Survival. Extreme Adventure, Stone Age Wisdom,and Lessons in Living From a Modern Hunter-Gatherer bei Gallery Books,an imprint of Simon & Schuster Inc., New York.Copyright © Matt Graham and Josh Young, 2015© der deutschen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenCovermotiv: © Ace Kvale

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Umschlag

Über das Buch und die Autoren

Titelseite

Impressum

Widmung

Einführung:

SURVIVAL-REGEL #1:

1 EIN GOLDENER SONNENAUFGANG

2 SPAGAT ZWISCHEN ZWEI WELTEN

3 AUF MEINE ART

SURVIVAL-REGEL #2:

4 MUSKELPROTZ-MATT

5 DIE EINSAMKEIT DES LANGSTRECKENLÄUFERS

6 ERSTE SCHRITTE VOR DEM GROSSEN LAUF

7 KALIFORNIEN

8 STARK WIE EIN PFERD

SURVIVAL-REGEL #3:

9 MEIN PLATZ IM LEBEN

10 BEZIEHUNGEN

11 DER LANGE WEG ZURÜCK

12 AUF DEN SPUREN DER URMENSCHEN

SURVIVAL-REGEL #4:

13 AUF EIGENE FAUST

14 EIN LEICHENTUCH AUS SCHNEE

15 SUCHE UND VISION

16 SONNENWENDE

SURVIVAL-REGEL #5:

17 WAHL DER WAFFEN

18 DAS BLUT DER TIERE

19 THRIVAL: IN UND MIT DER NATUR

SURVIVAL-REGEL #6:

20 BARFUSS DURCH DIE WILDNIS

Bildteil

DANK

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die die Natur als­Geschenk betrachten, die auf sie achten, sich an ihr­erfreuen, sie bewahren und von ihr lernen wollen.

Einführung:

DAS HERZ DER WILDNIS

Das Leben, das ich führe, unterscheidet sich grundlegend von dem der meisten Menschen, und dennoch ist es ein Leben, aus dem die moderne Gesellschaft entstanden ist. Während die Existenz der meisten dem pulsierenden Rhythmus der Metropolen, den Anforderungen der heutigen Welt unterliegt, einer steten Taktung von Nullen und Einsen, wird mein eigenes von der Natur diktiert und wirkt, zumindest auf den ersten Blick, sehr viel gefährlicher.

In den letzten zwanzig Jahren habe ich die Entwicklung des digitalen Zeitalters weitgehend ignoriert und stattdessen ein Jäger-und-Sammler-Leben geführt, so wie die Menschen es vor Tausenden oder gar Hunderttausenden von Jahren getan haben. Dabei habe ich gelernt, dass die Wildnis ein Ort der Wahrheit ist und eine Bereicherung für jeden darstellt, der bereit ist, sich ihr zu unterwerfen.

Viele Menschen bemühen sich nach Kräften, das Leben zu genießen, und fühlen sich trotzdem leer, ohne genau zu wissen, weshalb. Für mich lag der Schlüssel zum Glück in grünen Wiesen, steinigen Pfaden und wilden Flüssen. Ich musste die Wildnis entdecken und besser begreifen – dieser Entschluss war wie ein Befreiungsschlag für mich. Meine Beine trugen mich an jene Orte, an die ich gehen musste. Taten sie es nicht, brauchte ich auch nicht dort zu sein.

Ich begab mich in die Wildnis, lediglich mit einem Lendenschurz und selbstgemachten Sandalen bekleidet und mit einer Decke, einem Steinmesser und einer Tüte Chia-Samen ausgestattet. Einmal habe ich ein halbes Jahr lang ganz allein in der Wildnis gelebt, um meine physischen und mentalen Grenzen auszutesten. Dabei hat mein Körper eine unfassbare Wandlung vollzogen – mein Zahnstein löste sich, mein Atem wurde angenehm süß, und mein Haar wuchs merklich dichter. In der Anfangsphase, als mein Körper all die Giftstoffe ausschied, war ich zu nichts zu gebrauchen, danach jedoch konnte ich unfassbar schnell laufen und aus zwanzig Metern Entfernung mit dem Speer einen Fisch fangen. All meine Sinne waren hellwach, und je härter die Anforderungen an meinen Körper waren, umso besser gelang es mir, Energie aus der Natur zu ziehen.

Den Großteil meines Lebens habe ich autonom gelebt, überall auf der Welt, in traditionellen Wigwams, Erdhäusern oder sonstigen primitiven Hütten ohne Strom und Abwasserversorgung – in den Bergen von Utah, am Fuße des schneebedeckten Grand Canyon, in einer Hütte aus Bananenblättern im Dschungel von Kauai. Ich habe Feuer aus Baumrinde, Kletterpflanzen, Salbeisträuchern, Tamariskenzweigen und dem Sprungbein einer Kuh gemacht, um mich zu wärmen und etwas zu kochen. Um überleben zu können, musste ich zum geschickten Jäger werden. Meine Lieblingswaffe war die Speerschleuder. Ich perfektionierte meine Technik so weit, dass ich sogar den amtierenden Weltmeister schlug.

Ich bin Tausende von Kilometern gelaufen und habe dabei jeden Winkel der Wildnis im Westen der USA erkundet, der mich zu sich rief. Bei meinen Exkursionen trug ich selbstgemachte Sandalen aus Yucca-Fasern, um einen besseren Kontakt zum Boden zu haben. Ich bin durch die Berge der Sierra Nevada gelaufen, durch die Mojave-Wüste, die Sonoran-Wüste, den Grand Canyon, das Tal des Todes und quer durch Kalifornien, stets auf Du und Du mit der Tier- und Pflanzenwelt. Ich hatte es nicht eilig, wollte nicht nur einer von vielen Besuchern sein, der sich nicht anpassen kann. Wenn ich spürte, dass ich an einem Ort etwas lernen sollte, blieb ich tage- oder sogar wochenlang und lauschte, was das Land mir sagen wollte.

Ich will weder prahlen noch anderen meinen Lebensstil aufzwingen, sondern lediglich von meinen Erkenntnissen berichten. Ich will zeigen, wozu Körper und Geist in der Lage sind, wenn man sie an ihre Grenzen bringt, und wie die Natur uns helfen kann, sich ihrer anzunehmen. Ich erhoffe mir, durch meine Erlebnisse den Horizont anderer Menschen zu erweitern.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens abseits der Zivilisation ist, dass man wachsamer wird und genauer hinsieht. Wir modernen Menschen – und ich weiß, wovon ich rede, weil ich der Wildnis immer wieder für eine Weile den Rücken gekehrt habe – können derart abstumpfen, dass wir uns nicht länger umsehen und den Wert der kleinen, einfachen Dinge nicht erkennen, die wir direkt vor unserer Nase haben. Wir fahren von der Arbeit nach Hause oder gehen durch die Stadt und können uns nicht einmal die Hälfte dessen merken, was wir unterwegs gesehen haben. Entscheidet man sich jedoch für ein Leben fernab der Zivilisation, ist man gezwungen, seine Umgebung extrem aufmerksam wahrzunehmen. Ich bin überzeugt, dass diese extreme Wahrnehmung dabei hilft, sich selbst besser kennenzulernen und auch die eigenen Beziehungen zu anderen Menschen klarer zu sehen.

In der Wildnis ist alles von essentieller Bedeutung. Ein Moment der Unachtsamkeit kann einen das Leben kosten. Das mag dramatisch klingen, ist aber die schlichte Wahrheit. Ein Leben fernab der Zivilisation streift alles Künstliche ab, mit dem Ergebnis, dass man sich nach der Rückkehr nicht mehr denselben Zerstreuungen hingeben kann. Immer wieder stelle ich an mir fest, dass ich mich meinem Gegenüber mit meiner gesamten Aufmerksamkeit widme und ganz genau zuhöre, was mir derjenige zu erzählen hat, statt darauf zu schielen, ob mir jemand eine SMS schickt. (Ja, ich habe ein Handy.)

Ein Leben in der Wildnis lehrt einen, was man braucht, um am Leben zu bleiben. Sämtliche Sinne sind geschärfter, das Gehör und das Sehvermögen verbessern sich maßgeblich. So etwas kann regelrecht süchtig machen, weil man erst jetzt erkennt, welches Potential in einem steckt – und manch einer will mehr davon.

Genau das fällt mir an den Schülern meiner Survival-Exkursionen auf. Wir begeben uns für einen Monat in die Wildnis, in dessen Verlauf die Schüler eine unglaubliche Entwicklung vollziehen. Manchmal fordern sie sich selbst so sehr, dass sie eine regelrechte Erleuchtung erfahren, gleichzeitig lechzen sie nach Cheeseburgern und einem Eis. Nach ihrer Rückkehr in die Stadt können sie sich alles kaufen, wovon sie wochenlang geträumt haben, aber wenn der Wildnis-Kick erst einmal nachgelassen hat, kommen sie wieder, um ihn sich ein weiteres Mal zu verschaffen.

Hat man erst einmal begriffen, was die Wildnis aus einem herausholen kann, entwickelt man den Drang, dieses Gefühl in den Alltag zu integrieren, auch wenn man nicht sofort seinen Job hinschmeißt und zum Jäger und Sammler wird. Wir wissen, welche Wirkung die Natur auf Großstädter haben kann. Unsere heutige Gesellschaft hat längst den Bezug zu der Erde unter unseren Füßen verloren. Die Mehrzahl lebt in einer Welt aus Stahl und Beton, fernab vom Erdreich. Ich will den Menschen helfen, diese Welt hinter sich zu lassen und wieder Erde unter den Füßen zu spüren.

Also lassen Sie uns auf die Reise gehen. Genießen Sie die Landschaft auf unserem Trip durch den Südwesten der USA. Sehen Sie den Sternenhimmel über den Bergen. Genießen Sie die Stille in den Felshöhlen. Schwitzen Sie vor Angst, wenn ein Puma nachts um Ihr Zelt schleicht. Spüren Sie die Schmerzen, wenn Sie durch einen Meter hohen Schnee im Grand Canyon stapfen. Erleben Sie das Hochgefühl, quer durch Kalifornien zu laufen. Bleiben Sie stehen, um an den Rosenblättern zu schnuppern und sie zu probieren – genauer gesagt, die Knospen. Lernen Sie, wie die Natur das Leben schafft und erhält.

All das ist eine wahre Geschichte, die sich vielleicht gestern, vielleicht aber auch vor Tausenden von Jahren ereignet hat. Das spielt keine Rolle. Auf Du und Du mit der Natur zu sein, das ist es, was zählt. Wenn wir uns zu Fuß auf die Reise machen, werden unsere Fußsohlen ebenso neue Schätze finden wie unsere Herzen.

SURVIVAL-REGEL #1:

FINDE DEINEN EIGENEN WEG

Ich werde alles tun, was nötig ist, um autark und im Einklang mit der Natur zu leben. Ich will leben wie die amerikanischen Ureinwohner (und auf noch primitivere Weise vermutlich sogar unsere frühesten Vorfahren). Ich werde einen Weg finden, meine Bindung zur Erde zu stärken und ihr mehr zu geben, als ich ihr nehme. Auf den ersten Blick scheint das in einer modernen Industriegesellschaft unmöglich, aber ich werde zu zeigen versuchen, dass es sehr wohl möglich ist.

Am einfachsten gelingt der Einstieg, indem man allmählich seine Ansprüche auf ein Minimum herunterfährt. Dadurch gelange ich an einen Punkt, an dem ich losziehen und meinen Einfluss auf die Natur erkennen kann, indem ich mich ihrer bediene, ohne sie zu zerstören.

Die meisten Menschen beuten die Erde gnadenlos aus. Sie fahren mit dem Wagen oder dem Bus zur Arbeit, produzieren Unmengen an Müll und bluten durch ihren Lebensstil die natürlichen Ressourcen aus. Kaum einer tut es aus böser Absicht, sondern weil es schlicht keine Alternative gibt.

Ich habe den Eindruck, dass die Erde allmählich stirbt und ununterbrochen, aber vergeblich versucht, sich davon zu erholen, was die Menschen ihr tagtäglich antun. Mein ökologischer Fußabdruck wird einmal nicht ganz so tief sein wie der von anderen, aber das ist meine ganz eigene Entscheidung.

Dabei möchte ich keinesfalls über all jene urteilen, die anders leben als ich. Neutral zu bleiben ist ziemlich schwierig, aber diese Lektion gilt im Prinzip für jeden: Man glaubt, über etwas Bescheid zu wissen, und bildet sich ein Urteil, nur um festzustellen, dass man sich eben doch getäuscht hat.

Für mich ist die Wildnis deshalb so faszinierend, weil ich dort fortwährend lerne, dass ich im Grunde gar nichts weiß. Ich bin sicher, dass ich auch eine spirituelle Verbindung finden werde, allerdings mache ich mir keine Illusion darüber, dass es schnell gehen wird. Vielmehr wird es Jahre dauern, bis ich die Zusammenhänge begreife. Aber ich weiß, dass es mir gelingen wird, weil ich bereit bin, mein Leben dabei aufs Spiel zu setzen.

1

EIN GOLDENER SONNENAUFGANG

Ich lag auf einem Felsvorsprung in der Nähe des Clouds Rest, einem schmalen, rund zwölfhundert Meter hohen Granitgrat in gut zweitausendsiebenhundert Metern Höhe. Die Dunkelheit war hereingebrochen. Ringsum lag Schnee. Ich war fünfzehn Meter hoch auf ein Plateau von der Größe einer Parkbank geklettert, in der Hoffnung, dass mich hier oben die Bären nicht erwischten.

Die Erkenntnis, welcher Lebensweg der richtige für mich war, hatte ich einer losen Verkettung von Ereignissen zu verdanken – genau dieselbe, die mich auch hierhergeführt hatte. Als ich sieben war, trennten sich meine Eltern, und meine Mom und ich zogen nahezu jedes Jahr um. Irgendwann – inzwischen war ich sechzehn – zogen wir beim damaligen Freund meiner Mutter ein, dessen Wohnung eine Dreiviertelstunde von meiner Schule entfernt lag. Dies und meine Unlust, den ganzen Tag die Schulbank zu drücken, führten dazu, dass die klassische Schulbildung immer mehr an Bedeutung für mich verlor.

In den normalen Schulbetrieb hatte ich eigentlich nie so richtig gepasst. Zwar war ich unglaublich wissbegierig, aber acht Stunden am Tag in einem Klassenzimmer eingesperrt zu sein und nur eine Stunde draußen herumlaufen und spielen zu dürfen war nicht das Richtige für mich. Das Verhältnis stimmte einfach nicht: Ich musste die Hälfte des Tages im Freien verbringen, und zwar in der Natur, auch wenn ich es damals noch nicht wusste. Im Lauf der Zeit genügte es mir nicht mehr, mit einem Holzschläger einen Ball zu schlagen, auf einem Spielfeld herumzurennen und auf viereckige Polster zu hüpfen; nein, ich brauchte das Runde und Ovale der Natur.

Von meinem Pult aus malte ich mir die Welt draußen aus, um mich nicht so eingesperrt zu fühlen. Ich war schlicht nicht dafür geschaffen, den ganzen Tag bloß trockene Informationen zu verarbeiten. Auf jeder Schule, die ich besuchte, war ich der beste Sportler. Ich war kräftig gebaut, dazu wendig und konnte schnell laufen.

Der Wendepunkt kam sehr früh, in der zweiten Klasse, als wir unsere Geschichtsbücher beim Kapitel über die amerikanischen Ureinwohner aufschlugen. Auch heute noch erinnere ich mich, wie mich die Abbildung einer wunderschönen Speerspitze berührte. Obwohl ich es damals noch nicht ausdrücken konnte, spürte ich, dass der Mensch, der diese perfekt geformte Speerspitze erschaffen hatte, jemand Besonderes gewesen sein musste. Dieses Werkzeug war nicht wie die, die ich aus der Eisenwarenhandlung kannte. Es hatte eine Seele.

Während ich dieses Wunderwerk bestaunte, erklärte die Lehrerin, dass wir uns auch mit dem spirituellen Glauben der amerikanischen Ureinwohner beschäftigen würden, warnte uns jedoch, jene würden »Gott nicht so kennen wie wir«. Dass die amerikanischen Ureinwohner in Gottes Augen angeblich weniger wert waren als wir, machte sie nur noch interessanter für mich. Denn schon damals wusste ich, dass die Welt nicht bloß aus den religiösen Dogmen einer Dorfschule bestand.

Je enger mein Kontakt mit der Natur wurde, umso mehr wuchs meine Distanz zum Schulalltag. Wie die meisten Jungs war auch ich glühender Fan von Superhelden. Superman war cool, aber letztlich war es Tarzan, der mein Herz gewann, weil er in der Wildnis lebte und sowohl die Menschen als auch den Dschungel beschützte. Ich war hin und weg von seinen körperlichen Fähigkeiten und der Tatsache, dass er in perfekter Harmonie mit der Welt rings um ihn herum lebte.

Ich wollte Tarzan sein, auch wenn ich nicht recht wusste, wie ich das bewerkstelligen sollte.

Besonders genoss ich immer die Zeit in unserer Hütte in Lake Arrowhead. Mein Vater war leidenschaftlicher Hobbynaturkundler. Er brachte mir alles Wichtige über Pflanzen bei und nahm mich mit auf die Wachteljagd. Auf unseren langen Wanderungen erklärte er mir die landschaftlichen Begebenheiten und ließ mich an Pflanzen riechen.

Diese Ausflüge und die Wochenenden während des Jahres, wenn meine Mutter mit mir an den Strand fuhr, zeigten mir, wie lebendig ich mich dort draußen fühlte. In den Bergen wie im städtischen Park fühlte ich mich ganz anders als in Gebäuden oder mit Asphalt unter den Füßen.

Menschen verwirrten mich sehr häufig, die Mechanismen der Natur hingegen erschienen mir stets logisch und nachvollziehbar.

Mit siebzehn erlaubten mir meine Eltern, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und ich zog in den Yosemite Nationalpark. Es war das ideale Alter, um sich mit der Wildnis auseinanderzusetzen. Ich hatte die Kraft der Jugend auf meiner Seite und keine Familie, für die ich sorgen musste. Es war Spätherbst. Ich nahm einen Job in einer Eisdiele an, und als sie zum Saisonende schloss, arbeitete ich die nächsten sechs Wochen in einer Cafeteria. Ich legte mich mächtig ins Zeug und bekam besondere Veranstaltungen und Catering-Events zugeteilt. Das Beste an dem Job war allerdings, dass ich nur an zwei Tagen pro Woche arbeiten musste.

Das gab mir genug Freiheit, die Natur in meinem Lebensrhythmus zu entdecken.

So kam es, dass ich im schlimmsten Schneesturm des gesamten Winters auf einem Felsvorsprung in Gipfelnähe des Clouds Rest landete, mit Bären als einziger Gesellschaft. Und dort oben geschah etwas Seltsames. Statt mich gefangen zu fühlen, überkam mich ein Gefühl der Freiheit, nicht nur, weil ich dort sein wollte, sondern weil ich es musste. Ich war auf den Clouds Rest geklettert, weil ich gewusst hatte, dass es dort etwas für mich zu entdecken gab.

Etwas, das größer war als ich.

In dieser Zeit stand Wandern im Yosemite ganz hoch im Kurs. An ihren freien Tagen oder Wochenenden packten die jungen Leute aus der Gegend ihren Rucksack, um irgendwo in der freien Natur zu campen. Für mich waren diese Trips bloß Touristenausflüge. Mein erster Rucksacktrip sollte etwas ganz Besonderes, ein etwas verrücktes Abenteuer sein, daher beschloss ich, den Clouds Rest zu erklimmen.

Es war Winter, und ich hatte ein langes Wochenende frei. Überall lag Schnee, bei Temperaturen zwischen höchstens fünf Grad während des Tages und minus zehn Grad nachts. Ich zog Shorts, Socken, Schuhe und eine mitteldicke Fleecejacke an und beschloss, mit minimalem Gepäck loszuziehen: einem besonders leichten, wasserabweisenden Biwaksack, der mir Schutz vor den Elementen bot.

Ich wollte zuerst den Clouds Rest erklimmen und dann weiter zum Half Dome wandern, mit so wenig Proviant wie möglich, um herauszufinden, was das Land mir anbot.

Einst galt der Half Dome als nicht besteigbar. In einem Bericht aus dem Jahr 1865 hieß es, er sei »wahrscheinlich der einzige von all den hohen Bergen des Yosemite, auf den niemals ein Mensch einen Fuß gesetzt hat und wohl auch niemals jemand einen Fuß setzen wird«. Zehn Jahre später bezwang ihn George Anderson, jener Bergsteiger, der auch die Drahtseile verlegte, die heute noch verwendet werden. Mittlerweile kann jeder einigermaßen trainierte Bergsteiger den Gipfel erreichen.

Kollegen hatten mich im Vorfeld gewarnt, der Clouds Rest sei ein heimtückischer Berg und die winterlichen Bedingungen seien viel zu brutal für eine erste lange Wochenendtour, noch dazu, da ich ganz allein losziehen wollte – und in Shorts! Aber ich musste ihn sehen.

Ich rannte den Berg förmlich hinauf. Währenddessen brach ein Schneesturm los. Nach gut elf Kilometern, etwa der Hälfte der Strecke, befindet sich eine Art Basislager, das sich jedoch merklich leerte. Alle strebten ins Tal zurück und warnten mich, der Sturm hätte enorm zugelegt, was mich in meinem Entschluss weiterzugehen nur noch bestärkte.

Etwas trieb mich an, dort hinaufzugehen und den Berg mitten im Schneesturm zu erleben.

Ich kam am Little Yosemite Valley vorbei und schlug den Weg zum Clouds Rest ein. Nach einer Weile erreichte ich die Baumgrenze und schließlich einen Aussichtspunkt gut drei Kilometer unterhalb des Gipfels. Vor mir erstreckte sich eine weiße Schneelandschaft. Der Schneefall wurde immer schlimmer, die Sichtweite betrug nicht einmal drei Meter. Da ich mich so schnell bewegte, war mir trotz meiner Shorts nicht kalt.

Der Berg zog mich geradezu magisch an. Die meisten Menschen hätten die Situation als gefährlich empfunden, ich hingegen verspürte keine Angst um meine Sicherheit. Das hier war kein idiotischer Egotrip, um anderen etwas zu beweisen, sondern ich unternahm diese Wanderung ausschließlich für mich. Ich wusste, dass mir nichts passieren würde, solange ich nur die richtigen Entscheidungen traf. Ich würde mich nicht in Gefahr begeben und von meiner Angst leiten lassen. Diese Grenze würde ich keinesfalls überschreiten.

Jeder hat seine ganz eigene Art, mit Angst umzugehen. Ich bin der Überzeugung, dass Menschen, die fest hinter ihrem Tun stehen und ehrlich zu sich selbst und ihrer Umwelt sind, die Angst überwinden können. Es geht niemals nur um uns allein. Vielmehr steht eine größere Macht hinter uns, die uns bestimmte Dinge tun lässt.

Die feste Überzeugung, sich auf dem richtigen Lebensweg zu befinden, kann uns helfen, unsere Ängste in den Griff zu bekommen.

Nichtsdestotrotz ist ein gewisses Maß an Angst durchaus ratsam und auch völlig normal, da es einen davon abhält, überstürzte Entscheidungen zu treffen; schwierig und gefährlich wird es erst, wenn man im Begriff steht, das Falsche zu tun. Unkontrollierbare Angst macht sich immer dann bemerkbar, wenn man sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet und unvorbereitet ist. Entweder war man von Anfang an auf dem falschen Dampfer, oder aber man hat irgendwo unterwegs das Ziel aus den Augen verloren.

Der Schneesturm tobte und tobte, fast an der Grenze zum Whiteout. Obwohl sich der Gipfel des Half Dome unmittelbar vor mir befand, konnte ich ihn nicht erkennen, also ließ ich mich von meinem Gefühl leiten. Wann immer ich an eine Klippe gelangte und nicht weiterkam, machte ich kehrt und schlug eine andere Richtung ein.

Schließlich stand ich vor einer Felswand. Ich lauschte, versuchte zu verstehen, was das Land mir riet. Ab und zu drang ein vereinzelter Lichtstrahl durch das Schneegestöber. Nach einer Weile machte ich eine kleine Kuppe direkt vor mir aus, knapp fünfzehn Meter an der Felswand hinauf.

Augenblicklich war mein Interesse geweckt. Was mochte dort oben sein? Ich beschloss, die schneebedeckte Felswand hinaufzuklettern, was sich als einigermaßen leicht erwies, da die Wand bei weitem nicht so hoch war, wie ich vermutet hatte.

Oben befand sich ein Plateau von etwa ein mal zwei Meter. Ich versuchte auf der anderen Seite nach unten zu sehen. Normalerweise hätte sich mir ein atemberaubender Ausblick auf das gesamte Yosemite Valley geboten, doch im Moment war die Sicht gleich null. Ringsum herrschte nichts als Schneegestöber. Ich ging davon aus, dass die Klippe vor mir steiler war als jene, die ich gerade überwunden hatte, aber das würde ich erst herausfinden, wenn der Schneefall nachgelassen hatte.

Ich beschloss, die Nacht auf dem Vorsprung zu verbringen. Zwar gab es hier überall Bären, aber die würden sich bestimmt nicht über meine Verpflegung hermachen. Ich hatte mir sagen lassen, dass Bären keine Neunzig-Grad-Felswand erklimmen konnten.

Der Schneefall wurde immer dichter, und der Wind frischte noch mehr auf. Ich packte meinen Biwaksack aus und legte mich hin. Angst hatte ich keine, stattdessen war ich lediglich neugierig, was der Sturm mit mir anstellen würde.

Diese Nacht war meine erste Geduldsprobe in der Wildnis. Ich würde die ganze Nacht oder noch länger auf dieser Kuppe ausharren und die Kraft des Sturms respektieren müssen. Ich bekam kein Auge zu. Der Wind war einfach zu heftig. Während die Böen an meinem Biwaksack zerrten, rollte ich mich ganz eng zu einem Ball zusammen. Schutz bot er praktisch keinen, deshalb war ich innerhalb kurzer Zeit nass bis auf die Knochen.

Ich begann zu beten, nicht für meine Sicherheit, sondern um ein Geschenk.

Und mitten im Sturm bekam ich es.

Obwohl ich, völlig durchnässt und ausgekühlt, dort oben lag, mit einem Gefühl, als hätte jemand ein eiskaltes Handtuch über mir ausgebreitet, fror ich nicht. Etwas sagte mir, dass etwas passieren würde, nur wusste ich nicht, was. Ich hatte kein bisschen Angst, eben weil ich auf etwas absolut Außergewöhnliches wartete. Vielleicht darauf, dass die Kuppel abbrechen und davonfliegen würde.

Irgendwann kurz vor Tagesanbruch schlief ich endlich ein.

Als ich die Augen aufschlug, erfuhr ich, woher der Clouds Rest seinen Namen hatte. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich hob den Kopf und sah einen strahlend blauen Himmel. Auf Höhe des Vorsprungs, auf dem ich lag, erstreckte sich eine scheinbar endlose Wolkendecke. Ich befand mich unmittelbar über den Wolken, die aussahen, als könnte ich aufstehen und über sie hinweggehen. Einen kurzen Moment war ich sogar versucht, es auszuprobieren. Bis heute habe ich nie mehr so etwas gesehen, weder auf einem Berg noch aus einem Flugzeug, das beim Anflug die Wolkendecke durchbricht.

Ich setzte mich auf und betrachtete den Sonnenaufgang. Es war pure Magie. Der Wolkenteppich färbte sich leuchtend orange. Das ganze Spektakel dauerte etwa eine Stunde, dann war die Sonne vollends aufgegangen, und die Wolken hatten ihre gewohnte weiße Farbe wieder angenommen. Der Himmel war klar, weit und breit kein Anzeichen eines neuerlichen Schneesturms.

Ich packte meine nassen Sachen zusammen und verließ meinen Wolkenturm. Am Fuß der Felswand bemerkte ich frische Bärenspuren im Schnee. Offensichtlich hatte einer der Burschen versucht, zu mir nach oben zu gelangen und sich meinen Proviant unter den Nagel zu reißen. Ich bekam ihn nie zu Gesicht und hatte auch nie das Gefühl, ernsthaft in Gefahr gewesen zu sein.

Völlig unversehrt kehrte ich ins Tal zurück, ohne unterwegs einer Menschenseele zu begegnen. Der Sturm hatte sie alle vertrieben.

Ich war an einen Ort gegangen, von dem mir alle abgeraten hatten. Trotzdem hatte ich mein Ziel weiterverfolgt, weil mir eine innere Stimme gesagt hatte, dass ich es tun sollte, um etwas Bestimmtes zu erleben – und dann diesen Sonnenaufgang auf diesem unbeschreiblichen Wolkenteppich gesehen. Dieses Erlebnis war für mich wie ein Zeichen und bestärkte mich in der Entscheidung für meinen außergewöhnlichen, nicht-akademischen Lebensweg. Doch als ich nach meiner Rückkehr versuchte, anderen Menschen von meinem Erlebnis zu erzählen, war es, als würde ich gegen eine Wand reden. Im Vergleich zu dieser einzigartigen Nacht und dem darauffolgenden Morgen fühlte sich die reale Welt plötzlich farblos und leer an.

Der Kontrast war so gewaltig, dass ich anfing, zwischen der künstlichen Welt eines konventionellen Lebens und der Wildnis als der wahren Welt zu unterscheiden. Wenn ich mich ausschließlich mit der Natur beschäftigte, würde ich die Welt stets aus einem anderen Blickwinkel betrachten als alle, die innerhalb der modernen Gesellschaft lebten.

Aber ich war bereit, mich auf diese Reise zu begeben.

2

SPAGAT ZWISCHEN ZWEI WELTEN

Das Ende meiner Jugend schien mich geradewegs in den Abgrund des Erwachsenseins zu katapultieren. Ich war fest davon überzeugt, dass meine Entscheidung, herumzuziehen und die verschiedensten Orte zu erkunden, mich zu einem Leben abseits der Zivilisation führen und schließlich erden würde. Es war meine Version der Rucksacktour durch Europa, um mich selbst zu finden und zu beschließen, welches Leben ich künftig führen wollte.

Eine Wintersaison verbrachte ich in Mammoth Lakes, wo ich einen Job bei einem Skiverleih fand und in meiner Freizeit Wanderungen durch die Wildnis unternahm. Ich kam auf die Idee, sämtliche Nationalparks abzuklappern und immer für ein paar Monate zu bleiben. Ich startete sogar einen Rundruf, um herauszufinden, wo ich einen Job finden könnte. Schließlich bekam ich ein Angebot, als Begleiter auf einem Ausflugsboot im Everglades Nationalpark in Florida zu arbeiten, das ich um ein Haar auch annahm, am Ende aber doch ausschlug, weil ich das Gefühl hatte, die Sierra Nevada noch nicht genau genug kennengelernt zu haben. Die Sierras waren mein Zuhause, deshalb wollte ich sie erkunden.

Ich war mit einem Rucksack voller Vorurteile über das Verhältnis der Menschen zur Umwelt in den Yosemite Park gekommen. Eigentlich fand ich Leute, die mit dem Einkaufskorb auf den Markt gingen, statt Papiertüten zu benutzen, arrogant und affig. Im Yosemite ging es ziemlich »öko« zu. Dies war das erste Mal, dass ich mit dieser Lebenseinstellung konfrontiert war.

Aber das Land verpasste mir einen gehörigen Tritt in den Hintern und lehrte mich eine Lektion: Ob das Verhalten der Leute nun heuchlerisch sein mochte oder nicht, für denjenigen, der mit seiner Jutetasche auf den Markt ging, war es in diesem Moment ein Versuch, die Natur zu schützen und zu bewahren. Ich lernte auch, dass ich meinen eigenen Weg finden musste, die Ideale eines natürlicheren Lebensstils zu leben.

In dem Moment, als ich mich dazu entschloss, spürte ich, wie sich etwas in mir veränderte. Sowie ich anfing, mich mit den sogenannten primitive skills – der Fähigkeit, einfachste Waffen herzustellen und das ursprüngliche Leben unserer Vorfahren zu führen – auseinanderzusetzen, suchte ich nach Mitteln und Wegen, im Alltag die Zerstörung der Natur aufzuhalten. Zu dieser Zeit lebte ich im Sequoia National Park. Meine Ernährung war sehr einfach und gesund: Ich aß hauptsächlich Reis, Linsen und wilde Kräuter; prozessierte, also industriell verarbeitete Lebensmittel und jegliche Form von Zucker lehnte ich kategorisch ab.

Außerdem schwor ich mir, mich acht Monate lang in kein Fahrzeug zu setzen. Ich hatte schon immer eine Aversion gegen Autos gehegt und vertrat die Ansicht, dass sie für viele unserer Umweltprobleme verantwortlich waren. Ohne Autos wären die Leute gezwungen, ihrer Umgebung mit größerem Respekt zu begegnen, weil sie tagtäglich mit ihr konfrontiert wären und ihr nicht einfach entfliehen könnten. Die meisten Menschen lieben ihre Autos mit all dem technischen Ausstattungsschnickschnack heiß und innig, aber wer will sich schon mit den Abgasen auseinandersetzen?

Wenn Sie mich fragen, sind Autos und öffentliche Verkehrsmittel nicht nur schuld an der Umweltzerstörung, sondern auch an der mangelnden Fitness und fehlenden Gesundheit der Leute und dem moralischen Verfall der Gesellschaft im Allgemeinen. Jeder Versuch, gegen die Natur anzukämpfen, hat seinen Preis. Während wir versuchen, unsere Bedürfnisse auszubalancieren, müssen wir uns überlegen, welche Kompromisse wir einzugehen bereit sind. Zur Natur zurückzukehren ist ein Versuch, uns selbst zu finden, und Menschen, die so etwas nicht tun, sind am Ende meist unglücklich mit ihrem Leben. Gelingt es Menschen dagegen, diese Balance zu finden, schenkt sie ihnen einen gewissen Seelenfrieden und geistige Gesundheit.

Ich habe sogar versucht, etwas gegen den übertriebenen Einsatz von Autos zu unternehmen. Als Bill Clinton Präsident war, schrieb ich ihm einen Brief, in dem ich ihn bat, mehr Rad- und Laufwege einzurichten, die tatsächlich von A nach B führen, am besten parallel zu Stadt- und Landstraßen. Es erschien mir absurd, dass wir lauter Autobahnen ohne Seitenstreifen bauen, wo niemand Rad fahren oder wandern kann, ohne in Lebensgefahr zu geraten. Wären die Straßenränder mit Rindenmulch ausgelegt, hätte das Ganze gleich ein viel natürlicheres Flair. Außerdem könnte man Wanderwege bauen, die ein wenig abseits der Schnellstraßen verlaufen, so dass Radfahrer und Wanderer ein bisschen mehr von der Landschaft zu sehen bekommen.

Mit seinem Bestreben, möglichst schnelle und praktische Lösungen zu finden, hat der moderne Mensch kurzerhand seine Kunstfertigkeit und seine Bindung zur Natur geopfert. Für mich jedoch gehen diese beiden Begriffe Hand in Hand. Die Natur ist ein künstlerisches Meisterwerk, aber wenn wir die Landschaft mit Hochhäusern und Freeways zupflastern, verlieren wir unweigerlich den Bezug dazu. Finden wir hingegen heraus, wie wir bereichernde Dinge in unseren Alltag integrieren, wie beispielsweise zu Fuß durch einen besonders schönen Ort zu spazieren, können wir uns diese Kunstfertigkeit bewahren. Im Einklang mit der Natur zu leben und nicht jeden Baum sofort zu fällen ist ein Zeichen dafür, dass wir Teil dieses Kunstwerks sein wollen.

Als Folge meines Anti-Auto-Gelöbnisses begab ich mich auf eine dreitägige Lauftour, wobei ich nicht wie üblich vierzig, sondern hundert Kilometer am Tag zurücklegte. Es war eine sehr intensive Erfahrung. Eine solche Strecke war ich bislang nicht einmal annähernd gelaufen.

Nach meiner Weigerung, in ein Fahrzeug zu steigen, hatte ich das Durchhaltevermögen und die Kraft bekommen, etwas zu tun, was nur die wenigsten Menschen schaffen, auch wenn sie noch so gut trainiert sind. Und ich spürte, dass das Laufen meine Instinkte für den Boden unter meinen Füßen geschärft hatte.

Für mein Privatleben war das Ganze jedoch eine echte Herausforderung. Wenn Freunde mich zu einer Party hundertdreißig Kilometer von meinem Zuhause entfernt einluden, joggte ich hin. Schwierig war auch, sich mit einem Mädchen zu verabreden. Selbst die abenteuerlustigsten Frauen hatten keine Lust, acht Kilometer zum Restaurant und wieder zurück zu gehen. Meine Freunde bewunderten mich zwar, konnten aber nicht recht nachvollziehen, wie jemand sich das Leben mit Absicht schwerer machte. Ich hingegen empfand es eher umgekehrt: Dass ich es mir viel leichter machte.

Im Lauf der Zeit hatten sich meine läuferischen Fähigkeiten im Nationalpark herumgesprochen. Anfangs hatte ich in der Reservierung gearbeitet, doch nun bot mir die Parkverwaltung einen Job im Such- und Rettungsteam an, wo ich bei Notrufen eingesetzt werden sollte, bei denen möglichst schnelle Hilfe zu Fuß erforderlich war.

Eines Nachmittags befand sich das Team auf der Suche nach einem verirrten Teenager, der gemeinsam mit seinen Freunden auf einem Tagesmarsch durch den Park unterwegs gewesen war. Er hatte sich von der Gruppe getrennt, war aber nie im Dorf angekommen. Die Suche konzentrierte sich auf das Gebiet, wo er zuletzt gesehen worden war. Tag eins endete ergebnislos.

Als wir auch am zweiten Tag keine Spur von ihm fanden, studierte ich die Karten und fragte den diensthabenden Ranger, ob sie ein Gebiet abgegrast hätten, das mehrere Kilometer vom ursprünglichen Suchradius entfernt lag, worauf er meinte, so weit hätte der junge Mann doch nie kommen können. Ich erklärte ihm, dass er es meiner Meinung nach noch viel weiter geschafft haben könnte.

Normalerweise laufen Menschen, die sich verirrt haben, im Kreis und versuchen, sich zu orientieren. Aber nachdem die Suchmannschaft das Gebiet zwei geschlagene Tage vergeblich kreisförmig durchkämmt hatte, war klar, dass er einen anderen Weg genommen haben musste.

Der Weg, auf dem ich ihn vermutete, führte bergab. Die meisten Menschen gehen lieber bergab als bergauf, wenn sie sich verirren. Auf dem Weg ins Tal war die Umgebung grüner und feuchter geworden, deshalb musste er angenommen haben, dass er hier irgendwo Wasser finden würde. Das war ein logischer Gedanke. Hinzu kam, dass ich selbst einige Zeit mit der Erkundung dieser Gegend zugebracht hatte und mir vorstellen konnte, welchen Weg er einschlagen könnte.

Viereinhalb Tage später fand der Junge eine Straße, wo ihn ein Autofahrer sah – genau in der Gegend, die ich vermutet hatte.

Der leitende Ranger war tief beeindruckt von der Genauigkeit meiner Prognose. Meine Kenntnisse des Terrains in Verbindung mit meinen läuferischen Fähigkeiten und meiner Freude, Menschen aufzustöbern, bestätigten ihn in seinem Entschluss, mich ins »Akut-Team« zu schicken. Gemeinsam mit einem anderen, ebenfalls durchtrainierten Ranger sollte ich dort akute Notrufe entgegennehmen und zu Fuß zur Unglücksstelle laufen oder wandern.

Wochen später ging ein Notruf ein. Ein Teenager war mit einem Freund zu einer Wanderung aufgebrochen, der jedoch zurückgegangen war, weil er zur Arbeit musste. Der andere Junge hatte zwei weitere Nächte in der Wildnis verbringen wollen. Drei Tage waren vergangen ohne ein Lebenszeichen von ihm.

Mein Kollege und ich liefen den Wanderweg ab, die gesamte Stecke im Zickzack bis zu der Stelle, wo er zuletzt gesehen worden war. Unterwegs kamen wir bei einem Wasserfall vorbei, der knapp zehn Kilometer entfernt lag. Etwas sagte mir, dass der Junge hier irgendwo sein musste – teils, weil ich die Landschaft gewissermaßen »lesen« konnte, aber auch aus einem Bauchgefühl heraus.

Verständlicherweise war der Ranger skeptisch. Der Fundort, den ich im Auge hatte, war weit von dem Punkt entfernt, an dem der Teenager das letzte Mal gesehen worden war. Dennoch willigte er ein, haltzumachen und mich ein paar Minuten suchen zu lassen.

Ich fand keine Fußspuren, deshalb verlegte ich mich darauf, das Wasser zu »lesen«. Konzentriert betrachtete ich den nahe gelegenen Wasserfall, während sich vor meinem geistigen Auge ein Bild zusammenfügte.

Okay … wenn jemand vierhundert Meter stromaufwärts diesen Wasserfall herunterfällt und bewusstlos ist, wo könnte er dann sein? Stromabwärts. Vielleicht unter diesem Felsbrocken dort drüben.

Ich ging ein Stück stromabwärts und kletterte auf den Felsbrocken, als mich ein scharfer Schmerz durchfuhr, als wäre mein Blinddarm gerissen. Ich kletterte über die Steine hinweg auf die andere Seite und versuchte, unter den Felsbrocken zu spähen, während mich der andere Ranger leicht irritiert beobachtete.

Die Strömung war ziemlich stark, deshalb hatte ich Mühe, den Grund des Flusses auszumachen. Ich wechselte die Position, konnte aber nichts erkennen, das nach einer Leiche aussah. Ich zog mein Hemd aus.

»Kann ich reingehen?«, rief ich meinem Kollegen zu.

»Das ist nicht deine Aufgabe«, antwortete er. »Wenn du etwas siehst, müssen wir das Taucherteam rufen.«

»Sehen tue ich nichts, aber ich spüre, dass da etwas ist.«

Wir debattierten noch kurz weiter, aber er bestand darauf, die Taucher zu rufen.

Allerdings warnte ich ihn, dass es nur so eine Ahnung sei. Ich war einundzwanzig, gerade einmal ein paar Wochen dabei und bei weitem noch kein erfahrener Spurenleser, deshalb wollte ich keinesfalls Ressourcen verschwenden, nur weil ich so eine Ahnung hatte.

Zweifel hin oder her, mein Kollege hatte mich genau beobachtet und war zu dem Schluss gelangt, dass ich recht haben könnte, auch wenn die Chancen nicht allzu groß waren. Außerdem hatten wir sonst nichts in der Hand, also rief er das Taucherteam.

Stunden später fanden sie die Leiche des jungen Mannes genau unter dem Felsen, der mir ins Auge gestochen war.

Es war ein sehr trauriges Ende, doch der leitende Ranger war von meinen Fähigkeiten überzeugt. »Ich habe schon eine Menge Einsätze geleitet und bin ausgebildeter Fährtensucher, trotzdem habe ich keine Ahnung, wie Matt auf die Idee kam, dass unter dem Fels eine Leiche liegen könnte. Ich kann es mir nur so erklären, dass er mediale Fähigkeiten besitzt. Ohne Matt hätten wir den Jungen nie gefunden. Und dafür sind wir dankbar. Die Suche hätte vermutlich zwei Wochen gedauert und eine Million Dollar gekostet, ohne dass etwas dabei herausgekommen wäre.«

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