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Ein Prinz ohne Königreich. Ein Mädchen ohne Namen. Eine Stadt ohne Moral. Auf der Suche nach einem Mörder brechen der Drachenjäger Caedes und seine Schwester Aenne zur sagenumwobenen Stadt Terra Talioni auf. Die Spuren des Schlächters, der menschliche Organe für finstere Blutmagie missbraucht, führen die Geschwister von den Elendsvierteln der Purpurnen Märkte bis hin zu den Klippenvillen der höchsten Aristokratie. Das Netz aus Intrigen reicht weit – und Caedes muss bald erkennen, dass er mehr zu verlieren hat, als ihm lieb ist: sein Leben, seinen Verstand und nicht zuletzt auch sein eigenes Herz.
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Impressum
Widmung
Prolog
1.Von Priestern, Gesetzlosen und Königen
2.Die Felsenstadt
3.Die Bibliothek der Ominösen Dinge
4.Die Purpurnen Märkte
5.Der Duft von Rosen
6.Uma Octavia
7.Jäger und Beute
8.In düsteren Ecken
9.Die Weiße Schlucht
10.Das Beil im Rücken
11.Feuer Infra Rot
12.Im Schatten der Bäume
13.Modhi
14.Schwarzmarkt
15.Nachtblumen
16.Die Ecken und Schatten der Wege
17.Die Stützen der Stadt
18.Man stirbt für die Sonne
19.Ein Wasserding sein
20.Ringe
21.Spinnweben
22.Das echte Wasserding
23.Ein schlimmer Finger
24.Ein Rosenstrauch auf Pferdedung
25.Blut und Wasser
26.Die Rückkehr des alten Königs
27.Liebesspiele
28.Die Wahrheit ist ein reines Gut
29.Vier
30.Verbotene Bereiche
31.Kafrits Wiedergeburt
32.Vor dem König
33.Viele schlimme Finger
34.Laudines Vermächtnis
35.Aegis’ Entscheidung
36.Flucht
37.Am Pranger stehen
38.Ein Herz für Drachen
39.Der Eisenpalast
40.Der Blinde
41.Es ist ein schönes Herz, das du da trägst …
42.Epilog
Begriffsverzeichnis
Über die Autorin
Copyright © 2017 by
Astrid Behrendt
Rheinstraße 60
51371 Leverkusen
http: www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Illustrationen: Katharina V. Haderer
Lektorat: Sebastian Schmidt
Korrektorat: Tanja Selder
Layout: Michelle N. Weber
Umschlagdesign: Alexander Kopainski
www.alexanderkopainski.de
Bildmaterial: Shutterstock
Druck: Booksfactory
ISBN 978-3-95991-332-4
Alle Rechte vorbehalten
Für Julia.
Auf unsere gemeinsame Zeit im Hobbit-Dorf,
wo jeder Tag Magie ist und wir die Zeit mit Schreiben, Lachen, Naschen und unseren Liebsten verbringen
Sie standen alle darum versammelt und starrten darauf hinab. Es lag da, zwischen aufgebrochenen Rippen, die weiß aus rosigem Fleisch spießten, lag in der Mitte wie in einem weichen, roten Nest – und es schlug. Es kontrahierte, groß und rund wie es war, zog sich mit einem Ruck zusammen, nur um sich kurze Zeit später wieder zu entspannen. Dabei verursachte es ein Geräusch, das jedem bekannt war, der einmal in einsamer Nacht wachgelegen hatte – ein Geräusch, das nur ein Ding auf dieser Welt verursachen konnte: ein schlagendes Herz.
Das Herz pumpte. Den Anwesenden war der Rhythmus wohlbekannt – besaßen sie doch alle ein Ding dieser Art. Doch während das Herz dort unten in einem langsamen, beinahe besinnlichen Rhythmus arbeitete, flatterten die eigenen Herzen in ihren geschlossenen Brüsten wie junge Vögel.
»Seid Ihr Euch sicher, dass …?«, wisperte jemand.
»Ich bitte Euch – keine moralischen Vorhaltungen! Dafür ist es reichlich zu spät!«
»Damit gehen wir weiter als jemals zuvor.«
»Falls es jemals eine Grenze gab, wurde sie vor langer Zeit überschritten. Kommt schon, nehmt es heraus!«
Eine Person, deren Herz wie ein Hase hetzte, trat schweigend einen Schritt vor und setzte das Messer an die Adern. Die Umstehenden hielten den Atem an. Fast erwarteten sie, das Herz dort unten schneller schlagen zu sehen, ganz, als bemerkte es die Gefahr, in der es schwebte – doch es behielt seinen müßigen Takt bei: langsam, träge, fast müde. Es war eben ein unschuldiges Herz.
»Schnell«, flüsterte jemand. »Du musst streng schneiden, die Aorta ist zäh!«
Derjenige, der das Messer hielt, knurrte: »Ich verdiene mein Geld damit, Sachen wie diese zu wissen!« Das Messer fuhr zum großen Schlauch, der das Herz mit Blut versorgte. Zögern. »Aber – ich bin mir nicht sicher, ob …«
»Tut es schon! Wir haben nicht ewig Zeit!«
»Aber seht es Euch an! Es ist ein menschliches Herz! Wir können nicht …!«
»Tut es, oder ich tue es!«
Zögernd fassten Hände nach der Venae Cavae und der Aorta und trieben das Messer hindurch.
»Das ist vielleicht eine Schweinerei.«
»So ist das mit Herzen. Herzen verursachen immer eine riesige Schweinerei.« Jemand lachte über sein eigenes Wortspiel.
Jemand anderer hob das Herz aus dem Brustkorb. »Seht es Euch an!« Da lag es nun, rot und fleischig, nur schlagen konnte es nicht mehr. Fast schien es, als schliefe es.
»Schnell! Ihr müsst es einlegen, bevor seine Magie vergeht!«
Am nächsten Tag kam der Knecht, wie jeden ersten Tag des neuen Monats, und sammelte die vorbereiteten Organe ein. Er packte Rehherzen, Steinbocknieren, Schafinnereien, Schweinemägen, Ziegenlebern und Rinderherzen auf den Karren, um sie zu seinem Herren zu bringen, der sie in Tradea verkaufte. Mit all diesen Dingen trug er auch das Menschenherz im Glas davon, von seinen unvorsichtigen Herren zurückgelassen.
Der Knecht würde noch für seinen Fehler büßen müssen. Das Herz aber würde zu diesem Zeitpunkt bereits verkauft und verschwunden sein; für immer den gierigen Fingern seiner Schlächter entzogen.
Die beiden Männer standen dicht beieinander in der Flut aus Reisenden, die sich durch das äußere Tor von Terra Talioni drängten. Die Schlange aus Menschen zog sich vom Podest des Schreibers durch den felsigen Stollen der Stadtmauer hindurch, bis hin zum Eingang, vor dem die königlichen Flaggen in den Händen steinerner Statuen flatterten. Das goldene Auge, welches auf dem wehenden Stoff abgebildet war, stand für die Vorliebe der herrschenden Familie, über alles und jeden, der die Stadt betrat, im Bilde zu sein – und die Stadtgarde kam dieser Aufgabe mit gewohnter Langeweile nach.
Den Kopf der Warteschlange bildete eine junge Frau. Sie mochte sich in der Mitte ihrer Zwanziger befinden, trug einen breitkrempigen Lederhut, von dem der Regen tropfte, sowie einen durchnässten Ledermantel. Auf den ersten Blick unterschied sie sich nicht wesentlich von der restlichen Schar aus Händlern und Reisenden, einen zusammengeschnürten Ranzen am Rücken und abgetretene Stiefel an den Füßen. Doch auf den zweiten Blick, mit dem sie der Schreiber momentan bemaß, wirkte sie irgendwie anders.
Warum trug die Frau ihr malzbraunes Haar kurzgeschnitten, wie es sonst nur Männer zu tun pflegten? Dass sie eine Frau sein musste, war unumstritten, wies doch nicht nur ihr zartes Gesicht mit den großen, honigbraunen Augen darauf hin, sondern auch ein kleiner, aber unleugbarer Busen, der sich unter der burschikos geschnittenen Bluse verbarg. Was war mit den Stickereien, die den Kragen ihres Hemdes zierten? Wie konnte sich eine einfache Reisende Ziselierungen an Mantelknöpfen und am Knauf ihres Langmessers leisten, den sie so sorgfältig mit fleckigen Leinenbinden umwickelt hielt? Woher stammte der Schmuck, den sie trug? Welcher kaum merkliche Akzent verzog ihre Worte?
Der Schreiber stützte die Wange auf den Arm, sodass die Federspitze in seiner Hand beinahe die Schläfe berührte, und runzelte die Stirn.
»Wie, sagtet Ihr noch einmal, war Euer Name?«
»Aenne«, erwiderte die junge Frau.
»Aenne wie noch?«
Weiter hinten in der Schlange stieß ein Mann die angehaltene Luft aus. »Sie wird sich verraten«, murmelte der Erste einem Zweiten in den Nacken. »Du und Aenne, ihr ward nie sonderlich gute Lügner.«
»Nein, das hattest du uns immer voraus«, brummte Zweiterer. »Ich dachte, wir sollten nicht miteinander sprechen? Wir wollten doch nicht miteinander in Verbindung gebracht werden!«
»Mach dir nicht ins Hemd«, erwiderte der Jüngere, die Arme unter dem dicken, nassen Lodenmantel verschränkt. Zwischen einem Eselkarren und einem Pferdewagen eingeklemmt, bestand keine große Gefahr, dass die talionische Garde oder andere Reisende ihre Unterhaltung überhören konnten. »Konzentriere dich auf unsere Schwester.«
Weit vorne trat die junge Frau unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Beachte ihre Körpersprache, Caedes«, brummte der Ältere. »Sie braucht keine Worte, um sich zu verraten.« Bei genauerer Betrachtung sah der Ältere der beiden Männer der jungen Frau dort vorne ähnlich, mit seinem karamellbraunem Haupt- sowie Barthaar und warmen, goldbraunen Augen. Der jüngere Mann hingegen hätte nicht fremder aussehen können – das Haar wild und dunkel, die Augen so braun, dass sie im Zwielicht der feuchten Stadtmauer beinahe schwarz wirkten, besaß sein Gesicht einen goldigen Unterton, der an heißen Sand und verschwitzte Nächte unter Orangenbäumen denken ließ. Alleinig, wenn er lächelte, wie er es jetzt tat, erinnerte er an die anderen beiden Reisenden. Sie drei waren Halbgeschwister – und in ihrer Familie lächelten sie alle gleich. »Du bist kaum zehn Jahre älter als wir, Ezra«, murmelte der dunkelhaarige Caedes. »Und dennoch verhältst du dich manchmal wie dein eigener Großvater.«
»Du bist unverschämt, Caedes. Wenn Aenne etwas passiert, geht das auf deine Kappe.«
Beide richteten ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Ereignisse vor dem Podest.
Der Schreiber zeigte trotz der Masse an Reisenden keinerlei Eile. Er lehnte träge an seinem Folianten und schenkte der jungen Frau vor sich einen milde gelangweilten Blick. »Ihr besitzt also keinen Familiennamen …« Sein Blick glitt hin zum Pergament. »… Aenne?«
Aenne blinzelte, die Lider rutschten einen stummen Moment über die Augen. Dann schüttelte sie den Kopf.
Ezra stöhnte gequält auf und barg seine Stirn in den Händen. »Warum hat sie nicht einfach einen Familiennamen erfunden? … damit bringt sie sich nur in Schwierigkeiten!«
Der Schreiber tippte mit der Feder unruhig auf der Ecke seines Folianten herum. Diesen Vorgang schien er heute bereits öfter wiederholt zu haben, denn Finger wie Ecke waren schwarz vor Tinte. »Es gibt nur drei Arten von Leuten, die keinen Nachnamen tragen«, erklärte er Aenne pointiert. »Gesetzlose, Priester … und Könige. Zu wem soll ich Euch zählen?«
Als das Wort ›Gesetzloser‹ fiel, kam Bewegung in die Garde, die den Torbogen flankierte. Die Soldaten wandten sich um, einer berührte vorsorglich den Schwertgriff an seiner Hüfte, der andere kippte den Speer. Nun war es am großmäuligen Caedes, nervös zu werden. Seine Arme entschränkten sich, seine Hand glitt an die Seite, wo der Mantel den Schwertgriff verbarg.
Aenne erstarrte. »Bitte!« Sie vollführte eine beschwichtigende Handbewegung. »Zu solchen Mutmaßungen gibt es keinen Grund!«
»Wenn ich mutmaße, dann immer aus einem guten Grund«, erwiderte der Schreiber und winkte einen Soldaten heran. »Untersucht ihre Sachen!«
Ein gedämpfter Ausruf, der von Aenne kam, als einer der Soldaten sie am Ranzen packte.
Caedes wollte vorspringen, der Schwester zur Hilfe eilen, doch die Hand des Halbbruders hielt ihn zurück. »Vorher noch das Maul aufreißen, jetzt selbst die Nerven verlieren, was?«
»… wenn sie es finden!«
»Dann finden sie es.«
»Aber …!«
»Niemand weiß, was es ist. Nicht einmal der Händler, sonst hätte er es Aenne nicht für einen derart lächerlichen Preis überlassen.«
»Aenne hat es erkannt!«
»Nachdem sie damit beinahe das gesamte Gebäude zersprengt hätte …! Ruhig Blut, Caedes, niemand wird verstehen, worum es sich handelt!«
Caedes musste sich merklich zurückhalten, doch auch Ezra war nicht annähernd so gelassen, wie er sich gab. Als Ältester der drei Geschwister war er es gewöhnt, über die anderen zwei zu wachen. Er war ein höflicher Mann, allerdings von einer bestimmten Natur und seine kleine Schwester in Gefahr zu sehen gefiel ihm ganz und gar nicht.
Ein Soldat hatte Aenne an den Schultern gepackt und ihr den Rucksack abgenommen, der andere schlug ihren Mantel zur Seite und entwaffnete sie, ihre protestierenden Rufe ignorierend, als wäre sie eine Marionette, die man nach Belieben hin und her werfen konnte.
Ein Langmesser wurde auf das Pult des Schreibers geknallt, gefolgt von einem Klappmesser. Ein Geldbeutel, in dem Dragoner klimperten. Ein paar Knochenwürfel, die man ihr aus der Hosentasche entnahm, dann wurde der Rucksack ausgeleert. Ein Set seltsamer Spielkarten, die der Schreiber interessiert auffächerte, Brot und Hartkäse, eine Flasche würziger Vogelbeerschnaps, von der Garde augenblicklich konfisziert, genau wie die Würfel aus Bein plötzlich verschwunden waren. Eine Wolldecke, eine Plane, nass vor Regen, Zunderschwämme, Feuereisen, Flechten, Tiegel mit scharf riechenden Salbenansätzen, in denen das Schmalz starrte, Papier und Schreibgerät. Briefe. Unkenntliche Notizen. Gewand, eine Kette, deren Anhänger eine Spinne mit einem Auge auf dem Unterleib darstellte. Räucherwerk, Kräuter, die Wasser länger haltbar machten.
Und dann war da ein Gefäß, eingehüllt in fleckige Leinenbinden. Aenne starrte es an und Ezra glaubte deutlich zu sehen, wie ein Schauer sie erzittern ließ. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, denn er selbst fühlte sich von einer seltsamen Kälte erfasst, die sich bei dem Anblick des Gegenstandes in die eigenen Glieder fraß.
Der Schreiber entknotete mit dem plötzlichen Enthusiasmus eines Mannes, der es genießt, sein Amt zu seinem Vorteil missbrauchen zu können, die Stoffstreifen und schälte sie ab wie die Schale eines Apfels.
Zum Vorschein kam ein abgegriffenes, gläsernes Behältnis, der Deckel mit eisernen Spangen befestigt. Das Gefäß mochte einmal schön gewesen sein, klar, glänzend und an den Rändern verziert, nun aber war es matt und schmierig. Darin, in gelblich-durchsichtiger Flüssigkeit, schwebte ein faustgroßes, rotfleischiges Herz, an den dicken, röhrenförmigen Adern abgeschnitten. Weißlich rankte sich Gewebe wie Wolken um die Herzspitze, Adern fraßen sich in die feuchten Muskeln. Die Glaswände verzerrten das Herz zur Monstrosität.
Nicht nur der Schreiber beäugte das Organ misstrauisch. »Ein Herz«, stellte er fest.
Aenne schwieg.
»Was treibt eine junge Frau wie Ihr damit?«
Aenne öffnete den Mund und das erste Mal seit ihrer Begegnung mit der talionischen Garde legte sie so etwas wie Überheblichkeit an den Tag. »Für gewöhnlich liest man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darin.«
Der Mann hob die Augenbrauen. »Tut Ihr das? Ich dachte, das machen nur die Schicksalspriester – in Organen wühlen und Orakel spie …« Er brach mitten im Wort ab, als seine Augen über die Habseligkeiten glitten. Ein wertvolles Messer aus nachtelfischem Stahl, halb aus der Scheide gezogen, ein Set Karten, mit denen man sich die Zukunft legen konnte, das Amulett der Epena, das Herz im Glas … er kam zu einem guten Schluss, auch wenn es nicht der richtige war. »Seid Ihr eine Wanderpriesterin?«
Aenne erwiderte nichts, sondern besah ihn nur finsteren Blickes.
Rasch richtete der Schreiber den Rücken gerade. »Warum habt Ihr nichts gesagt, als ich Euch fragte?«, rief er empört. Hastig gab er seinem Kollegen ein Zeichen, die Sachen wieder einzupacken. Vogelbeerschnaps wie Knochenwürfel, die den flinken Fingern der Wachposten zum Opfer gefallen waren, landeten wieder im Gepäck.
Als Aenne diesmal sprach, gelang es ihr, derart exzellent zu lügen, dass selbst die Brüder es nicht bemerkt hätten. »Warum glaubt Ihr, trage ich keine Priestergewandung? Ich reise inkognito! Dank Euch weiß nun allerdings die halbe Stadt über meine Identität Bescheid!« Sie wies hinter sich, auf den Tross an Reisenden, der ungeduldig wartete.
Der Schreiber hob seine Feder wie ein Richterinstrument. »Hier hat niemand etwas gesehen!«, brüllte er. »Verstanden? Sonst kommt hier heute niemand mehr rein!« Und so wurde das Herz im Glas wieder in seine Leinenbinden gewickelt und in den Untiefen des Rucksacks versenkt, ohne dass jemand bemerkt hätte, dass es sich um ein Menschenherz handelte.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Ezra bis zum Schreiberpult vorgerückt war. Er setzte einen Schritt vor, direkt an das Pult heran und betrachtete den Talionier mit distanzierter Höflichkeit.
Der Schreiber sah nicht von seinem Folianten auf. »Name?«
»Ezra Benhengen.
»Zugehöriges Königreich?«
»Der Stadtstaat Tradea.«
Knapper Blick. »Beruf?«
»Händler.«
Der falsche Familienname war mit Bedacht gewählt worden. Benhengen war eine weitläufige Händlerfamilie aus der Mittelschicht, deren Name bekannt, aber nicht bekannt genug war, als dass man sich an Gesichter erinnern hätte können.
»Grund Eurer Einreise?« Die Feder kratzte auf dem Pergament.
»Ich möchte Arzneien erwerben.«
Der Schreiber schenkte Ezra einen abschließenden Blick, schien jedoch nichts zu entdecken, das sein Interesse fesselte, er winkte ihn daher weiter. Ezras Unauffälligkeit war an manchen Tagen Fluch und Segen zugleich.
Caedes trat vor.
»Name?«
»Caedes.«
»Caedes wie noch?«
»Caedes Ortinger.«
Der Schreiber stieß ein langgezogenes, nasales Geräusch aus. Ortinger war einer der meistverbreiteten Nachnamen in den östlichen Königreichen. Man behauptete, die Ortingers stammten von einer Familie mit elf Brüdern ab, die jeweils elf Kinder gezeugt hätten, die wiederum jeweils elf Kinder gezeugt hätten. Man fand Ortingers in allen möglichen Siedlungen, die sich an das Gebirge der Welle schmiegten, ob nun Hufschmiede, Meiereien, Hirten oder Holzfäller. »Ein Ortinger, so so. Und welchen Beruf übt dieser besagte Ortinger aus?«
Caedes griff nach der Fibel, die seinen Mantel zusammenhielt, und löste sie, sodass der schwere Lodenstoff von der Schulter rutschte. Zum Vorschein kam vergilbter Knochen, der einen Schulterschutz bildete, sowie eine Haut aus schimmernden Schuppen, die sich um seinen Bizeps spannte. Der Nackenkamm, der sich daran Richtung Ellenbogen zog, ließ die Haut einer gewaltigen Echse erahnen. Exzentrische Kleidungswahl. »Jäger.«
Der Schreiber wirkte weit weniger beeindruckt, als man erwarten hätte können. »Ah«, bemerkte er und notierte in der Spalte ›Zugehöriges Königreich‹: Der Reisende König. »Noch so ein Kasper.«
»Welch eine freundliche Begrüßung.«
»Wenn Ihr persönlichen Dank dafür wollt, dass Ihr Eure Arbeit erledigt, müsst Ihr Euch hinten anstellen, guter Mann. Ihr seid nicht der erste Jäger, der sich in unsere Stadtmauern verirrt, und werdet auch nicht der letzte sein. Auch nicht der letzte, der aus mangelnder gesundheitlicher Verfassung die Stadt nicht mehr verlassen kann.«
Caedes berührte flüchtig das Heft des schmalen, kurzen Schwertes, das er bei sich trug. »Wir werden sehen.«
Reisender Jäger, König ohne Königreich, beendete der Schreiber seine Notizen und nickte Caedes zu gehen.
Beim Eingangstor zum Stadtinneren schien es zu Verzögerungen gekommen zu sein, weswegen die Geschwister mit einigen anderen Reisenden in einem stickigen Raum warten mussten. Aenne lehnte mit dem Rucksack auf dem Schoß an einer feuchten Wand, als Caedes hinzukam. Er bemaß sie mit einem Blick, mit dem er manchmal seine Beute fixierte, und hielt zielstrebig auf sie zu. Wie selbstverständlich nahm er neben ihr Platz und legte ihr den Arm um die Schulter. »Neu in der Stadt? Eine hübsche junge Frau wie Ihr sollte nicht einsam durch dunkle Straßen wandeln. Wie wär’s, wir könnten uns ein nettes Plätzchen suchen, um den Abend gemeinsam ausklingen zu lassen …?«
Aennes Augenbraue hüpfte. »Ernsthaft«, stieß sie aus. »Hat das wirklich schon jemals bei einer Frau funktioniert?«
Er zwinkerte vielsagend. »Ihr würdet Euch wundern, Madame! Seid Ihr mit Terra Talioni bekannt? Welche Sehenswürdigkeiten gibt es denn in dieser Stadt? … mal abgesehen von Euch!«
Man konnte sehen, wie Aenne noch einen Augenblick mit dem Gedanken haderte, ihren Bruder zu schlagen, doch das hätte es ungleich schwieriger gemacht, eine unauffällige Unterhaltung mit ihm zu beginnen. Sie begab sich also in die vermeintlich beste Flirtposition, schlug die Beine übereinander und beugte sich an sein Ohr heran, um das Thema zu wechseln. »Glaubst du, sie haben etwas bemerkt?«
»Das Herz?«
Sie nickte.
»Ich denke nicht.«
Besorgt krallte sie die Finger in ihr Gepäck, das sie zu schützen pflegte wie ein Drache sein Nest. »Jemand in dieser Stadt schlachtet Menschen«, murmelte sie. »Ich muss herausfinden, wer es ist. Ich muss denjenigen aufhalten.«
Caedes seufzte. Seine Hand lag warm an ihrer Schulter, sie mochte das, vor allem, weil sie sich oft für lange Zeit nicht sahen. Ihn bei sich zu wissen gab ihr ein Gefühl von Sicherheit – und das, obwohl er der Jüngere von ihnen beiden war, wenn auch nur um eineinhalb Jahre.
»Du weißt, was ich davon halte, Aenne. Das einzige Indiz, das wir haben, ist die Versicherung des Händlers, dass dieses Herz von den Purpurnen Märkten in Terra Talioni stammt. Er wusste garantiert nicht, was er da in seinem Besitz hatte – kein Kenner hätte dir ein menschliches Herz für einen derart lächerlichen Preis verkauft, noch dazu in aller Öffentlichkeit. Was, wenn ihm das Organ untergejubelt wurde? Was, wenn das Herz von woanders stammt?«
»Die Purpurnen Märkte in Terra Talioni sind mein einziger Anhaltspunkt«, erwiderte Aenne zum gefühlt hundertsten Mal. »Ich muss es einfach versuchen.«
Und zum gefühlt hundertsten Mal fragte Caedes: »Wieso?«
Ein zartes, fast trauriges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »Du weißt, wieso.«
Er wusste es, auch wenn die Erklärung nicht einfach in Worte gefasst werden konnte. Aenne war anders. Anders als all die Händler und Reisenden, mit denen sie sich durch das Stadttor gedrängt hatte.
Die Wahrheit war, sie alle drei besaßen keinen Familiennamen. Sie waren keine Priester. Sie waren keine Gesetzlose. Sie waren Königskinder.
Der Reisende König besaß nur wenige Untertanen, doch diese blieben ihm treu. Diejenigen, die die Straße als ihre Heimat auserkoren hatten, unterstanden dem König ohne Königreich – er herrschte über die fahrenden Händler, die reisenden Musikanten, Schauspieler, Sänger, umherziehende Jäger, freie Söldner und Wanderprediger.
Aenne, Ezra und Caedes waren seine Kinder. Hier saßen sie zwischen Händlern und Soldaten, Prinzen und Prinzessin ohne Königreich, die sie waren. Sie waren es nicht anders gewohnt. Reisende blieben Reisende, egal ob Herr oder Untertan – sie besaßen keine Ländereien, kein Königreich, keine Heimat. Auf der Straße gab es wenig Platz für Luxus und Komfort, weswegen sie meist inkognito blieben. Einzig in der Hafenstadt Tradea besaßen sie einen kleinen Sitz, der nur dann angesteuert wurde, sobald eine Frau der Familie ein Kind erwartete. Man nannte es ‚Kindsesshaftigkeit‘ und blieb so lange dort, bis Frau und Kinder fähig waren, weiterzureisen.
Ezra war der älteste von den drei Geschwistern und würde dem König ohne Königreich eines Tages auf die königliche Wanderschaft folgen. Sein Schicksal lag klar geschrieben vor ihm. Mit Frau und Kindern, die auf dem Sitz in der Hafenstadt Tradea warteten, wo Thymiane kürzlich ein zweites Mädchen geboren hatte, war er auf dem besten Weg, in die Fußstapfen des alten Königs zu treten. Lange Zeit ein Einzelkind, hatte seine Mutter ihn auf diese Rolle vorbereitet, ihm Sitten beigebracht, höfliche Umgangsformen und wie man einen kultivierten Diskurs führte.
Dann, knapp neun Jahre später, brachte seine Mutter ein zweites Kind zur Welt – und starb dabei. Die kleine Aenne hatte das Licht der Welt erblickt, ein kleines, blondes Elfchen, immer ein wenig verträumt, mit einem unbändigen Interesse für den Metabereich zwischen Menschlichem und Magischem, zwischen Weltlichem und Göttlichem. Als Kind kannte sie nichts Vergnüglicheres, als sich von Wanderhexen die Hand lesen zu lassen, den Prophezeiungen der Tempelpriester zu lauschen, Runensteine zu werfen und sich Geschichten dazu auszudenken. Die Amme, die sie nach dem Tod der Mutter pflegte und die nun auch noch im hohen Alter Ezras Frau Thymiane unterstützte, hatte von Aennes frühester Kindheit an geglaubt, sie würde einen Weg als Priesterin einschlagen, doch Aenne hatte niemals einen Schritt in diese Richtung unternommen.
Aenne wuchs Seite an Seite mit ihrem eineinhalb Jahre jüngeren Bruder Caedes auf. Die zweite Frau des Reisenden Königs, eine phalanxische Handelsfrau, teilte das Schicksal der ersten, sie starb nach der Geburt an Kindbettfieber. Caedes unterschied sich von seinen Geschwistern, nicht einfach nur auf äußerliche Art und Weise – so wild wie sein widerspenstiges Haar, so wild verhielt er sich in seinen Spielen. Von Lernen und Bildung hielt er wenig, so sehr sich auch der ältere Bruder bemühte, ihm die Regeln höfischer Sitte beizubringen. Stattdessen fand er die Erfüllung in ähnlich fantastischen Spielen wie seine Schwester – nur jagte er Ungeheuer anstatt Blicke in die Zukunft.
Caedes hatte sein Interesse zum Beruf gemacht. Zielstrebig entfloh er jeglichem höfischen Zeremoniell und widmete sein Leben dem, worauf er sich am besten verstand – der Drachenjagd. Thymiane, Ezras Frau, hatte irgendwann einmal scherzhaft bemerkt, dass Caedes’ berufliche Wahl wahrscheinlich darauf zurückzuführen sei, dass er sich nicht mit Drachen unterhalten musste. Vermutlich hatte sie irgendwie recht.
Aenne hatte im Gegensatz zu Caedes ihr Interesse für Okkultes nie zum Beruf gemacht. Manchmal fühlte sie sich wie ein kleines Boot, eine Nussschale, die im reißenden Fluss des Lebens mal hierhin, mal dorthin schwappte. Ziellos schipperte sie umher, ohne das Ende ihrer Reise zu kennen.
Dann fiel ihr das Herz im Glas in die Hände.
Aenne war niemals enthusiastisch darin gewesen, in tierischen Organen zu lesen. Caedes hatte ihr einmal ein Drachenherz geschenkt, das sie eiligst an den nächsten Tempel der Epena weiterverkauft hatte. Doch an diesem Tag, in diesem Laden, sah sie das besagte Herz im Glas im Licht der hereinfallenden Sonne stehen und kaufte es ohne Zögern. In ihrem Heim öffnete sie das Gefäß und entnahm dem Organ ein Stück Gewebe, das durch die zeremonielle Balsamierung weder an Farbe noch an Magie verloren hatte, und setzte damit einen einfachen Zauber an. Aenne war nicht zauberbegabt. Aber manche Magie war Gegenständen inne und konnte auch von Dilettanten angewendet werden.
Der Ausbruch an Magie hätte beinahe das Zimmer zerstört, in dem sich Aenne aufgehalten hatte.
Das Herz gehörte keinem einfachen Tier, keinem Schwein, keiner Ziege, keinem Steinbock, zu rituellen Zwecken geschlachtet. Es war ein Menschenherz. Ein Menschenherz, das Aenne in ihrem Rucksack bis nach Terra Talioni trug, um den Frevler zu stellen, der Menschen auf so götterlästerliche Art und Weise schlachtete und die Reisende Prinzessin so unfreiwillig zur Anwendung von Blutmagie getrieben hatte.
Aenne sah den Kauf dieses verbotenen, magischen Gegenstands als Zeichen der Götter, als einen Wink des Schicksals. Sie hatte niemals einen Beruf gefunden.
Nun besaß sie eine Berufung.
Da saß sie nun, bestimmt, den Schlächter des Herzens zu finden. Und als ein talionischer Soldat den Raum betrat, um sie ärgerlich durch das Tor in die Felsenstadt zu winken, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie womöglich an einem Ort angekommen war, der weitaus mehr Gefahren barg, als all die anderen Wunderstädte, die sie in ihrem jungen Leben bereits besucht hatte.
Während sie an Caedes’ Seite das Tor durchtrat, umringt von anderen Reisenden, hoffte sie auf ein Zeichen der Götter, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Das Zeichen kam früher als erwartet.
Terra Talioni.
Links und rechts türmte sich der Stein, dazwischen, in den Berg geschlagen, harrte die Festungsstadt – tausende Gebäude und Straßen, die sich an Steinwände pressten und um Gipfel schlangen. Vor dem Stadttor harrten zwei steinerne Riesen, Spiegelbilder des jeweils anderen. Manche behaupteten, es habe sich um Felsentrolle gehandelt, bei Tageslicht zu Stein erstarrt; andere erzählten Fabeln, dass es die Abbilder der Riesen seien, die diese Stadt als Geschenk für ihren Herren erbaut hätten. Heute hielten die steinernen Statuen mit von Wind und Wetter abgestumpften Gesichtszügen die wehenden Flaggen des Stadtstaats Terra Talioni. Auf dem sich im Bergwind blähenden, burgunderroten Stoff prangte ein goldenes Auge. Das goldene Auge war das Wappen der Reges Numerabiles, der Zählbaren Könige. Gegenwärtiger Herr über Terra Talioni war Aegis Septimus, der Siebtgeborene.
Aennes Blick hing an den groben Gesichtern der Portalriesen, glitt über die Felswände und Gipfel, die in den Himmel spießten. Sie wollte gerade etwas sagen, als eine Stimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog – und sie stammte nicht von Caedes, der vor ihr den Schatten der gewaltigen Stadtmauer verlassen hatte, oder von sonst einem der Reisenden um sie herum, sondern kam von über ihr.
»Kehrst zurück, mein junger Freund,
hast in letzter Zeit gar viel versäumt …«
Ihr Blick glitt in die Höhe. Sie rammte erschrocken die Ferse in den Untergrund und hielt an. »Ezra!« Der ältere Bruder war in all seiner Unauffälligkeit, die er ab- und anzulegen pflegte wie einen Mantel, an ihr vorbeigeglitten. Sie packte ihn am Ärmel. »Da hängt ein Pferdekopf über dem Stadttor!«
Ezra folgte ihrem Blick. Über dem Tor, das sich wie ein grauer Halbkreis über sie hinwegstreckte, hing der breitnackige Schädel eines Rappen. An manchen Tagen bewegte er sich nicht, harrte still dort oben, als wüchse er aus dem Stein. An anderen Tagen hingegen, an Tagen wie dem heutigen, beugte er sein Haupt herab und beobachtete die Besucher Terra Talionis aus schwarzen Augen.
Das Pferdehaupt zwinkerte mit langen Wimpern und verfolgte die stolpernde Aenne mit einer Kopfbewegung. Sein Maul klappte auf.
»Es ist ein gutes Herz,
das du da bei dir trägst,
sieh zu,
dass du es in richtige Hände legst.«
Der Pferdekopf schüttelte eine Fliege davon.
Aennes Mund klappte auf. Einen Moment lang wirkte sie sprachlos. »W-wie bitte?«
Die Nüstern bebten, bliesen heiße Luft aus.
»Immer wart’ ich,
warte immerzu,
dass sie wiederkommen,
er, sie und du.«
»Ezra«, flüsterte Aenne. »Der Pferdekopf spricht zu uns!«
»Er spricht über das Herz«, stieß Ezra zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. »Wir sollten schleunigst von hier verschwinden!« Er schnappte nach Aennes Hand, die sich noch immer an seinen Ärmel klammerte.
»Vielleicht … spricht er nur in Metaphern?«
»Von magischen Dingen wie diesem hier sollte man nicht annehmen, dass sie irgendetwas metaphorisch meinen!«
»Kommt schon!« Caedes, der ein Stück vorausgegangen war, kehrte zurück, packte die Geschwister und zog sie voran. »Lasst euch nicht von der alten Schindmähre aufhalten, die kaut einem doch nur das Ohr ab!«
»Du schon wieder«, sprach das Pferd.
»Schleichst rein,
schleichst raus,
kommst und gehst,
als wär’s dein Haus.«
»Beehre doch die talionische Stadtgarde mit deinen philosophischen Überlegungen und halte nicht ständig hart arbeitendes Volk auf!«
Irrte sich Aenne, oder verzog der Pferdekopf das lange Gebiss zu einem Lächeln? Unmöglich!
»Ich sehe,
du hast mich sehr vermisst –
kommst doch zurück,
wenn du betrunken bist.
Einmal schnippen – bringt den Wein!
Zweimal schnippen – lasst es sein!«
Caedes stieß nur ein abfälliges Geräusch aus, schob Aenne und Ezra vor sich her und ließ den Pferdeschädel über dem Tor sein, wo er war. Die beiden Geschwister taumelten hinterher, direkt in die schmalen Straßen Terra Talionis.
Aenne folgte Caedes, wich einem daherrumpelnden Wagen aus und durchtauchte eine Gruppe rotgewandeter kafriter Priester. Als sie sich in der Robe einer Priesterin verfing, stieß sie einen Schwall Entschuldigungsfloskeln aus und holte so ihren Bruder ein. »W-was war dieses Pferd?«.
»Ein alter Ackergaul einer talionischen Prinzessin, dem jemand vor Jahrhunderten den Schädel abgeschlagen und über das Stadttor gehängt hat. Ich frage mich allerdings, wer hier bestraft werden sollte – das Vieh kaut jedem das Ohr ab, der die Stadt betritt oder wieder verlässt!«
»Der Pferdekopf hat davon gewusst!« Aenne wich einem Mann aus, der einen gewaltigen Käselaib auf der Schulter trug. »Hast du gehört? Er weiß von dem Herzen!«
»Noch ein Grund mehr, sich von dem Vieh fernzuhalten!«
»… und das, was er zu dir sagte? Was meinte er damit?« Ezra tauchte auf der anderen Seite auf, ein schlanker Schatten, der es nicht nur schaffte, geschickt einer vorbeispazierenden Dame auszuweichen, sondern der ihr im gleichen Atemzug auch noch einen höflichen Gruß teilwerden ließ. Die Straße füllte sich zunehmend, zahlreiche Talionier hatten sich in der nächtlichen Stimmung auf den Nachhauseweg gemacht.
Caedes ignorierte die Frage gekonnt.
»Caedes!«, wiederholte Ezra. »Wovon sprach der Pferdekopf?«
Der jüngste Bruder stieß ein abfälliges Geräusch aus. »Ich war betrunken und gelangweilt und er der einzige Gesprächspartner in unmittelbarer Reichweite! Das Vieh wird es mir ewig vorhalten!«
Ezra stieß ein Lachen aus, das erstarb, als er seinen Geschwistern entrissen wurde. Im Tumult verschwand er hinter einer Mauer aus Heimkehrenden und wurde eine Brücke hinaufgedrängt, die sich über eine Schlucht spannte. Laternenkinder quetschten sich an ihm vorbei, kletterten auf die Brüstung und entzündeten mit langen Stangen die Öllampen, die an den Brückenrändern hingen. Die Menschen rempelten links und rechts, doch keines der Kinder schien sich zu ängstigen, von einem unbedachten Ellbogenstoß in die Tiefe befördert zu werden.
Der besagte Ellenbogen, den Ezra gefürchtet hatte, rammte stattdessen ihn in die Seite. Ihm entfuhr ein überraschter Aufschrei, die Brückenbalustrade schlug ihm in den Magen. Sie raubte ihm den Atem und zwang ihn, einen kurzen Blick in die Tiefe zu werfen. Unter den Brücken, von Schlucht zu Schlucht gespannt, schwebten hunderte Lichter wie zart schaukelnde Glühwürmchen in orangefarbenen, violetten und blauen Farbtönen. Nur Rot gab es keines – rote Laternen fand man ausschließlich in den Türen der Armenviertel, hinter denen sich die Frauen verkauften.
Ezra kam nicht dazu, länger das Stillleben zu betrachten, denn er wurde unbarmherzig vorangeschoben. Weit vor ihm sah er Caedes’ Kopf zwischen anderen auftauchen. Er versuchte sich in die Richtung des Bruders zu kämpfen, doch die Menschen um ihn herum rangen ebenso entschieden um ihr Fleckchen Raum und gaben keine Elle nach.
Erst am Ende der Straße gelang es ihm, seine Geschwister einzuholen. Caedes und Aenne warteten reglos am Rand der Brücke, wie ein Felsen von Menschen umströmt. Als der ältere Bruder vorbeigespült wurde, fischte Caedes ihn aus dem Fluss aus Reisenden. »Sieh zu, dass du nicht ständig verschwindest«, schnarrte er.
Ezra stieß ein belustigtes Lachen aus – als ob er sich das aussuchen könnte! Er fragte sich, seit wann Caedes auf ihn achtgab, und nicht länger er auf Caedes. Die Zeiten hatten sich geändert, sein Bruder war nicht länger ein Kind. Allzu oft tendierte er dazu, das zu vergessen.
Caedes’ großgewachsene Gestalt grub eine stetige Schneise in die Menge und führte die Geschwister zielstrebig zu einer Herberge namens Felsensparte. Das Gebäude war direkt in den Felsen geschlagen worden, besaß ausladende Fenster mit dichten, roten Blumentöpfen, sowie ein vorspringendes Holzschindeldach. Über einen Holzblock stiegen die Geschwister zur Eingangstüre empor und tauchten in das ruhigere Innere des Gasthofs.
Aenne stand am Fenster der Felsensparte und lugte durch das trübe Glas auf die belebte Straße, über die sich das dunkle Blau der Nacht legte. »Ich möchte die Purpurnen Märkte sehen«, flüsterte sie. Die meisten Geschäfte hatten um diese Uhrzeit schon geschlossen, doch gerade die Purpurnen Märkte boten auch des Nachts interessante Unterhaltung.
Holz knarrte, als jemand die Treppe hinabgestiegen kam. »Das wird wohl heute nichts mehr.« Die Frau, die gesprochen hatte, war füllig, rotbackig und dabei überaus attraktiv – eine der gelockten, weichen Verführungen, die Terra Talioni zu bieten hatte. »Die Straßen zum Purpurnen Markt wurden heute Nachmittag gesperrt. Vor morgen Früh braucht Ihr es also gar nicht erst versuchen.«
Aennes Augenbrauen wölbten sich enttäuscht. »Warum?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Etwas treibt sich dort wohl schon wieder herum. Fragt nicht, was – das interessiert hier schon seit langem keinen mehr!«
Terra Talioni war eine seltsame Stadt mit einem überaus eigenwilligen Naturell. Groß genug, um als Stadtstaat regiert zu werden, lag sie inmitten des Gebirges der Welle, bot kaum ein Fleckchen ebenen Grund, konnte sich unmöglich autark versorgen – und wurde trotzdem von einer schier unglaublichen Menschenmasse als Lebensraum auserkoren.
Die Gelehrten, die in der Bibliothek der Ominösen Dinge studierten, behaupteten, es wäre die Magie, die Menschen wie seltsame Kreaturen gleichermaßen anzog. Und tatsächlich wusste jeder Bewohner eine seltsame Begebenheit zu erzählen, die ihm in dieser Stadt bereits widerfahren war. Die Magie, die hier pulsierte, war wild und dunkel – und schien auf ihre Art und Weise Reisende anzuziehen und zu verführen, sodass sie für immer blieben.
Die Menschen kamen, die Ungeheuer kamen und gingen meist wieder. Das Auftreten etwaiger ungewöhnlicher Ereignisse besaß seine eigene Eintönigkeit, von der auch die Wirtin gelangweilt schien.
Aenne setzte einen Schritt nach vorne. »Ich muss auf die Märkte«, beharrte sie. »Es ist wichtig. Gibt es nicht irgendeine Möglichkeit …?«
Jemand packte sie am Arm, sanft, aber bestimmt. Caedes zog sie an sich. »Die Märkte sind abgeriegelt«, brummte er. »Vermeide es, gleich am ersten Tag für Aufruhr zu sorgen. Warte zumindest bis zum zweiten.«
»Aber …!«
Er schüttelte unmerklich den Kopf.
Das Herz im Glas lastete schwer auf ihren Schultern. Das eigene Herz flatterte aufgeregt bei dem Gedanken an die purpurfarbenen Leinendächer, die die Geheimnisse dieser Stadt verdeckten. »Es gibt nichts, was ich in dieser Stadt sonst zu tun hätte!«
Er schenkte ihr ein sachtes Lächeln. »Dann finde dir eine Beschäftigung. Essen. Trinken. Lesen. Terra Talioni bietet viele Dinge, die einer Frau mit deinen Interessen gefallen könnten.«
Sie grübelte. »… die Bibliothek. Ich würde gerne die Bibliothek der Ominösen Dinge besuchen.«
Caedes nickte. »Tu das«, brummte er und wandte sich damit an die Hausbesitzerin. »Wir brauchen Zimmer. Ich suche nach Wagenleuten und Trägern und breche anschließend wieder auf – wenn möglich morgen, ansonsten übermorgen. Meine Begleiter haben vor, länger zu bleiben.«
Die Gastgeberin musterte Caedes, ihre Augen glitten über das von der Sonne verdunkelte Gesicht, über die dunkelbraunen Augen und das ungeordnete Haar. Ihr schien zu gefallen, was sie sah. Sie nickte langsam. »Ihr solltet es im Nachtfalken versuchen. Dort finden sich immer irgendwelche Dummköpfe, die sich für wenig Geld Leuten wie Euch anschließen.«
»Leuten wie mir?«
Ein kaum merkliches Lächeln bog ihre Mundwinkel zurecht. »Nichts für ungut – aber Jäger kennen wir hier reichlich, schließlich gibt es hier eine Menge zu erjagen. Vier Rhonen pro Nacht. Falls Ihr länger bleiben wollt, muss ich es einen Tag im Voraus wissen. Ich schließe die Türen mitternachts.« Ihre Augen folgten seinen Bewegungen. »Der Nachtfalke liegt vier Straßen von hier Richtung Tempel der Epena. Sagt Ollaster, Ellie schickt Euch.«
Sie verstauten ihre Sachen in ihrem Zimmer.
Aenne entpackte das Herz im Glas und schob es tief unter die Ecke ihres Bettes, sodass es nicht gestohlen werden konnte. Dort unten im spinnwebenüberzogenen Schatten würde es hoffentlich sicherer sein als in ihrem Rucksack, wo ein flinker Finger es rasch entwenden konnte. Sie legte eine Reihe von Knochenrunen darum, die Buchstaben bildeten das Wort Erasta, verstoßener Sohn der Rache- und Kriegsgottheit Hollers, auch Schildgott oder Gott der Abwehr genannt. Erasta rebellierte gegen seinen Vater, indem er den Menschen Schutz bot, über die Holler Krieg gebracht hatte. Sein Vater verstieß ihn daraufhin, doch die Menschen blieben Erasta treu und baten ihn bis heute um Unterstützung, genau wie Aenne, die die Runen küsste und fein säuberlich aufreihte.
Caedes beobachtete sie dabei skeptisch. Er war nicht sonderlich gläubig, seine Kommunikation mit den Göttern beschränkte sich auf etwaige zornige Ausrufe und hie und da eine Spende an die Göttin der Jagd, ohne dass er so recht an eine übersinnliche Führung glauben konnte.
Ezra befand sich glaubenstechnisch zwischen den Geschwistern. Nachdem sie zwei Mütter durch Kindbettfieber verloren hatten, glaubte er fest an einen göttlichen Segen, der seine Frau Thymiane bei der Geburt der eigenen Töchter geschützt hatte. Sobald er sich für mehrere Tage an irgendeinem Ort niederließ, wie hier in diesem Zimmer der Felsensparte, kramte er eine kleine Statuette der Lebensgöttin Gäga aus dem Gepäck und platzierte sie als kleinen Hausaltar am Fensterbrett. Er murmelte ein knappes Gebet und starrte zum Fenster hinaus, über die seltsame Häuserlandschaft hinweg, die sich so abwegig an und in den Fels schmiegte. »Morgen werden wir den Markt besuchen«, bemerkte er. »Aenne kann herausfinden, wer in dieser Stadt zu rituellen Zwecken schlachtet. Ich muss die Arznei für Thymiane besorgen.« Er drehte sich um, die Finger in einer überlegenden Geste ans Kinn gelegt, die Stirn in Falten. Thymiane hatte die Geburt ihres zweiten Kindes zwar überstanden, doch sie war noch immer nicht richtig genesen. Nicht ganz uneigennützig hatte er sich an Aennes Seite hierher begeben, um auf den Märkten ein Heilmittel zu erwerben.
Und Caedes? Caedes stellte einem Drachen nach, der in der Nähe von Terra Talioni die Händler von den Straßen fischte. Er schnallte das Schwert aus nachtelfischem Stahl ab und legte es auf das Bett, schälte sich aus der Lederrüstung und aus der feuerfesten Drachenhaut, die er darunter trug. »Ihr könnt den Abend verbringen, wie ihr es für richtig haltet. Ich für meinen Teil werde mir ein Bad genehmigen.«
Aenne, die den Runenring beendet hatte, setzte sich auf den Bettrand. »Das hast du auch dringend nötig, wenn du mich fragst.«
Caedes hörte ihren spitzen Kommentar nicht mehr, das Hemd über den Ohren verließ er bereits das Zimmer. Auf seinem Rücken waren ein paar neuere Narben zu sehen, die sich rosig von der alten Haut abhoben. Aenne seufzte. Zumindest waren sie gut verheilt.
Ezra nickte seiner Schwester zu. »Wir könnten etwas trinken gehen.«
Sie schüttelte sacht den Kopf. »Ich habe etwas Besseres vor.«
Ein zweifelnder Blick. »Und zwar?«
»Wir gehen in die Bibliothek.«
Ezras Mundwinkel kippten Richtung Boden.
Die Stimme der Archivarin verschmolz mit dem Rascheln von Buchseiten. »Diese Nischen werden zum privaten Studium und als Lehrräume genutzt. Geschlossene Türen bedeuten, die Lese-Nischen sind bereits in Verwendung – stört die Gelehrten nicht bei ihren Studien.« Mit kleinen Schritten trippelte sie an den gedrungenen Türen vorbei, die hinter Kreuzrippengewölben in der Wand verschwanden. Aenne folgte der Bibliothekarin, warf einen Blick über die Schulter, doch Ezra war nirgends zu sehen. Sie seufzte innerlich. Normalerweise war es Caedes, der sich elegant aus dem Staub zu machen pflegte, doch manchmal besaß auch Ezra die unheimliche Eigenschaft, einfach von einem Moment auf den anderen zu verschwinden.
Aenne folgte ihrer Vorderfrau und trat dabei unter dem Kreuzgang hervor. Steinerne Balustraden legten sich an die Mauern, Stockwerk um Stockwerk. Die Wände der Laubengänge waren von unten bis oben mit Büchern, Pergamentrollen und gilebretischen Palmblattbüchern vollgestopft, sodass es wirkte, als wäre die Bibliothek mit einer zusammengeflickten, braunfleckigen Haut ausgekleidet.
Aenne stieß die Luft aus. »Wie soll ich mich hier bloß zurechtfinden?«
Mit weichen Pantoffeln glitt die Bibliothekarin voran. »Unsere Gelehrten sind auf die verschiedensten Bereiche aurorischer und gilebretischer Geschichte spezialisiert. Sie kennen den Aufbau der Bibliothek und wissen über die Literatur ihres Lehrbereichs Bescheid. Welche Thematik weckt Euer Interesse?«
Aenne biss unsicher die Zähne zusammen. Suchend blickte sie sich um, doch Ezra war nirgends zu sehen. Ein lautloses Seufzen entfloh ihren Lippen. So war das mit Brüdern – man brauchte ihre Hilfe, stattdessen betrank sich der eine irgendwo in einer Schenke und der andere vermutlich zwischen uralten Folianten. »Ich suche …« Sie zögerte. »Blutmagie. Ich suche Literatur über Blutmagie.«
Die Archivarin hielt an. Sie glotzte wie ein verdutzter Rostwaldischer Karpfen. »Das ist verboten«, nuschelte sie. »… verbotenes Wissen!«
»I-ich habe nicht vor, Blutmagie zu erlernen«, beeilte sich Aenne zu sagen. »Mich interessiert«, sie leckte sich über die Lippen, »der Krieg in Gilebret. Die obersten Kasten der Heißen Länder kämpfen gegen das Dschungelvolk von Nodhal, da dieses seiner Blutgöttin Kaneph Menschenopfer darbringt. Ich möchte mehr über die Hintergründe dieses Konflikts erfahren.«
Die Archivarin musterte ihr Gegenüber von Kopf bis Fuß.
Na wunderbar, dachte Aenne, Caedes hatte sie gebeten, am ersten Tag keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, das war ihr ja prima gelungen.
»Geschichtliches Wissen also?«, hakte die Archivarin nach.
Aenne zuckte mit den Schultern. Was blieb ihr anderes übrig? Am Schafott wollte sie schließlich nicht enden. »Ja.«
Die Bibliothekarin kratzte sich die Nase. »Wir haben einen gilebretischen Gelehrten hier«, bemerkte sie. »Adalgis Rohoy-Perporri stammt aus einer phalanxischen Handelsfamilie. Wenn jemand über den Krieg seiner Heimat Bescheid weiß, dann er.«
Aenne konnte gerade noch ein Seufzen unterdrücken. Ein abgehalfterter Historiker, der sie stundenlang über die Geschichte der Heißen Länder belehrte – das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Welch ein seltsamer Ort. Die Leute bewegten sich wie wispernde Schatten zwischen den Säulen, Regalreihen und Gängen. Fast schien es Aenne, als wären die Menschen selbst zu den ominösen Schatten geworden, die sie hier studierten.
Aenne lief an Leseplätzen vorbei, an denen Männer und Frauen vor Öllampen saßen, tief über ihre Pergamente gebeugt. Die Archivarin hob die Laterne höher, die Finsternis wich vor ihr zurück, sie schlich auf Samtpfoten weiter. »Wartet hier«, befahl sie. »Ich werde sehen, ob Perporri Zeit hat.« Die Lampe schunkelte von dannen und verschwand am Ende des Ganges.
Aenne stand und wartete. Ihr Blick glitt durch die Düsternis, über die hohen Bögen und Pfeiler. Tiere wuchsen aus dem Stein der Bibliothek, reckten seltsam geformte Schnäbel, Schnauzen und Mäuler hervor, starrten aus grauen Augen in die Tiefe wie Wasserspeier, die niemals Regen sehen würden.
Fröstelnd schlang Aenne die Arme übereinander. Wo blieb nur diese seltsame Archivarin? Langsam hatte sie wirklich keine Lust, noch länger …
Sie trat einen Schritt zurück und prallte gegen etwas. Ein Aufschrei, der nicht von ihr stammte. Aenne fuhr herum, eine Flüssigkeit durchtränkte ihre Bluse. Ihre Finger fuhren heran und betasteten das Gewebe, ihre Hände färbten sich schwarz.
Erschrocken riss Aenne den Kopf in die Höhe. Vor ihr stand eine Frau, soweit konnte sie es im dämmrigen Licht ausmachen, die Arme in einer schockierten Geste von sich gestreckt. Schwarz fiel ihr das Haar ins Gesicht. Über die Vorderseite ihres Kleides breitete sich ein dunkler Fleck aus.
Die Frau rührte sich nicht.
Einen Augenblick lang glaubte Aenne, die Fremde wäre verletzt. Sie führte die eigenen Hände ans Gesicht heran und schnupperte vorsichtig.
Der eigenartige Geruch von Eisengallustinte stieg ihr in die Nase. Kein Blut. »Verzeiht«, murmelte sie und setzte einen Schritt auf die Fremde zu. »Ich habe nicht …«
»Seid … Ihr … des … Wahnsinns?«, presste die andere hervor. Ein Ruck, das Kinn gehoben. Weit aufgerissene Augen, deren Farbe in der Düsternis der Bibliothek verblasste. Die Pupillen, wie schwarze Monde aufgegangen, zitterten.
»Ich …«
»Das ist Talanidische Seide!« Die Stimme schlug harsch durch die Bibliothek und wurde von den Wänden zurückgeworfen. Irgendwo erstarrten Lichter, deren Träger sich neugierig umdrehten. »Echte Talanidische Seide!«
»Ich …«
»Ihr habt dieses Kleid ruiniert!«
»Ich bin wirklich untröstlich, aber …«
Die Frau schien nicht an Entschuldigungen interessiert zu sein. Sie stieß einen gequälten Laut aus, presste die Augen zusammen und klatschte die Hände ins Gesicht. Als das Tintenabdrücke hinterließ, erklang ein Jammern in einer Sprache, die Aenne bis auf die letzten beiden Worte nicht verstand. »… Talanidische Seide!«
Nun gut, dachte Aenne, Talanidische Seide war wirklich nichts, das man an der nächsten Straßenecke erwerben konnte, und ja, Talanis lag ein Leben von hier entfernt – aber jemand, der sich ein solches Kleid hatte leisten können, konnte sich vermutlich auch ein weiteres leisten.
Aenne stieß ein Schnauben aus. »Ich zahle Euch das Kleid, das ist nun wirklich nicht …!«
»Ich will kein neues Kleid!«, bellte die Frau. »Ich brauche dieses hier! Sauber! Sofort!«
Der beißende Ton verschlug Aenne die Sprache. Sie presste die Lippen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und schenkte der Frau einen arroganten Blick. »Ich kaufe Euch einen ganzen Raum voll Kleider, wenn der Verlust dieses einen Euch derart aus der Fassung bringt!«
Die Fremde starrte sie an, rührte sich nicht. Hinter ihr schaukelte ein Licht den Gang entlang. Pantoffeln schleiften über den Fußboden. »Perporri hier, ich habe gehört, jemand will …« Die Stimme verstummte, als der Lichtkreis der Laterne die beiden Frauen berührte. Die Linien des fremden Frauengesichts verblassten zur Unkenntlichkeit.
»Herrin?« Ein älterer Herr mit weißem Haar und gebeugter Gestalt streckte die Lampe in die Höhe. Hinter ihm spähte die Archivarin hervor. »Ihr seid noch nicht gegangen?« Die Frau wandte sich dem Gelehrten und der Bibliothekarin zu und offenbarte somit ihren Zustand. Die Augen des Alten weiteten sich ein Stück. »Oh, Herrin! Was ist geschehen?« Er kämpfte sich einen Schritt vor und fasste sie am Handgelenk. »Schnell, schnell! Wir brauchen Wasser und Seife, sonst werden wir diese Sauerei nie wieder los …!« Er zog sie hinter sich her, seine Kollegin folgte trippelnd. Die Fremde folgte widerstandslos, ohne Aenne weiter zu beachten, und verschwand mit ihnen am Ende des Ganges.
Als die Dunkelheit Aenne umschloss, schien es, als hätte es die drei komischen Vögel nie gegeben – als Beweis blieb bloß die Tinte an ihren Händen zurück.
Aenne fand Ezra auf den Stufen der Bibliothek wieder.
»Bibliotheken«, murrte er, während er mit einer Kerze die von Regenschauern erloschenen anderen entzündete. »Tempel der Weisheit nennen sie diesen Ort – warum war dann niemand so weise, sich diese Stufen zu ersparen?« Die Kerzen bildeten mit getrockneten Blumen und bemalten Steinen kleine Opfergaben, Huldigungen an Helior, den Gott der Erkenntnis, und Panumae, der zwielichtigen Göttin des okkulten Wissens, Schutzpatronen der Bibliothek. Als Ezra geendet hatte, war er ein paar Münzen in eine Opferschale. Schwerfällig erhob er sich und nickte Aenne zu. »Irgendetwas Nützliches gefunden?«
»Ich habe noch nicht einmal angefangen zu suchen.« Sie nickte hin zur Opferschale. »Wem hast du geopfert?«
Er wies zu den Säulen empor, Plastiken der Götter, die die Arme wie einen schützenden Schirm über ihnen ausstreckten und damit das Dach in die Höhe stemmten. »Zu Helior. Ich dachte, jetzt, wo wir auf der Suche nach Antworten sind, kann es nicht schaden, den Gott der Erkenntnis um Unterstützung zu bitten.«
Auf dem Weg zurück zur Felsensparte beobachteten die Geschwister die bunten Lampions, die über den Schluchten schaukelten. Auf den Straßen war es ruhig geworden, hie und da spazierten Menschen durch die Nacht, gedämpfte Unterhaltungen raunten durch die Gassen.
»Keine Bücher über Menschenherzen oder Blutmagie? Wundert mich nicht.« Sie passierten einen Stand, der nach Äpfeln und Zimt roch. Ezra schielte neugierig hinüber und blieb stehen. »Es gibt eine Menge verbotener Abteilungen, die nur von Angestellten betreten werden dürfen. Bestimmtes Wissen darf nicht in falsche Hände geraten.« Er kaufte zwei Stück Bratäpfel am Spieß, reichte einen davon Aenne, und sie spazierten kauend weiter.
»In die verbotenen Abteilungen kam ich nicht. Ich rannte in eine Frau, überschüttete sie mit Tinte und … oh, was rede ich, sie rannte in mich und ihre Tinte war es auch noch!« Aenne stemmte den Arm in die Hüfte. »Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt entschuldigt habe!«
Ezra hob die Augenbraue. »Nichts, was ein gutes Stück Seife nicht retten könnte, oder etwa nicht?«
»Das meinte ich auch. Aber du hättest sie sehen sollen – all die Tinte, Tränen und Toberei …!« Aennes Finger fuhren über die Bluse und hinterließen graue Tapser. Sie würde heißes Wasser brauchen, um die Sauerei loszuwerden. »Eindeutig von talionischem Adel, die Dame.«
Ezra hielt im Kauen inne. »Wie kommst du darauf?«
»Die talionische Aristokratie kennt doch keine Grenzen, wenn es darum geht, sich vom gemeinen Pöbel zu unterscheiden. Sie schreit lauter, gibt mehr Geld aus, kleidet sich umständlicher, bemalt sich kunstvoller – rötere Lippen, weißere Haut, schwärzeres Haar …!«
»Schwarz?«, hustete er. »Schwarz inwiefern?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Schwarz eben. Schwarz wie die Kolkraben, die in den Bergen herumfliegen.«
Der Bruder verstummte.
Das machte Aenne misstrauisch. »Wieso fragst du?«
»Vielleicht ist es nur ein dummer Zufall, aber … bist du jemals einem Mitglied des talionischen Königshauses begegnet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Als Thymiane mit unserer Tochter Xersi in Tradea kindsesshaft geworden war, bliebst du bei ihr. Vater und ich aber brachen zu einem Treffen der südöstlichen Königreiche auf. König Aegis Septimus von Terra Talioni wohnte ebenfalls dem Treffen bei, er brachte seine Cousine mit sich, eine Frau von großem Einfluss. Ihr Name ist Uma Octavia.«
»Und …?«
»Nun …« Ezra schob den Kopf nach links und rechts, als müsse er sorgfältig überlegen. »Die Reges Numerabiles, so heißt es und so habe ich es erlebt, zeichnen sich äußerlich vor allem durch ihr außergewöhnlich schwarzes Haar aus. Es ist ein Merkmal der gesamten Familie.«
Aenne fiel das Gesicht ein. »Du meinst …?«
Ezra zuckte mit den Schultern und verschlang das letzte Stück Apfel. »Ach«, rief er leichthin, doch Aenne sah ihm an, dass ihm so leicht ums Herz nicht wahr. »Sicherlich ein Zufall! Uma Octavia schien mir nie wie eine Frau, die öffentliche Bibliotheken zu besuchen pflegt!« Er lachte den Gedanken davon.
»Ich muss mir das Epenaische Kartenorakel legen«, flüsterte sie. »So schnell wie möglich.« Sie eilte Ezra hinterher, der weit ausschweifenden Schrittes vorausgewandert war.
Als Aenne die Augen aufschlug, glaubte sie sich einen Moment lang in Tradea.
Als Kind des Reisenden Königs gewöhnte man sich selten daran, im selben Bett zwei Mal zu erwachen. Nachdem Aenne nun aber viel Zeit in Tradea verbracht hatte, war dieser Ort zu etwas geworden, das einem Zuhause erschreckend nahe kam.
Es war der Lärm der Straße, der sie eines Besseren belehrte. Müde rieb sie sich die Augen und kämpfte sich von der Liegestätte. Erst nach und nach bemerkte sie den eigentlichen Grund für ihr Erwachen – nämlich ein energisches Klopfen. »Aenne!« Ezra trommelte gegen die Türe. »Die Straßen sind frei! Lass uns zu den Märkten gehen und nicht den ganzen Tag verschwenden!«
»Moment!« Sie stieg über die Karten hinweg, die auf dem Fußboden verstreut lagen. Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht, das Epenaische Kartenorakel zu legen, ohne dass die Bilder Sinn ergeben hätten – es sei denn, einer ihrer Brüder entschiede sich in naher Zukunft dazu, mit dem Herz im Glas eine amouröse Liebschaft einzugehen. Manchmal, so musste sie sich eingestehen, ergab auch das bestgelegte Kartenorakel keinen Sinn.
Ezra brachte einen Krug Wasser, sie wusch sich, schlüpfte in ein frisches Hemd und kämpfte sich in die Stiefel. Als sie sich nach dem zweiten Schuh bückte, fiel ihr Blick unters Bett.
Das verhüllte Herz wartete unberührt in der Ecke, umsäumt vom Runenring. Sie ließ es stehen, wo es war.
In den Gassen drängten sich die Menschen. Ezra erzählte, dass Caedes die Herberge früh verlassen hätte, um einen Wagenlenker für die Expedition in die Weiße Schlucht anzuheuern.
Es war nicht schwer, den Weg zu den Purpurnen Märkten zu finden – einmal im Strom aus Menschen angelangt, musste man sich einfach treiben lassen. So flossen die Geschwister mit der Menschenmasse die Straßen und Brücken hinab, tiefer und tiefer in die Schluchten hinein. Bei den Purpurnen Märkten handelte es sich um einen Ort, an dem sich alles sammelte – wie ein Regen schwemmte es die Bewohner aristokratischer Klippenvillen hinab, die Mittelschicht aus Kleinhändlern und Handwerkern, bis sie sich Seite an Seite mit den Armen und Kranken dieser Stadt wiederfanden.
Es dauerte nicht lange, da kamen die purpurnen Dächer in Sicht. Die Stoffbahnen spannten sich von Haus zu Haus und hoben und senkten sich schwerfällig im Wind. Geräusche drangen nur gedämpft darunter hervor. Ein wenig schien es Aenne, als würden die Leinendächer die Geheimnisse dieses Getümmels verdecken. Mit diesem Gedanken im Kopf trat sie unter das erste Purpurne Laken und tauchte hinein in eine unbekannte Welt.
Mit dem Marktlärm drängten exotische Gerüche auf die Straßen. Wie verführerische Finger schlängelten sie zwischen den Gebäuden hindurch und hakten sich an den Nasen potentieller Käufer fest, um sie in die Geschäfte zu ziehen. So lockten Rosenblüten, Lavendel und Seife, Honig, gebrannte Nüsse und edelste Schokolade – seit dem Krieg im Osten eine beinahe unbezahlbare Ware. Der Duft von Schafsmilch und Gewürzwein liebkoste Aennes Sinne ebenso wie der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee. Nelken, Zimt und Pfeffer erinnerten an exotische Geschichten aus dem Osten, Meersalz, Fisch und Muscheln ließen in ihrem Kopf Bilder des tradeadischen Hafens aufkommen. Schlussendlich war es aber der Geruch von frischgebackenem Brot, der sie einfing und sie eine Bäckerei betreten ließ. Der Anblick des frischen Brotes und der süßen Himbeermarmelade ließ in ihrem Mund das Wasser zusammenlaufen.
Erst nachdem Aenne ihr Frühstück verschlungen hatte, gelang es ihr, sich gegen die verführerische Macht der Düfte zu wehren. An Ezras Seite durchquerte sie den Markt, wanderte an Barbieren, Töpfern und Badern vorbei, an Färbern, Gerbern und Kürschnern, aus deren Häusern sauer der Geruch von Gerbmitteln stieg. Sie passierte Goldschmiede und Glasmacher, aus deren Fenstern feurige Hitze quoll, sowie Metzger, Seifensieder, Seiler und Weber.
Ein Zwitschern zog schließlich Aennes Aufmerksamkeit auf sich. Sie blieb stehen, um in das Dunkel eines Geschäfts zu spähen. Vor dem Fenster raschelten Vögel in ihren Käfigen. »Ezra«, rief sie den Bruder zurück.
Ezra drehte sich um. Über der Tür baumelte ein Schild. Das Bild zeigte eine einzelne, schwarze Tollkirsche auf einem langen Stiel, Rauschmittel, Heilmittel und Gift zugleich, je nachdem, in welcher Dosis es eingesetzt wurde. Von Priestern und Heilern gleichermaßen verwendet, bedeutete das Symbol, dass hier Heilmittel und Ritualbedarf vertrieben wurden.
»Vielleicht verkaufen sie Herzen«, flüsterte Aenne. Die Vögel sprangen im Käfig umher, sie waren als Opfergaben gedacht.
Ezra nickte. »Kann sein – und falls nicht, finden wir hier vielleicht die Zutaten für Thymianes Arznei.« Sie betraten das Gebäude.
Es roch nach scharfen Essenzen, die in gläsernen Gefäßen aufgereiht standen. Milchige Flüssigkeiten, vielfarbige Pulver und Salze ruhten in Schalen, Kräuter hingen zu dicken Sträußen gebunden in den Fenstern. Weiters wurden viele typische Ritualutensilien angeboten: Halbedelsteine, Opferschalen, Ritualmesser, Mörser und Stößel, Klangschalen, Knochenflöten, Götterstatuetten, Ritualtrachten und vieles mehr. Jede Familie in Terra Talioni, die etwas auf sich hielt, besaß einen Hausaltar, den sie mit derlei Gegenständen ausschmückte, die Nachfrage war daher groß.
In der Ecke flatterten die Vögel. Rotkehlchen wurden vor allem der Feuergottheit Kafrit geopfert, Sperlinge der Herd- und Heimgottheit Senta. Größere Vögel wie Krähen, Dohlen und Eichelhäher wurden oft ausgenommen, um aus ihren Innereien zu lesen.
Aenne trat auf einen der Drahtkäfige zu und musterte einen Eichelhäher. Aus kleinen Augen starrte er sie an, das braune Gefieder aufgeplustert, der blaue Streifen an seiner Seite schillerte. Sie konnte sehen, wie das Herz unter dem Federflaum schlug, so schnell, dass das bloße Auge es kaum fassen konnte.
Ezra trat an den Tresen heran. Ein älterer Herr, der, dem Türschild nach zu urteilen, wohl Steffen war, seines Zeichens Apotheker und Besitzer dieses Ladens. Er füllte gerade ein gelbliches, nach Schwefel riechendes Pulver in Fläschchen.
»Travis sei mit Euch«, grüßte Ezra im Jargon der Reisenden. »Ich bin auf der Suche nach einer Arznei.«
Der Mann reagierte vorerst gar nicht, sondern ließ sich erst dazu herab, den Blick zu heben, als er das letzte Fläschchen sorgsam befüllt hatte. Ezra nahm es ihm nicht übel – Dinge wie diese waren es, welche die großen Städte von den kleinen Dörfern unterschieden, die sich am Land zerstreuten. Man gewöhnte sich daran. »Was sucht Ihr?«
Ezra griff in die Manteltasche und schob dem Apotheker das Rezept entgegen. Dieser studierte es eine Weile und massierte sich dabei den weißen Haarkranz, der seine Glatze wie ein Hufeisen einrahmte. »… Liebstöckel, Frauenmantel, Arnika, Blutweiderich, Waldlilie …« Der Apotheker spazierte durch den Laden und fischte entsprechende Gefäße aus den Regalen, reihte sie auf der Theke auf. Die Vögel in den Käfigen raschelten nervös. Sie ahnten vermutlich, dass der Moment, in dem der Apotheker die Drahttüre öffnen würde, für einen von ihnen das Ende bedeutete.
»Um die Wirkung der Arznei zu verstärken, empfehle ich fein gemahlene Drachenklauen. Die potenzieren den heilenden Effekt um beinahe das Dreifache.«
Ezra strich sich über die Stirn. »Wie viel würde das kosten?«
Der Apotheker bemaß Ezra mit einem knappen Seitenblick. »Ihr könnt es Euch leisten.« Die Talionier besaßen ein gutes Auge, was potentielle Kunden anbelangte. »Einen halben Dragoner vielleicht«, fuhr der Apotheker fort. »Allerdings gibt es gerade einen eklatanten Engpass, was diese Substanz betrifft. Die letzten zwei erjagten Drachen, die ihren Weg nach Terra Talioni gefunden haben, wurden von König Aegis Septimus aufgekauft. Einer ziert ausgestopft den Thronsaal, den anderen nahm er als Brautgeschenk mit nach Badhre. Vielleicht findet Ihr am Markt noch jemanden, der Drachenknochen besitzt, vielleicht auch ein paar Schuppen, aber ich zweifle daran, dass es noch Klauen oder Zähne gibt – nicht, nachdem alle Vorräte zur Eindämmung der Silvatischen Pest beschlagnahmt wurden.«
Ezra warf Aenne einen fragenden Blick zu. »Haben wir …?«, murmelte er und meinte insgeheim: … noch Drachenklauen im Banktresor von Tradea?«
Aenne verstand und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, erwiderte sie verhalten. »Schädel, Zähne, ein Herz … aber keine Klauen.« Caedes hatte nie eine besondere Vorliebe für die verhornten Krallen der Tiere besessen, er behielt nur die wertvollsten Teile.
Ezra wandte sich an den Apotheker. »Wenn ich Drachenkralle besorgen kann, könnt Ihr sie verarbeiten?«
Ein musternder Blick. »Natürlich. Ich würde Euch sogar mehr davon abkaufen.« Der Apotheker griff unter den Tisch und zog ein rotes Tintenfass hervor, um ein Glas zu beschriften. »Ich bereite währenddessen die Arznei vor. Sie anzusetzen kann eine Zeit dauern. Ein, zwei Wochen, und ihr könnt Sie Euch abholen – vorausgesetzt, Ihr besorgt mir rechtzeitig die Klauen.« Er schob ein paar Flaschen zurecht, in denen fertige Tinkturen schwappten.
»Verzeiht«, warf Aenne ein, die einen eiligen Schritt vorsetzte. »Vielleicht könnt Ihr mir weiterhelfen – in Tradea besuchte ich Aureas Geschäft für Wahrsagerei und erwarb dort präparierte Organe. Man sagte mir, sie stammten aus Terra Talioni. Ich möchte gerne mehr davon kaufen – könnten sie von Euch stammen?«
Der Apotheker schüttelte den Kopf. »Ich verkaufe nur Opfervögel. Eingelegtes gibt es bei mir nur für medizinische Zwecke. Abgesehen davon bediene ich bloß Privatkunden, keine Großhändler, die nach Tradea weiterverkaufen. Ich kann meine Vögel jedoch wärmstens empfehlen – gerade sind ein paar Dohlen hereingekommen, frisch aus den Bergen gefangen …«
Aenne schüttelte rasch den Kopf. »Nein. … Nein, ich suche mehr nach Herz, Leber und Nieren größerer Säugetiere.«
Ein breites Lächeln. »Für die Gäste nur das Beste, wie? Wenn Ihr Organe kaufen wollt, dann geht zu Ladina am Farnweg, sie handelt mit Seherei-Bedarf, oder zu Urkel am Sandplatz. Er verkauft exotische Tiere und jede Menge eingelegtes Zeug. Wenn ich mich nicht irre, sind auch immer wieder ein paar Herzen dabei – zuletzt sogar von einem Krokodil, direkt aus dem Phalanxischen Delta eingeführt. Benötigt Ihr hingegen alles frisch, wendet Euch an Quaris’ Schlachthaus, es liegt hinter dem Tempel Kafrits. Quaris versorgt die fahrenden Händler. Allerdings werdet Ihr Euch einen Tag gedulden müssen – heute ist ein Feiertag der Epenai und Quaris hat geschlossen.«
Als Ezra und seine Schwester den Laden verließen, warf er Aenne einen fragenden Blick zu. »Ein Feiertag?«
Aenne riss die Augen von den Vögeln in Steffens Apotheke los. »Die Epenai richten sich nach dem Kalender der Heißen Länder. Sie teilen die Zeit in elementare Perioden. Die gegensätzlichen Elemente Feuer und Wasser, Erde und Luft meiden jegliche Berührung – bis auf zwei Ausnahmen im Jahr. Diese Tage, an denen sich Feuer und Wasser, Erde und Luft berühren, gelten als besonders schicksalsträchtig. Heute ist ein solcher Tag – Erde trifft auf Luft. Es ist ein heiliger Tag und die Epenai legen ihrer Göttin zuliebe die Arbeit nieder. Ich nehme an, dieser Quaris schlachtet zu sakralen Zwecken und hält den Feiertag daher ebenfalls ein.«
Ezra nickte. »Und was treiben wir bis dahin?«
»Lass uns die anderen Läden besuchen, von denen der Apotheker gesprochen hat.«