Fallen Angels, Rising Demons - Der Wettstreit - Katharina V. Haderer - E-Book

Fallen Angels, Rising Demons - Der Wettstreit E-Book

Katharina V. Haderer

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Beschreibung

Im ewigen Wettstreit zwischen Himmel und Hölle wird Engel Lazael zur Erde gesandt, um eine Menschenfrau zu verführen, bevor es seinem dämonischen Gegenspieler gelingt. Eine Aufgabe, der sich Lazael mit der Leidenschaftslosigkeit eines geschlechtslosen Wesens widmet - wer könnte schon die Hölle dem Himmel vorziehen? Dass die ganze Sache schwieriger wird als zunächst angenommen, bemerkt Lazael bereits bei seiner Umgestaltung zum Menschen. Zu seinem Glück stehen ihm einige skurrile Gestalten zur Seite. Zwei mysteriöse Künstler, die seine Flügel ins Jenseits malen können. Ein Engelsbruder, der sich auf Erden als moralisch-flexibler Fernsehprediger verdingt. Und eine Anime-versessene Haushälterin, in deren Augen das Feuer der Hölle lodert …

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Seitenzahl: 560

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Fallen Angels, Rising Demons

DER WETTSTREIT

KATHARINA V. HADERER

Copyright © 2023 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Julia Adrian

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan R. Bellem

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Karte (nur Print): Katharina V. Haderer

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-315-7

Alle Rechte vorbehalten

Triggerwarnung

Dieses Buch enthält diverse mögliche Trigger, unter anderem Religionskritik und Gewalt, Sex, Physische und psychische Gewalt, Tod eines Kindes, Toxische Beziehung, Sexismus, Alkoholkonsum, Folter und Blut.

Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Inhalt

Musikalische Inspiration zum Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Drachenpost

Dieses Buch widme ich meinen Katzen, die mit großer Sicherheit mit einer dämonischen Aufgabeauf diese Welt geschickt wurden, dann jedoch den Todsünden von Trägheit und Völlerei erlagen.

Danke, dass ihr mir beim Schreiben die Füße wärmt und meine geschundene Autorenseele mit eurem Schnurren tröstet.

In jedem Dämon steckt eben auch ein zarter Nougat-Marzipan-Kern.

Musikalische Inspiration zum Buch

Angel – Massive Attack

Father and Son – Johnny Cash, Fiona Apple

Violet – Hole

Dead of Night – Orville Peck

Devil’s Playground – The Rigs

Town of Strangers – BOKKA

What You Done – Lera Lynn

Feral Love – Chelsea Wolfe

white dove – Koda

The Wolf – Fever Ray

I Follow Rivers – Marika Hackman

To Show You Violence – Rituals of Mine

Moulding – Emily Jane White

Doll Parts – Hole

Toxic – 2wei

Heart-Shaped Box – Imad Royal, Mark Johnson

Beautiful Hell – Adna

Burn – 2wei, Edda Hayes

Heart of Glass: Crabtree Remix – Blondie, Philipp Glass

Black Hole Sun – Nouela

In the End – Eklipse

Prolog

DER BILDHAUER

Wenn Gott einen Menschen verführen will, schickt er seinen schönsten Engel.

Dieser Gedanke blitzt durch meinen Kopf, als ich den Gefallenen aus dem Atlantik fische. Aus den anderen Sphären führen wenige Wege auf die Erde herab, und fast alle sind mit Leid verbunden.

Das ascheverschmierte Wesen stinkt nach Ozon und verkohlten Federn, die sich wie schwarze Locken an seinem Schwingengerippe kringeln. Der Engel schlingt die nagellosen Finger um meinen Unterarm. Mit seiner unnatürlichen Kraft verhindert er, dass er zurück in die Fluten rutscht.

Mit einem Grunzen ziehe ich ihn über die Reling, und der Bote Gottes klatscht ungnädig auf den Planken des Fischerboots auf.

Ich habe schon einige Engel aus den Fluten gezogen. Aus den Ästen der Bäume geklaubt. Ihre zerbrochenen Reste auf den Berggipfeln eingesammelt und wieder zusammengeflickt. Denn ich bin der Bildhauer, und zusammen mit meinem Partner, dem Maler, nehmen wir jene Gesandten aus Himmel und Hölle in Empfang, die von ihren Herren auf die Erde geschickt werden, um ihre Befehle auszuführen.

Die Seraphim, wie er einer ist, verbreiten meist das Wort Gottes. Mit ihren mächtigen Stimmen umschweben sie in der Himmelssphäre den Thron des Allmächtigen und besingen seine Heiligkeit tagein, tagaus. Aber was bedeutet schon Zeit für diese Wesen? Was bedeutet schon Zeit für einen Gott, egal ob himmlisch oder höllisch?

… Langeweile.

Ich bin mir sicher, dass die beiden wenig anderes antreibt als die Eintönigkeit der Unendlichkeit.

Daher sendet Gott seine Abbilder und der Teufel seine Verführer. Es ist ein spielerisches Kräftemessen von Vater und Sohn. Und der Spielgrund liegt hier auf Erden.

Vor mir krümmt sich eine ihrer Spielfiguren. Sie ist nackt – sie oder, besser gesagt, er, denn um seine Aufgabe auszuführen, wird der Spieler das männliche Geschlecht annehmen. Er zieht die Beine an, das makellose Gesicht rußig und schmerzverzerrt. Schön und hart ist es. Kein einziges Haar bedeckt seinen Leib. Im Himmel besteht keine Notwendigkeit dafür, denn niemand friert. Er besitzt keinen Bauchnabel, denn er wurde aus Licht erschaffen, nicht geboren. Sein Schritt ist geschlechtslos und glatt wie seine gesamte golden schimmernder Haut, die einen Rest des göttlichen Leuchtens reflektiert. Er keucht heftig. Der Fall von der himmlischen Sphäre in die irdische hat ihn in Brand gesetzt. An der Küste vor Doverport werden die Menschen ihn vielleicht für einen fallenden Stern gehalten haben, den das Meer verschluckt hat.

An seinem Keuchen erahne ich bereits seine Macht. Engel besitzen einen Mund einzig aus dem Grund, um das Wort Gottes zu verbreiten. Das Rauschen, das aus seiner Lunge dringt, ist eine Kostprobe seiner Macht. Die Wassertropfen tanzen mit jedem Atemzug über Deck. Diese Stimme kann ich ihm nicht nehmen, aber der Maler wird sie dämpfen, bevor wir ihn unter die Sterblichen lassen.

Natürlich werden wir ihm nicht alles davon rauben. Wir lassen ihnen einen Funken ihrer Essenz. Schlussendlich soll der Wettkampf einer zwischen Gott und Teufel bleiben. Dämonen behalten ihre verführerische Glut. Engel den Nachhall ihres göttlichen Klangs. Das macht das Spiel erst spannend.

Er schlägt die Augen auf. Sein Blick erschüttert mich, so dunkel, dass bloß der direkte Sonneneinfall eine Spur von Braun offenbart. Ich werde diesen Lidern dunkle Wimpern verpassen und dieser Stirn starke Brauen. Haupthaar, schwarz und glänzend.

Sein Gegenspieler trägt das Glutkorn der Verführung im Blick: Mit sieben Sünden bringen dich die Dämonen um Moral und Verstand. Die Macht des Engels hingegen liegt in seinem kühlen Ernst, der dazu führt, dass man ehrfürchtig vor ihm auf die Knie gehen will. Für die Aufgabe, die die beiden auszuführen haben, scheint er auf den ersten Blick im Nachteil. Aber Verehrung kann zur Liebe werden. Auf den Knien lässt sich Bewunderung durchaus Ausdruck verleihen.

»Dein erster Besuch auf Erden?«, spreche ich ihn an.

Er schüttelt den Kopf. Versucht sich auf die Arme zu stemmen, doch rutscht auf den nassen Planken aus. Ich bücke mich, um ihm die Hand darzubieten. Er ignoriert sie. Engel sind auf Menschen selten gut zu sprechen, denn sie teilen die Zuneigung ihres Gottes ungern. Und ich erscheine als einer von ihnen.

»Lange her?«

Diesmal nickt er. Er bemüht sich in die Hocke. Sein Blick irrt über das Bootsdeck, das fröhlich vor der Küste von Rhode Island auf dem Atlantischen Ozean schaukelt. Der Engel benötigt keine Augenbrauen, um Misstrauen auszudrücken. Eine Falte spaltet seine Stirn.

»Wann war das letzte Mal?«, hake ich nach.

Eigentlich geht es mich nichts an. Ich gestalte bloß die Kontrahenten, aber mitspielen tue ich nicht. Der Maler und ich, wir stehen jenseits von Gott und Teufel. Alle Versuche, uns zu vereinnahmen, schlugen fehl. Denn sie brauchen uns. Wenn sie ihre Spielfiguren nicht auf den Erdboden setzen können, womit vertreiben sie sich dann die Ewigkeit?

Der Seraphim wirkt einen Augenblick so, als ignorierte er mich erneut. Dann krümmt er sich und spuckt aus. Ein Fisch landet auf dem Schiffsdeck und zappelt im Morgenlicht.

»Keine Ahnung«, würgt er hervor. Seine Stimme dröhnt durch Haut und Knochen. Sie treibt den Fisch über die Planken und lässt das eingezogene Fischernetz am Dreharm schwanken.

Ich stemme mich gegen den Machtimpuls. Es fühlt sich an, wie bei einem Konzert direkt vor der Anlage zu stehen. Herrlich und schrecklich zugleich.

»Das alles war noch nicht da«, sagt er. Er weist um sich.

Ich brauche einen Augenblick, um zu verstehen, was er meint.

Das Tackern des Motors, das Rauschen des Radios. Das Fischerboot ist eine alte Schüssel mit einem ausgeblichenen roten Streifen rund um den Rumpf und einer verrosteten Führerkabine, in der es so heiß wird, dass meine Fruit Roll-ups zu einem Klumpen verschmelzen. Ein Liebhaberobjekt, würde manch einer behaupten. Für den Engel mag es modern wirken, falls er das letzte Mal die Erde betreten hat, um Maria die semifrohe Botschaft zu verkünden.

»Hat man dich aufgeklärt?«, hake ich nach. »Darüber, wie es jetzt ist?« Sie können zwar aus dem Himmel herabblicken, aber was ist schon ein Ameisenhaufen, wenn man ihn vom Baum aus beobachtet?

Der Engel blinzelt zu mir hoch, die Sonne blendet ihn. »Man hat mich in der Theorie alles über die moderne Welt gelehrt. Ich trage die Enzyklopädie des Wissens in mir.«

Ja, das hat man. Aber zu wissen und zu erleben – das sind zwei verschiedene Dinge. Abgesehen davon habe ich bereits bei seinen Vorgängern bemerkt, dass ihnen manche Dinge verschwiegen werden.

»Und wer bist du?«, fragt er mich.

»Der Bildhauer.«

Erkenntnis dehnt seine Mundwinkel. »Lazael«, stellt er sich vor. Wackelig kommt er auf die Beine. Er überragt mich um eineinhalb Fuß. »Verschwenden wir keine Zeit, Bildhauer. Das Spiel hat begonnen. Gestalte mich zu einem Menschen.«

Ich klappe den Mund auf, zucke dann jedoch wortlos mit den Schultern und dackele zur Führerkabine. Dort grapsche ich mir eine fischig riechende Decke und werfe sie ihm zu. »Schön und ehrgeizig«, rufe ich, bevor ich die Rotoren starte. »Erfreulich!«

Als sich das Boot mit einem Ruck in Bewegung setzt, muss Lazael die Reling packen, um nicht zu stürzen. Noch ist er wackelig auf den Beinen, doch das wird sich bald ändern. Sie alle lernen schnell. Mit jedem Blick saugt er seine Umgebung auf, erlebt, lebt – und lernt.

1

LAZAEL

Dass ein Wesen, das sich in jede erdenkliche Form umgestalten kann, ausgerechnet die Erscheinung eines älteren weißen Mannes wählt, erscheint mir bar jeder Logik. Dennoch hinterfrage ich den Bildhauer nicht, während er sein Gefährt zur Küste steuert.

Wir legen an, er bringt die Passarelle aus. Bis auf einen Mann im Auto nahe der Hafenmole ist niemand anwesend. Ich hülle mich in das Tuch, um meine Unmenschlichkeit zu verbergen. Zu meiner Überraschung steigt der Autofahrer aus und winkt uns zu.

»Schon gut«, sagt der Bildhauer. »Das ist mein Partner, der Maler.« Der Bildhauer und der Maler, gemeinsam bilden sie das Künstlergespann, das mich und meinen Gegenspieler für den Auftritt auf der Erde umgestalten wird.

Wir nähern uns dem anderen. Das Meerwasser brennt mir in Nase und Augen, sein Geschmack liegt schwer auf meiner Zunge – nach Salz, Fisch und Tang. Der Wind streicht kalt über meine feuchte Haut und lässt mich frösteln. Überall fremde Gerüche, die meinen Kopf überfordern. Und jeder Schritt schmerzt. Kein Wunder, dort, wo ich herkomme, bin ich nicht auf Füße angewiesen. Die Reste meiner Flügel schleifen über den Boden. Fremdartige Geräusche kratzen in meinen Ohren. Es wird dauern, bis ich sie als neue Realität anerkenne.

Der Typ aus dem Auto erreicht mich und packt ungefragt meine Hand. Ich erinnere mich daran, dass Händeschütteln eine menschliche Konvention ist, zumindest in diesem Teil der Erde. Man hat mich auf meine Aufgabe vorbereitet. Nun, so gut es meine Geschwister eben vermochten.

In mir trage ich das Wissen über die Vorgänge der Menschensphäre, einen Fundus an Informationen wie in einer geistigen Enzyklopädie, in der ich jederzeit nachschlagen kann. Meine Geschwister haben mir alles erzählt, was sie wussten – und ich habe es besser abgespeichert als ein Computer.

Aber nicht alles kann in der Theorie studiert werden. Da ich die letzten Äonen damit verbracht habe, um Gottes Thron zu schweben und Seine Heiligkeit zu besingen, besitzt Veränderung ein gewisses Maß an Reiz.

Der Fremde nickte mir zu. »Grüß dich«, sagt er amikal. Der Bildhauer und der Maler wandeln seit Urzeiten auf Erde – und haben dennoch beschlossen, die Erscheinung zweier nicht sonderlich attraktiver Männer anzunehmen. Attraktivität, Schönheit – ich habe gelernt, was die Menschen auf diesem Erdteil darunter verstehen und wie wichtig es ihnen ist.

Der Maler ist größer als der Bildhauer, schlanker, doch von nachlässiger Haltung. Afroamerikanische Herkunft, Haut dunkel wie die der Urmutter, sein Gesicht lang gezogen. Seine Augen wirken glupschig hinter der verbogenen Brille, deren Steg von einem Stück Pflaster zusammengehalten wird. Im Gegensatz zu seinem Partner ist sein Haupthaar dicht und steht zerzaust ab. Ungeschickt rutschen seine überlangen Finger über meinen Handrücken.

Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass er mit diesen Händen Dinge in andere Sphären malen kann. Er lächelt, den menschlichen Konventionen entsprechend, aufmunternd und heißt mich auf Erden willkommen.

Der Bildhauer stapft unwillig an mir vorbei. Er hat eine Hand in der rechten Gesäßtasche vergraben und streicht sich über die Pobacke. Dabei grummelt er vor sich hin. Europäischer Hauttyp, blaue Augen, vom Erscheinungsbild her im letzten Drittel des menschlichen Lebenszyklus. Auf seinem grauen Haar sitzt eine Schirmkappe, die seine Halbglatze vor der Sonne schützt.

Ulkig.

Ein Wort, das ich studiert habe. Auf die beiden passt es, wie ich finde. Ulkig.

»Wir bringen dich gleich zum Domizil«, erklärt der Maler, während er uns zum Auto führt. »Es wurde die letzten Jahre von einem deiner Brüder bewohnt.«

»Geschwister«, verbessere ich ihn.

»Von einem deiner Geschwister, das die männliche Form gewählt hat.« Man hat mich darauf hingewiesen, dass Menschen es nicht mögen, wenn man sie verbessert – selbst wenn man richtigliegt. Der Maler wirkt nicht vergrämt. Aber er ist ja auch kein Mensch. Niemand konnte mir im Himmel sagen, was die beiden genau sind.

»Du löst ihn ab«, fügt der Maler an. »Er wird dir das Domizil übergeben. Dann darf er in den Himmel zurückkehren.« Er zieht die hintere Autotür auf, ein grauer Toyota Highlander. Die Amerikaner stehen auf große Autos, habe ich gelernt, obwohl die Gegend um Rhode Island hauptsächlich aus sanften Hügeln besteht. »Nach dir.«

Ich muss mich bücken, um einzusteigen. Die Fenster sind abgedunkelt, und es ist das erste Mal in meiner Existenz, dass ich mich in einem geschlossenen Raum aufhalte. Die Hütte des Apostels kann man nicht dazuzählen. Er hatte auf dem Dach genächtigt, weshalb es nicht notwendig war, sie zu betreten.

Ich fühle mich eingeengt und widerstehe dem Drang, meine verkümmerten Flügel auszustrecken. Das Gerippe dehnt sich, der Geruch der versengten Federn zieht mein Herz zusammen. Es schlägt schneller, ein dumpfer Trommelschlag in meiner Brust. Der Maler schiebt den Fahrersitz ein Stück vor, damit mein Sitznachbar besser das Bein ausstrecken kann. Wir fahren los. Die ungewohnte Fortbewegungsmethode verstärkt meine Übelkeit. Noch habe ich nichts, dem ich mich entledigen könnte. Ich besitze keinen Magen, da ich nicht essen muss.

Noch nicht.

Der Bildhauer klatscht mir aufs Bein. Ich betrachte seine fleckige Hand mit einer Mischung aus Wunder und Skepsis. »Das wird schon«, verspricht er. »Jeder muss sich ans Hiersein erst gewöhnen, egal ob Engel oder Dämon. Nimm Azuriel. Er ist seit ein paar Jahren hier. Auf den ersten Blick ist er von einem durchschnittlichen Menschen nicht zu unterscheiden … mit all seinen Fehlern und Makeln.«

»Azuriel?«, wiederholte ich fahrig.

Der Maler wirft mir einen Blick über den Rückspiegel zu, während wir uns die staubige Straße von der winzigen Marina das Küstenstück emporschrauben. Um uns bauschen sich Wälder. »Er räumt den Platz für dich. Als Mensch ist er unter dem Namen Austin Carter bekannt. Er hatte bisher die Aufgabe, das Wort Gottes zu verbreiten. Er hat den Weg als Fernsehprediger gewählt.«

Austin Carter. Bodenständig amerikanisch, der Name.

»Azuriel wird dich in deine Aufgabe einweisen.«

»Ich wurde bereits instruiert.«

»Nun, auf göttlicher Ebene«, sagt der Maler. Er lenkt den SUV auf eine Hügelkuppe, die uns einen Ausblick auf die zerklüftete Küste Rhode Islands erlaubt. Kurz wird er langsamer und lässt den Blick schweifen. »Ist doch skurril«, stellt er fest, »dass der Wettkampf um den nächsten Messias ausgerechnet im kleinsten US-amerikanischen Bundesstaat ausgetragen wird. Noch dazu in einer popeligen Hunderttausend-Einwohner-Stadt wie Doverport?«

Neben mir lehnt sich der Bildhauer gegen die getönte Scheibe. Er streckt ein Bein zwischen den Vordersitzen hindurch und reibt sich den Schenkel. »Dort lebt sie nun mal.«

»Sie?«, wiederhole ich. Meine Stimme lässt die Lüftung klappern. Der Maler dreht sie stärker, sodass der Luftstoß gegen meinen Klang ankommt.

»Die zukünftige Mutter des Messias.«

Ah, sie. Eva. Eva Persaud. Die Trophäe des Spiels, wenn man es so nennen will. Oder treffsicherer gesagt: Sie ist das Ziel. Der Messias, den ich mit ihr zeugen werde, ist die Trophäe, die ich für meinen Herrn erringen werde. Dass es mir gelingt, daran hege ich keinen Zweifel. Hegte ich Zweifel, hätte Er mich nicht entsandt.

Der Maler seufzt. »Die arme Frau.«

»Arm? Ich dachte, Persaud sei aus gutbürgerlichem Haus?« Hat man mir das falsch beigebracht? Das würde mich unzufrieden stimmen.

»Das meine ich nicht.« Der Wink mit der Hand, die er vom Lenkrad löst, wirkt so unbeholfen, dass ich mich frage, wie er damit jemals meine Flügel in eine andere Dimension malen will. Mit Schwingen, die mir aus dem Rücken wachsen, kann ich schließlich nicht unter Menschen. »Persaud weiß ja nichts von ihrem … äh … Glück.«

Ich verstehe nicht, was er meint. »Es ist eine Ehre, Gottes Kind in sich zu tragen. Es ist eine Gnade, dem nächsten Messias ins Diesseits zu verhelfen.«

Nebenan versteckt der Bildhauer den Mund hinter der Hand. Mit dem Daumen reibt er durch den nachlässig rasierten, grau gesprenkelten Bart. Seine zahlreichen Falten, vor allem jene, die seine Augen umringen, verraten Belustigung. Ein weiterer Nachteil der Gestalt, die er für sich beansprucht hat. Sie ist zu leicht zu lesen. Jede Falte ein Schriftzeichen, das ihn erklärt.

»Wieso lachst du?«, frage ich.

Er zwinkert, reibt sich die Wangen. Dann bekreuzigt er sich. »Eva Persaud; gebenedeit unter den Frauen …«

Ich weiß nicht, ob er erwartet, dass ich die Geste wiederhole. Das Wort gebenedeit stammt vom lateinischen Begriff benedicere ab, was so viel wie segnen, lobpreisen heißt. Jeder sollte Eva Persauds Gottesfunken preisen, den sie in sich trägt. Jener Funke, der dazu führt, dass ihr Kind der nächste Messias wird.

In dem Spiel zwischen Himmel und Hölle stellt sich nur eine Frage: Auf welcher Seite wird er stehen? Welcher Spieler wird sie erobern? Und wem wird der Messias dienen – Gott oder Teufel?

Ich habe vor, so rasch und effizient zu arbeiten, wie es mir möglich ist. Einmal Erde und zurück. Wie immer. Auch wenn mein Auftrag diesmal komplexer scheint, als einem Propheten eine Botschaft zu überbringen. Aber wenn man die Wahl zwischen Himmel und Hölle hat, wer würde sich schon für Letzteres entscheiden?

Der Bildhauer beugt sich zwischen den Autositzen vor und dreht das lauter, was die Sterblichen Musik nennen. »Cat Stevens«, erklärt er mir und schnippt im Takt zur Melodie. »Oder Yusuf Islam, wie er sich jetzt nennt. Father and Son. Erinnert mich an die beiden da oben und dort unten.«

Ich verstehe nicht, worauf er anspielt, doch ehrlicherweise interessiert es mich auch nicht. Menschenmusik steht in meiner Prioritätenliste ganz weit unten. Unangenehm kratzt sie in meinen Ohren.

Der Maler fällt mit noch schieferen Tönen in den Chorus ein. Ich reibe mir die Schläfen, doch schweige. Besser, ich gewöhne mich rasch an den Lärm.

»Das ist Doverport«, reißt mich der Maler aus dem Martyrium. Seine Hand ist ein Schatten vor der Hafenstadt, die sich am Meeresbusen verläuft. Die Häuser leuchten weiß, im Zentrum ragen sie höher auf, blitzende Wolkenkratzer, die den Himmel nicht einmal annähernd erreichen, egal wie sehr sich der Mensch auch darum bemüht. Aus der Ferne sieht alles klein aus. Aus der Ferne sind die Menschen winzig. Und plötzlich bin ich unter ihnen. Ob mich meine Geschwister beobachten? Oder haben sie mich bereits im Getümmel verloren?

Das Domizil, wie die beiden Künstler den sicheren Ort nennen, in dem ich vorübergehend stationiert sein werde, liegt auf einem der Hügelhänge, die sich an Doverport schmiegen. Die Straßen sind breit und schwarz, die Gärten prunkvoll – von Menschenhand gebändigt und in Form gebracht. Gott würde es durchaus gefallen. Er liebt seine Ordnung. Die Mauern sind hoch, die Zäune wie mit Speerspitzen bewehrt. Noch etwas, was der Mensch von seinem Herrn übernommen hat. Er besteht auf seine Hierarchien und verhindert mit vollem Einsatz seiner Kraft, dass jemand eine Grenze übertritt, hinter der er nichts verloren hat. Das ist bereits seit Adam und Evas Fall bekannt.

Der Bildhauer rutscht vor und weist zwischen den Vordersitzen hindurch. Seine Nägel sind kurz geschnitten, trotzdem klebt Dreck darunter. Nachdenklich fahre ich mir über die Haut an meinen Fingerspitzen und frage mich, wie es sein wird, ebenfalls welche zu besitzen.

»Schau, Lazael – dort vorn. Das Gebäude im Renaissance-Stil. Das ist es.«

Hell blitzt das Domizil auf. Nicht sonderlich hoch, doch ausladend weit; als würde es sich wie eine weiße Katze in der Parkanlage ausstrecken. Kurz verschwindet es aus meinem Sichtfeld, bis sich die Straße senkt und wir auf ein Gittertor zuhalten.

»1915 erbaut, im Namen eines Bischofs mit vatikanischen Wurzeln«, erklärt der Bildhauer. Wir halten vor dem Tor und der Maler kramt nach einem Türöffner, mit dessen Knopfdruck sich das zehn Fuß hohe Gatter quietschend aufschiebt. »Zehn Acre Land, das Herrenhaus hat tausend square yard …« Er bricht ab. »Aber was bedeuten diese Zahlen schon für dich?«

Damit hat er recht.

»Lass dir gesagt sein – für Menschen zählt es. Wir werden dich als reichen, italienischstämmigen Erben präsentieren, der von Übersee gekommen ist. Die Amerikaner stehen auf Europäer. Sie verbinden sie mit alter Kultur. Du sprichst Italienisch?«

»Sí, naturalmente.« Wir sprechen alle Sprachen. Schließlich waren wir dabei, als sie erfunden wurden.

»Mehr wirst du davon vermutlich nicht brauchen. Persauds Großeltern stammen aus Guyana. Sie spricht unseres Wissens nach nur Englisch und einige Brocken Spanisch.«

Ich lehne die schmerzende Schläfe gegen das Fensterglas. Das Vibrieren des Autos wandert mir durch den Leib. »Wieso beschäftigt ihr euch mit der Auserwählten? Ich dachte, ihr mischt euch nicht ins Spiel ein.«

Der Bildhauer zuckt mit den Achseln. »Das ist mit Azuriel abgesprochen. Er ist dein Berater auf Erden und für deinen Hintergrund verantwortlich. Aber natürlich werden wir dein Aussehen an deine vermeintliche Herkunft anlehnen.«

»Und mein Gegenspieler?«

»Dazu darf ich nichts verraten. Und ich werde es auch nicht. Wenn Sie spielen«, er weist gleichzeitig nach oben und unten, »unterhält es uns ebenfalls.«

Vorn stößt der Maler amüsiert die Luft aus der Nase. »Man könnte sagen, wir haben unsere eigene Wette laufen.«

»Ihr wettet gegen einen von uns?«

»Aber nein, nicht wirklich. Einer von uns setzt auf den einen Spieler, der zweite auf den anderen. Nachher lädt der Verlierer den Sieger auf eine Tasse Kaffee ein. Es ist nur ein Zeitvertreib. Wir beide gehören zusammen, daher gibt es keinen richtigen Sieger oder Verlierer bei uns.«

»Wenn es keinen Gewinner gibt, gibt es nur Verlierer«, behaupte ich.

»Ehrgeizig ist er«, kommentiert der Bildhauer. »Das hab ich bereits bemerkt. Verrate uns, Lazael – was hast du von der ganzen Sache?«

Fragend sehe ich ihn an.

»Was erreichst du, wenn du gewinnst?«

»Gott zu dienen und für ihn einen Sieg zu erringen ist Belohnung genug.«

»Jaja, … ihr balgt alle um seine Liebe. Aber vergiss nicht, wir sind schon lange hier, und wir kennen das Spiel. Für die Spielfiguren steht immer etwas auf dem Spiel. Was ist es bei dir?«

Ich richte den Blick nach vorn. Die Schatten der Baumkronen gleiten über uns hinweg. »Der Abstieg«, sage ich.

»Innerhalb der Engelsränge?«

»Ich weiß es nicht.« Unwohl rutsche ich hin und her. Ich bin das Sitzen nicht gewohnt, und die Fragen der beiden berühren mich unangenehm, weil ich keine Antwort darauf weiß. »Das war alles, was man mir gesagt hat.«

Der Bildhauer schweigt. Seine Finger regen sich auf seiner Latzhose, als spielte er Klavier. »So ist Er«, brummt er. »Nicht mit Zuckerbrot lockt Er, die Peitsche ist das Mittel seiner Wahl.«

Ich fühle mich bemüßigt, meinen Schöpfer zu verteidigen, doch der Maler drückt aufs Gas. Die Reifen schlittern durch den Staub, und der SUV bewegt sich mit einem Ruck voran. Als wir das Tor passieren, entdecke ich Engelsstatuen, die von den Kanten der Mauer emporragen, die das Gatter einfassen. So stellt sich der Mensch uns vor? Mit den speckigen Putten, die in goldene Trompeten pusten, haben wir wenig gemein. Wir werden nicht geboren, wir wachsen nicht – wir werden aus Licht erschaffen und sind da, existieren in immergleicher Form. Es sei denn, jemand wie der Bildhauer legt Hand an uns.

Das Auto schiebt sich eine Allee mit alten Zypressen entlang, deren schälende Rinde ihr rotbraunes Fleisch offenbart. Am Ende der Allee wartet geduldig das Domizil, fast sieht es so aus, als duckt es sich hinter den Bäumen.

Kaum nähern wir uns der Einfahrt, öffnen sich Tür und davor befindliches Gatter und ein Mann joggt die Stufen herab. »Da ist er schon«, stellt der Maler fest. »Pünktlich wie zum Messbeginn am Sonntag. Ich weiß nicht, ob du ihn wiedererkennst – oder ob ihr einander dort oben überhaupt begegnet seid.«

»Azuriel?«, hake ich nach.

Der Maler nickt zustimmend. Er parkt den Wagen in der großzügigen Einfahrt, die um eine begrünte Insel führt.

»Ist er nicht ein Kunstwerk?«, sagt der Bildhauer. »Als ich ihn gestaltete, dachte ich an einen jungen Brad Pitt.«

Ich spule meine Wissensbibliothek ab. Es ist traurig, dass Schauspieler aus Hollywood heute denselben Ruhm genießen wie die Apostel von damals.

»Keine Sorge.« Der Bildhauer bedenkt mich mit einem bärtigen Lächeln. »Auch du wirst ein beeindruckendes Erscheinungsbild erhalten. Allerdings denke ich da eher …« Sein graublauer Blick gleitet über mein Gesicht, meine Brust, in der mein Herz dank des Fahrtendes endlich zur Ruhe kommt. »Bei dir denke ich eher an eine Art kühlen, reservierten Charakter. Keanu Reeves trifft auf Johnny Depp, möglicherweise. Nun«, er kratzt sich an der Nase, »Johnny Depp, bevor er schlechte Presse gemacht hat.« Er lacht. Vermutlich hat er einen Witz erzählt, doch ich verstehe ihn nicht.

Er grinst so breit, dass seine Zahnreihen zum Vorschein kommen. »Du teilst den Humor deines Schöpfers.« Damit steigt er aus.

Brad ›Azuriel‹ Pitt nähert sich dem Auto. Er kneift die Lider zusammen. Der Bildhauer hat ihn nach dem hiesigen Schönheitsbild umgeformt, mit breiten Schultern, muskulösem Nacken, schlanker Hüfte. Die Beule an seiner Jeans verrät, dass er nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ein Geschlecht zugewiesen bekommen hat. Der Künstler hat Azuriels Kiefer verbreitert und ihm einige Fältchen eines Anfang-Dreißigers verpasst. Seine Haut trägt den Rest des himmlischen Glanzes in sich, doch hat sie mittlerweile auch menschliche Bräune angenommen. Augen hell wie der Himmel an einem Sommerabend. Sein Haar glänzt wie Gold. Die gerade Nase, die ausgeprägten Wangenknochen – sie bleiben ein Erbe des Himmels. Für Menschen wirken wir Seraphim unangenehm schön. Die beiden Künstler haben das Unangenehme ausradiert und einzig das Schöne übrig gelassen.

Ich streife über die Innenseite der Autotür, hasse die Ungeschicklichkeit, mit der ich nach einem Öffnungsmechanismus suche. Azuriel merkt es, doch statt mir zu helfen, stopft er die Hände in die Taschen seiner Tierhautjacke, als wollte er mich prüfen. Leder, verbessere ich mich. Lederjacke. Azuriel wirkt tatsächlich mehr wie ein moderner Star als ein Prediger Gottes.

Mit einem Klicken schnappt die Tür auf. Ich steige aus, das Gerippe meiner Flügel zerrt an meinen Schultern. Mit Geduld würden die Federn nachwachsen. So leicht sind Engelsschwingen nicht zu zerstören. Höllenfeuer vermag es, nicht aber der Fall aus der Sphäre.

Der Kies sticht in meine nackten Füße, als ich mich um unser Gefährt herum auf meinen Bruder zubewege.

»Azuriel«, stellt der Maler vor und lehnt sich gegen die geöffnete Autotür. »Wir haben Lazael vor knapp einer Stunde aus dem Atlantik gefischt.«

Zunächst reagiert mein Bruder nicht. Dann öffnet er den Mund. Ich erwarte, dass er mich begrüßen wird wie die Künstler, doch seine Stimmbänder erzittern unter einem himmlischen Wort. Wie ein Windstoß braust es aus seiner Kehle, schlägt die Autotür gegen den Maler, schüttelt die umstehenden Zypressen durch, lässt Vogelschwärme davonstieben und Dachschindeln klappern. Steinchen rollen über den Grund, als wollten sie fliehen.

Der Bildhauer und der Maler klatschen sich die Hände gegen die Ohren und sacken mit einem schmerzhaften Aufschrei in die Knie.

»Gott steh uns bei«, stößt der Bildhauer aus und reibt sich die Ohren. Pikiert guckt er auf die Fingerspitzen, reibt rote Farbe davon. Blut. Ist er tatsächlich so menschlich gebaut, dass ihm die Engelsstimme seine Grenzen aufweist? »Willst du, dass dich die Nachbarn hören?«

Jäh biegt Azuriel die Lippen zu einem Lächeln. Wir würden einander überall erkennen, wir Geschwister. Selbst wenn der Bildhauer uns in einen Stein verformen würde.

Unvermittelt löst mein Bruder die abwehrende Haltung und streckt mir die Hand entgegen. »Austin hier auf Erden. Austin Carter.« Ich ergreife seine, wie ich es gelernt habe, und schüttle sie. Azuriel hebt die Augenbraue. »Das müssen wir noch üben.«

Theorie und Praxis – es gibt Dinge, die man nicht durch Wissen allein lernen kann. Aber ich bin begierig, sie zu erfahren. Ich werde lernen, ich werde siegen, ich werde meinen Herrn mit Stolz erfüllen, und Er wird mich von diesem niederen Ort in den Himmel zurückholen. Genau wie Azuriel nach getaner Arbeit wieder unter Seine Fittiche zurückkehren darf.

Ich merke mir die Art, wie Azuriel meine Hand packt und zudrückt. Mit dem Daumen umfasst er meinen Handballen versichernd. Ich frage mich, ob sich meine Haut in Zukunft einmal so anfühlen wird wie seine – ein bisschen rau, weich und warm.

Menschlich.

»Lazael hat mich der Herr getauft«, stelle ich mich vor.

»Nicht länger. Jetzt heißt du Leonardo diVatta. Kurz Leo, klingt hübsch amerikanisch. Und diVatta als Anlehnung an den Vatikan.«

»Wieso nicht gleich Leonardo diVaticano?«

Er verdreht die Augen – wirkt dabei so menschlich. »Längere Geschichte. Eva Persaud ist nicht sonderlich gut auf die Kirche zu sprechen.«

Ich ziehe den Kopf zurück. »Wie?« Die auserwählte Mutter des Messias hat ein Problem mit der katholischen Kirche? Wie ist das möglich?

Azuriel wendet sich ab und weist mich mit der geübten Bewegung eines Anführers, ihm zur Haustür zu folgen. »Hält die Kirche für antiquiert und frauenfeindlich.« Aus seiner Jackentasche zieht er eine knisternde Packung. Als er etwas daraus hervorzieht und sich in den Mundwinkel steckt, erkenne ich mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen, dass es sich um eine Zigarette handelt. »Feministinnen«, schnaubt er und zündet den Tabak an. Grimmig pafft er. »Ich nehme an, dass Er deswegen nicht einfach mich auf sie angesetzt hat. Im Gegensatz zu mir bist du ein unbekanntes Gesicht – eine unbemalte Leinwand, die man frei nach Persauds Vorlieben schmücken kann. Meine verdammt gut aussehende Fratze glotzt nun mal sonntäglich von unzähligen Fernsehbildschirmen in ganz Amerika als Fernsehprediger der presbyterianischen Kirche.«

2

LAZAEL

Ich wundere mich, dass Azuriel nicht für die katholische Kirche predigt, nachdem er den Vatikan ins Spiel gebracht hat. Aber prinzipiell ist uns das alles gleich. Hauptsache, sie ehren den Einen Herrn.

Ich folge ihm über die wenigen Stufen zur Haustür, die mir einen Besuch des antiken Roms ins Gedächtnis rufen. Für mich scheint diese Erinnerung nur einen Katzensprung weit entfernt.

Ein überglaster Innenhof erwartet mich, ausgelegt mit blassen Ziegeln. Trotz des geschlossenen Dachs reckt ein Baum seine Zweige Richtung Sonne. Blumenbeete säumen die Wände, eine Sitzgruppe lädt zum Verweilen ein. Zögerlich setze ich einen Schritt nach dem anderen und merke, dass meine Füße Spuren auf den rosig weißen Ziegeln hinterlassen.

Schlagartig werde ich mir meines erbärmlichen Zustandes bewusst.

Azuriel, der zu einer weiteren Tür tänzelt, die ins Gebäudeinnere führt, registriert mein Zögern. »Laz?«, ruft er leger. »Setz dich hin. Ich gebe der Haushälterin Bescheid, dass der neue Herr angekommen ist.«

Ich blicke auf. »Ich sollte vermutlich zuvor den Schmutz entfernen.«

Azuriel schnippt den heruntergebrannten Stummel ins Blumenbeet. »Mach dir keinen Kopf, dafür ist die Haushälterin da.« Er tritt ein und wartet nicht, ob ich ihm folge.

Der Bildhauer wackelt über den Vorhof und lässt sich schnaufend auf einen weiß bezogenen Stuhl der Sitzgruppe fallen. Er streckt ein Bein aus. »Der Ischias«, schnauft er. »Quält mich seit fünfhundert Jahren.« Der Maler spaziert an seinem Partner vorbei, in seiner Hand baumelt ein Jutebeutel, aus dessen Öffnung Blattgemüse ragt. Im Vorübergehen tätschelt er die Schulter des anderen, beugt sich zu ihm herab. »Ich mache uns eine Minestrone«, verspricht er und drückt seine Lippen auf die des Bildhauers.

Es ist der erste Kuss, den ich auf Erden sehe. Und zugegebenermaßen hätte ich nicht damit gerechnet, dass er zwischen den beiden stattfindet. Noch dazu in diesen Gestalten.

Der Maler schlendert weiter und betritt durch eine andere Tür das Gebäudeinnere. Der Bildhauer bemerkt meinen Blick. Ich frage mich, wieso er lacht. Ist das Humor? Ich spule meine Wissensbibliothek ab, doch komme zu keinem fixen Ergebnis.

»Du wirkst verblüfft«, stellt der ältere Mann fest.

»Ich wundere mich nur.«

»Worüber?«

Tatsächlich brauche ich ein bisschen, um meinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen. »Ich weiß nicht, was genau ihr seid. Aber ich dachte nicht, dass ihr lieben könnt.«

Der Bildhauer lächelt nur.

»Außerdem«, füge ich an, »wundere ich mich, dass ihr die Gestalt zweier gleichgeschlechtlicher Wesen angenommen habt, wenn ihr doch Zuneigung teilt.«

»Wieso überrascht dich das?«

»Es ergibt für mich keinen Sinn. Zwei gleiche Pole zu wählen, wenn man sich auch für zwei Gegenpole entscheiden könnte, die zusammenpassen. Deswegen hat man mir auch das männliche Geschlecht zugewiesen. Denn Mann und Frau können in Liebe zusammenfinden und Kinder zeugen.«

Lange sagt der Bildhauer nichts. Und obwohl seine Miene Freude ausdrückt, ist sie mir unangenehm. Verspottet er mich?

Ich verlagere mein Gewicht von einem Bein aufs andere, die Flügelknochen kratzen mit einem irritierenden Geräusch über den Grund. Sein Grinsen ist derart penetrant, dass ich das Gefühl habe, eine Drohhaltung einnehmen zu müssen. Meine Schwingen zucken wie von selbst im Versuch, sich auszubreiten. Ich reiße mich zusammen und falte sie wieder ein. So, wie sie jetzt aussehen, besitzen sie ohnehin keine Macht.

»Was verstehst du schon von Liebe?«, sagt der Bildhauer.

»Ich liebe meinen Gott.«

»Du verehrst deinen Gott. Das sind zwei verschiedene Dinge.« Er kämpft sich auf die Beine. »Aber dazu bist du ja hier. Um Neues kennenzulernen. Um menschliche Züge anzunehmen und damit Jesu Nachfahrin für dich zu begeistern.« Er tritt an mich heran und ich widerstehe dem Drang, zurückzuweichen. Väterlich klopft er mir auf die Schulter, als wäre er der Priester, der mich Schäfchen führt. »Warum wir uns für diese Gestalt entschieden haben?«, sagt er leise. »Wieso nicht, frage ich dich? Ein Mann und eine Frau mögen Kinder zeugen können, doch Dinge erschaffen, das können auch wir.« Damit rutscht seine Hand von meiner Schulter und er folgt seinem Partner.

Eine Weile bleibe ich noch so stehen und denke nach. Dann folge ich Azuriel ins Hausinnere.

3

Das Anwesen ist winzig im Angesicht Gottes, doch gigantisch, wenn du dich wie eine Larve durch seine Adern bewegen musst. Ich lausche nach Azuriel – seinen Schritten, seiner Stimme. Alles, was ich vernehme, ist ein Gespräch zwischen den Künstlern sowie das blecherne Rauschen von Menschenmusik, die aus einer ihrer Musikanlagen stammt. Auf der Suche nach deren Ursprung tappe ich in den Westflügel.

Eine verhaltene Stimme mischt sich dazu – Azuriel. Der verzerrte Klang, den die Menschen Gesang nennen, übertönt seine Worte. Ich marschiere an einer weiteren Sitzgruppe vorüber, meine Fußsohlen schmiegen sich an glattes Holz. Durch einen Türbogen erscheint eine lichte Küche. Der Mensch hat verschiedenste Bedürfnisse zu befriedigen, die ihn vom Engel unterscheiden. Diese Bedürfnisse spiegeln sich in dem Inneren des Hauses wider wie Organe in seinem Leib. Er muss essen, also gibt es eine Küche. Die unverdaulichen Nahrungsreste müssen seinen Körper wieder verlassen, also gibt es einen Abort. Er schwitzt, also muss er sich waschen. Er wird müde, also schläft er, vorzugsweise in einem Bett. Praktischerweise pflanzt er sich dort auch häufig fort.

Ich gebe zu, auf diese Aspekte meines Hierseins könnte ich verzichten. Ich bevorzuge es, einfach zu existieren. Aber kein Spiel ohne Arbeit, kein Spiel ohne Opfer. Und für Ihn sind wir bereit, alles zu geben.

Ich tappe an die Küchentür heran und entdecke Azuriel. Er ist nicht allein. An der Küchentheke lehnt, die Ellenbogen auf dem Marmor abgestützt, eine Frau mit lila gefärbtem Haar. Sie schraubt an der Anzeige des plärrenden Radios, sieht Azuriel dabei nicht an, doch er betrachtet sie eingehend von hinten und spricht dabei auf sie ein. Seine Hand fährt unter ihren unchristlich kurzen Rock.

Diese Geste erschüttert mich. Azuriel ist kein Mensch, kein Mann. Er ist ein Engel.

Ist er doch?

Er klatscht ihr auf die Rückseite, das Geräusch lässt mich zusammenzucken.

»Mach schon«, sagt er lauter, sodass es den blechernen Radiolärm übertönt. »Lass unseren Spieler nicht im eigenen Dreck stehen.«

Das Mädchen stößt sich von der Küchentheke ab. Säuerlich verzieht sie den Mund. Kupferfarbene Haut, eine leicht gebogene Nase, große Katzenaugen. Sie hält auf den Ausgang zu – und entdeckt mich.

»Laz«, ruft Azuriel aus. »Darf ich dir die Haushälterin vorstellen, die dir jeden deiner Wünsche von den Lippen ablesen wird? Jezebel. Jez und Laz und Az – wir passen doch gut zusammen, findet ihr nicht?«

Isebel brachte ihren Gatten, Ahab von Israel, dazu, sich von dem einen Gott abzuwenden und stattdessen ihren phönizischen Göttern zu huldigen. Was für ein unheiliger Name für eine Haushälterin im göttlichen Domizil!

Misstrauisch kriecht mein Blick zu Azuriel, doch der grinst nur über beide Backen, ist sich keiner Schuld bewusst. Jezebel verbeugt sich stumm. Ihre Kleidung identifiziere ich als Schuluniform, obwohl sie sich nicht länger in einem Alter befindet, in der Menschen üblicherweise zur Schule gehen. An ihrem Hals klingelt etwas. Ein eisernes Halsband mit herzförmigem Schloss rahmt ihren Nacken. Sehen so Haushälterinnen aus? Wirkt nicht sonderlich praktisch auf mich.

»Jez, sieh zu, dass unser himmlischer Gast Bekanntschaft mit dem Gartenschlauch macht. Ich möchte, dass er glänzt wie Tafelsilber.«

Die junge Frau nickt. Dann trippelt sie an mir vorbei und weist mich an, ihr zu folgen.

Eine Weile sehe ich Azuriel an. Fragend hebt er die Augenbrauen. Ich werde ihn auf diesen Zwischenfall ansprechen müssen – aber nicht jetzt. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Die Künstler müssen so rasch wie möglich mit ihrer Veränderung beginnen, damit ich mich unter die Menschen mischen kann.

Die Haushälterin stellt mich unter eine Zypresse und braust mich von oben bis unten ab. Das Erste, was sie zu mir sagt, ist ein geflüstertes »Entschuldigung«, als sie sich mir mit Seife und Bürste nähert, um den Ruß von meiner Haut zu schrubben. Als sie bei meinen Beinen ankommt, schürzt sie die Lippen, behandelt die Stelle dazwischen jedoch wie jeden anderen Zoll meiner Haut. Von oben erkenne ich, dass auch ihre Wimpern violett sind.

Als ich zum Haus zurückkehre, schimmert mein Leib wie von Goldstaub überzogen in der Sonne. Meine Füße tauchen ins weiche Gras, Gänseblümchen kitzeln meine Zehen mit weiß-gelben Köpfen. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Meine zerstörten Schwingen spreizen sich. Jetzt fühle ich mich besser. Befreit vom Schmutz der Erde. Könnte ich, würde ich mit den Flügeln schlagen und mich in den Himmel schrauben wie einer der Vögel, die von einer Baumkrone zur nächsten flattern.

Ich höre Jezebels Schritte hinter mir. »Soll ich Euch Kleidung bringen, Herr?«, fragt sie, Bürste und Seife in den Armen.

»Kleidung?« Wozu?

Da verstehe ich. Sie ist ein Mensch, und in den meisten Teilen der Welt hat der Mensch gelernt, sich anzuziehen. Er schiebt es Adam und Eva und diesem verdammten Apfel zu, doch tatsächlich hat er selbst beschlossen, sich zu bedecken. »Keine Zeit«, sage ich, und meine Stimme biegt das Gras wie unter einem kreisförmigen Windstoß. »Die Künstler sollen unverzüglich mit ihrer Arbeit beginnen.«

Sie wieselt an mir vorbei und schlüpft vor mir ins Gebäude. Ich frage mich, wie sie zu dieser Arbeit gekommen ist, zu dieser Ehre, hier zu dienen. Es ist mir ein Rätsel, wie Azuriel dazu gekommen ist, diese Frau unsittlich zu berühren. Aber all diese Fragen hebe ich mir für später auf.

Der Bildhauer und der Maler erwarten mich. Auf einer Küchenplatte in ihrem Flügel brodelt eine Suppe im Topf. Der Geruch, der daraus aufsteigt, wirkt befremdlich auf mich, aber nicht unangenehm. Meine Aufmerksamkeit wird jedoch von dem Wagen in der Mitte des Raumes eingenommen. Er besteht aus brüchigen, beschlagenen Rädern, auf deren Achsen eine verbrauchte Platte angebracht ist. Der Bildhauer wischt sich die Hände mit einem Lappen und weist mich zu dem Gefährt. »Lazael«, sagt er, »bitte nimm Platz; dann beginnen wir mit deiner Transformation vom Seraphim zu Leonardo diVatta.«

4

Sein lockengerahmtes Haupt erscheint über mir. Aufmunternd lächelt mir der Bildhauer zu. Sofern ich Gefühle einschätzen kann, wirkt er nicht, als würde er mir unser letztes Gespräch nachtragen.

Jezebel zieht rundherum die Gurte fest.

»Ich möchte so rasch wie möglich unter Menschen«, teile ich ihm mit.

Mit einem Tuch reibt er sich die Hände. »Wir werden mit den offensichtlichsten Merkmalen beginnen – den Flügeln.« Ich wende den Kopf, wo der Maler in einem Suppentopf rührt und die freie Hand zum Gruß an die Schläfe führt. »Ein Stück deines Wesens in eine andere Dimension zu malen, ist nicht allzu leicht. Wir wollen ja nicht, dass du die Flügel für immer verlierst, sondern dass du sie wiedererlangst, wenn du deinen Sieg errungen hast. Der Prozess des Fortmalens ist jedoch mit Schmerzen verbunden.«

»Leid ist …«

»… ein Teil am Dienst Gottes, ich weiß. Das Gleiche hat dein Bruder gesagt, als wir ihn in Empfang genommen haben.«

Azuriel lehnt im Türrahmen, hebt einen Mundwinkel. All das hat er bereits durchgemacht.

»Als Nächstes müssen wir zusehen, dass sich dein Körper an die Bedingungen der Erde anpasst. In dieser Sphäre musst du atmen, essen und trinken, um deinen Leib wie eine Maschine zu befeuern. Es reicht nicht länger, nur zu existieren.«

Ich blinzle. Zuvor war das nie notwendig gewesen. Allerdings bin ich die letzten Male auf Erden stets nach kurzer Zeit in den Himmel zurückgekehrt.

»Versteh mich nicht falsch – du bist beständiger als ein Mensch. Kannst die Luft länger anhalten, kommst sicherlich eine Woche ohne Wasser, mehrere ohne Nahrung aus. Aber ganz ohne Sprit kannst auch du auf dieser Ebene nicht existieren. Abgesehen davon«, er zieht das karierte Tuch zwischen seinen Fingern lang, »liebt es der Mensch, gesellig miteinander zu speisen und zu trinken. Es gehört zur gesellschaftlichen Konvention, und du wirst dich ja anpassen wollen. Denk nur ans letzte Abendmahl; es hat den Beteiligten viel Freude bereitet.« Er legt mir das Tuch über die Augen.

»Was wird das?«, frage ich.

»Es ist besser so, glaube mir.«

Ich sehe nicht, was sie tun, aber kann es fühlen.

Schmerz hat etwas Reinigendes, Kathartisches an sich. Wenn ich als Engel nicht bereits ein vollkommenes Wesen wäre, könnte ich mich mit diesen Schmerzen aus der Hölle freikaufen.

Mir ist, als bräche der Maler mit jedem kühlen Pinselstreich ein Stück meiner Schwingen ab. Jetzt weiß ich, warum mich die beiden auf den Karren gegurtet haben.

Auf diesem glatt geschmirgelten Holz hat vor mir ein Dämon gelegen, schießt es mir durch den Kopf. Da drückt mir der Bildhauer die Klinge durch die Brust und schneidet mir den Rumpf bis zum Schambereich auf. Der Schmerz hüllt mich ein wie eine Feuerwolke. Ich bäume mich in den Gurten auf, will meine Schwingen spreizen, damit meine Fesseln sprengen, doch sie sind nicht länger mit meinen Rückenmuskeln verbunden. Ich spüre sie wie den Hauch einer Ahnung, der mir verrät, dass sie irgendwo noch existieren – dennoch überwältigt mich das Gefühl, in zwei Teile geschnitten worden zu sein. Mein gepeinigtes Brüllen, das den Deckenleuchter durchschüttelt, läuft in einem Winseln aus.

»Sagte dir, dieser Gehörschutz für Baustellen würde sich auszahlen«, kommentiert der Bildhauer.

»Was?«, erklingt die Stimme des Malers.

»Vergiss es.« Ich spüre seine rauen Hände an dem Loch in meinem Brustkorb hantieren. Meine Rippen knacken, als er sie mühelos aufbricht wie Fischgräten. Mein Herzschlag hallt frei im gesamten Raum wider. Atem streift mein Gesicht. Der Bildhauer schreit: »Bist du bereit?«

Ich verkrampfe die Stirn unter der Augenbinde, doch kriege kein Wort hervor.

Jemand packt meine Hand. Warm, versichernd. »Jezebel.« Azuriels Stimme ertönt dicht bei mir, mit dem Daumen streift er versichernd meinen Handrücken.

Schmale Finger ertasten meine andere Hand, verflechten sich mit meinen. Eine zweite legt sich darüber und drückt mich. Jezebel glüht förmlich. Vielleicht bin auch ich es, der kalt ist wie Marmor.

So viele Hände. Bis zum heutigen Tag haben mich noch nie welche berührt.

»Wir sind bei dir«, versichert Azuriel. »Nimm keine Rücksicht auf uns. Schrei, so laut du willst.«

Ich öffne zitternd den Mund. »… d-das Mädchen …«

»Nimm auf uns keine Rücksicht«, wiederholt Azuriel bestimmt.

Da greift der Bildhauer durch meine Bauchdecke in den Leib. Selbst wenn ich versuchen würde, die Schreie zurückzuhalten – sie ergießen sich aus meinem Mund. Sie müssen bis in den Vatikan zu hören sein.

Das erste Mal in meiner Existenz passiert die Notwendigkeit, dass ich erwache – denn bisher habe ich nie geruht. Irgendwann hat mich die Nacht verschluckt. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Bloß an satte, erleichternde Schwärze, die mich vom Leid erlöste.

Als ich wieder zu Bewusstsein komme, schaffe ich es kaum, die Lider voneinander zu lösen. Fahles Licht kitzelt mich. Ein eigenartiges Rauschen dringt durch die Fenster. Etwas anderes streift geräuschvoll über den Fliesenboden.

Angespannt hebe ich das Kinn an und merke, dass mein Leib abgedeckt ist. Ich muss an ein Leichentuch denken. Durch das halbrunde Fenster neben der Küchenzeile entdecke ich, dass Regen vom Himmel prasselt und Wind die Bäume durchschüttelt.

»Du hast uns ein grässliches Wetter herbeigerufen«, stellt der Bildhauer fest.

Das Rascheln hört auf. Ich drehe den Kopf, entdecke aber bloß die Haushälterin, die sich eine Art durchbrochenen Reifen mit Verdickungen von den Ohren zieht. Musik säuselt aus den Tellern an den Enden. Ich durchblättere meine Wissensbibliothek. Ah, ein Kopfhörer. Ein Kabel rankt sich davon zu einem Kästchen, das sie an ihrem Rock befestigt hat. Hinter dem Kunststofffenster drehen sich zwei Rädchen. Ein Walkman, stelle ich fest. Antiquiert für den heutigen Technikstand, der sich so sprunghaft ändert.

»Herr.« Sie knickst. »Wollt Ihr etwas trinken?«

Der Bildhauer erscheint an meiner anderen Seite. Ich stemme mich auf die Unterarme. In meinem Bauch sitzt ein dicker Klumpen. Ich reibe mir über das Abdomen.

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihm einen Ausgang zu verschaffen«, wendet der Bildhauer ein und schiebt meine Hand zur Seite, um mich abzutasten. »Sobald du das Bewusstsein verlierst, Lazael, ist Schluss.«

Mir schwindelt. Zumindest ein bekanntes Gefühl, wenn man äonenlang um Gottes Thron kreist. »Was bedeutet das?« Ich taste über die Muskeln, die unterhalb der Haut verlaufen. Plötzlich sinkt mein Finger ein. »Was …?« Ein Loch, in dem ein knubbeliger Knoten sitzt, verunstaltet meinen makellosen Leib.

Der Bildhauer beugt sich vor. »Das, mein Lieber, nennt man einen Bauchnabel. Er verbindet das ungeborene Kind mit der Mutter, um es bis zu dessen Geburt zu nähren.«

Natürlich weiß ich das. Doch mit dieser kleinen Veränderung wird mir plötzlich bewusst, was es eigentlich bedeutet, umgestaltet zu werden.

Ich fasse mir an den Rücken, taste fahrig über die Schulterblätter, ohne auf Widerstand zu stoßen. Instinktiv will ich die Schwingen spreizen, doch es gibt nichts, was länger mit der entsprechenden Muskulatur verbunden wäre. Ich durchforste meine Wissensbibliothek nach dem Gefühl, das mich überwältigt, doch meine Gedanken flimmern und entwinden sich meinen Versuchen, sie zu greifen.

Der Bildhauer packt meinen Arm. »Ruhig Blut, Lazael.« Merkwürdig bestimmt zieht er meinen Arm zu sich, legt die Fingerkuppen der mittleren drei Finger an die Innenseite meines Handgelenks. Er bewegt die Lippen, als würde er zählen. Er misst meinen Puls, erkenne ich. Und das Gefühl, das mich überwältigt: Panik.

Ich bin verändert. Unfertig.

Ich streiche mir über die Stirn und bemerke, dass sie nass ist. Verwundert betrachte ich meine Fingerspitzen.

»Schweiß«, erklärt der Bildhauer. »Dein Körper versucht auf diese Weise das Meerwasser loszuwerden, das du nach deinem Sturz in die Bucht verschluckt hast.« Er fährt über die Rippen meines Brustkorbs, betrachtet sie mit gerunzelter Stirn. »Du bist jetzt im Besitz von Speiseröhre und Magen. Bei der Formung der Nieren hast du das Bewusstsein verloren. Lass uns sehen, ob du stehen kannst. Jezebel wird dir deine Master Suite im Ostflügel zeigen. Ruh dich aus. Wir machen morgen weiter.«

Verbissen schüttle ich den Kopf. »Nein. Die Zeit läuft.« Die geöffneten Gurte klimpern, als ich mich abrupt zurücklege. »Mach weiter.«

»Lazael, bei derartigen Eingriffen darf man es nicht übertreiben. Ein Schritt nach dem anderen.«

»Mach mich fertig!«, rufe ich heftiger.

Der Bildhauer starrt mich aus hellen Augen an. Nebenan setzt Jezebel unangenehm berührt dazu an, den Boden zu kehren. Die Stimmung ist gewitterschwanger.

Ich wusste nicht, dass ich das Wetter beeinflussen kann. Allerdings hatte ich auch noch nie Schmerzen – und zornig war ich auch noch nie. Oder abhängig von jemand anderem – jemand anderem als meinem Herrn. Ich stiere den Bildhauer an.

»Lazael«, sagt er sanft. »Ich weiß, dass es in deiner Sphäre nur einen Flügelschlag benötigt, um dich hinzutragen, wohin du willst. Aber du bist nicht länger dort. Du musst lernen, dass dich nun deine Beine tragen – ein Schritt nach dem anderen; der Weg ist das Ziel.«

»Das Ziel ist das Ziel«, grolle ich so laut, dass der Küchenschrank scheppert. »Wo ist Azuriel? Wenn du nicht auf mich hörst, dann auf ihn.«

Ein Seufzen dehnt seine Brust. »Er ist zu Wendy’s gefahren. Unsere Minestrone sagt ihm nicht zu.«

»Wer ist Wendy?«

»Eine Fast-Food-Kette.«

Ich beiße die Zähne zusammen, die bisher ausschließlich zum Formen von Lauten dienten. Es knackt in meinen Ohren. Mein Bruder steckt voller Überraschungen.

»Wenn er es doch so wünscht«, merkt Jez mit leiser Stimme an.

Ich wende das Haupt. Sie steht ein paar Schritte entfernt, umklammert ihren Besenstiel und zuckt mit den Achseln. »Ich meine ja nur. Er ist der Spieler. Ich verstehe, dass er keine Zeit verlieren will. Sein Gegner ist sicher schon am Auftrag dran.«

Der Bildhauer seufzt erneut. »Nun gut. Ich habe meine professionelle Meinung kundgetan. Nicht meine Schuld, wenn niemand darauf hört.«

Dankbar nicke ich Jez zu. Sie lächelt vorsichtig.

5

Als ich das nächste Mal erwache, ruhe ich auf einer Wolke. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Bett mit gedrechselten Seitenteilen.

Jemand hat meine Hände wie zum Gebet auf meiner Brust platziert. Zögerlich löse ich sie voneinander und streiche über die helle Leinendecke. Es ist eigenartig, so zu liegen und nicht den Druck meiner Flügel im Rücken zu spüren. Ich vermisse sie schrecklich.

Ich setze mich auf, was sich auf der weichen Matratze als schwieriger herausstellt als zunächst angenommen. Mit einem hat der Bildhauer recht. Ich muss mich daran gewöhnen, mich nicht mehr frei in der Dreidimensionalität bewegen zu können. Wackelig komme ich auf die Beine und setze einen zögerlichen Schritt nach dem anderen.

Jemand hat mich angekleidet. Ich trage eine weiße Robe, die durch ein Band an meiner Hüfte gehalten wird. Nachdenklich fahre ich mir über die Brust, über den Bauch. Mein Inneres fühlt sich schwer an. Mir ist, als würde sich etwas darin bewegen; wie Kröten in einem Sack. Ich spüre Übelkeit aufkeimen, meine Beine tragen mich zur nächsten Tür, und als ich sie aufreiße, erscheint ein gekacheltes Zimmer. Ein Bad, erkenne ich.

Mein Blick bleibt kurz an der Gerätschaft hängen, die die Menschen Toilette nennen, und wandert angewidert weiter. Da, ein Waschbecken. Ungeschickt drücke und drehe ich, bis eine Bewegung unter dem gespiegelten Schrank einen Wasserstrahl auslöst.

Bevor ich meine Hand darunter ausstrecken kann, werfe ich einen Blick in den Spiegel. Es ist das erste Mal, dass ich mein eigenes Gesicht betrachte.

Ich kannte die Farbe meiner Augen nicht, die Form meines Mundes, meiner Nase, meines Kinns. Um ehrlich zu sein, hat es mich auch nie interessiert. Ich wusste, dass meine Geschwister fanden, ich sei der Schönste unter ihnen – aber was bedeutet das im Himmel? Wir alle tragen den Abglanz Gottes in uns.

Ein Fremder glotzt mir entgegen. Das soll ich sein? Hat mein Gesicht bereits bei meiner Ankunft so ausgesehen, oder hat der Bildhauer etwas daran verändert?

Ich entdecke, dass noch Ruß an meinem Kiefer klebt, und bücke mich über das Waschbecken, um ihn fortzuwischen. Dann forme ich mit meiner Hand eine Schale und fange Flüssigkeit auf. Ich beuge mich herab, um den ersten bewussten Schluck meines Lebens zu trinken.

Eiskalt rinnt mir das Wasser den Hals hinab – sucht sich seinen Weg wie ein Wurm durch ein Loch. In meinem Inneren zieht sich etwas zusammen. Mein Magen, vermute ich. Mir ist, als würde sich alles in mir bewegen, sich winden wie Schlangen. Ich stöhne auf und gehe in die Knie, schlage mir dabei die Stirn am Waschbecken an. Ich taste nach einem Sitzplatz und finde dabei ausgerechnet die Toilette. Jetzt erst verstehe ich, wieso es eine thronähnliche Form angenommen hat. Auf dem breiten Rand kauere ich und wippe vor und zurück, die Arme um den Bauch geschlungen. Ich flüstere das Wort Gottes, bitte um Seinen Beistand. Wieso quält Er seine Kinder damit?

»Herr?«, erklingt eine Stimme. Eine Gestalt schiebt sich vor die Badezimmertür. Die Haushälterin. »Herr, ist alles in Ordnung?«

Plötzlich kniet sie neben mir, ich sehe nur den kurzen karierten Rock und die nackten Knie. Mir schwindelt, und mein Gesicht prickelt.

»Ihr seid ganz schön grün um die Nase. Was ist denn los?«

»Ich … habe … Wasser …«, keuche ich, als es mich ein weiteres Mal durchschüttelt.

»Aber Herr!«, ruft sie aus. »Der Bildhauer muss Euch doch noch einen Ausgang schaffen!«

»A-Ausgang?«, ächze ich.

Ihr Gesicht verwischt unter meinem zittrigen Blick. Für einen Augenblick schneiden ihre Lippen ein Lächeln. »Was reinkommt, muss auch wieder raus«, behauptet sie. Dann fasst sie mich unter den Arm und stemmt mich mit überraschender Kraft in die Höhe.

Sie ist deutlich kleiner als ich, weswegen meine Achsel fest auf ihrer Schulter aufsitzt. Ich sehe nur ihren Scheitel. Ein ungewöhnlicher, fast schon herber Duft steigt mir in die Nase, als sie mich zum Waschbecken zerrt. Ich komme nicht dazu, mir weiter darüber Gedanken zu machen, denn sie platziert mich über dem Porzellan. Ich spüre ihre Hände an meinem Gesicht, doch die eigenartigen Empfindungen halten mich derart gefangen, dass ich nicht zurückweiche.

Ein weiter Krampf zieht alles in mir zusammen. Mein Stöhnen lässt die Schranktüren klappern. Ich erwarte, dass sie sich die Ohren vor Schmerz zuhält, doch möglicherweise trägt sie einen Gehörschutz.

»Koliken«, stellt sie fest. »Wie bei einem Baby. Schließlich habt Ihr Euren Darm noch nie benutzt.« Mit den Fingerknöcheln fährt sie eigenartig über meine Wange, ich kann das Gefühl nicht zuordnen, das die Berührung auslöst. »Alles wird gut, versprochen.«

Ich ächze, merke, dass die Feuchtigkeit durch den Wasserschluck einfach nicht aus meinem Mundraum schwindet. Ein Tropfen löst sich von meiner Unterlippe und dehnt sich zäh.

»Speichel«, erklärt sie. Plötzlich spüre ich ihre Hand an meinen Lippen. »Und das – das nennt man Kotzen.« Sie steckt mir zwei Finger in den Mund und rammt sie tiefer in den Hals.

6

Azuriel ruht auf einem Biedermeiersofa in einem rund fünfundzwanzig Schritt hohen Raum, dessen Zugang verzierte Säulen rahmen. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich eine hölzerne Empore, wie ich sie aus Kirchen kenne. Die wird wohl nur fürs Wäschetrocknen genutzt.

Auf dem Couchtisch vor meinem Bruder sammeln sich mehrere zerknautschte Packungen mit Wendy’s-Aufdruck. Ein penetranter Geruch steht in der Luft.

Mein Bruder zieht gelbe Schnitze aus einer Tüte und stopft sich diese in den Mund. Seine Aufmerksamkeit wird von einem Video eingenommen, das auf einem Laptop abläuft. Darin spricht zu meiner milden Überraschung – er selbst. Televangelist Austin Carter predigt von der Kanzel; die Welt sieht ihm dabei über flimmernde Bildschirme zu. Sogar er selbst.

Mein Bruder wirkt merkwürdig zufrieden. Meine Ankunft registriert er mit einem Seitenblick. »Lazarus«, stellt er fest. »Zurückgekehrt von den Toten. Wie war dein erstes Nickerchen auf Erden?«

Falls das Schlaf gewesen ist, kann ich nicht viel dazu sagen. »Wo ist der Bildhauer?«, frage ich. »Wir müssen die Transformation fortführen.«

Azuriel stopft sich Nahrung zwischen seine strahlend weißen Zähne. Seine Fingerspitzen glänzen vor Fett. »Mag sein, dass du keine Pause machen willst, aber das Umgestalten kostet die Künstler Kraft. Der Bildhauer pennt in einer Hängematte im überdachten Innenhof und der Maler geht dort seinem Hobby nach.«

»Seinem Hobby?«

Azuriel zuckt mit den Schultern. »Na, malen. Blumen und so ein Zeug. Stillleben.« Er sieht mich an. »Ist ganz passabel, aber ein neuer Monet wird er nicht.«

Ich blinzle irritiert. Wer hätte gedacht, dass der Maler tatsächlich malt.

Azuriels Blick streift mich mit vermeintlichem Desinteresse. »Ich sehe, Jez hat dich eingekleidet. Sie mag das. Blumen arrangieren. Torten verzieren. Einkaufen. Typisch Frau halt.«

Ich sehe an mir hinab. Nachdem sich mein Magen rückwärts entleert hat, hat mich die Haushälterin in Hemd und Hose gesteckt. »Bezüglich der Unterwäsche«, sagte sie,»reden wir, wenn dazu Notwendigkeit herrscht.« Sie hat mir zwar die Finger in den Hals gerammt, doch sie sieht mir nie in die Augen. Ich halte es für Ehrfurcht. Ehr-furcht. Ist es dasselbe wie Angst?

»Typisch Frau«, wiederhole ich verwirrt. »Was meinst du damit?«

Azuriel hält im Kauen inne. Mit einer abrupten Bewegung löst er seine nachlässige Position und rutscht mit den Beinen vom Sofarand. »Das wirst du schon merken. Komm. Ich verstehe, dass du’s eilig hast. Habe daher einiges für dich vorbereitet.« Er zieht den Laptop heran.

Ich lasse mich neben ihm nieder und studiere seine Bewegungen. Jeder Klick brennt sich in meine Wissensbibliothek ein.

Azuriels Videobild erstarrt und wird verkleinert. Er breitet darauf die Arme aus, ist klassischer gekleidet als jetzt, hat den Mund halb geöffnet. An seiner Wange klebt ein Mikrofon.

»Wie geht es dir damit?«, frage ich. »Das Wort Gottes auf diese Weise zu verbreiten?«

Überrascht sieht er mich an, bevor er sich durch die Programme klickt. »Das war meine Entscheidung. Der Mensch hat sich neue Helden gesucht, weißt du? Ein Narr wäre ich, das Potenzial ungenutzt zu lassen und wie ein verhutzelter Priester in leeren Kirchen zu predigen.«

Seine Worte fühlen sich an wie ein Hieb. Man könnte sie … blasphemisch nennen. Wie stark hat das Hiersein meinen Bruder verändert? Ich betrachte den Müll aus Fast-Food-Resten. Wie sehr ist er der Menschlichkeit verfallen?

Besteht die Gefahr, dass mir das auch passiert?

Nein, beschließe ich. So lange werde ich nicht bleiben. Ich führe meinen Auftrag aus und kehre wieder nach Hause zurück.

»Electric Church nennt sich diese Kirchenform«, erklärt er und öffnet auf seinem Computer ein Foto. Es zeigt eine Frau, die soeben ein glasummanteltes Gebäude verlässt. »Es bedeutet, als Kirche mit der Zeit, mit der Technik zu gehen. Aber egal ob modern oder nicht – es steht für alles, was Eva Persaud hasst.«

Überrascht straffe ich meine Haltung. Das ist sie also.

Eva Persaud, mein Ziel.

Sie trägt einen cremefarbenen Zweiteiler, Absatzschuhe, das dunkle Haar ist in zahlreiche Twists gedreht und zu einem Zopf gefasst. Kreolin, afroamerikanische, europäische und israelische Vorfahren, haselnussbrauner Hautton. Längliches Gesicht, ausdrucksstarke Brauen, eine Sonnenbrille in die Haare geschoben.

»Stylisch, hm?«, kommentiert Azuriel.

Fragend sehe ich ihn an.

»Persauds Großeltern mütterlicherseits sind aus Guyana in die USA eingewandert, haben sich dort hochgearbeitet. Ihre nächsten Vorfahren stammen aus dem Senegal, Gambia, Guinea-Bissau, Frankreich, den Niederlanden. In Folge, denkt man zweitausend Jahre zurück, nun …« Er fächert mit der freien Hand. »Wir wissen, von wem wir sprechen.«

»Jehoschua. Israel.«

Er nickt. »Damit ist sie eine direkte Nachfahrin des Messias, der das Judentum reformieren wollte und somit nebenbei das Christentum gründete.« Er schnalzt mit der Zunge. »Was Menschen mal so unbeabsichtigt passiert.«

Ich beuge mich vor, die Arme auf den Schenkeln abgestützt. »Kannst du das vergrößern? Ihr Gesicht, meine ich?«

Azuriel folgt meiner Aufforderung. Ich versuche, den Funken Gottes in ihren Augen zu finden, doch erkenne nur kantige Pixel. »Bist du ihr bereits begegnet?«

»Flüchtig. Auf einem gesellschaftlichen Anlass von Hershel Libowitz, dem amtierenden Bürgermeister von Doverport.«

»Und …« Ich schlucke. Dieser verdammte Wasser–Speichel will einfach nicht verschwinden! Er schmeckt bitter und macht, dass ich mich vor mir selbst ekle. Unangenehm berührt knete ich meine Hände. »Wie war es?«

Mein Bruder zuckt mit den Achseln. »Wurden einander vorgestellt, mehr nicht. Sie war in ihrer Position als Chefredakteurin des Reportagemagazins ECO anwesend. Und wie es aussieht, hatte sie keine Lust, mit einem Fernsehprediger zu plaudern, selbst mit einem mit diesem Gesicht.« Er lehnt sich zurück, breitet die Arme am hölzernen Sofarand aus. Nimmt Platz ein, als würde er seine Schwingen spreizen. Ob er sie ebenfalls vermisst? »Persauds Eltern haben in Washington den gesellschaftlichen Durchbruch geschafft; ihre Mutter war politisch aktiv, ihr Vater ist mit der Herstellung von Büroartikeln wohlhabend geworden. Persaud wuchs gutbürgerlich in Olympia auf, hat Fotografie und Critical Social Thought Studies am Mount Holyoke College studiert, einer liberalen Privathochschule für Frauen in Massachusetts. War politisch, feministisch und umweltaktivistisch unterwegs und ist danach als Fotografin um die Welt gereist. Sie begann ihre Bilder mit Reportagen zu ergänzen und hat als Freelancerin für diverse Zeitschriften gearbeitet. Unter anderem für die ECO