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Die radikale Botschaft des Herz-Sutra, eines der berühmtesten Texte des Buddhismus, ist ein Angriff auf alles, was uns lieb und teuer ist: unsere Schwierigkeiten, die Welt, wie wir sie kennen, und sogar die Lehren des Buddha selbst. In seinen Kommentaren führt Karl Brunnhölzl durch dieses "verrückte" Sutra zu der Weisheit und dem Mitgefühl, die seinen Kern ausmachen.
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Seitenzahl: 326
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.edition-steinrich.de
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Heart Attack Sutra. A new commentary on the Heart Sutra
Erschienen bei: Snow Lion, an Imprint of Shambhala Publ., Inc., Boston USA
© 2012 by Karl Brunnhölzl
By arrangement with Shambhala Publ., Inc., Boston USA
Textgrundlage dieses eBooks ist die gedruckte Version des gleichnamigen Titels.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright eBook: © 2014, edition steinrich, BerlinCopyright der deutschen Ausgabe: © 2014 edition steinrich, BerlinLektorat: Bernd Bender / Ursula RichardUmschlaggestaltung: Ingeburg Zoschke, BerlinTitelbild: © Marita Wiemer, www.marita-wiemer.deGestaltung und Satz: Traudel ReißDruck: Westermann Druck ZwickauPrinted in Germany
eBook-ISBN 978-3-942085-43-4
eBook-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
EINLEITUNG
DIE VERRÜCKTHEIT DES HERZ-SŪTRA
LEERHEIT BEDEUTET LOSLASSEN
Verankert darin, dass es keinen Grund und Boden gibt
Leerheit, Abhängiges Entstehen und Quantenphysik
DIE DREI LEHRZYKLEN DES BUDDHA
Das Unausdrückbare ausdrücken
Die Lehren als Schriften und Erkenntnis
PRAJÑĀPĀRAMITĀ – PERFEKTE, TRANSZENDENTE WEISHEIT
Das flammende Schwert Prajñās – scharfe, erhellende und mitfühlende Wissbegierde
Die Dame Prajñāpāramitā – Intuition umarmt Intellekt
Prajñāpāramitā als Grund, Pfad und Ergebnis
Die Prajñāpāramitā-Sūtren
Komplizierte Umkompliziertheit
Prajñāpāramitā als buddhistische Ketzerei
Pfade ohne Grund und Boden
Dreck, Seife und Wasser
Das Tun sein lassen
DERKOMMENTAR ZUM HERZ-SŪTRA
DIE BÜHNE UND DIE HAUPTDARSTELLER
DER TITEL
Transzendente Weisheitsdame voller Qualitäten
Das Herz der Mutter aller Buddhas
DER PROLOG
Die vorzügliche Zeit
Der vorzügliche Lehrer
Der vorzügliche Ort
Das vorzügliche Gefolge
Die vorzügliche Lehre
Avalokiteśvara – Leerheit mit einem Herz aus Mitgefühl
Mitgefühl in Aktion
Die Welt, wie wir sie kennen, nicht sehen
DER HAUPTTEIL DES SŪTRA
Śāriputras unschuldige Frage
Avalokiteśvaras nicht ganz so unschuldige Antwort
Die vierfache tiefgründige Leerheit
Sind Form und Leerheit zwei Dinge?
Der Mittlere Weg ohne eine Mitte
Alle Elemente unseres Körpers und Geistes sind wie Raum
Die achtfache Tiefgründigkeit
Die Drei Tore der Befreiung
Weitere Ansätze, trugbildhafte Phänomene aufzuteilen
Sogar Abhängiges Entstehen ist Leerheit
Der Untergang der Vier Edlen Wahrheiten
Es liegt auch keine Hoffnung in Prajñāpāramitā
Der durchlässige Vajra der Furchtlosigkeit
Darin ankommen, nirgends zu verweilen
Das Mantra – der letztendliche Sprung von der Klippe
Der Applaus des Buddha
DER EPILOG
EINE MEDITATION ÜBER PRAJÑĀPĀRAMITĀ UND DAS HERZ-SŪTRA
DAS SŪTRA DES HERZENS DER GLORREICHEN DAME PRAJÑĀPĀRAMITĀ
AUSGEWÄHLTE BIBLIOGRAFIE
Es gibt keinen Zweifel, dass das Herz-Sūtra der am häufigsten benutzte und rezitierte Text in der gesamten mahāyāna-buddhistischen Tradition ist, die bis heute in Japan, Korea, Vietnam, Tibet, der Mongolei, Bhutan, China, Teilen von Indien und Nepal und, in neuerer Zeit, in Amerika und Europa lebendig ist. Viele Menschen haben ganz unterschiedliche Dinge darüber gesagt, was das Herz-Sūtra ist und was es nicht ist, etwa, dass es das Herz der Weisheit sei, eine Beschreibung der Dinge, wie sie wirklich sind, die zentrale Lehre des Mahāyāna, das Konzentrat aller Prajñāpāramitā-Sūtren (das zweite Drehen des Dharmarades des Buddha) oder eine kurzgefasste Erläuterung der Leerheit. Bevor wir zu den Worten des Herz-Sūtra selbst kommen, mag es hilfreich sein, zuerst seinen Hintergrund in der buddhistischen Tradition wie auch die Bedeutung von prajñāpāramitā und »Leerheit« etwas näher zu beleuchten.
Kurz gefasst: Was wir mit Sicherheit über das Herz-Sūtra sagen können, ist, dass es vollkommen verrückt ist. Wenn wir es lesen, macht es keinerlei Sinn. Nun, vielleicht machen der Anfang und das Ende Sinn, aber alles dazwischen klingt wie eine ausgeklügelte Form von Unsinn. Das kann man als das grundlegende Merkmal der Prajñāpāramitā-Sūtren im Allgemeinen ansehen. Wer das Wort »kein« mag, mag vielleicht das Sūtra, denn »kein« ist das am meisten verwendete Wort – kein dies, kein das, kein alles. Wir könnten auch sagen, dass es ein Sūtra über Weisheit sei, aber es ist mit Sicherheit ein Sūtra über eine Art von verrückter Weisheit. Lesen wir es, klingt es irre, aber das ist in der Tat der Punkt, an dem der Weisheitsanteil ins Spiel kommt. Was das Herz-Sūtra (wie alle Prajñāpāramitā-Sūtren) tut, ist, alle unsere üblichen gedanklichen Bezugsrahmen, alle unsere starren Vorstellungen, alle unsere Glaubenssysteme und Bezugspunkte, auch die, die sich auf unseren spirituellen Weg beziehen, durchzuschneiden, auseinanderzunehmen und niederzureißen. Es tut dies auf einer sehr grundlegenden Ebene, nicht bloß in Bezug auf unser Denken und unsere Vorstellungen, sondern auch in Bezug auf unsere Wahrnehmungen: wie wir die Welt sehen, wie wir hören, wie wir riechen, schmecken, fühlen, wie wir uns selbst und andere sehen und emotional darauf reagieren usw. Dieses Sūtra zieht uns den Teppich unter den Füßen weg und lässt nichts, woran wir auch nur denken können, intakt, ebenso wenig wie vieles, was wir noch nicht einmal denken können. Das nennt man »verrückte Weisheit«. Ich möchte hier die Warnung aussprechen, dass dieses Sūtra gefährlich für Ihre saṃsārische geistige Gesundheit ist. Was Sangharakshita über das Diamant-Sūtra sagt, gilt gleichermaßen für alle Prajñāpāramitā-Sūtren, einschließlich des Herz-Sūtra:
… wenn wir darauf bestehen, dass die Erfordernisse des logischen Geistes zufriedengestellt werden, verfehlen wir den springenden Punkt. Was das Diamant-Sūtra uns tatsächlich bietet, ist keine systematische Abhandlung, sondern eine Reihe von Hieben mit einem Vorschlaghammer, von dieser und jener Richtung angreifend, um unsere grundlegende Verblendung zu durchbrechen. Es macht die Sache für den logischen Geist nicht einfach, die Dinge in eine logische Form zu bringen. Dieses Sūtra wird verwirrend, irritierend, ärgerlich und unbefriedigend sein – und vielleicht können wir nicht darauf hoffen, dass es anders sei. Wenn alles in einer ordentlichen und klaren Art und Weise dargelegt wäre, ohne offene Fragen zu hinterlassen, könnten wir in der Gefahr sein, zu denken, dass wir die Vollendung der Weisheit begriffen hätten.1
Eine andere Art und Weise, das Herz-Sūtra zu betrachten, ist, es als ein sehr verdichtetes Kontemplationshandbuch zu sehen. Es ist nicht nur ein zu lesender oder zu rezitierender Text, sondern seine Bedeutung soll in einer Weise kontempliert werden, die so detailliert wie nur möglich ist. Als Herz-Sūtra vermittelt es die Herz-Essenz dessen, was Prajñāpāramitā, die »Vollendung der Weisheit oder Einsicht«, genannt wird. Es ist sehr direkt, ohne sich mit Details aufzuhalten. Es ist mehr wie ein kurzes Memo dafür, alle Elemente unserer körperlichen und geistigen Existenz zu kontemplieren, und zwar aus der Perspektive, was wir jetzt sind, was wir werden, während wir auf dem buddhistischen Pfad voranschreiten, und was wir am Ende dieses Pfades erlangen (oder nicht erlangen). Wenn wir alle Details lesen wollen, müssen wir uns den längeren Prajñāpāramitā-Sūtren zuwenden, die sich auf ungefähr einundzwanzigtausend Seiten im tibetisch-buddhistischen Kanon belaufen – einundzwanzigtausend Seiten mit lauter »Keins«. Alleine das längste Sūtra in einhunderttausend Zeilen besteht aus zwölf dicken Bänden. Das Herz-Sūtra befindet sich sozusagen am unteren Ende der Skala, und das kürzeste Sūtra, das mein persönliches Lieblingssūtra ist, besteht aus nur einem Buchstaben. Es beginnt mit der üblichen Einleitung: »Einst weilte der Buddha in Rājagṛha auf dem Geierscharberg …« und so weiter, und dann sagte er: »A.« Das Sūtra endet damit, dass alle Götter und alle anderen Anwesenden jubilieren, und dann ist alles vorbei. Es soll Menschen geben, die tatsächlich die Bedeutung der Prajñāpāramitā-Sūtren durch das bloße Hören oder Lesen von »A« erkennen können.
Das Herz-Sūtra ist also ein Meditationshandbuch, und wir könnten auch sagen, dass es ein großes Koan ist. Aber es ist nicht nur ein Koan, es ähnelt vielmehr gewissen russischen ineinander geschachtelten Holzpuppen: Außen sieht man eine Puppe, aber dann gibt es darin eine kleinere und noch viele weitere kleinere Puppen in den folgenden. Ebenso sind alle Textstellen mit »kein« in dem großen Koan des Sūtra ihrerseits kleine Koans. Jede einzelne Aussage mit einem »Kein« ist ein unterschiedliches Koan im Hinblick darauf, worauf sich das jeweilige »Kein« bezieht, wie etwa »kein Auge«, »kein Ohr« usw. Es ist eine Einladung, darüber zu kontemplieren, was das bedeutet. »Kein Auge« und »kein Ohr«, das klingt sehr simpel und geradlinig, aber wenn wir ins Detail gehen, ist es das überhaupt nicht mehr. Mit anderen Worten, alle diese verschiedenen Textstellen mit »kein« bieten uns verschiedene Blickwinkel oder Facetten des Hauptthemas des Sūtra: der Leerheit. Leerheit bedeutet, dass die Dinge nicht so existieren, wie sie scheinen, sondern dass sie wie Trugbilder und Träume sind. Sie haben keine Natur, keinen auffindbaren Kern, der ihnen eigen wäre. Jede dieser Stellen lässt uns genau dieselbe Botschaft betrachten. Die Botschaft und ihre Betrachtung sind nicht wirklich verschieden, aber wir betrachten sie in Bezug auf verschiedene Dinge. Was bedeutet es, dass das Auge leer ist? Was bedeutet es, dass die sichtbare Form leer ist? Was bedeutet es, dass selbst Weisheit, Buddhaschaft und Nirvāṇa leer sind?
Aus einer traditionellen buddhistischen Sicht könnten wir sogar sagen, dass das Herz-Sūtra nicht nur verrückt, sondern bilderstürmerisch oder sogar ketzerisch ist. Viele Menschen haben gegen die Prajñāpāramitā-Sūtren opponiert, weil sie alle zentralen Lehren des Buddhismus selbst zusammenbrechen lassen, wie etwa die Vier Edlen Wahrheiten, den Edlen Achtfachen buddhistischen Pfad und Nirvāṇa. Diese Sūtren sagen nicht nur, dass unsere gewöhnlichen Gedanken, Emotionen und Wahrnehmungen ungültig sind und nicht wirklich so existieren, wie sie es zu tun scheinen, sondern dass dies für alle Vorstellungen und Bezugsrahmen philosophischer Schulen gilt – nichtbuddhistische Schulen, buddhistische Schulen und selbst für das Mahāyāna, die Tradition, zu der die Prajñāpāramitā-Sūtren gehören. Gibt es irgendeine andere spirituelle Tradition, die sagt: »Alles, was wir lehren, vergiss es einfach«? Das ist in etwa vergleichbar damit, dass der Chef von Microsoft PC-Benutzern vor ein paar Jahren öffentlich nahe legte, Windows Vista nicht mehr zu kaufen, sondern stattdessen direkt von Windows XP zu Windows 7 überzugehen. Im Grunde warb er dadurch gegen sein eigenes Produkt. Mit dem Herz-Sūtra ist es ähnlich, aber es sagt uns nur, was wir nicht kaufen, und nicht, was wir stattdessen kaufen sollen.
Kurz gesagt: Lesen wir das Herz-Sūtra zum ersten Mal, klingt es verrückt für uns, weil es immer wieder »kein, kein, kein« sagt. Kennen wir uns im Buddhismus aus, klingt es auch verrückt (vielleicht sogar noch mehr), weil es alles negiert, was wir gelernt haben und zu kultivieren versuchen.
Warum wird es »Herz-Sūtra« genannt? Es hat diesen Namen, weil es das Herz des Mahāyāna lehrt, und zwar hauptsächlich dessen Sichtweise. Die grundlegende Motivation des Mahāyāna ist jedoch auch implizit in diesem Sūtra enthalten, und zwar in der Figur von Avalokiteśvara, dem großen bodhisattva, der die Verkörperung der liebevollen Güte und des Mitgefühls aller Buddhas ist. Es ist das einzige Prajñāpāramitā-Sūtra, in dem Avalokiteśvara überhaupt auftaucht, und er ist sogar die Hauptperson. Somit lehrt das Herz-Sūtra Leerheit durch die Verkörperung des Mitgefühls. Es heißt oft, dass Leerheit das Herz des Mahāyāna sei und das Herz der Leerheit Mitgefühl sei. In den Schriften wird manchmal der Ausdruck »Leerheit mit einem Herz aus Mitgefühl« verwendet. Es ist wichtig, das niemals zu vergessen. Durch Avalokiteśvaras Anwesenheit im Text wird der Aspekt des Mitgefühls hervorgehoben und betont, dass wir diesen Aspekt nicht vergessen sollten. Lesen wir einfach nur all die »Keins« und werden dann nach dem »keinen Weg« des »keinen Selbst« und des »keinen Erlangens« süchtig, wird alles ein bisschen trocken oder deprimierend, und wir mögen uns fragen: »Warum tun wir das?« oder »Warum tun wir das nicht?« In der Tat ist die Herz-Essenz der Prajñāpāramitā-Sūtren und des Mahāyāna die Einheit von Leerheit und Mitgefühl. Betrachten wir die längeren Prajñāpāramitā-Sūtren, sehen wir, dass sie beide Aspekte in umfassender Weise lehren. Außer über Leerheit, sprechen sie auch detailliert über den Pfad, über die Art und Weise, wie liebevolle Güte und Mitgefühl zu kultivieren sind, wie bestimmte Meditationen auszuführen und wie die Pfade zu beschreiten sind. Sie sagen nicht immer nur »kein«, sondern stellen die Dinge manchmal auch in einem positiveren Licht dar. Selbst das Herz-Sūtra wartet kurz vor Ende mit einigen Passagen ohne »kein« auf.
Ohne ein weiches Herz und Mitgefühl zu entwickeln, die, als würden wir Wasser zugeben, unsere geistige Starrheit aufweichen, besteht die Gefahr, dass die Lehren über Leerheit unser Herz sogar noch mehr verhärten können. Wenn wir glauben, Leerheit zu verstehen, unser Mitgefühl dadurch aber nicht wächst oder sogar noch abnimmt, befinden wir uns auf dem Holzweg. Daher ist es für diejenigen unter uns, die sich als Buddhisten verstehen, gut und notwendig, Mitgefühl und bodhicitta in sich entstehen zu lassen, bevor sie dieses Sūtra studieren, rezitieren und kontemplieren. Alle anderen mögen sich mit irgendeinem Fleckchen Mitgefühl, das sie in ihrem Herzen finden können, verbinden.
Aus einer anderen Perspektive betrachtet, ist das Herz-Sūtra eine Einladung an uns, einfach loszulassen und zu entspannen. Wir können die Worte in diesem Sūtra, die mit einem »Kein« daherkommen, wie etwa »kein Auge«, »kein Ohr«, durch alle unsere Probleme ersetzen, wie etwa »keine Depression«, »keine Angst«, »keine Arbeitslosigkeit«, »kein Krieg« usw. Das mag zu vereinfachend klingen, aber wenn wir es tun und den Text tatsächlich zu einer Kontemplation darüber machen, was alle diese Dinge wie Depression, Angst, Krieg und Wirtschaftskrise wirklich sind, kann das sehr kraftvoll sein, vielleicht sogar viel kraftvoller als die ursprünglichen Worte des Sūtra. Normalerweise sind wir zum Beispiel nicht so sehr an unseren Augen interessiert, daran, ob sie wirklich existieren oder nicht. Eines der Grundprinzipien der Prajñāpāramitā-Sūtren in Bezug auf die Kontemplation der Bedeutung von Leerheit besteht darin, die Untersuchung so persönlich wie möglich zu machen. Es geht nicht darum, irgendwelche stereotypen Formeln zu rezitieren, ohne jemals zum Kern unseres eigenen Anhaftens an einer wirklichen Existenz der Phänomene, an denen wir offensichtlich kleben, vorzudringen – letztlich unser Anhaften an einem Ego. Das Herz-Sūtra sagt nicht »kein Selbst«, »kein Heim«, »kein Partner«, »keine Arbeit« oder »kein Geld«, aber das sind nun mal die Dinge, aus denen wir uns normalerweise viel machen. Um das Ganze daher relevanter für unser Leben zu machen, sollten wir diese Dinge einfügen. Das Herz-Sūtra gibt uns eine gute Vorlage dafür, wie wir Leerheit kontemplieren können. Die längeren Prajñāpāramitā-Sūtren fügen viele andere Dinge ein und sagen nicht nur »kein Auge«, »kein Ohr« usw. Sie enthalten endlose Listen aller möglichen Phänomene, und analog dazu sollten wir unsere eigene Liste der Phänomene, die unser persönliches Universum ausmachen, aufstellen und dann die Herangehensweise des Herz-Sūtra darauf anwenden.
Es gibt in mehreren der längeren Prajñāpāramitā-Sūtren Berichte darüber, dass unter den Zuhörern Menschen waren, die bereits bestimmte fortgeschrittene Stufen spiritueller Entwicklung oder Einsicht erreicht hatten, durch die sie von saṃsārischer Existenz und Leiden befreit waren. Diese Leute, die im Buddhismus arhats genannt werden, hörten dem Buddha zu, als er über Leerheit sprach, und reagierten darauf sehr unterschiedlich. Einige dachten: »Das ist verrückt, lasst uns gehen«, und sie gingen weg. Andere blieben, aber einige von ihnen erlitten einen Herzinfarkt, erbrachen Blut und starben. Sie waren anscheinend nicht rechtzeitig gegangen. Diese Arhats waren so schockiert von dem, was sie da hörten, dass sie auf der Stelle starben. Das ist der Grund, warum jemand kürzlich vorschlug, dass wir das Herz-Sūtra das Herzinfarkt-Sūtra nennen könnten. Eine andere Bedeutung des Namens könnte also sein, dass dieses Sūtra direkt zum Kern oder zum Herzstück der Sache vordringt, während es gnadenlos alle Ego-Trips angreift, die uns davon abhalten, zu unserem wahren Herzen zu erwachen. Wie auch immer, bis jetzt hat niemand, den ich kenne oder von dem ich gehört habe, davon einen Herzinfarkt erlitten, was die gute Nachricht ist. Die schlechte Nachricht ist aber, dass es wahrscheinlich auch niemand verstanden hat.
Das Herz-Sūtra und die anderen Prajñāpāramitā-Sūtren sprechen über viele Dinge, aber ihr grundlegendes Thema ist die fundamentale Tatsache, dass unsere Existenz keinen Grund und Boden hat. Egal was wir tun, egal was wir sagen und fühlen, wir brauchen nichts davon zu glauben. Es gibt rein gar nichts, woran wir uns festhalten könnten, und selbst das ist nicht sicher. Somit ziehen uns diese Sūtren den Teppich unter den Füßen weg und nehmen uns auch alle unsere Lieblingsspielzeuge fort. Wenn uns normalerweise jemand eines unserer geistigen Spielzeuge wegnimmt, dann finden wir einfach neue. Das ist einer der Gründe, warum viele Prajñāpāramitā-Sūtren so lang sind – sie listen alle Spielzeuge auf, an die wir nur denken können und sogar noch etliche andere mehr, aber unser Geist wird auch weiterhin neue ersinnen und neue ergreifen. Der wesentliche Punkt ist, dahin zu gelangen, dass wir tatsächlich aufhören, nach dem nächsten Spielzeug zu suchen und zu greifen. Dann müssen wir schauen, wie sich dieser Geisteszustand anfühlt. Wie fühlt sich unser Geist an, wenn wir nicht nach irgendetwas greifen, wenn wir nicht versuchen, uns selber zu unterhalten, und wenn unser Geist nicht außen sucht (oder wo auch immer), wenn also nichts übrig ist, wohin wir gehen könnten? Wenn wir mitten auf dem Meer sind, weit vom Land entfernt, und wir lassen einen Landvogel von unserem Schiff auffliegen, so kommt dieser Vogel nicht weit. Er wird immer zum Schiff zurückkehren, weil das der einzige Platz für ihn zum Landen ist. Ebenso versuchen unsere Gedanken und Emotionen immer irgendwo hinzugelangen, in den Himmel aufregender Dinge zu fliegen, aber sie können nicht wirklich irgendwo außerhalb unseres Geistes hingehen und werden schließlich immer wieder genau zu dem Geist, in dem sie entstanden sind, zurückkehren. Daher brauchen wir unsere Gedanken nicht festzunageln, sondern es ist in Ordnung, wenn sie sich bewegen. Selbst wenn sie sich weit weg bewegen, müssen wir uns keine Sorgen um sie machen, ihnen nachrennen oder eine Suchmannschaft losschicken. Es ist unvermeidlich, dass sie sich immer wieder im Geist niederlassen, also verlieren wir auch niemals irgendwelche Gedanken. Das bedeutet, dass wir nicht hinter ihnen herjagen oder sie zurückbringen müssen. Ganz grundsätzlich können wir niemals aus unserem Geist heraus, auch wenn wir manchmal das Gefühl haben mögen, »außer uns« zu sein. Wir können niemals aus unserem Geist heraustreten und schauen, wie die Welt außerhalb unseres Geistes ist. Die Prajñāpāramitā-Sūtren sprechen von dieser grundlegenden Erfahrung, zu unserem Geist, wie er ist, zurückzukehren, ohne irgendwo hinzugehen, ohne irgendetwas zu tun und ohne irgendetwas zu manipulieren. Es geht darum, unseren Geist einfach so sein zu lassen, wie er ist. Für gewöhnlich tun wir das nicht, sondern versuchen stattdessen immer wieder, unseren Geist dazu zu bringen, etwas zu tun.
Daher geht es bei der Leerheit um die Jetztheit aller Phänomene, darum, ohne ein Gefühl von soliden oder dauerhaften Dingen im gegenwärtigen Moment zu sein; es geht um die schiere Erfahrung des unendlichen Spiels des Geistes ohne irgendetwas, was wir bestimmen oder woran wir uns festhalten könnten.
Das Sanskrit-Wort für Leerheit ist śūnyatā. Eine der wörtlichen Bedeutungen von śūnya ist »leer«, eine andere »Null«. In der indischen Mathematik ist die Ziffer Null śūnya, aber diese Null unterscheidet sich sehr von der »Null« im Westen. Wenn wir an Null denken, denken wir schnell an »Nichts«, aber in Indien bedeutet der Kreis von śūnya »Fülle«, »Vollständigkeit« oder »Ganzheit«. Ebenso bedeutet »Leerheit« nicht »Nichts«, sondern vielmehr »Fülle« im Sinne von vollständigem Potential – alles kann in der Leerheit und wegen der Leerheit geschehen. Viele Menschen fragen sich, wie irgendetwas funktionieren kann, wenn nichts wirklich existiert. Nāgārjuna sagt jedoch, dass es genau deswegen funktioniert. Wenn alles eine wirkliche Existenz hätte, das heißt, in sich selbst und aus sich selbst heraus existieren würde und somit unveränderlich wäre, dann würden die Dinge von nichts bedingt sein. Aber dann könnten sie auch nicht in Interaktion treten, weil das eine Veränderung zur Folge hätte. Nur weil sich alles fortwährend verändert, sind Interaktion und Funktionieren möglich.
Die Wurzel des Wortes śūnya bedeutet »anschwellen«, was die Vorstellung von Hohlheit impliziert. Die Phänomene der scheinbaren Wirklichkeit muten wirklich an, während sie jedoch tatsächlich leeren Luftballons ähneln, die nur durch unsere Unwissenheit aufgeblasen sind. Durch unsere Unwissenheit blasen wir eine Menge Nichtse zu sehr großen Etwassen auf. Wenn sie anschwellen, ist das der Kreis oder der Ballon von śūnya. Śūnyatā bezeichnet somit nicht Nichts, sondern die Tatsache, dass alles aus dem unendlichen Raum der Phänomene kommt, in dem nichts festgelegt ist, aber in dem alles geschehen kann. In diesem Sinne steht śūnyatā für das vollständige Potential des Entstehens aller Dinge, und es bedeutet auch abhängiges Entstehen. Alles, was wirklich zu sein scheint, ist nur wie ein aufgeblasener Luftballon – eine Menge heißer Luft und nicht viel mehr, wenn überhaupt etwas. Solange unsere scheinbare Wirklichkeit nicht hinterfragt wird, scheint sie irgendwie in Ordnung zu sein, aber wenn wir über Leerheit nachdenken und meditieren, werden all die Luftballons, mit denen wir uns normalerweise vergnügen, zerstochen und als das enthüllt, was sie wirklich sind, nämlich nichts als heiße Luft.
Wenn wir die Idee der Null in der Mathematik betrachten, wenn wir isoliert eine Null anschauen, scheint sie nichts zu sein, aber viele Nullen, die auf andere Ziffern fofgen, bedeuten eine Menge, wie etwa »100«, »1.000« oder »1.000.000.000«. Dies zeigt, dass unendliche Mengen aus der Null hervorgehen können. Sie ist also nicht bloß nichts. Ebenso ist Leerheit nicht »nichts«, was in vielen buddhistischen Texten immer und immer wieder betont wird. Sie ist jedoch auch kein »Etwas«. Normalerweise denken wir, wenn ein bestimmtes Phänomen nicht etwas ist, dann muss es nichts sein, und wenn es nicht nichts ist, muss es etwas sein. Aber das Wort »Leerheit« soll lediglich auf die Tatsache verweisen, dass eine Sache, dieses Etwas, durch das, was wir darüber sagen oder denken, nicht wirklich in korrekter Weise charakterisiert wird, weil unser dualistischer Geist sich immer in dem einen oder anderen Extrem verfängt. Leerheit bedeutet, außerhalb unserer festgefahrenen Bahnen zu denken, also außerhalb der eingespielten Bahnen unseres Schwarz-Weiß-Denkens oder dualistischen Denkens. Solange wir auf dem bekannten Terrain dualistischen Denkens bleiben, gibt es immer Existenz, Nichtexistenz, Unvergänglichkeit, Auslöschung, gut und schlecht. Innerhalb dieses Bezugsrahmens werden wir niemals darüber hinausgelangen, egal, ob wir religiös, eine Wissenschaftlerin, ein Buddhist, eine Agnostikerin oder was auch immer sind. Leerheit fordert uns auf, ganz und gar aus diesem Terrain herauszutreten. Sie verweist auf die radikalste Transformation unserer gesamten Anschauungen über uns selbst und die Welt. Leerheit bedeutet nicht nur das Ende der Welt, wie wir sie kennen, sondern dass diese Welt von vornherein niemals wirklich existiert hat. Verstehen wir wirklich, was das bedeutet, ist das so erschreckend, dass wir durchdrehen oder wie diese Arhats einen Herzinfarkt erleiden könnten. Natürlich nicht notwendigerweise, denn es gibt auch Berichte von Menschen, die es tatsächlich verstanden und keinen Herzinfarkt hatten. Nichtsdestotrotz ist die Tatsache, dass wir keinen Grund und Boden unter den Füßen haben, überaus furchterregend, weil es alles infrage stellt, was wir sind und was wir denken.
In gewisser Hinsicht haben die Lehren über die Leerheit viele Parallelen zur Quantenphysik. Quantenphysiker sagen uns, dass es nicht wirklich eine Welt »da draußen« gibt. Tatsächlich gibt es da nicht viel, wenn überhaupt etwas. Sie suchen immer noch nach etwas, weil es besser klingt und wir dann keine Angst haben müssen, dass es wirklich überhaupt nichts gibt, an dem wir uns festhalten können. Wenn Physiker über ein Quantenfeld sprechen, besteht es fast gänzlich aus Raum, in dem sich ein wenig Energie befindet, jedoch keine Teilchen. Zwar sprechen sie unter Umständen gelegentlich von »Teilchen«, aber dieser Ausdruck bezieht sich nicht mehr auf irgendeine Art von Substanz, sondern nur auf statistische Wahrscheinlichkeiten von Beziehungen. Dies entspricht dem, worum es bei der Leerheit geht, nämlich, dass es überhaupt kein einziges Phänomen gibt, das unabhängig und eigenständig existiert. Die Beschreibung eines Quantenfelds gleicht sehr der Formel »Form ist Leerheit. Leerheit ist Form. Leerheit ist nichts anderes als Form, und Form ist nichts anderes als Leerheit« im Herz-Sūtra. Alles steht miteinander in Wechselbeziehung und verändert sich dauernd, in jedem Augenblick, ist aber völlig ungreifbar.
Nach den Erkenntnissen der Quantenphysik verändert sich, wenn sich bei einem Teilchen eines Teilchenpaars etwas verändert, zum Beispiel der Spin, auch das andere Teilchen, selbst wenn es sich am entgegengesetzten Ende des Universums befinden mag. Das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit ist also nicht auf einen bestimmten Bereich oder ein bestimmtes Gebiet im Raum beschränkt; es ist tatsächlich unendlich und alldurchdringend wirksam. Der Buddha sagte dasselbe, indem er Abhängiges Entstehen als unendliches Geflecht von Ursachen und Bedingungen bezeichnete. »Ursachen und Bedingungen« beziehen sich nicht auf kleine Dinge, die sich umeinander drehen und sich irgendwie verhalten, denn wenn wir näher hinsehen, kann keines von ihnen wirklich gefunden werden. Solange wir alle diese Ursachen, Bedingungen und ihre Resultate nicht analysieren, scheint alles gut zu funktionieren (zumindest die meiste Zeit). Werfen wir aber einen tieferen Blick darauf, wie die Dinge tatsächlich funktionieren oder was die Dinge tatsächlich sind, wird es sehr verschwommen. Das gleiche Phänomen findet sich auch in der Quantenphysik – je intensiver die Physiker hinschauen und je mehr Elementarteilchen sie finden, desto kleiner und unfassbarer werden diese Teilchen, bis sie nicht einmal mehr als »Teilchen« bezeichnet werden können. Die Physiker verwenden bloß Namen und Beschreibungen für einen fortwährenden Prozess, was diesen, der unvorstellbar ist und sich immerzu verändert, in gewisser Weise zu etwas gefriert, was ein bisschen greifbarer ist, wie etwa mathematische Gleichungen oder Formeln. Das ist damit vergleichbar, wenn der Buddha aus der Perspektive der Leerheit sprach und er die Formel »Form ist Leerheit. Leerheit ist Form« verwendete. Ganz grundsätzlich können wir niemals wirklich exakt beschreiben, was geschieht. Wir können den Prozess im Labor beobachten und »Wow!« sagen, aber das ist es dann auch schon so ziemlich. Später versuchen wir dann auszudrücken, was geschehen ist, genauso wie es der Buddha tat, als er seinen Schülerinnen und Schülern beschrieb, wie die Dinge sind, wenn sie aus der Perspektive des Erwachens zur wahren Realität gesehen werden.
Die Erleuchtung des Buddha war wie dieser »Wow!«-Moment in einem Labor, und zuerst wollte er zu niemandem darüber sprechen. Gemäß dem Lalitavistarasūtra sprach er daraufhin spontan diesen Vers:
Ich habe diesen nektargleichen Dharma gefunden,
Tiefgründig, friedvoll, frei von Bezugspunkten, leuchtend und nicht bedingt.
Wem auch immer ich dies lehren würde, er oder sie könnte es nicht verstehen.
Deshalb werde ich einfach stumm in der Mitte des Waldes verweilen.2
Und das tat er dann auch eine ganze Weile lang; offenbar nahm er an, dass niemand verstehen werde, worin seine Erkenntnis der wahren Natur des Geistes bestand. Später jedoch wurde er von anderen ermutigt zu lehren, und tat dann auch die verbleibenden fünfundvierzig Jahre seines Lebens nichts anderes als das. Das mag merkwürdig erscheinen – wie konnte er fünfundvierzig Jahre lang etwas lehren, was sowieso niemand verstand? Der Buddha sagte zwar, dass seine Erkenntnis der Natur des Geistes in der Tat unausdrückbar und unvorstellbar sei, aber das bedeutet nicht, dass sie vollkommen unzugänglich ist – und das ist ein großer Unterschied. Sie ist unvorstellbar, aber es gibt dennoch einen Pfad, der uns schließlich die gleiche Erkenntnis erfahren lässt. Sie ist dann zwar immer noch unvorstellbar, aber unsere Erfahrung davon ist ebenfalls unvorstellbar. Er besaß diese Einsicht, aber auch das unendliche Mitgefühl und die Fähigkeit, anderen tatsächlich zu zeigen, wie geistige Freiheit zu erreichen ist, und so lehrte der Buddha das, was nicht gelehrt werden kann. Wir können den Geschmack von köstlichem Essen ja auch nicht erfahren, indem wir nur darüber reden oder davon hören. Es kann uns jedoch inspirieren, ein köstliches Essen zu kochen, um den Geschmack zu erfahren. Vielleicht werden wir ja genauso inspiriert, den Geschmack der Erleuchtung zu erfahren, ohne die Worte mit dem zu verwechseln, worauf sie sich beziehen.
Der Buddha erkannte, dass es Wege gibt, sein Erwachen zu kommunizieren. Alle diese Wege sind indirekte Unterweisungen, aber wenn wir ihnen folgen, können wir tatsächlich erkennen, was der Buddha gesehen hat. Der indische buddhistische Dichter Aśvaghoṣa sagte dazu:
Wir gebrauchen Worte, um frei von Worten zu werden,
Bis wir die reine wortlose Essenz erreichen.
Somit sind die buddhistischen Lehren so etwas wie Finger, die auf den Mond zeigen. Aber wenn wir nur auf die Finger blicken, werden wir nie den Mond sehen. Fünfundvierzig Jahre lang zeigte uns der Buddha immer wieder andere Finger, die immer auf denselben Mond deuteten, der nichts anderes als die wahre Natur unseres Geistes ist. Der Buddha benutzte so viele Finger, weil wir den Mond vielleicht übersehen hätten, wenn er nur mit einem einzigen Finger auf ihn gezeigt hätte. Wenn aber viele Personen mit vielen Fingern aus allen möglichen Richtungen auf den Mond deuten, kann man ihn nicht so leicht übersehen. Daher gab der Buddha viele verschiedene Unterweisungen, die alle wie Finger sind, die aus unterschiedlichen Richtungen deuten. Da sie aus unterschiedlichen Richtungen deuten, sagten natürlich manche Menschen: »Das ist genau das Gegenteil von dem, was er früher gesagt hat.« Das ist wahr, aber er deutete einfach nur aus einer anderen Richtung auf genau denselben Mond. Es ist, als würde man zwei Personen nach dem Weg zum Weißen Haus fragen, wobei eine links und die andere rechts davon steht. Die erste Person wird nach rechts deuten und die zweite nach links. Wenn wir denken, dass eine von ihnen Unrecht hat oder sie sich widersprechen, übersehen wir das, worum es hier geht (und das Weiße Haus).
Als kurzer Abriss im Hinblick darauf, was in der Lehrlaufbahn des Buddha geschah, bevor er das Herz-Sūtra lehrte, sollte erwähnt werden, dass er laut der Mahāyāna-Tradition drei Lehrzyklen lehrte, die »Dharma-Räder« genannt werden. Dies ist eine Unterteilung, die sich auf den Inhalt bezieht und nicht auf die zeitliche Abfolge. Der Buddha sprach zuerst über die grundlegende Befindlichkeit des Menschen, jene Lehren, die als die Vier Edlen Wahrheiten bekannt sind. Am Anfang gab er Belehrungen über das, womit wir uns vornehmlich beschäftigen – Leiden. Dann sprach er über die Ursachen des Leidens oder den Ursprung des Leidens. Danach lehrte er, dass wir tatsächlich unser gesamtes Leiden und seine Ursachen beenden können, was die Dritte Wahrheit, die von der Beendigung des Leidens, ist. Die Vierte Edle Wahrheit beschreibt den Pfad, die Methoden, um die Beendigung des Leidens zu erreichen. Der Buddha sprach zu Beginn also nicht über die Leerheit, das heißt, er lehrte die Prajñāpāramitā-Sūtren nicht am Anfang. Es ist ziemlich offensichtlich, warum er das nicht tat – es hätte keinen Buddhismus gegeben. Wenn er das Herz-Sūtra von Anfang an gelehrt hätte, hätten die Menschen einfach nur gesagt: »Bist du verrückt?« und wären gegangen. Stattdessen versuchte der Buddha, den Weg zu tiefgründigeren Einsichten, wie etwa die Leerheit, dadurch zu ebnen, dass er die Vier Edlen Wahrheiten lehrte. Das heißt, dass er uns Menschen zuerst über unsere grundlegende Situation unterrichtete. Mehr oder minder teilen wir alle die Erfahrung des Leidens, aber die meisten Menschen versuchen, ihr Leid zu ignorieren oder es beiseite zu schieben. Darüber hinaus sind sie unwissend bezüglich der Ursachen des Leidens, darüber, dass es ein für alle Mal beendet werden kann, und sie kennen nicht die Mittel, es zu beenden. Dies sind die ersten Lehren des Buddha, die er im Antilopenhain in Sarnath in Indien verkündete. Seine erste Lehrrede richtete sich nur an fünf Personen, nämlich seine früheren Weggefährten in asketischen Praktiken, bevor er sich unter den Bodhi-Baum gesetzt und Buddhaschaft erlangt hatte. Es heißt, dass diese ersten fünf Schüler des Buddha ihre Befreiung aus Saṃsāra (Arhatschaft) allein dadurch verwirklichten, dass sie seine Unterweisung über die Vier Edlen Wahrheiten hörten.
Im zweiten Zyklus der Lehren des Buddha findet sich dann das Herz-Sūtra. Dieser Zyklus besteht aus den Prajñāpāramitā-Lehren und wird das »Dharma-Rad der Merkmalslosigkeit« genannt. Diese Unterweisungen erteilte er auf einem Berg in Indien, dem »Geierscharberg«, der sich in der Nähe von Rājagṛha im heutigen Bihar befindet. Zu Zeiten Buddhas war diese Stadt der Sitz eines mächtigen Königs, eines Freundes und Gönners des Buddha. Als Buddha Śākyamuni den zweiten Zyklus seiner Unterweisungen lehrte, gab es eine riesige Zuhörerschaft; die Sūtren sprechen von tausenden von Mönchen und tausenden von Bodhisattvas sowie von vielen nichtmenschlichen Wesen, Götter etwa und andere Nicht-Erdenbewohner.
Sollten Sie jemals die Gelegenheit haben, den Geierscharberg aufzusuchen, so ist es die Reise wert. Wenn es irgendeinen Ort auf der Welt gibt, an dem wir durch unsere bloße Anwesenheit einen flüchtigen Blick auf die Leerheit erhaschen können, dann dort. Das ist natürlich nur meine Projektion, aber ich fand den Platz sehr beeindruckend und wollte ihn nicht wirklich verlassen; es fühlte sich dort so an, als wäre man aus Zeit und Raum herausgetreten.
In diesem zweiten Lehrzyklus spricht der Buddha vor allem über śūnyatā – dass nichts so ist, wie es scheint. Zugleich lehrte er aber auch Mitgefühl, denn dem Buddha zufolge leiden die Wesen aufgrund ihres Anhaftens daran, dass die Dinge so existieren, wie sie erscheinen. Sie greifen nach Luftschlössern, die niemals ihren Wunsch nach Glück erfüllen können. Sie müssen also aufwachen, sehen, was tatsächlich da ist, und in einer erfolgversprechenderen Art und Weise nach Glück streben. An diesem Punkt kommt Mitgefühl ins Spiel, denn der Buddha, der erkennt, wie die Dinge tatsächlich sind – dass die Wesen nur deshalb leiden, weil sie an nichtexistenten, täuschenden Erscheinungen festhalten –, will selbstverständlich darauf hinweisen, dass dieses Leiden nur auf einer falschen Wahrnehmung beruht und völlig unnötig ist. Letztendlich ist saṃsārisches Leiden nur ein Irrtum, wie der Fehler in einem Software-Programm – es sollte nicht passieren, geschieht aber trotzdem. Das ist der Grund, warum der Buddha fünfundvierzig Jahre lang lehrte. Er sah zwar, dass er nicht wirklich mitteilen konnte, was er erfahren hatte, konnte es aber nicht ertragen, die in ihr Leid versunkenen Wesen zu sehen – was, wenn wir sehen, wie die Dinge tatsächlich sind, völlig unnötig ist und behoben werden kann. Daher sind die zwei zentralen Punkte, die der Buddha im zweiten Zyklus lehrte, Leerheit und Mitgefühl.
Im dritten Zyklus lehrte er ebenfalls Leerheit und Mitgefühl, aber zusätzlich sprach er über das, was »Buddha-Natur« genannt wird. Buddha-Natur ist nicht wirklich etwas anderes als Leerheit, aber der Begriff bezieht sich mehr auf die subjektive Seite, darauf, Leerheit tatsächlich zu erfahren oder zu leben und sie nicht einfach nur als Objekt oder Vorstellung zu begreifen. Mit anderen Worten, Buddha-Natur bezeichnet die Leerheit unseres eigenen Geistes – die Natur unseres eigenen Geistes, seine Leerheit und gleichzeitige Klarheit, Leuchtkraft, Bewusstheit und Wachheit. Der dritte Zyklus unterscheidet auch zwischen dem, was in den Lehren des Buddha von vorläufiger Bedeutung und was von letztendlicher Bedeutung ist. Somit schafft der dritte Zyklus Klarheit über all die Fingerzeige, wie etwa, ob ein bestimmter Finger in diese oder jene Richtung zeigt, damit wir sie nicht verwechseln oder als widersprüchlich betrachten.
Die allgemeine Definition eines »Dharma-Rades« ist »die Lehren des Buddha, bestehend sowohl aus Schriften als auch aus Erkenntnis, welche die Faktoren im Geistesstrom der anzuleitenden Wesen, welche die Befreiung aus Saṃsāra und die Allwissenheit eines Buddha verschleiern, beseitigen«. Somit hat ein solches Dharma-Rad oder solch ein Lehrzyklus zwei Aspekte – der Dharma der Schriften und der Dharma der Erkenntnis. Dabei wird der Dharma der Erkenntnis definiert als »die Wirklichkeit der gereinigten Phänomene, die dadurch erzeugt werden, dass man vertraut geworden ist mit dem Geisteszustand, der die Phänomene gründlich unterscheidet«. Dieser Dharma besteht also aus der Beendigung des Leidens und dem Weg, der dorthin führt. Der Dharma der Erkenntnis ist das, worum es wirklich geht – er bezieht sich darauf, dass unser Geist tatsächlich der Geist eines Buddha wird, indem wir durch Schriften, mündliche Unterweisungen, Video-Dharma oder nichtverbale Symbole unterrichtet werden. Daher ist der wichtigere Dharma der Dharma der Erkenntnis, er bedeutet, das Gleiche zu erfahren oder zu sein, was der Buddha erfahren hat.
Interessanterweise wird die Natur des Dharma-Rades der Schriften definiert als »der Geist eines Schülers, einer Schülerin, der entweder in der Form der Rede eines Buddha erscheint (deren Hauptthemen entweder die Ursachen, die Resultate oder die Natur des Nirvāṇa sind) oder eben jener Geist, der als die Ansammlungen von Namen, Worten und Buchstaben erscheint, welche als die Grundlage für eine solche Rede dienen«. Natürlich ist dies in hohem Maße eine Definition aus der Perspektive der Leerheit oder der relativen, subjektiven Natur aller Dinge. Sie besagt nämlich nicht, dass es irgendwelche realen materiellen Texte oder Lehren »da draußen« gibt, irgendwelche äußeren Buddhas, die uns lehren, oder irgendwelche materiellen Laute, die von außen an unser Ohr dringen. Wie alles andere auch findet die Lehrsituation im Grunde nirgendwo anders statt als in unserem eigenen Geist. Es ist unser eigener Geist, der die Form der Texte, Laute, Buddhas und ihrer Unterweisungen annimmt und uns als solche erscheint. Er tut das aber nicht einfach von selbst, sondern unter dem richtungsweisenden Einfluss des Weisheitsgeistes eines Buddha. Mit anderen Worten, in Abhängigkeit von der vorherrschenden Bedingung, nämlich der Weisheit eines Buddha, und der ursächlichen Bedingung, den relativ reinen Geistesströmen bestimmter anzuleitender Wesen, ist das Dharma-Rad der Schriften nichts weiter als genau der Geist dieser Wesen, der für sie in der Form von Worten und Buchstaben erscheint. Buddhas haben keine latenten Tendenzen, ihre Rede an irgendein imaginiertes Gegenüber zu richten. In ihnen gibt es auch keine Unwissenheit mehr darüber, äußere Laute nicht als inneren Geist zu erkennen. Somit ist solch ein Dharma-Rad letztendlich keine Unterweisung, die aus dem Wunsch eines Buddha, lehren zu wollen, resultiert.
Wenn ein Buddha lehrt, ist dies daher auf der grundlegendsten Ebene ein direkter Austausch von Geist zu Geist. Natürlich wirkt dies auf die meisten Menschen nicht so, weil es unseren gewöhnlichen Sinnen und unserem gedanklichen Geist nicht zugänglich ist. Gewöhnliche Wesen wie wir müssen sich immer auf irgendeine Art von Form, von Vorstellung oder von etwas, woran wir uns festhalten können, stützen. Wir können den Geist eines Buddha nicht direkt wahrnehmen, sonst wären wir ebenfalls ein Buddha. Daher brauchen wir eine Art Spiegel oder eine Art Kommunikation »auf Umwegen«. Wir könnten sagen, dass der Geist eines Buddha in unserem eigenen Geist gespiegelt wird, nicht direkt, sondern in Form von Texten, Unterweisungen, Lehrern usw. Das sind dann die Gegenmittel für unsere Probleme und ihre Ursachen, wie etwa unsere falschen Vorstellungen, unsere unklaren Emotionen und die aus ihnen folgenden ungeschickten Handlungen.
Diese Darstellung des Dharma-Rades der Schriften zeigt, warum es oft heißt, dass der Buddha aus seiner eigenen Perspektive niemals ein einziges Wort lehrte. Die Sūtren sprechen davon, dass der Buddha von dem Augenblick an, als er die Erleuchtung erlangte, bis zu dem Moment, als er in das Nirvāṇa einging, nicht ein einziges Wort sprach. Gleichzeitig sagen die Texte, dass dieses Nicht-Sprechen die Bedürfnisse aller Wesen in Form eines fortwährenden Dharma-Regens erfüllt. Denn der Geist des Buddha wird im Geist anderer Wesen reflektiert, und durch diese Interaktion ereignen sich bestimmte Dinge im Geist dieser Wesen, die ihnen als Texte, Unterweisungen oder verschiedene andere Dinge erscheinen können und die ihnen als Instruktionen über ihren eigenen Geist dienen. In Nāgārjunas Ratnāvalī heißt es:
So wie ein Grammatiker
Am Anfang das Alphabet lehrt,
Lehrt der Buddha den Dharma
Genau so, wie ihn die Anzuleitenden aufnehmen können.
Für manche lehrt er den Dharma,
Damit sie sich von Schlechtem fernhalten;
Für manche, damit sie Verdienst erlangen;
Für manche das, was auf Dualität basiert;
Für manche das, was auf Nichtdualität basiert;
Für manche das, was tiefgründig und erschreckend für die Ängstlichen ist;
Und für manche das Mittel für die Erleuchtung,
Das die Leerheit mit einem Herz aus Mitgefühl ist.3
In diesem Zitat können wir die gesamte Bandbreite der buddhistischen Lehren erkennen. Unterschiedlichen Wesen werden äußerst unterschiedliche Dinge gelehrt. Alle diese Unterweisungen sind wie Finger, die auf den Mond zeigen, aber manche Finger zeigen direkter auf ihn und andere weniger direkt, wobei die Art und Weise des Zeigens von den Fähigkeiten der jeweiligen Wesen abhängt.
Wie alle Prajñāpāramitā-Sūtren gehört auch das Herz-Sūtra zum zweiten Zyklus der Lehren des Buddha, den Lehren über die Leerheit (oder Prajñāpāramitā), die auch das »Dharma-Rad der Merkmalslosigkeit« genannt werden. Wie das Herz-Sūtra sagt:
Daher, Śāriputra, sind sämtliche Phänomene Leerheit, ohne Merkmale …