Das ist keine Propaganda - Peter Pomerantsev - E-Book
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Das ist keine Propaganda E-Book

Peter Pomerantsev

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Beschreibung

Wenn Informationen zur Waffe werden, befinden wir uns alle im Krieg

Die Versuche, unsere Meinung zu manipulieren, sind außer Kontrolle geraten. Hacker, Bots, Trolle, Putin, der IS oder Trump – sie alle wollen nicht einfach nur »alternative Fakten« in die Welt setzen, sie sind vielmehr dabei, unsere Realität zu verändern. Peter Pomerantsev nimmt uns mit an die Front des Desinformationskrieges, der inzwischen überall auf der Welt tobt. Er trifft Twitter-Revolutionäre und Pop-up-Populisten, Islamisten und Identitäre, die aus der Zertrümmerung von Ideen wie »wahr« und »falsch« ihren Nutzen ziehen. Sein Buch ist eine brillant erzählte Reportage und ein intellektuelles Abenteuer zugleich. Unter anderem reiste Peter Pomerantsev in die Philippinen und interviewte dort die, mittlerweile mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Journalistin Maria Ressa und sprach mit ihr über den Kampf gegen Desinformation und über die Aufdeckung von Korruption.

Noch nie ist das Ausmaß der Angriffe, denen unsere Wirklichkeit ausgesetzt ist, so eindrucksvoll vor Augen geführt worden.

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Seitenzahl: 386

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Über das Buch:

Die Versuche, unsere Meinung zu manipulieren, sind außer Kontrolle geraten. Hacker, Bots, Trolle, Putin, der IS oder Trump – sie alle wollen nicht einfach nur »alternative Fakten« in die Welt setzen, sie sind vielmehr dabei, unsere Realität zu verändern. Peter Pomerantsev nimmt uns mit an die Front des Desinformationskriegs, der inzwischen überall auf der Welt tobt. Er trifft Twitter-Revolutionäre und Pop-up-Populisten, Islamisten und Identitäre, die aus der Zertrümmerung von Ideen wie »wahr« und »falsch« ihren Nutzen ziehen. Sein Buch ist eine brillant erzählte Reportage und ein intellektuelles Abenteuer zugleich. Noch nie ist das Ausmaß der Angriffe, denen unsere Wirklichkeit ausgesetzt ist, so eindrucksvoll vor Augen geführt worden.

Über den Autor:

PETERPOMERANTSEV forscht als Senior Fellow am Institute of Global Affairs an der London School of Economics über die Manipulation von Informationen. Er ist ein gefragter Experte und publiziert neben seiner wissenschaftlichen Arbeit unter anderem in The Atlantic oder der Financial Times. Sein erstes Buch Nichts ist wahr und alles ist möglich (2015), in dem er seine Erfahrungen als TV-Produzent im Russland der Jahrtausendwende schildert, wurde preisgekrönt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

PETER POMERANTSEV

DAS IST KEINEPROPAGANDA

WIE UNSERE WIRKLICHKEITZERTRÜMMERT WIRD

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel This Is Not Propaganda. Adventures in the War Against Realitybei Faber & Faber in London erschienen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Peter Pomerantsev Copyright © 2020 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Lektorat: Dr. Heike Specht, Zürich Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-22838-5V001www.dva.de

INHALT

EINLEITUNG: »Telegramm!«

TEIL 1: TROLLSTÄDTE

Desinformationsarchitektur

#Verhaftet Maria Ressa!

Trolle fangen

TEIL 2: DEMOKRATIE AUF SEE

Demokratisierungswellen

Permanente Revolution

Protestparodien

Discord Channel

TEIL 3: DER UNGLAUBLICHSTE INFORMATIONSBLITZKRIEG DER GESCHICHTE

Operation Perestroika

Der unglaublichste Informationsblitzkrieg der Geschichte

Wie führt man einen Krieg, den es womöglich gar nicht gibt?

TEIL 4: WEICHE FAKTEN

Objektivität ist ein aufgezwungener Mythos

Warum wir »postfaktisch« sind

In Aleppo

TEIL 5: POP-UP-MENSCHEN

Konstruktion des Anderen

Pop-up-Populismus

Die Zukunft begann in Russland

TEIL 6: DIE ZUKUNFT BEGINNT HIER

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Über Mauern springen

Czernowitz/Tscherniwzi

DANK

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

»Telegramm!«

Er wurde am Strand verhaftet, als er aus dem Meer kam. Neben seinen Kleidern standen zwei Anzugträger, die ihn anwiesen, sich unverzüglich anzuziehen. Die Hose sollte er einfach über die nasse Badehose streifen. Auf der Fahrt zog sich die immer noch nasse Badehose langsam zusammen, wurde kalt und hinterließ einen feuchten Fleck auf seiner Hose und dem Rücksitz des Autos. Er musste sie während des Verhörs anbehalten. Da war er also und versuchte eine würdevolle Fassade aufrechtzuerhalten, während die feuchte Badehose ihn peinigte. Das war Absicht, so viel war ihm klar. Sie kannten sich aus mit solchen Dingen, dieseKGB-Männer mittleren Ranges; sie waren Meister der kleinen Demütigungen, des Mikro-Psychospiels.

Warum hatten sie ihn hier in Odessa verhaftet, wunderte er sich, und nicht in Kiew, wo er zu Hause war? Dann begriff er: Es war August, und sie wollten ein paar Tage am Meer verbringen. Zwischen den Verhören gingen sie mit ihm an den Strand, um sich selbst ein Bad zu genehmigen. Einer saß immer neben ihm, während der andere schwimmen war. Bei einem dieser Strandaufenthalte stellte ein Künstler eine Staffelei auf und begann sie zu zeichnen. Der Oberst und der Major wurden unruhig; immerhin schickte es sich für sie alsKGB-Offiziere nicht, während einer Operation porträtiert zu werden. »Geh nachsehen, was er fabriziert«, befahlen sie ihrem Gefangenen. Er ging zu dem Künstler hinüber und warf einen Blick auf das Werk. Jetzt war er es, der sie ein wenig triezte. »Ich bin nicht gut getroffen«, berichtete er, »aber Sie sind ziemlich lebensecht dargestellt.«

Verhaftet worden war er wegen der »Verbreitung schädlicher Literatur an Freunde und Bekannte«, von Büchern, die der Zensur zum Opfer gefallen waren, weil sie die Wahrheit über den sowjetischen Gulag schilderten (Solschenizyn) oder von Emigranten stammten (Nabokow). Sein Fall wurde in die Chronik der laufenden Ereignisse aufgenommen, in der sowjetische Dissidenten unterdrückte Fakten über politische Verhaftungen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Gerichtsverhandlungen, Schlägereien und Misshandlungen im Gefängnis dokumentierten. Die Informationen wurden mündlich zusammengetragen oder erreichten die Chronisten in Form winziger, selbst hergestellter Polyäthylenkapseln, die aus Arbeitslagern herausgeschmuggelt worden waren, indem jemand sie verschluckt und draußen wieder ausgeschieden hatte. Was sie enthielten, wurde mit der Schreibmaschine abgetippt und in dunklen Räumen abfotografiert. Dann ging der brisante Inhalt von Hand zu Hand, zwischen Buchseiten versteckt und in Diplomatengepäck verstaut, bis er den Westen erreichte und Amnestie International übergeben oder vomBBCWorld Service, von der Voice of America oder Radio Free Europe verbreitet wurde. Die Mitteilungen waren für ihren knappen Stil bekannt:

»Er wurde von KGB-Oberst W. P. Menschikow und KGB-Major W. N. Melgunow vernommen. Er wies alle Anschuldigungen als haltlos und unbewiesen zurück. Er weigerte sich, gegen seine Freunde und Bekannten auszusagen. Ihre Unterkunft war während der gesamten sechs Tage das Hotel Neu-Moskau.«

Wenn einer der Vernehmer den Raum verließ, zog der andere ein Buch mit Schachrätseln hervor und begann sie, an seinem Bleistift kauend, zu lösen. Zuerst fragte sich der Gefangene, ob dies eine clevere Taktik war, doch dann begriff er, dass der Mann ganz einfach faul war und Arbeitszeit totschlug.

Nach sechs Tagen durfte er nach Kiew zurückkehren, aber die Ermittlungen gingen weiter. Als er eines Tages auf dem Heimweg von seiner Arbeit in der Bibliothek war, hielt ein schwarzes Auto neben ihm und nahm ihn zu weiteren Verhören mit.

Gleichzeitig ging sein Leben weiter. Seine Verlobte wurde schwanger, und sie heirateten. Auf der Feier mischte sich einKGB-Fotograf unter die Gäste. Sie zogen in die Wohnung der Familie seiner Frau am Golossejewski-Park, wo sein Schwiegervater einen wahren Palast aus Käfigen für Dutzende von Kanarienvögeln errichtet hatte. Eine Voliere voller flatternder Flügel, im Hintergrund der Park. Jedes Mal, wenn es an der Tür klingelte, begann er aus Angst, es könnte derKGBsein, alles Inkriminierende zu verbrennen – Briefe, Samisdat-Artikel, Verhaftetenlisten –, während die Kanarienvögel panisch mit den Flügeln schlugen.

Jeden Morgen stand er in der Dämmerung auf, schaltete das Spidola-Radio ein, wählte den Kurzwellenempfang und drehte und wendete die Antenne, um den Störgeräuschen zu entkommen. Auf der Suche nach besserem Empfang stieg er auf Stühle und Tische, vollführte einen akustischen Slalom auf der Senderskala zwischen ostdeutschen Popbands und sowjetischen Militärkapellen, um schließlich, das Ohr an den Lautsprecher gedrückt, zwischen Zischen und Knacken die magischen Worte zu vernehmen: »Hier ist London« oder »Hier ist Washington«. Er wartete auf Nachrichten von Verhaftungen. In dem Essay »Radio der Zukunft« des futuristischen Dichters Welimir Chlebnikow aus dem Jahr 1921 hatte er gelesen:

»Das Radio wird die ungebrochene Kette der Weltseele schmieden und die Menschheit verschmelzen.«

Das Netz um seinen Kreis zog sich zusammen. Grischa wurde in den Wald gebracht und zusammengeschlagen. Olga wurde der Prostitution bezichtigt und gewissermaßen als Beweis zusammen mit echten Prostituierten in ein Krankenhaus für Geschlechtskrankheiten eingewiesen. Geli wurde in Untersuchungshaft genommen. Man versagte ihr so lange eine medizinische Behandlung, bis sie starb.

Alle waren auf das Schlimmste gefasst. Seine Schwiegermutter hatte ihn einen auf Würsten beruhenden Geheimcode gelehrt: »Wenn ich Würste bringe, die von rechts nach links geschnitten sind, bedeutet es, dass wir die Nachricht von deiner Verhaftung in den Westen übermitteln konnten und sie im Radio gesendet wird. Wenn ich sie von links nach rechts schneide, bedeutet es, dass es uns nicht gelungen ist.«

»Es klingt wie ein alter Witz oder etwas aus einem schlechten Film, ist aber trotzdem wahr«, sollte er später schreiben. »Wenn derKGBim Morgengrauen kommt und man schlaftrunken murmelt: ›Wer ist da?‹, rufen sie oft: ›Telegramm!‹ Man macht im Halbschlaf weiter und versucht, nicht ganz aufzuwachen, damit man wieder in einen wohligen Traum zurückkehren kann. ›Einen Moment‹, stößt man hervor, zieht sich die nächstbeste Hose an, kramt etwas Kleingeld hervor, um den Boten zu bezahlen, und öffnet die Tür. Was am meisten wehtut, ist nicht, dass sie es auf einen abgesehen oder dass sie einen so früh aus dem Bett geholt haben, sondern dass man wie ein kleiner Junge auf die Lüge mit dem Telegramm hereingefallen ist. Man presst das Kleingeld in der plötzlich schweißfeuchten Faust und hält die Tränen der Demütigung zurück.«

Zwischen den Verhören wurde am 30. September 1977 um 8 Uhr früh ihr Kind geboren. Meine Großmutter wollte, dass ich nach ihrem Großvater den Namen Pinchas erhielt. Meine Eltern wollten mich Theodor nennen. Am Ende entschieden sie sich für »Pjotr«. Es sollte nicht die letzte Namensänderung bleiben.

***

Vierzig Jahre sind vergangen, seit meine Eltern vom KGB verfolgt wurden, nur weil sie das simple Recht in Anspruch nahmen, zu lesen, zu schreiben und zu hören, was ihnen gefiel, und zu sagen, was sie wollten. Heute sind wir der von ihnen erträumten Welt, in der die Zensur fällt wie die Berliner Mauer, weit näher, als sie es waren: Glaubt man den Wissenschaftlern, leben wir in einem Zeitalter des »Informationsüberflusses«. Doch die Annahmen, die dem Kampf für Recht und Freiheit im 20. Jahrhundert zugrunde lagen, als Menschen zu den Waffen der Wahrheit und der Information griffen, um gegen Regime mit ihren Zensoren und Geheimpolizisten anzukämpfen, sind heute auf den Kopf gestellt. Wir verfügen heute über mehr Informationen als jemals zuvor, allerdings hat dies nicht die erwarteten Vorteile gebracht.

Mehr Information sollte eine größere Freiheit bringen, sich den Mächtigen entgegenzustellen, gleichzeitig aber gab es diesen auch neue Mittel an die Hand, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Mehr Information sollte eine besser fundierte Diskussion ermöglichen, und doch scheinen wir weniger denn je fähig zu sein zu umsichtigen Überlegungen. Mehr Information sollte das gegenseitige Verständnis über Ländergrenzen hinweg fördern, aber es hat auch neue, verfeinerte Formen von Konflikt und Unterwanderung ermöglicht. Wir leben in einer Welt der Amok laufenden Massenbeeinflussung, in der sich die Manipulationsmittel weiterentwickelt und vervielfacht haben, einer Welt der Dark Ads, Psyops, Hacks, Bots, Soft Facts, Deepfakes, Fake News, IS, Putins, Trolle, Trumps …

Vierzig Jahre nach der Verhaftung und Vernehmung meines Vaters folge ich den Spuren des Lebensweges meiner Eltern, allerdings ohne ihren Mut, ohne das Risiko, das sie eingingen, und ohne ihre Gewissheit. Während ich dies schreibe, führe ich – was angesichts der wirtschaftlichen Turbulenzen, wenn Sie dies lesen, möglicherweise schon nicht mehr der Fall sein wird – an einer Londoner Universität ein Programm durch, das die neueren Varianten der Einflussnahme untersucht. Ich widme mich also dem, was man salopp als »Propaganda« bezeichnen könnte. Dieser Begriff ist allerdings derart vorbelastet und wird so unterschiedlich interpretiert – die einen definieren Propaganda als Täuschung, die anderen als neutrales Propagieren –, dass ich ihn ungern benutze.

Ich sollte hinzufügen, dass ich kein Akademiker bin und dies kein akademisches Buch ist. Ich bin ein ehemaliger Fernsehproduzent, und obwohl ich weiterhin Artikel schreibe und manchmal Radioprogramme präsentiere, stehe ich meiner alten Medienwelt mittlerweile eher skeptisch gegenüber, bin gelegentlich sogar angewidert von dem, was wir geschaffen haben. Bei meinen Recherchen treffe ich Twitter-Revolutionäre und Pop-up-Populisten, Trolle und Elfen, Visionäre der »Verhaltensveränderung« und Infokriegsscharlatane, Dschihad-Jünger, Identitäre, Metapolitiker, Wahrheitspolizisten und Bot-Hirten. Dann bringe ich alles, was ich erfahren habe, in den sechseckigen Betonturm, in dem sich mein temporäres Büro befindet, und destilliere daraus Folgerungen und Empfehlungen für sauber formatierte Berichte und PowerPoint-Präsentationen, in denen die Informationsflut, Fake News, der Informationskrieg und der Krieg um Information diagnostiziert und Mittel und Wege für eine Heilung vorgeschlagen werden.

Aber was soll eigentlich geheilt werden? Die schönen klaren Aufzählungen meiner Berichte setzen voraus, dass es ein kohärentes System gibt, das verbessert werden kann, dass ein paar technische Empfehlungen, wenn man sie auf neue Informationstechnologien anwendet, alles reparieren können. Doch das Problem reicht wesentlich tiefer. Wenn ich im Rahmen meiner täglichen Arbeit Vertretern der krisengeschüttelten liberaldemokratischen Ordnung – jener Ordnung, die zu einem nicht geringen Teil durch die Konflikte des Kalten Kriegs geprägt worden war – meine Erkenntnisse präsentiere, bin ich jedes Mal verblüfft, wie hilflos sie sind. Politiker wissen nicht mehr, wofür ihre Parteien stehen; Beamte wissen nicht mehr, wo die Macht sitzt; milliardenschwere Stiftungen verfechten eine »offene Gesellschaft«, die sie nicht mehr wirklich definieren können. Große Worte, die einst vor Bedeutsamkeit überquollen, Worte, für die Angehörige vergangener Generationen sich zu opfern bereit gewesen waren – »Demokratie« und »Freiheit«, »Europa« und »der Westen« –, sind vom Leben in einer Weise ausgehöhlt worden, dass sie als leere Hülsen erscheinen, aus denen die letzte Wärme und sämtliches Licht entwichen sind. Sie sind wie verschlüsselte Computerdateien, die man nicht mehr öffnen kann, weil man das Passwort vergessen hat.

Schon die Begriffe, mit denen wir uns positionieren – »links« oder »rechts«, »liberal« oder »konservativ« –, sind nahezu bedeutungslos geworden. All das wird nicht nur im Zusammenhang mit Konflikten und Wahlen virulent. Menschen, die ich mein Leben lang kannte, werden mir plötzlich fremd, weil sie in den sozialen Medien Verschwörungstheorien reposten, die aus Quellen stammen, von denen ich noch nie gehört habe. Ganze Familien werden von den Unterströmungen des Internets auseinandergerissen, als hätten sie sich nie wirklich gekannt, als wüsste der Algorithmus mehr über uns als wir selbst, als würden wir zu Untermengen unserer Daten, als würden die Daten mit ihrer eigenen Logik – oder vielleicht, um den Interessen von jemandem zu nutzen, den wir nicht sehen können – unsere Beziehungen und Identitäten neu definieren. Die großen Dampfer der alten Medien – die Kathodenstrahlröhren der Radios und Fernseher, die Buchrücken und die Zeitungsdruckmaschinen, aufgeladen mit Identität und Bedeutung, kontrollierten, wer wir waren und wie wir miteinander sprachen, wie wir unseren Kindern die Welt erklärten, wie wir über unsere Vergangenheit berichteten, wie wir Nachrichten und Meinungen, Satire und Seriosität, richtig und falsch, wahr, unwahr, real, irreal verstanden –, diese Dampfer sind untergegangen. Und mitgerissen haben sie die alten Muster, die uns sagten, was zu wem gehört, wer mit wem wie spricht. Seitdem sind sämtliche Proportionen verzerrt, vergrößert oder geschrumpft, und wir drehen uns in orientierungslosen Spiralen, in denen Worte ihre allgemeingültige Bedeutung verlieren. Ob in Odessa, Manila, Mexiko oder New Jersey, überall hört man dasselbe: »Es gibt so viel Information und Fehlinformation, so viel von allem, dass ich nicht mehr weiß, was wahr ist.« Häufig hört man auch den Satz: »Es kommt mir so vor, als würde sich die Welt unter meinen Füßen drehen.« Ich habe mich sogar selbst bei dem Gedanken ertappt: »Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich für stabil hielt, jetzt flüssig ist, unstet.«

In diesem Buch erkunde ich die Wracks auf der Suche nach Funken von Sinn. Ob sie nun in den trüben Ecken des Internets aufblitzen, in denen Trolle ihre Opfer foltern, oder im Streit über die Geschichten, die unseren Gesellschaften einen Sinn geben. Ultimativ stellt sich die Frage, wie wir uns selbst definieren.

Der erste Teil führt uns von den Philippinen zum Finnischen Meerbusen, wobei wir erfahren werden, wie man Menschen mit neuen Informationsinstrumenten brechen kann, die wesentlich subtiler sind als diejenigen, die der KGB einst anwandte.

Im zweiten Teil reisen wir vom Westbalkan über Lateinamerika in die Europäische Union und lernen neue Mittel kennen, mit denen ganze Widerstandsbewegungen und ihre Mythologien zerschlagen werden können.

Im dritten Teil wird untersucht, wie ein Land ein anderes, fast ohne es anzurühren, zerstören kann, so dass der Gegensatz zwischen Krieg und Frieden sowie »innen« und »außen« verschwimmt. Dabei könnte der Gedanke des Informationskriegs selbst das gefährlichste Element sein.

Im vierten Teil wird gezeigt, dass die Forderung nach einer faktenbasierten Politik von einer gewissen Fortschritts- und Zukunftsidee abhängt und durch den Zusammenbruch dieser Idee Massenmord und massenhafte Misshandlung noch leichter möglich geworden sind.

Im fünften Teil vertrete ich die Auffassung, dass Politik in dieser im Fluss befindlichen Situation zu einem Kampf um die Kontrolle über die Konstruktion von Identität wird. Von religiösen Extremisten bis zu Pop-up-Populisten wollen alle neue Versionen des »Volks« schaffen – selbst in Großbritannien, wo Identität immer eine fixe Größe zu sein schien.

Im sechsten Teil schaue ich in die Zukunft – und zwar von China und Czernowitz/Tscherniwzi aus.

Auf den folgenden Seiten werde ich viel reisen, manchmal durch den Raum, aber nicht immer. Die physischen und politischen Landkarten der Kontinente, Länder und Ozeane, mit denen ich aufgewachsen bin, sind dabei gelegentlich weniger wichtig als die neuen Karten von Informationsflüssen. Diese »Netzwerkkarten« werden von Datenwissenschaftlern durch das sogenannte »Surfacing« erstellt: Dabei nimmt man Schlüsselwörter, Nachrichten oder Narrative und wirft sie in den ständig größer werdenden weltweiten Datenpool. Anschließend beobachtet man, wo Menschen, Medien, Konten bei sozialen Medien, Bots, Trolle und Cyborgs, die an diesen Schlüsselwörtern, Nachrichten und Narrativen andocken und mit ihnen interagieren, auftauchen.

Die Netzwerkkarten, die sich daraus ergeben, sehen wie Stecknadelmuster oder Fotografien ferner Galaxien aus. Sie zeigen, wie überholt unsere geografischen Definitionen sind, und enthüllen unerwartete Konstellationen, in denen jeder, egal, wo er sich aufhält, weltweit jeden beeinflussen kann. Russische Hacker verbreiten Werbung für Prostituierte in Dubai und Anime-Memes zur Unterstützung rechtsextremer Parteien in Deutschland. Ein in Schottland heimischer »bodenständiger Kosmopolit« hilft Aktivisten bei Unruhen in Istanbul, der Polizei zu entkommen. Hinter Links zu iPhones verbirgt sich IS-Reklame …

Russland ist mit seinen Netzschwadronen allgegenwärtig auf diesen Karten. Nicht, weil es eine Macht ist, die immer noch Himmel und Erde bewegen könnte wie einst im Kalten Krieg, sondern weil die Kremlherren sich besonders geschickt an die Spielelemente des neuen Zeitalters angepasst oder es wenigstens geschafft haben, dass alle darüber reden, wie gut sie sind – was möglicherweise der wichtigste Trick überhaupt ist. Wie ich zeigen werde, ist dies kein reiner Zufall, denn gerade weil Russland den Kalten Krieg verloren hat, vermochten sich russische Vordenker und Medienmanipulatoren schneller an die neue Welt anzupassen als die Angehörigen dessen, was als »der Westen« bekannt war. Da ich von 2001 bis 2010 in Moskau gelebt habe, konnte ich dort aus nächster Nähe jene Kontrollmethoden und Krankheitssymptome der öffentlichen Meinung beobachten, die sich seither auch überall sonst herausgebildet haben.

Aber ich reise in diesem Buch nicht nur auf Informationsflüssen und durch Netzwerke und Länder, sondern gewissermaßen auch in die Vergangenheit. Ich schaue zurück auf die Geschichte meiner Eltern und den Kalten Krieg. Es ist jedoch keine Familienbiographie; vielmehr interessieren mich die Überlappungen zwischen der Familiengeschichte und meinem Thema. Dabei geht es zum Teil um die Frage, wie die Ideale der Vergangenheit in der Gegenwart zerbrochen sind und was, wenn überhaupt etwas, wir ihnen noch entnehmen können. Wenn alles durcheinandergerät, schaue ich instinktiv zurück und suche nach einer Verbindung zur Vergangenheit, die es mir ermöglicht, über die Zukunft nachzudenken.

Während ich meine Familiengeschichte recherchierte und niederschrieb, verblüffte mich indes etwas anderes, nämlich, in welchem Ausmaß unsere privaten Gedanken, kreativen Impulse und unser Selbstbild von Informationskräften geprägt werden, die weit größer sind als wir selbst. Wenn mir beim Durchstöbern der Regale in der spiralförmigen Bibliothek meiner Universität etwas klar wurde, dann, dass man über »Nachrichten« und »Politik« hinausschauen und auch Dichtung, Schule, Verwaltungssprache und Freizeitaktivität betrachten muss, um zu verstehen, was man mit dem französischen Soziologen Jacques Ellul die »Formierung des menschlichen Verhaltens« nennen könnte. Dieser Prozess tritt in der Geschichte meiner Familie manchmal deutlicher zutage, weil in ihren Dramen und Brüchen leichter zu erkennen ist, wo diese Informationskräfte beginnen und enden – gleich großen Wettersystemen.

TEIL 1

TROLLSTÄDTE

Der Gegensatz von Redefreiheit und Zensur war eine der offensichtlichen Konfrontationen des 20. Jahrhunderts. Nach dem Kalten Krieg schien die Redefreiheit vielerorts gesiegt zu haben. Was aber, wenn die Mächtigen den »Informationsüberfluss« nutzen, um neue Unterdrückungsmittel an die Hand zu bekommen und das Ideal der Redefreiheit auf den Kopf zu stellen, um Dissens auszuschalten, gleichzeitig aber genügend Anonymität zu wahren, um es jederzeit leugnen zu können?

Desinformationsarchitektur

Man nehme zum Beispiel die Philippinen. 1977, als meine Eltern in die Fänge des KGB gerieten, herrschte in diesem Inselreich im Westpazifik Oberst Ferdinand Marcos, ein von den USA gestützter Militärdiktator, unter dessen Regime, wie ich auf der Webseite von Amnesty International erfahre, 3257 politische Gefangene getötet, 35 000 gefoltert und 70 000 eingesperrt wurden. Marcos vertrat eine recht theatralische Auffassung von der Rolle, die Folter bei der Befriedung der Gesellschaft spielen könnte. Anstatt Getötete einfach verschwinden zu lassen, ließ er 77 Prozent der Leichen als Warnzeichen am Straßenrand ausstellen. Bei manchen Opfern hatte man das Hirn entfernt und den leeren Schädel mit ihren Unterhosen ausgestopft. Andere waren zerteilt worden, sodass die Menschen auf dem Weg zum Markt an einzelnen Körperteilen vorbeikamen.1

Marcos’ Regime stürzte 1986 angesichts von Massenprotesten und weil die Amerikaner ihn nicht weiter stützten und Teile der Armee sich gegen ihn wandten. Millionen Menschen gingen auf die Straße. Es sollte ein Neubeginn werden: das Ende von Korruption und Menschenrechtsverletzungen. Marcos ging ins Exil und lebte bis zu seinem Tod auf Hawaii.

Heute wird man in Manila vom Geruch von fauligem Fisch und Popcorn, von Abwasser und Speiseöl empfangen, der einem auf den Bürgersteigen den Atem nimmt. Allerdings kann man kaum von Bürgersteigen sprechen. Breite Trottoirs, auf denen man spazieren gehen kann, gibt es kaum. Stattdessen balanciert man auf schmalen Simsen entlang der Fassaden von Shoppingmalls und Wolkenkratzern, neben einem der tosende Lavastrom des Straßenverkehrs. Zwischen den Malls erstrecken sich tiefe Slumtäler. Hier stolpert man nachts über die Füße von Obdachlosen, die in Alufolie eingewickelt auf der Straße schlafen, findet Bars, in denen Boxkämpfe zwischen Kleinwüchsigen dargeboten werden, und Karaokelokale, in denen man Truppen von Frauen, deren Kleider so eng sind, dass sie wie Zangen in ihre Oberschenkel kneifen, mieten kann, um mit ihnen koreanische Popsongs zu singen.

Tagsüber navigiert man zwischen Malls, Slums und Wolkenkratzern in einem Netz aus schmalen, von Menschen wimmelnden Gehwegen, die sich mitten in der Luft zwischen den mehrstöckigen Autobahnen entlangwinden. Man zieht den Kopf ein, um nicht an Pfeiler der Hochstraßen zu stoßen, taumelt angesichts der Kakophonie aus Hupen und Sirenen, die von der Straße hochtönt, und steht plötzlich in Augenhöhe vor einer Frau, die auf einem riesigen Werbeplakat Dosenfleisch isst. Diese Plakatwände findet man überall; sie trennen Slums von Wolkenkratzern. Von 1898 bis 1946 – nur unterbrochen von der japanischen Besetzung zwischen 1942 und 1945 – wurden die Philippinen von den Vereinigten Staaten verwaltet. Seitdem gibt es hier US-Marinestützpunkte, und das, was den US-Truppen als Verpflegung serviert wurde, ist zu einer Delikatesse geworden. Auf einem Plakat füttert eine glückliche Hausfrau ihren gut aussehenden Ehemann mit Thunfischstücken aus einer Konservendose. Anderswo hängt das Bild eines fetttriefenden, gebratenen Schinkens über einem dampfenden Fluss, in dem Straßenkinder baden; dahinter verspricht eine Leuchtreklame: »Jesus wird dich retten«. Es ist ein katholisches Land. Der fünfzigjährigen amerikanischen Kolonisierung ging eine dreihundertjährige spanische voran. »Wir hatten dreihundert Jahre Kirche und fünfzig Jahre Hollywood«, spotten die Filipinos. In Shoppingmalls gibt es Kirchen, in denen man beten kann, und Wachen, welche die Armen fernhalten. Manila ist eine Stadt mit 22 Millionen Einwohnern, aber so gut wie keinem öffentlichen Raum. In den übermäßig gekühlten Malls atmet man parfümierte Luft: In den billigeren, in denen sich eine Fast-Food-Filiale an die nächste reiht, dominiert Lavendel. Die schickeren duften leicht nach Zitrone. So oder so riecht es nach Toilette. Man wird den Latrinengestank nie los, ob durch die parfümierte Luft drinnen oder das Abwasser draußen.

Rasch fällt einem auf, dass dauernd und überall für Selfies posiert wird. Jeder tut es: der schwitzende Typ in schmierigen Flipflops, der den Metallkasten von einem öffentlichen Bus fährt, die chinesischen Mädchen, die in der Mall auf ihre Cocktails warten. Die Filipinos machen weltweit die meisten Selfies, sie sind die fleißigsten Nutzer der sozialen Medien und Versender von SMS. Manche führen dies auf die Bedeutung der Familie und persönlicher Beziehungen zurück, die notwendig sind, um in einem Land mit ineffektiver Regierung zurechtzukommen. Außerdem sind die Selfies nicht notwendigerweise narzisstisch: Man vertraut Menschen, deren Gesicht man sehen kann.

Und mit dem Aufstieg der sozialen Medien sind die Philippinen zum Brennpunkt einer neuen Art der Manipulation im digitalen Zeitalter geworden.

In einer der Mall-Oasen zwischen den Wolkenkratzern mit ihren himmelblauen Fensterscheiben treffe ich »P.«. Er besteht darauf, dass sein Name nicht genannt wird, ist aber offensichtlich hin- und hergerissen und erpicht auf Anerkennung für die Kampagnen, deren Erfolg er sich nicht öffentlich als Verdienst anrechnen kann. Er ist Anfang zwanzig, gekleidet wie ein Mitglied einer koreanischen Boyband und er ist ziemlich aufgedreht, ganz gleich, um welches Thema es geht, ob er nun von einer Präsidentschaftswahl spricht oder dem blauen Häkchen in seinem Instagram-Konto (das den Status anzeigt).

»Ich bin glücklich, wenn ich Menschen kontrollieren kann«, gesteht er. »Vielleicht ist das schlecht. Aber es befriedigt mein Ego, etwas tief in mir … Es ist, als würde ich zu einem Gott, auf der digitalen Seite.« Dabei klingt er keineswegs unheimlich, sondern eher wie jemand, der in einer musikalischen Farce die Rolle des Bösewichts spielt.

Er begann seine Online-Karriere mit fünfzehn, als er eine anonyme Webseite einrichtete, auf der man dazu ermuntert wurde, über seine romantischen Erlebnisse zu sprechen. »Erzählt mir von euren schlimmsten Trennungen«, forderte er die Nutzer zum Beispiel auf. Oder: »Was war euer heißestes Date?« Er zeigt mir eine seiner Facebook-Gruppen mit über drei Millionen Mitgliedern.

Noch in der Schulzeit gründete er neue Gruppen, jede mit einem anderen Profil: Eine war beispielsweise der Freude gewidmet, eine andere der geistigen Gesundheit. Als er sechzehn war, traten die ersten Firmen an ihn heran, damit er ihre Produkte nennt. Er verfeinerte seine Technik. Innerhalb einer Woche brachte er eine Community dazu, über »Liebe« zu sprechen, zum Beispiel darüber, für wen ihre Mitglieder am meisten empfanden. In der nächsten verlagerte er das Gespräch auf die Sorge um geliebte Menschen und die Angst, sie zu verlieren. Dann wies er wie nebenbei auf ein Produkt hin: Nehmt dieses Mittel; es wird dazu beitragen, das Leben eurer Lieben zu verlängern.

Angeblich hatte er mit zwanzig auf seinen Plattformen zusammengenommen 15 Millionen Follower. Der Provinzjunge aus bescheidenen Verhältnissen konnte sich plötzlich eine Eigentumswohnung in einem Wolkenkratzer in Manila leisten.

Werbung war das eine, die nächste Herausforderung aber war die Politik. In dieser Zeit bestand politische PR darin, Journalisten dazu zu bewegen, über bestimmte Themen zu schreiben. Aber wie wäre es, wenn man den gesamten Diskurs in den sozialen Medien prägen könnte?

Er bot mehreren Parteien seine Dienste an, aber der einzige Kandidat, der darauf einging, war Rodrigo Duterte, ein Außenseiter, der in den sozialen Medien ein neues Mittel sah, das ihm zum Sieg verhelfen konnte. Eines von Dutertes zentralen Themen als Kandidat war der Kampf gegen Drogenkriminalität. Er prahlte sogar damit, in seiner Zeit als Bürgermeister von Davao City, tief im Süden des Landes, mit dem Motorrad herumgefahren zu sein und Drogendealer erschossen zu haben. Zu diesem Zeitpunkt besuchte P. bereits die Universität, wo er vom Little-Albert-Experiment in den 1920er Jahren hörte, das darin bestand, dass man ein Baby immer, wenn es eine weiße Ratte sah, furchteinflößenden Geräuschen aussetzte, was dazu führte, dass es vor allen pelzigen Tieren Angst hatte.2 Da kam P. auf die Idee, etwas Ähnliches mit Duterte zu versuchen.

Als Erstes gründete er in verschiedenen Städten eine Reihe von Facebook-Gruppen, die völlig harmlos wirkten, wie einfache Diskussionsforen über das, was in der Stadt passierte. Der Trick bestand darin, sie im lokalen Dialekt einzurichten, von denen es auf den Philippinen Hunderte gibt. Nach einem halben Jahr hatten die Gruppen jeweils etwa 100 000 Mitglieder. Dann begannen P.s Administratoren, jeden Tag eine Geschichte zu posten, in der über Verbrechen berichtet wurde, immer zum Zeitpunkt der größten Internetnutzung. Die Storys waren durchaus real, doch dann begannen P.s Leute Kommentare zu schreiben, in denen sie die Verbrechen mit Drogen verknüpften: »Wie es heißt, war der Mörder ein Drogendealer«, oder: »Es war das Werk eines Pushers«. Nach einem Monat brachten sie zwei Verbrechensmeldungen pro Tag, wieder einen Monat später drei.

Drogenverbrechen wurden zu einem heißen Thema, und Duterte legte in den Meinungsumfragen zu. Wie P. erzählt, war dies der Zeitpunkt, an dem er sich mit den anderen PR-Beratern überwarf und ausstieg, um sich einem anderen Kandidaten anzuschließen, dessen Wahlkampf auf ökonomische Kompetenz setzte, statt auf Angsterzeugung. Laut P. konnte er die Umfragewerte dieses Kandidaten um fünf Punkte steigern, aber es war zu spät, um das Blatt zu wenden, und Duterte wurde zum Präsidenten gewählt. Jetzt muss P. erleben, wie andere PR-Leute das Verdienst an Dutertes Sieg für sich beanspruchen, und das ärgert ihn.

Das Problem bei Interviews mit Leuten, die in der digitalen Welt arbeiten, ist, dass sie generell dazu neigen, ihre Wirkung zu überschätzen. Das bringt der Beruf mit sich. Hat P. Duterte »gemacht«? Natürlich nicht. Es gab genügend Faktoren, die den Diskurs über die Drogenkriminalität angetrieben haben, nicht zuletzt Dutertes eigene Äußerungen. Auch war sie nicht das einzige seiner Themen: Ich habe mit einigen seiner Anhänger gesprochen, die sich von der Vorstellung eines Mannes aus der Provinz, der gegen die Eliten im »imperialen Manila« und die prüde katholische Kirche aufsteht, angezogen fühlten. Allerdings wird P.s Darstellung des digitalen Einflusses von einigen wissenschaftlichen Studien gestützt.

In ihrer Studie »Architects of Networked Disinformation« haben Jonathan Corpus Ong von der Universität von Massachusetts und Jason Cabañes von der Universität von Leeds Interviews ausgewertet, die sie im Lauf eines Jahres mit Protagonisten dessen geführt haben, was Ong Manilas »Desinformationsarchitektur« nennt, die von allen Parteien des Landes genutzt wurde.3 An der Spitze des Systems standen, Ong und Cabañes zufolge, sogenannte »Chefarchitekten« aus Werbe- und PR-Firmen. Sie lebten in schicken Apartments in den Wolkenkratzern der Stadt und beschrieben ihre Tätigkeit auf beinah mythische Weise, indem sie sich mit Protagonisten aus der erfolgreichen Fantasyserie Game of Thrones und Figuren aus Videospielen verglichen. »Wenn man aufgespürt wird, ist das Spiel aus«, erklärten sie Ong und Cabañes. Sie waren stolz darauf, es aus bescheidenen Verhältnissen bis an die Spitze ihrer Branche geschafft zu haben. »Der Desinformationsarchitekt«, stellten Ong und Cabañes fest, »leugnet die Verantwortung oder Verpflichtung gegenüber dem breiten Publikum und schildert stattdessen ein persönliches Projekt der Selbstermächtigung.«

Eine Stufe unter den Architekten kommen die »Influencer«, Online-Comedians, die die neuesten Witze posten und sich dazwischen gegen Bezahlung über Politiker der jeweils anderen Seite lustig machen.

Ganz unten, in den Slums der Desinformationsarchitektur, arbeiten die »Fake-Account-Pfleger auf Community-Ebene«, wie Ong und Cabañes sie nennen, die als Zeitarbeiter in Callcentern rund um die Uhr jeweils Dutzende von Social-Media-Identitäten verkörpern. Die einen verdienen sich dadurch ein Zubrot – Studenten oder Krankenschwestern zum Beispiel –, andere sind Wahlkampfhelfer. Ong und Cabañes interviewten eine Digitalarbeiterin namens Rina, die zu ihrer Arbeit genötigt wurde, nachdem sie sich vor einer Bürgermeisterwahl einem Wahlkampfteam angeschlossen hatte. Sie gehörte zu den besten Studenten an ihrer Universität und hatte sich aus Idealismus zur Verfügung gestellt. Dann erhielt sie den Auftrag, eine Vielzahl von Online-Personen zu kreieren – Mädchen im Bikini kamen am besten an –, Online-Freundschaften zu schließen, ihren Kandidaten anzupreisen und die andere Seite schlechtzumachen. Rina schämte sich. Sie hatte das Gefühl, sich selbst zu betrügen, und brachte es nur auf zwanzig Facebook-Follower, während ihre Kollegen Hunderte sammelten.

Ong fiel auf, dass niemand aus der Desinformationsarchitektur, auf welcher Ebene auch immer er ihr diente, seine Tätigkeit als »Trolling« – digitales Schleppnetzfischen – oder Verbreitung von Fake News bezeichnete. Jeder hatte seine eigene Leugnungsstrategie: Die Architekten stellten ihre Aktivitäten als bloße Nebentätigkeit parallel zu ihrer regulären PR-Arbeit dar, mit der sie kaum etwas verband, und überhaupt hatten sie ja nicht die gesamte politische Kampagne unter sich gehabt; die Account-Pfleger wiesen darauf hin, dass die wirklich dreckigen, hasserfüllten Kommentare von anderen verfasst worden seien. Gleichwohl war es die Architektur der Online-Beeinflussung, die nach Dutertes Machtantritt einen noch aggressiveren Tonfall anschlagen sollte.

Duterte hatte geschworen, so viele Drogendealer zu töten, dass es die Fische in der Bucht von Manila fett machen würde, und gewitzelt, er werde seine eigene Begnadigung unterzeichnen. Er prahlte damit, schon jemanden wegen eines Blicks getötet zu haben. Das Leben von Drogendealern bedeute ihm nichts. Nach seinem Regierungsantritt begannen Bürgerwehren und Polizisten jeden zu erschießen, der Verbindungen zum Drogenhandel verdächtigt wurde. Niemand weiß genau, wie viele Opfer die Kampagne gefordert hat. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 12 000, Oppositionspolitiker von 20 000, die Regierung von 4200. Zeitweise wurden 33 Menschen am Tag getötet. Niemand prüfte, ob die Opfer tatsächlich schuldig waren, und regelmäßig wurde berichtet, dass ihnen nach ihrem Tod Drogen untergeschoben worden seien. Auch 54 Kinder wurden ermordet. Die Gassen der Slums von Manila füllten sich mit Leichen. Männer auf Motorrädern fuhren herum und schossen den Leuten einfach in den Kopf. In den Gefängnissen wurde es eng wie in Hühnerbatterien. Eine Politikerin, die gegen die Morde vorging, Senatorin Leila de Lima, fand sich plötzlich vor Gericht wieder, weil inhaftierte Drogenbosse ausgesagt hatten, sie sei an ihren Geschäften beteiligt gewesen. Online-Mobs forderten ihre Verhaftung. Sie wurde in Erwartung eines Gerichtsverfahrens, das nie stattfinden sollte, eingesperrt – laut Amnesty International als politische Gefangene.4 Als der Erzbischof von Manila die Morde verurteilte, wandte sich der Mob gegen ihn. Als Nächstes kamen die Medien an die Reihe, die sogenannten »Presstituierten«, die es wagten, den Präsidenten des Mordes zu bezichtigen.

Die in den Augen des Regimes größte Presstituierte war Maria Ressa, die Betreiberin der Nachrichten-Webseite Rappler. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn Maria und Rappler hatten, wenn auch unabsichtlich, mitgeholfen, Duterte an die Macht zu bringen.

#Verhaftet Maria Ressa!

Nachdem ich einige Zeit mit Maria gesprochen hatte, bemerkte ich, wie unangenehm es ihr war, im Mittelpunkt der Geschichte zu stehen. Sie war viel zu höflich, um es mir direkt zu sagen, aber mir fiel auf, dass sie ständig von sich selbst ablenkte und auf die Arbeit ihrer Journalisten und die Dramen der anderen zu sprechen kam. In ihrer Laufbahn war immer sie diejenige gewesen, die über etwas berichtete – zuerst als Chefin des CNN-Büros in Südostasien, dann als Nachrichtenchefin des größten philippinischen Fernsehsenders und schließlich als Gründerin und Geschäftsführerin von Rappler. Und jetzt wurde sie, während sie in ihrem Büro ein hastiges Mittagsessen aus Erdnussbutter- und Sardinensandwiches herunterschlang, nicht nur von mir interviewt, sondern auch von einer Crew des englischsprachigen Teils des katarischen Fernsehsenders Al Jazeera gefilmt, der ihren Kampf mit Duterte und der Desinformation dokumentieren wollte.

Das Fernsehteam hatte gefragt, ob es mein Interview mit Maria aufnehmen dürfe, doch jetzt fühlte ich mich angesichts der in einer Ecke hockenden Crew mit ihrer riesigen Kamera immer unwohler. Auch ich bin es gewohnt, derjenige zu sein, der beobachtet und editiert. Immer wenn ich zum Gegenstand der Darstellung eines anderen werde, bin ich mir nur zu sehr bewusst, wie die Aufnahmen von mir später geschnitten und bearbeitet werden können. Aus meiner Zeit als Dokumentarfilmer weiß ich, wie man den Dargestellten das Gefühl gibt, bedeutend und für einen Moment unsterblich zu sein, immer in dem Wissen, dass man das Material später so gestalten kann, wie man es sich vorstellt. Die endgültige Filmfassung würde zutreffend sein, aber zwischen der Selbstwahrnehmung eines Menschen und der Art, wie er porträtiert wird, zwischen der im Film rekonstruierten Realität und derjenigen, die der Dargestellte für wahr hält, besteht oft genug eine schmerzliche Kluft. Damals in Manila tröstete ich mich damit, dass ich eine gewisse narrative Kontrolle behalten würde, indem ich in dem Buch, das Sie gerade lesen, über die Al-Jazeera-Crew schreiben würde.

An jenem Tag filmte also eine Gruppe von Journalisten einen anderen Journalisten dabei, wie er eine Journalistin interviewte. Unsere Aufgabe ist es, Informationen über die Realität, die Action vor Ort zu berichten. Heute ist jedoch, wie Marias Geschichte zeigte, die Information selbst der Ort, an dem etwas passiert.

Maria stammt aus Manila, ging aber, als sie zehn Jahre alt war, mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten, wo sie das braunste kleine Mädchen in Elizabeth, New Jersey, und ehrgeizig genug war, um als Erste aus ihrer Familie auf die Universität zu gehen (Princeton). 1986 kehrte sie mit einem Fulbright-Stipendium auf die Philippinen zurück, um dort politisches Theater zu studieren, stellte aber fest, dass sie mitten in eine Revolution gegen Marcos geraten war und sich das größte politische Drama auf der Straße abspielte. Sie heuerte bei CNN an, als der Sender noch ein unbedeutender Kabelkanal war, der allerdings das grandiose Ziel vor Augen hatte, zum ersten weltweiten Nachrichtensender zu werden. Bei CNN war der Reporter auf dem Bildschirm die wichtigste Person. Er wählte die Nachrichten aus und bestimmte, wann und wie sie präsentiert werden sollten. Maria wollte diese Macht, aber sie trat nicht gern vor eine Kamera. Das lag auch an den Ekzemen, unter denen sie schon ihr ganzes Leben lang litt. Mit viel Make-up und einigen Tricks wurden ihre Hautprobleme kaschiert und siehe da, die Kamera liebte Maria: ihre Ungezwungenheit und fast kindliche Begeisterung, ihre großen, vor Neugier blitzenden Augen.

Sie wurde zum regionalen Gesicht von CNN und berichtete über die südostasiatische Demokratisierungswelle der 1990er Jahre, als nach Marcos ein autoritäres Regime nach dem anderen stürzte. Es war verlockend, all dies, wie es viele tun, im Licht des Sieges im Kalten Krieg zu sehen, als lineare Geschichte stetig zunehmender Freiheit, was jede neue politische Wende zu bestätigen schien. Doch die Terroranschläge vom 11. September 2001 zerschmetterten diese simple Geschichte.

Maria war weniger überrascht. Sie sprach fließend einige lokale Dialekte und wusste, wie wenig die Demokratie in die unverändert armen Dörfer und Slums vorgedrungen war. Als sie Al-Qaida-Rekruten und deren Familien interviewte, war sie erstaunt, aus welch normalen Verhältnissen sie kamen. Für die meisten war die Idee fundamentalistischer Reinheit anfangs kein Thema gewesen. Osama bin Ladens Trick hatte darin bestanden, die sehr unterschiedlichen Klagen sehr unterschiedlicher Gruppen aufzugreifen und in die Illusion einzuhüllen, sie könnten eine bessere Welt schaffen, wenn sie sich weltweit vereinigten und sich der Ungläubigen entledigten. 2005 verließ Maria CNN, gerade noch rechtzeitig, wie sie im Rückblick erkannte. Der Sender veränderte sich, seine Reporter wurden aufgefordert, nicht nur Tatsachen zu berichten, sondern auch ihre Gefühle auszudrücken. Es ging nun vor allem darum, Geld zu machen. Maria wollte Erkundungen über Terroristen anstellen und kein Star in einer Reality-Show-Version einer Nachrichtensendung sein.

Am 9. Juni 2008, als sie die Nachrichtensparte des größten philippinischen Fernsehkonzerns leitete, wurde Maria frühmorgens durch einen Anruf ihres Starreporters Ces Drilon geweckt: »Maria, das ist alles meine Schuld … Wir sind entführt worden. Sie wollen Geld.«5 Entgegen ihren Anweisungen hatte Drilon sich um ein Interview mit islamistischen Aufständischen bemüht und war zusammen mit zwei Kameramännern vom Al-Qaida-Ableger Abu Sajaf entführt worden.

In den nächsten zehn Tagen arbeitete Maria Tag und Nacht bei der Koordinierung der Rettungsanstrengungen mit. Sie endeten, nachdem Drilons Familie die von den Entführern geforderte Summe zusammengebracht hatte.

Nach der Freilassung der Geiseln machte sich Maria daran, die Entführer zu identifizieren, und fand heraus, dass sie über drei Stufen mit bin Laden verbunden waren. Dieses Ergebnis passte zu dem Muster, das sie ausgemacht hatte, seit sie über die Ausbreitung al-Qaidas von Afghanistan bis nach Südostasien berichtete. Ideologien verbreiten sich über Netzwerke, und die Treue zu ihnen hängt davon ab, wo man sich innerhalb des Netzes befindet. Um zu verstehen, warum und wie die Ideologie von al-Qaida in Umlauf kam, musste man, anstatt nur Ideen und sozioökonomische Faktoren zu untersuchen, die Verbindungen zwischen Menschen erkunden. Ein und dieselbe Mischung von persönlichen und sozialen Elementen konnte auf völlig unterschiedliche Art ausgedrückt werden, je nachdem, mit welchem Netzwerk man in Berührung kam. Und Maria begriff, dass diese physischen Netzwerke immer stärker durch soziale Medien ersetzt wurden.

2012 gründete sie Rappler Online, die erste rein internetbasierte Nachrichtenwebseite der Philippinen. Sie wollte ihre Erkenntnisse zum Nutzen aller in Netzwerke einspeisen. Rappler sollte nicht nur über aktuelle Ereignisse berichten, sondern eine größere Online-Community versammeln, die Crowdfunding für wichtige Anliegen organisieren konnte. Die Webseite sollte Opfer von Überschwemmungen und Stürmen mit lebenswichtigen Informationen und damit mit Schutz und Hilfe versorgen. Anstelle von Zeitungsschreibern alter Schule heuerte Maria Zwanzigjährige an, die sich in den sozialen Medien auskannten. Wenn man das in Orange gehaltene gläserne Großraumbüro von Rappler betritt, fällt einem auf, wie jung die Mitarbeiterinnen sind, es handelt sich nämlich überwiegend um Frauen, die von einer kleinen Gruppe älterer Journalisten mit einem Hauch gönnerhafter Herablassung überwacht werden. In Manila sind Marias Mitarbeiter als »die Rappler« bekannt.

Als Duterte seinen auf die sozialen Medien gestützten Wahlkampf begann, schienen er und Rappler perfekt zusammenzupassen. Die Fernsehsender nahmen ihn nicht ernst. Dann veranstaltete Rappler die erste philippinische Präsidentschaftskandidaten-Debatte auf Facebook, und er war der Einzige, der sich die Mühe machte, überhaupt aufzutauchen – mit überwältigendem Erfolg. Eine Umfrage unter Rapplers Online-Community ergab, dass Duterte in ihrer Gunst vorn lag. Seine Botschaft – die Ausmerzung der Drogenkriminalität – verfing. Rappler-Reporter verbreiteten seine Phrasen über den »Krieg gegen die Drogen«. Als er später auf Mordtour ging, bedauerten sie, von »Krieg« gesprochen zu haben. Sie hatten mitgeholfen, seine Aktionen zu etwas Normalem zu machen, denn wenn es ein »Krieg« war, dann waren Opfer hinnehmbar.

Das Zerwürfnis begann mit einem Pfiff. Auf einer Pressekonferenz pfiff Duterte, inzwischen bereits Präsident, einer Fernsehjournalistin hinterher, woraufhin die anwesende Rappler-Reporterin ihn aufforderte, sich zu entschuldigen. Rapplers Online-Community postete Kommentare, in denen von der Journalistin mehr Respekt gegenüber dem Präsidenten verlangt wurde. »Deine Mutter ist eine Hure«, hieß es unter anderem. Die Rappler waren entsetzt. Sie führten diese Reaktion auf Reste von Sexismus zurück: Zieht eine Frau einen Mann zur Verantwortung, wird sie attackiert.

Unterdessen hatte Duterte seine Sprache in keiner Weise abgemildert.6 Er beschimpfte den Papst und den US-Präsidenten als Hurensöhne; erkundigte sich bei einem Journalisten, der ihm missfiel, ob er so scharfe Fragen stelle, weil die Vagina seiner Frau stinke; prahlte damit, zwei Geliebte zu haben; verhöhnte eine weibliche Geisel, indem er frotzelte, es wäre besser gewesen, wenn sie, als er noch Bürgermeister war, von ihm und nicht von ihren Entführern vergewaltigt worden wäre. Im Fernsehen erklärte er, er wolle die Leber von Terroristen verspeisen und in Salz einlegen, und selbst wenn seine Soldaten jeweils drei Frauen vergewaltigten, würde er die gegen sie verhängten Urteile aufheben.

Beim Besuch von Comedyklubs in Quezon City, dem Stadtteil von Manila, wo sich abends neben den Sendetürmen der landesweiten Fernsehkanäle sehr junge Prostituierte und Ladyboys versammeln, habe ich ein wenig über den sprachlichen Hintergrund von Dutertes Äußerungen erfahren. Comedians suchen sich Opfer im Publikum und ziehen in übelster Weise über sie her, indem sie sich etwa über die Größe ihres Penis oder ihr Gewicht lustig machen, und das vor ihren Familien, die mit allen anderen zusammen über die Demütigung ihrer Verwandten lachen.

Diese Methode und Sprache wendet auch Duterte an, wenn er seine schmutzigen Witze reißt. Es ist eine Art Humor, die er mit einer ganzen Reihe männlicher Spitzenpolitiker in aller Welt teilt. Der russische Präsident Wladimir Putin setzte eine rhetorische Duftmarke, indem er erklärte, er werde Terroristen erledigen, »während sie auf dem Scheißhaus sitzen«; US-Präsident Donald Trump prahlte damit, Frauen »an die Muschi« greifen zu können; der tschechische Präsident Miloš Zeman rief dazu auf, »auf die verkohlten Überreste von Roma zu pissen«; der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro teilte einer Politikerin mit, sie sei »zu hässlich«, um vergewaltigt zu werden; schwarzen Aktivisten riet er, sie sollten »zurück in den Zoo« gehen;7 und in Großbritannien gab der Anti-Immigrations-Politiker Nigel Farage, während er ein Pint nach dem anderen in sich hineinschüttete, den übergroßen Mund zu einem wiehernden Lachen verzogen, grobe Witze über »Schlitzaugen« zum Besten.

Dieser Latrinenhumor soll beweisen, wie »anti-establishment« man ist. Mit der Missachtung etablierter moralischer und sprachlicher Normen soll demonstriert werden, wie »anti-elitär« die Politik ist, die man selbst betreibt.

Wenn Witze, auch schmutzige, von den Schwachen benutzt werden, um sich über die Mächtigen lustig zu machen, können sie Autoritätsfiguren auf den Boden zurückholen, indem sie darauf hinweisen, dass deren Herrschaft enden kann.8 Deshalb wurden schmutzige Witze häufig unterdrückt. 1938 zum Beispiel ging mein Großvater väterlicherseits in die Cafeteria der Fabrik in Charkow, in der er als Buchhalter arbeitete, um etwas zu trinken. Dabei erzählte er einen Witz über die Eier des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets. Das wurde umgehend den Behörden gemeldet, die ihn verhafteten und in ein Arbeitslager an der Wolga steckten, wo er starb.

Wird solche Sprache aber von den wirklich Mächtigen benutzt, um Schwächere herabzusetzen, und dies unablässig, dann wird dieser Humor bedrohlich: Er ebnet mit den Mitteln der Sprache den Weg in einen Raum, in dem es keine Normen mehr gibt, wo Opfer auch auf handfestere Weise gedemütigt werden können.

Als Rappler begann, über Dutertes ungesetzliche Tötungen zu berichten, wurden die Online-Drohungen zu einer alltäglichen Erscheinung. Zeitweise erhielt das Portal neunzig Nachrichten pro Stunde: Es wurde behauptet, Rappler würde die Morde erfinden, werde von Dutertes Feinden bezahlt, und überhaupt seien die Meldungen allesamt Fake News. Die Kommentare waren wie ein Insektenbefall, der in die E-Mail-Eingangsordner eindrang und wie eine Plage die Community-Seiten heimsuchte, die Rappler mit großer Sorgfalt eingerichtet hatte, in der Hoffnung, die »Weisheit der vielen« im Internet zutage zu fördern. Manchmal recherchierten Rappler-Mitarbeiterinnen, wer hinter einer Vergewaltigungsdrohung steckte: Vielleicht war es ja ein automatisches Konto. Zu ihrer Enttäuschung stellte sich der Verfasser jedoch als reale Person heraus. Die Leute hatten ihren Spaß daran. Journalisten von Rappler wurden in Malls beschimpft: »He, du – du bist Fake News! Schäm dich!« Auch von Verwandten wurden sie zurechtgewiesen.

Die meisten Angriffe richteten sich jedoch gegen Maria. Manche waren so dumm, dass sie an ihr abprallten, wie die Memes, die sie in einer Naziuniform zeigten, oder Kommentare wie: »Maria, du bist reine Spermaverschwendung. Deine Mutter hätte dich abtreiben sollen!« Anderes ging ihr unter die Haut, und zwar buchstäblich. Ihre Ekzeme waren immer ihr Schwachpunkt gewesen. Als die Angreifer begannen, über ihre Hautkrankheit zu lästern, blühten die Ekzeme förmlich auf, bevor sie Zeit hatte, ihre psychologischen Verteidigungslinien zu schließen.

Ihre erste instinktive Reaktion war, sich selbst die Schuld zu geben. Hatte sie etwas falsch gemacht? Über etwas inkorrekt berichtet? Sie überprüfte sämtliche Rappler-Meldungen, konnte aber auch nach mehrfacher Suche nichts finden. Der Hashtag #ArrestMariaRessa trendete ebenso wie #UnfollowRappler. Der Staat eröffnete Ermittlungen gegen Maria. Da zu den Investoren von Rappler eine amerikanische Stiftung gehörte, warf man ihr vor, ausländischen redaktionellen Anweisungen zu folgen. Mehrere Vorstandsmitglieder von Rappler traten zurück; die Werbeeinnahmen schrumpften. Maria begann Bestechungsgeld bei sich zu tragen, wenn sie in der Stadt unterwegs war. Die erste Anklage gegen Rappler kam vor das Berufungsgericht, wo sie beigelegt wurde. Und dann, als das Schlimmste überstanden zu sein schien, erfuhr Maria, dass eine weitere Anklage gegen sie vorbereitet wurde.9