Das Jahr 2330 - Lutz Sebastian - E-Book

Das Jahr 2330 E-Book

Lutz Sebastian

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Beschreibung

Jemand fährt ganz normal mit der Metro in Paris, so wie Tausende andere auch. Doch als er aussteigt, befindet er sich im Jahr 2330. Wie die Zukunft aussieht, und was er dort erlebt, schildert dieser Text. Dieser Roman ist eine radikale Kritik der Gegenwart, indem er beschreibt, wie die Welt in der Zukunft aussehen könnte, sofern die Menschheit endlich Verstand annehmen würde. In der Tradition der großen Aufklärer stehend, seziert dieser Roman die jetzigen Zustände und ist somit eine Absage an alle, die in ihrer Naivität immer noch an einen wohlwollenden Staat und seine Vertreter glauben. Nur für Leser geeignet, die lieber selber denken als gehorsam der Masse folgen. Lesen, bevor er verboten wird!

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Für Patsy, Melanie und all die anderen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Nachbemerkung des Verlags:

1

Ich musste in der Metro eingeschlafen sein. Damals hatte ich die Gewohnheit, freitags nach der Arbeit noch ein wenig spazieren zu gehen, meist im Parc des Buttes Chaumont, der mir von allen Parks in Paris stets der liebste war. Allein die Form, die einem Adlerschnabel gleicht, hat mir schon gefallen, als ich erstmals einen Stadtplan von Paris gesehen hatte, und das war lange, bevor ich zum ersten Mal wirklich nach Paris kam. Jetzt liebe ich die hügelige Landschaft des Parks, das verzweigte Wegenetz, die Attraktionen – einfach alles. Außerdem wohnte ich nicht allzu weit entfernt, nur wenige Stationen mit der Metro.

Ich hätte am Freitagabend natürlich auch auf irgendwelche Partys oder Veranstaltungen gehen können, mit den üblichen Zielen, die man als junger Mann so hat – ich war erst Anfang 30 -, aber ich hatte beschlossen, mir das für den Samstag aufzuheben. Außerdem kam es sogar vor, dass man im Park Gelegenheit hatte, anzubändeln, sofern man das wollte. Allerdings hatte ich das an jenem Juniabend nicht vor, denn ich war ziemlich erschöpft – und, ja, auch genervt – von der Arbeitswoche und wollte den Kopf frei bekommen. Ich stieg also an der Station Jaurès in die Linie 7b um. Dann würde ich nach weiteren zwei Stationen am Buttes Chaumont ankommen, indem ich an der gleichnamigen Station in der Rue Botzaris ausstieg. Die Linie 7b war meine Lieblingslinie, weil sie einen merkwürdigen Verlauf nimmt: Sie ist die zweitkürzeste Metro-Linie, und sie hat nur einen Endbahnhof, denn sie fährt an ihrem östlichen Ende eine Schleife. Das ist ziemlich einzigartig, allenfalls die Linie 10 kann da im Westen von Paris mithalten, aber das ist wieder eine andere Geschichte. Jedenfalls, ich musste in dem kurzen Abschnitt zwischen Jaurès und Buttes Chaumont eingeschlafen sein. Als ich erwachte, stand der Zug in einem Tunnel, offensichtlich auf einem Abstellgleis. Die Türen standen offen. Kein Mensch war zu sehen, es war dunkel, nur die grüne Notbeleuchtung verbreitete ein diffuses Licht. Komisch, dachte ich, die Metro fährt bis gegen Mitternacht, konnte ich so lange geschlafen haben? Ich nahm mein Smartphone, aber es blieb dunkel. Anscheinend hatte ich vergessen, es zu laden, und nun war der Akku, der ohnehin schon seit einiger Zeit geschwächelt hatte, leer. Schöner Mist. Die erste Metro würde erst morgens gegen halb sechs wieder fahren, und es war gut möglich, dass dieser Zug noch viel länger auf dem Abstellgleis blieb, vielleicht sogar bis zum Montag, weil am Wochenende die Zugfrequenz geringer war und nicht alle Züge eingesetzt wurden. Ich konnte also nicht einfach warten. Na gut, einen Weg nach draußen würde ich wohl finden. Meine größte Sorge war allerdings, irgendeinem RATP-Mitarbeiter1 zu begegnen, der mich zur Rede stellen würde, was ich dort zu suchen hätte, aber das musste ich in Kauf nehmen. Außerdem, in Frankreich kann man mit den Leuten reden – vorausgesetzt, man beherrscht die Sprache, andernfalls hat man Probleme – also ging ich los. Neben dem Gleis verlief ein schmaler Bahnsteig. Etwa zwanzig Meter in Richtung der Spitze des Zuges leuchtete eine grüne Lampe mit dem Notausgangssymbol über einer Tür. Ich ging hin, drückte die Klinke und trat in einen Gang. Ich folgte dem Gang, erst nach links, dann führte eine Treppe nach oben, dann wandte sich der Gang wieder nach rechts, wieder einige Treppen nach oben, nochmal nach rechts, und ich stand vor einer weiteren Tür. Abzweigungen oder andere Türen gab es nicht. Alles wirkte völlig normal, es musste sich um einen Ausgang für das Metro-Personal handeln. Ich öffnete diese Tür und stand im hellen Licht.

Das war eine Überraschung. Nach einem Moment hatten sich meine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt. Nachdem ich hinausgetreten war, fiel die Tür wieder ins Schloss. Ich stand nun neben dem Toilettenhäuschen am Parkeingang Porte Fessart, ganz in der Nähe der Station Buttes Chaumont. Sehr erfreulich, denn in den Park hatte ich ja gewollt. Anscheinend hatte ich doch nicht lange geschlafen. Aber warum war der Zug dann auf das Abstellgleis gefahren? Und, komisch, ich war so oft mit dieser Linie gefahren und hatte nie einen Abzweig an dieser Stelle bemerkt. Ich ging einige Schritte in Richtung des Teiches, der in der Mitte des Parks liegt. Kein Mensch war zu sehen. Da fiel mir auf, dass die Sonne im Osten stand. Nach der Höhe und dem Stand der Sonne musste es also früh am Morgen sein. Die Sache wurde immer merkwürdiger. Ich überlegte, wieder zur Metro-Station zu gehen, um nach Hause zu fahren, als ich einen Mann sah, der mit seinem kleinen Hund spazieren ging. Ich sprach ihn an. »Bonjour, Monsieur, können Sie mir sagen, wie spät es ist?« Er sah mich an, zögerte einen Moment und antwortete dann: »Gerne, Monsieur. Es ist zehn vor sechs. Und wir haben den Samstag, den vierzehnten Juni. Möchten Sie auch wissen, welches Jahr?« Im ersten Moment war ich verärgert. Der Mann schien sich über mich lustig zu machen. Vielleicht hatte er meinen Akzent bemerkt. Ich sprach zwar ziemlich gut Französisch, schließlich lebte ich seit fast zwei Jahren in Paris, aber man konnte doch hören, dass ich Ausländer war. Manche Franzosen haben mitunter einen seltsamen Humor gegenüber Ausländern, aber ich wusste, was sich gehört, also antwortete ich ganz selbstverständlich: »Nicht nötig, Monsieur, das weiß ich noch, wir haben das Jahr 2031.« »Das dachte ich mir. Verzeihen Sie meine Frage, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Sagen Sie, wie sind Sie hierhergekommen?« »Nun ja, ganz normal, mit der Metro eben. Nur…« Ich berichtete ihm von meinem Missgeschick. »So etwas dachte ich mir schon. Das kommt ab und zu vor. Nicht sehr oft, aber alle paar Jahre.« Wieder dachte ich zuerst, er wolle sich einen Scherz erlauben. Aber dafür wirkte er zu freundlich und zu ernsthaft, also blieb ich höflich. »Sie sprechen in Rätseln, Monsieur. Sicherlich ist es doch nichts Besonderes, wenn jemand in der Metro einschläft und auf dem Abstellgleis aufwacht.« »Gewiss nicht. Ich meine etwas anderes. Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist André. André Lesage. Ich wohne hier ganz in der Nähe. Nennen Sie mich beim Vornamen, das ist heutzutage so üblich.« »Vielen Dank, André, Sie sind sehr freundlich. Ich heiße Lutz Sebastian.« »Sehr erfreut. Ich nehme an, Sie sind Deutscher?« »Ja, ich bin Lehrer und arbeite seit etwa zwei Jahren an einer deutschen Schule in Paris.« »Sehr schön. Lassen Sie uns auf dieser Bank hier Platz nehmen, ich muss Ihnen etwas erklären.« Mit diesen Worten steuerte er auf eine Bank zu, die etwas anders aussah als die üblichen Parkbänke. Anscheinend hatte die Stadtverwaltung ein neues Modell eingeführt. Wir setzten uns. Die Bank war auffallend bequem. »Sie werden mir vielleicht nicht glauben, oder Sie werden schockiert sein, aber es muss heraus: Wir befinden uns im Jahr 2330. Halt, sagen Sie nichts: Ich werde es Ihnen beweisen. Bis dahin können Sie mich für verrückt, unverschämt oder was auch immer halten, aber geben Sie mir eine Chance. Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen.«

Ich war überzeugt, dass dieser Mann ein Witzbold war. Oder ein Spinner. Davon gab es ja mehr als genug auf der Welt, und in Paris ganz besonders. »Kommen Sie, gehen wir hier entlang. Sie kennen diesen Park gut? Dann schauen Sie hier.« Wir waren die Avenue de Puebla entlang gegangen und waren auf die Avenue du Général San Martin eingebogen. Zu meiner Überraschung befand sich hier ein Denkmal, das bei meinem letzten Besuch noch nicht da gewesen war. Es stellte einen Mann dar, der in der linken Hand eine Schriftrolle hielt. Mit der rechten Hand zeigte er auf die drei Wörter, die auf der Schriftrolle geschrieben waren: Freiheit – Recht – Ehrlichkeit. Auf dem Sockel stand: Henri Lavigne 2001 – 2102. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Mein lieber Herr, bleiben Sie ganz ruhig. Sie sind nicht der erste und Sie werden vermutlich auch nicht der letzte sein, dem das widerfährt. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden in Ihre Zeit zurückkehren. Aber vorher haben Sie die Gelegenheit, sich hier ein wenig umzusehen. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie eine Weile, ich habe heute einen freien Tag. Möchten Sie frühstücken? Kommen Sie, ich lade Sie ein.« Ich ließ mich von ihm führen. Wir gingen zum Nordausgang des Parks an der Rue Manin.

1 RATP: Régie Autonome du Transport Parisien – die Betreibergesellschaft der Metro.

2

Dort, wo früher alles mit Autos zugeparkt war, standen jetzt nur einige gläserne Kabinen auf kleinen Rädern. Die kleineren von ihnen, das waren die meisten, hatten zwei Sitze, aber kein Lenkrad oder irgendwelche Instrumente außer einem kleinen Bildschirm. Als sich mein Begleiter näherte, öffnete sich auf jeder Seite des Fahrzeugs eine Tür und wir stiegen ein. Er nannte eine Adresse, die Türen schlossen sich, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Während der Fahrt hatte ich Gelegenheit, mich umzusehen. Die auffälligste Änderung betraf den Verkehr: Zahlreiche dieser Kabinen waren in der Stadt unterwegs. Es gab auch einige größere für vier Personen, und eine Art Lastwagen. Alle fuhren offenbar selbständig, nicht sehr schnell, aber aufeinander abgestimmt. Das war ein Gewusel! Es gab keine Ampeln und keine Verkehrsschilder mehr, und doch schien alles zu funktionieren. An einigen Stellen gab es Abstellplätze für die Fahrkabinen.

»Sind Sie überrascht von unserem Verkehrssystem?« fragte André. »Eigentlich nicht«, antwortete ich, »so etwas konnte man für die Zukunft erwarten. Aber gibt es auch noch Eisenbahnen, und vor allem die Metro?« »Ja, Sie sind ja mit der Metro hierhergekommen, nicht wahr?« Er schmunzelte. »Sie werden auch damit zurückfahren. Aber keine Eile, schauen Sie sich erst alles in Ruhe an. Sehen Sie, wir sind angekommen, lassen Sie uns hier ein Frühstück einnehmen, dann werde ich Ihre Fragen beantworten.« Wir betraten ein Bistro. Ein fröhlicher und zufrieden aussehender Wirt servierte uns Kaffee, ein paar Stücke Baguette, Croissants, Butter und Konfitüre, das Übliche eben. »Manche Dinge ändern sich anscheinend nie«, dachte ich. André begann: Wissen Sie, die Metro war von Beginn an ein technisches System, das in sich perfekt ist. Gut, da gab es anfangs, ich glaube, um das Jahr 1900, noch Waggons aus Holz, was damals diese schreckliche Katastrophe ausgelöst hat, bei der so viele Menschen umgekommen sind2. Wenn das hundert Jahre später passiert wäre, als die Technikfeindlichkeit von gewisser Seite so stark geworden war, und man allgemein so sehr zu Übertreibungen neigte, dann hätte man sicherlich die Metro gleich wieder abgeschafft. Nun ja, seitdem ist ja in der Metro nicht viel Schlimmeres passiert als eingeklemmte Finger. Zu Ihrer Zeit gab noch Fahrer, nicht wahr?« »Ja, auf den meisten Linien. Aber man hat schon um das Jahr 2000, meine ich, die ersten Linien auf fahrerlose Bahnen umgestellt.« »Sehen Sie, abgesehen davon, dass nun seit langem alle Metrozüge ohne Fahrer unterwegs sind, hat sich die Metro seit etwa 300 Jahren kaum mehr verändert. Man kann auch nichts mehr daran verbessern. Taxis gibt es nicht mehr. Diese selbstfahrenden Transportkabinen stehen allen Leuten zur Verfügung, man benutzt sie für kürzere Strecken. Sie stehen praktisch an jeder Ecke, ansonsten kann man sie rufen. Wenn man weiter fahren will als ein paar Ecken, nimmt man die Metro, weil sie schneller ist. Das Radfahren in der Stadt haben wir abgeschafft, es ist viel zu gefährlich und unbequem. Für Überlandfahrten gibt es weiterhin Autos, auch private, natürlich, die sind am Stadtrand in großen Parkhäusern abgestellt, oder eben die Bahn. Für die Personenbeförderung hat man allerdings komplett auf Magnetschwebebahnen umgestellt. Ich kann Ihnen gerne noch mehr über den technischen Fortschritt erzählen, aber aus meiner Sicht ist es komisch, oder vielmehr typisch für Ihre Zeit, dass Sie zuerst an irgendwelche technischen Spielereien denken, so als ob solche Errungenschaften das Wichtigste für die Menschheit seien. Wir amüsieren uns darüber, wenn wir alte Zukunftsvisionen sehen, mit Städten auf dem Meeresboden, fliegenden Autos, Reisen zum Mars und dergleichen. Von all diesem Unsinn ist nichts eingetreten. Verzeihen Sie, aber es hätte gerade noch gefehlt, dass Sie nach den aktuellen Entwicklungen in der Waffentechnik gefragt hätten. Das zum Glück nicht. Ja, sicher, wir haben große Fortschritte seit dem 21. Jahrhundert gemacht, vor allem auf dem Gebiet der Energieversorgung und auch der Medizin, aber das zählt eigentlich gar nicht im Vergleich zu der moralischen und charakterlichen Entwicklung, die nach den Katastrophen des 21. Jahrhunderts endlich eingetreten ist.« »Sie machen mich sehr neugierig«, sagte ich, »ich nehme an, dass Sie jetzt eine wirklich fähige Regierung haben und so unerfreuliche Dinge wie Korruption nicht mehr vorkommen?« Er lachte auf. »Nein, eine Regierung haben wir jetzt gar nicht mehr. Ein wenig Verwaltung, das ja. Aber doch keine Regierung. Verstehen Sie denn nicht? Eine Nation von vernünftigen, freien und gebildeten Menschen braucht keine Regierung.«

2 Das war der Unfall am 10. August 1903 im Bahnhof Couronnes, als durch einen Brand 84 Personen ums Leben kamen.

3

»Wir Menschen«, fuhr er fort, »sind ja gewissermaßen Herdentiere. Daher gibt es die Neigung, dass Individuen danach streben, sich Vorteile gegenüber den Mitmenschen zu verschaffen. Es ging immer nur um Status und Rang innerhalb der Gruppe. Das dient im Naturzustand dazu, die eigenen Überlebens- und Fortpflanzungschancen zu erhöhen. Das Individuum ist also im Prinzip egoistisch. Dieser Umstand hat letztlich dazu geführt, dass während vieler Jahrhunderte einzelne Menschen oder Gruppen, weil sie stärker oder gerissener waren, sich durchgesetzt haben und andere auf mehr oder weniger raffinierte Weise unterdrückt und ausgebeutet haben. Die gesamte Menschheitsgeschichte ist doch, mit wenigen Ausnahmen, eine endlose Aneinanderreihung von Verbrechen und Schurkereien. Und zwar auch noch in Ihrer Zeit. Ich werde darauf zurückkommen.

Andererseits sind wir auch zur Empathie und zum Altruismus fähig, was die Chancen der Sippe, der Horde oder der ganzen Art erhöht. Das hat sich alles im Laufe der Evolution entwickelt. Da wir nun nicht mehr im Naturzustand leben, ist es für alle insgesamt vorteilhaft, also vernünftig, weniger egoistisch zu handeln und mehr empathisch. Der andere Mensch ist also nicht mein potentieller Feind, Gegner, Konkurrent oder so weiter, sondern das Gegenteil. Er ist, wenn nicht mein Freund, so doch zumindest mein Kollege, mein Mitarbeiter, mein Mitspieler oder Geschäftspartner. Wir haben mittlerweile erkannt, dass Altruismus nicht nur für die Gemeinschaft, sondern auch für den Einzelnen gewinnbringender ist als der Egoismus, und wir handeln auch danach. Diese Erfahrung kann man auch wissenschaftlich erhärten. Kennen Sie die Spieltheorie? Das ist ein ganz wichtiger Zweig der Wissenschaft. Schon im 20. Jahrhundert hat Reinhard Selten3 einen Nobelpreis für seine Forschungen auf diesem Gebiet erhalten, haben Sie davon gehört? Jedenfalls, die Voraussetzung für diese Erkenntnis ist nur, endlich den Zwang abzuschaffen und zu verhindern, dass Menschen Macht über andere Menschen ausüben. Niemand soll einen anderen zwingen können. Das bedeutet Freiheit und Glück für alle.

Nachdem die Mehrheit das endlich erkannt hatte, ging es voran. Versuche in dieser Richtung hat es ja viele gegeben. Die Idee des Ehrbaren Kaufmanns geht in die Richtung. Oder nehmen Sie die Lehre von Jesus Christus: Sie war durch und durch gut. Aber leider war die Menschheit nicht bereit dafür, und Sie wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Ich meine nicht nur die Kreuzigung: Es hat nicht lange gedauert, bis sogar diese, an sich so menschenfreundliche Lehre pervertiert wurde. Und so ging es vielen. Es gibt nichts, das die Menschheit nicht für böse Zwecke missbrauchen kann. Sie wissen doch sicher, mit welchen Idealen die Französische Revolution begonnen hat und wie sie ausgegangen ist.4 Das ist typisch. Und in Ihrer Zeit: Was wurde nicht gefaselt von Demokratie, von Solidarität, und so weiter, aber ich sage Ihnen: Alles war Lüge! Daher haben wir Wahlen abgeschafft.« »Das kann ich jetzt nicht glauben!« erwiderte ich, »sind Sie jetzt wieder in der Diktatur angelangt, oder haben Sie gar wieder einen König?«

»Aber nein«, entgegnete er milde, »wenn es eine Möglichkeit gäbe, einen perfekten Menschen zu finden, der König oder Präsident sein könnte, ja, dann wäre das wohl zu überlegen. Aber den gibt es nicht, oder wenn doch, wäre es unmöglich, ihn zu finden. Denn ein psychisch gesunder Mensch strebt nicht danach, über andere zu herrschen. Er mag Gefallen daran finden, und sich dazu eignen, andere Menschen zu unterrichten, dann wird er Lehrer, sie anzuleiten oder zu organisieren, dann mag er Feuerwehrhauptmann oder Chef in einem Unternehmen werden, aber er wird doch nicht andere beherrschen wollen! Das ist einfach krank. Es ist aus heutiger Sicht unfassbar, dass es die Menschen über Jahrtausende zugelassen haben, mit wenigen Ausnahmen, von psychisch schwer gestörten Leuten regiert zu werden. Und ich rede nicht nur von den bekanntesten wie Napoleon, Hitler, Stalin und so weiter, die Liste ist lang, sondern auch von denen, die sich so harmlos gegeben haben und doch ihre Länder in den Abgrund geführt haben. Wie sollte denn nach Ihrer Meinung der ideale Herrscher aussehen? Er müsste eine passende Ausbildung haben, um den Staat zu lenken, was vielleicht bei einem von Hundert der Fall ist, außerdem sehr intelligent sein, nehmen wir auch an, er müsste von hundert Menschen der intelligenteste sein, und noch dazu von einer charakterlichen Integrität, wie man sie auch nur bei wenigen findet, sagen wir, auch bei nur einem Prozent der Menschheit. Wenn wir nun annehmen, was durchaus plausibel ist, dass diese Eigenschaften nicht miteinander korreliert sind, dann gibt es unter einer Million Menschen nur einen, der geeignet wäre. Ziehen wir noch Leute ab, die zu alt oder zu jung für eine solche Aufgabe sind, bleiben selbst in einem großen Land, wie es Frankreich und Deutschland immer noch, oder besser: jetzt wieder, sind, vielleicht vierzig Personen übrig, oder meinetwegen sechzig. Und wie will man die finden? Sie werden sich nicht bewerben, denn einer, der sich bewirbt, wäre genau deshalb ungeeignet für die Aufgabe. Denn beim Aufstieg macht man sich gewöhnlich die Hände schmutzig5. Wer will denn das? Um eine solche Position werden sich nur solche Leute bewerben, ach, was sage ich: darum reißen, die nun eben charakterlich nicht geeignet sind. Das haben Sie doch in Ihrer sogenannten Demokratie gesehen. Es hat eine Negativauslese gegeben, denn gewählt wurden die, welche am besten gelogen haben und die darauf versessen waren, in Ämter zu kommen, damit sie ihre Mitbürger schikanieren konnten. Anfangs, ja, da gab es charakterlich hochstehende Personen, die durchaus geeignet waren. Sie kamen nach Umwälzungen in ihr Amt, es waren Glücksfälle, die keinen dauerhaften Bestand hatten. Nehmen Sie die USA: Washington, Jefferson und einige andere waren große und bedeutende Männer. Gewiss, auch denen konnte man manche Vorwürfe machen, sie waren bestimmt nicht perfekt, aber was kam nach ihnen? Ich brauche Ihnen nicht die Namen der Gauner und Halunken nennen, die später in den USA Präsidenten waren, oder? In Deutschland, Frankreich und vielen anderen Ländern war es noch schlimmer: Von De Gaulle an war es ein einziger Abstieg bis hin zu den Witzfiguren, die im 21. Jahrhundert das Amt des französischen Präsidenten entehrten. Von Ihrem Land will ich gar nicht sprechen, oder vielleicht später, das war das allerschlimmste. Es endete in einer Katastrophe. Wie oft sind die schlimmsten Dummköpfe, Schurken und Verbrecher durch Wahlen ins Amt gekommen! Hitler war nicht der letzte. Es hat lange gedauert, viel zu lange, bis man endlich eingesehen hat, dass Wahlen der falsche Weg sind. Ja, Politik an sich ist ein Irrweg. Wir definieren heute Politik als Methode, sich ohne eigene Leistung Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen. Politik ist ein Schimpfwort geworden, und Politiker werden als parasitäre Existenzen angesehen. Was sie ja auch sind. Daher haben wir uns ihrer entledigt.« Er schwieg.

Nach einer Weile fuhr er fort: »Versuche dieser Art gab es schon früher, aber sie waren nicht von Dauer, leider. Haben Sie von Moresnet gehört? Das ist ein Ort in Belgien, der in der Nähe von Aachen liegt, nicht weit vom Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Durch einige merkwürdige Zufälle war dieses Gebiet vom 1815 an selbständig. Es entwickelte sich sehr gut, und zwar nicht, weil sie Schmuggel betrieben hätten, sondern eben wegen der Abwesenheit einer Regierung. Nun, sie hatten eine Art Bürgermeister, aber nur einen einzigen Polizisten, und so wurden die Leute eigentlich gar nicht regiert, ähnlich wie heute bei uns. Leider wurde das Gebiet nach dem Ersten Weltkrieg Belgien zugeschlagen, und so war der Segen vorbei. Aber immerhin hatte dieses Experiment über hundert Jahre Bestand! Später wurde es als »Absurdität« und dergleichen diffamiert, klar, denn es war ja, wenn auch nicht perfekt, ein leuchtendes Beispiel dafür, wie die Menschheit ohne Staat auskommen kann.«