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Schwäbisch Hall im Frühjahr des Jahres 1450. Durch ihre Salzquelle ist die freie Reichsstadt zu beeindruckendem Wohlstand und Ansehen gekommen - und doch häufen sich in letzter Zeit beunruhigende Vorfälle: Ein Junker wird ermordet, ein junger Flößer ertrinkt und die Bettelkinder der Stadt scheinen spurlos zu verschwinden. Quasi über Nacht wird auch Jos, der junge Knecht eines angesehenen Salzsieders, in die rätselhaften Verbrechen verwickelt. Die Spuren führen ihn ins nahe gelegene Kloster Gnadental, dem wesentliche Anteile an der Salzquelle gehören ...
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Kurzbeschreibung:
Schwäbisch Hall im Frühjahr des Jahres 1450. Durch ihre Salzquelle ist die freie Reichsstadt zu beeindruckendem Wohlstand und Ansehen gekommen - und doch häufen sich in letzter Zeit beunruhigende Vorfälle: Ein Junker wird ermordet, ein junger Flößer ertrinkt und die Bettelkinder der Stadt scheinen spurlos zu verschwinden. Quasi über Nacht wird auch Jos, der junge Knecht eines angesehenen Salzsieders, in die rätselhaften Verbrechen verwickelt.
Die Spuren führen ihn ins nahe gelegene Kloster Gnadental, dem wesentliche Anteile an der Salzquelle gehören ...
Ulrike Schweikert
Das Jahr des Verschwörers
Roman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
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Copyright © 2017 by Ulrike Schweikert
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienangentur, München.
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München.
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-016-7
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Da müssen wir hinunter?«, fragte Engelhart von Morstein ungläubig. Er beugte sich nieder und näherte die Fackel der finsteren Felsspalte, die steil in die Tiefe führte.
»Ja, Herr, der Kaspar und ich sind dort hinuntergestiegen.« Engelhart von Morstein beschirmte seine Augen, denn der Feuerschein blendete ihn.
»Ist es noch weit?«, fragte er den Jungen.
Bernhard zuckte mit den Schultern. »Eine Weile müssen wir schon noch absteigen. Es ist rutschig und steil, aber man kann sich mit den Händen an beiden Wänden abstützen.«
Noch immer zögerte der Junker. Sein Blick wanderte den niedrigen Gang entlang, den sie gekommen waren. Schon lange war der Höhleneingang ihren Blicken entschwunden. Ihm schien die Zeit eine Ewigkeit, die sie durch die lichtlose Unterwelt gewandert waren. Fröstelnd zog er seinen Umhang enger, obwohl es hier drinnen milder war als in der winterlichen Außenwelt.
»Kommt weiter, Herr«, drängte der Junge und ließ sich auf die Knie sinken, um in die Spalte zu steigen. »Wenn wir zu lange verweilen, verlöscht Euer Kienspan.«
Bei der Vorstellung, ohne Licht in dieser Finsternis zurückzubleiben, sträubte sich Junker Engelharts Nackenhaar.
»Warst du früher schon dort unten?«, fragte er.
Bernhard hielt inne. »Nein. Ich habe es Euch doch schon erzählt. Diesen Teil der Höhle gibt es noch nicht lange. Erst seit der Nacht, als die Erde bebte und alle zur Kirche rannten, weil sie dachten, das Jüngste Gericht stehe uns bevor. – Vater sagt, auch in Hirschfelden und in Uttenhofen hat man das Beben der Erde gespürt.«
»Und dann tat sich in der Erde ein Höllenschlund auf«, murmelte der Junker.
Er überlegte, ob er den Jungen fragen sollte, wie heiß es da unten war. Wie nahe würde man der Hölle mit ihren Dämonen kommen?
»Können wir jetzt weiter?«, fragte Bernhard ungeduldig und tastete sich mit beiden Händen an den Wänden entlang tiefer, doch Engelhart von Morstein schüttelte den Kopf.
»Nein, steig du hinunter und bring mir noch ein Stück mit herauf.« Er reichte dem Knaben einen Beutel. »Ich werde draußen auf dich warten.«
Bernhard lag eine unziemliche Erwiderung auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter. Ein reicher Edelmann durfte sich zimperlich anstellen. Also nickte er nur und kletterte langsam tiefer. Oben stand der Junker und sah dem schwindenden Lichtschein des kleinen Binsenlichts hinterher. Dann wandte er sich um und strebte eilig dem Höhlenausgang zu. Er sehnte sich nach dem Sonnenlicht, das den frischen Schnee draußen in himmlischer Herrlichkeit leuchten ließ.
Stefan, pass auf!«, rief Jos und deutete auf den hohen Holzstapel, der sich langsam zur Seite neigte. Der hünenhafte, bärtige Flößer sprang zur Seite und schon prasselten die eben erst aufgeschichteten Holzstämme herab. Polternd rollten sie übereinander und blieben dann im Morast des aufgeweichten Bodens liegen.
»Danke Jos!« Stefan nickte seinem jungen Freund zu, doch dann verfinsterte sich seine Miene. »Du nichtsnutziger Gauner von einem Fuhrknecht! Hat der Herr dir keine Augen gegeben, um zu sehen, wohin du deinen Karren lenkst?«
Der Fuhrmann, der den Holzstapel gerammt hatte, grinste nur und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Nichts für ungut, Stefan, wollte dir nicht ans Leder«, rief er und winkte zum Abschied. »Muss den Kecken eilig ihren Wein liefern, doch heute Abend können wir einen heben.«
»Wenn du die Zeche übernimmst«, rief Stefan zurück und packte sich dann den ersten Balken.
Der Fuhrmann trieb die beiden Ochsen in das braun schäumende Wasser der Sulfurt und dann durch das Tor zur Stadt hinein.
Jos Zeuner, der eigentlich auf den Namen Jodokus Andreas getauft worden war, ergriff das zweite Ende des Stammes, um Stefan zu helfen. Andere Flößer kamen herbei und so hatten die Männer den Holzstapel bald wieder aufgerichtet.
»Puh«, stöhnte Jos und strich sich eine Haarsträhne aus der schweißnassen Stirn. Man schrieb den 15. März im Jahr des Herrn 1450 und doch brannte die Sonne schon sommerlich heiß vom blauen Himmel herab. Stefan bot ihm einen Schluck Wasser aus seinem Lederschlauch an. Es schmeckte ein wenig bitter, aber es war erfrischend kühl. Als Jos ihm den Schlauch zurückgab, griff Stefan nach den schwieligen Händen des jungen Freundes, auf deren Flächen sich einige blutige Blasen gebildet hatten.
»Hast du während des Winters nur am warmen Ofen gesessen?«, spottete er gutmütig. Jos zog seine Hände zurück und errötete bis zu den Ohren. »Wenn nächsten Monat das Kaltliegen vorbei ist, dann wird die Haalarbeit dich schon wieder abhärten.«
Lachend ging er davon, um dem Auszieher zu helfen einen besonders großen Stamm aus dem Wasser zu zerren. Ein wenig neidisch sah ihm Jos nach. Wie schmächtig wirkte er gegen diesen bärtigen Riesen! Zwar war auch Jos nicht gerade klein zu nennen, doch obwohl er zu Maria Himmelfahrt schon sechzehn wurde, war alles an ihm eher schlaksig und dünn als männlich und muskulös. Und auch der Bartwuchs ließ – sehr zu Jos’ Ärger – auf sich warten.
Der junge Mann versuchte das Brennen seiner Handflächen zu ignorieren und packte sich den nächsten Scheit. Natürlich hatte er den Winter über nicht müßig daheim gesessen, doch die Arbeit der Flößer war dann doch noch etwas anderes. Sobald im Februar oder März das Schmelzwasser aus dem Bergland den Kocher anschwellen ließ, herrschte bei den Flößern Hochbetrieb. Nun wurden die Stämme, die im Herbst gefällt worden waren, aus den Wäldern der Schenken von Limpurg zum Kocher gebracht, ins Wasser geworfen und nach Hall hinabgeflöst. Hier, an der Unterwöhrdinsel und an den Ufern des Haals mussten sie dann herausgezogen, zerkleinert und aufgestapelt werden.
Jos war eigentlich kein Flößer, doch zur Zeit des Frühlingshochwassers wurden alle Hände gebraucht. Während der Siedenswochen im Frühling, Sommer und Herbst arbeitete Jos als Siedersknecht auf dem Haal. Hier, um die Solquelle, aus der das salzhaltige Wasser geschöpft wurde, standen die Sudhäuser. In fünf Meter langen Eisenpfannen kochte man das Salzwasser über lodernden Flammen, bis nur noch das wertvolle weiße Salz übrig blieb.
Das Wasser der Quelle war in einhundertelf Siedensrechte oder Pfannen aufgeteilt. Diese gehörten den Stadtadeligen, den umliegenden Klöstern, einigen reich gewordenen Siederfamilien und manche auch der Stadt selbst. Die schwere Arbeit jedoch verrichteten die Sieder, Feurer und Knechte. Jos arbeitete für den Sieder Hans Blinzig, der für die Gnadentaler Nonnen sott. Den ganzen Tag schleppte er Holz heran, half das Feuer in Gang zu halten oder packte mit zu, wenn das noch feuchte Salz aus den riesigen Eisenpfannen gekratzt wurde. Es war eine harte und Schweiß treibende Arbeit, doch Jos verrichtete sie gern. Die jungen Siedersburschen und Knechte waren raue, aber meist fröhliche Gesellen, die auch zu feiern wussten. Man spielte sich gegenseitig Streiche und man half einander. Doch was das Wichtigste war: Bei Meister Blinzig gab es fast das ganze Jahr über etwas zu tun und somit auch regelmäßig genug Heller zu verdienen, sodass Jos die Mutter und die jüngeren Geschwister ernähren konnte. In der warmen Jahreszeit wurde gesotten, im Winter wurden das Sudhaus ausgebessert und die Herde neu aufgebaut.
Ein Fahrzeug rumpelte auf der anderen Kocherseite durch die Zollhüttengasse und passierte dann die erste Furt, die von der Vorstadt zur Unterwöhrdinsel hinüberführte. Jos beachtete den Karren nicht, sondern arbeitete mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Erst als das Fahrzeug anhielt und immer mehr Flößer und Knechte sich um die Ladefläche scharten, hielt der junge Mann inne. Rufe ertönten, dann wurde es ganz still. Die Arbeit auf dem Unterwöhrd ruhte. Alle drängten sich um den Wagen und starrten schweigend auf seine Fracht.
Jos schob sich zwischen Stefan und einem anderen Flößer hindurch und sah dann mit angehaltenem Atem, dass ein toter Mann auf dem Wagen lag. Er trug einen an der Brust eng anliegenden, knielangen Rock aus blauem Tuch, der an den Rändern mit grauem Pelz besetzt war. Seine seidenen Beinlinge waren beschmutzt und zerrissen, die Schuhe fehlten. Auch Mantel, Hut und Gürtel waren ihm geraubt worden. Das blasse Gesicht und die Arme zeigten kleine Verletzungen, doch nichts, was den Tod des Edelmanns hätte erklären können.
»Junker Engelhart von Morstein«, hörte Jos Stefan hinter sich murmeln. »Wo habt Ihr ihn gefunden?«, fragte der Flößer laut.
»Ich kam von Berghof über Uttenhofen auf die Ebene hinauf. So auf halber Strecke vor Raibach muss es gewesen sein, da lag er im Graben, fast verdeckt von ein paar Zweigen.«
Stefan kletterte auf den Karren und hob vorsichtig den Oberkörper des Toten an. Jos stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Des Junkers sonst so sorgfältig gelocktes graues Haar hing in wirren Strähnen herab und war teilweise dunkel verkrustet. Auch schien der Hinterkopf seltsam verformt.
»Schädel eingeschlagen«, brummte Stefan und legte den Edelmann behutsam nieder.
»Man sollte den Schultheißen benachrichtigen«, murmelte eine Magd hinter Jos.
»Jemand muss es der Familie sagen«, raunte ein Flößer, ein anderer empfahl Bader Brem vom Vorderbad zu holen. »Der Stättmeister muss kommen«, schlug ein weiterer vor, doch keiner machte Anstalten, einen der Vorschläge auszuführen. Stefan sprang vom Wagen.
»Fuhrmann, bringt den Junker zu seinem Haus hinterm Spital, ich werde den Stättmeister holen. Jos, lauf du in die Pfaffengasse und bring Pfarrer Münkheim mit. – Ihr anderen geht wieder an die Arbeit.«
Froh, dass einer die Sache in die Hand nahm, gehorchten die Knechte und Flößer und trollten sich schwatzend zu ihrer Arbeit zurück. Der Fuhrmann saß auf und knallte mit der Peitsche. Während der Karren auf die Sulfurt zuschwankte, eilten Stefan und Jos über die Zugbrücke, die den Mühlenkanal überquerte, und dann durch das Unterwöhrdtor in die Oberstadt.
* * *
Es dämmerte bereits, als Jos sich endlich auf den Heimweg machte. In Gedanken noch bei dem ermordeten Junker, trottete er über die Henkersbrücke und dann auf die in den Himmel ragende Spitze der Katharinenkirche zu. Hier im Schatten des Gotteshauses, an der alten Landstraße, die die Leute heute nur noch Lange Gasse nannten, stand das schmale Häuschen, in dem Jos mit seiner Mutter und den drei jüngeren Geschwistern wohnte.
Jenseits des Kochers, wie die Bürger sagten, im Weiler und in St. Kathrin, lebten die armen Bewohner der freien Reichsstadt Hall: Mägde und Knechte, Krämer und Leinenweber, Gerber und Schneider. Müde schleppte sich Jos die schmale Stiege zur Stube hinauf, doch kaum war er oben angekommen, da wurde ihm klar, dass aus der ersehnten Ruhe nichts werden würde.
»Jos!«, zischte eine Stimme in befehlendem Ton. Eine Kammertür öffnete sich einen Spalt. »Komm und erzähl uns alles genau!« Die kindliche Stimme zitterte vor unterdrückter Spannung.
Jos seufzte. Er wusste, dass seine beiden Schwestern erst Ruhe geben würden, wenn ihre Neugier befriedigt wäre. Seufzend schob er die Kammertür auf. Wie ein Blitz schlüpfte eine kleine, nackte Gestalt zu ihrer Schwester unter die Decke, dass nur noch das pausbäckige Gesicht und die eng gebundene Betthaube hervorlugten. Das Stroh der Matratze knisterte, als Jos sich neben die Schwestern setzte.
»Also mach schon!«, drängte Maria, die Jüngste der Geschwister, »erzähl uns alles, was heute geschehen ist!«
Jos machte ein ernstes Gesicht.
»Ich bin wie immer im Morgengrauen von meinem Lager aufgestanden und nach meiner Schüssel Mus zum Unterwöhrd gelaufen. Ich habe mit den Flößern gearbeitet, bis mir der Rücken vor Schmerzen krumm war und meine Hände bluteten. Ich bin …«
Maria zischte wütend. »Hör auf! Du weißt genau, dass es nicht das ist, was uns interessiert.«
Greta nickte zustimmend. »Wir langweilen dich ja auch nicht und berichten dir, dass wir mit Mutter am Waschplatz waren und uns im Kocherwasser fast die Hände erfroren sind, dass wir die schweren Eimer vom Brunnen hergeschleppt haben und die Kohlköpfe im Keller von faulenden Blättern befreit haben.«
Jos grinste, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück.
»Ich finde das sehr interessant«, sagte er, denn es begann, ihm Spaß zu machen, seine Schwestern zu necken. »Habt ihr auch nicht vergessen die Hühner zu füttern und unserem Schwein die Reste aus der Küche zu bringen? Schließlich soll es bis zum nächsten Winter ordentlich fett werden.«
»Jos!«, rief Marie empört. »Wer denkt schon an Hühner und Schweine, wenn so etwas Aufregendes passiert! Hast du den toten Junker gesehen?«
»Wie sah er aus? Woran ist er gestorben?«, mischte sich nun Greta wieder ein und piekte Jos mit dem Finger in die Rippen. »Wer könnte das wohl getan haben?«
Seufzend rollte sich Jos auf die Seite und begann zu berichten.
* * *
Am Sonnabend war Jos wieder bei den Flößern und packte mit an, bis die Glocken zur Abendmesse riefen. Da eilten die Mägde und Knechte in die Vorstadt, um in St. Johann oder St. Katharina der Messe beizuwohnen, um sich still niederzusetzen und nach der langen Woche für eine Weile die Hände müßig in den Schoß zu legen. Vom lateinischen Singsang des Priesters eingehüllt, schloss so mancher die Augen und sank auf der harten Kirchenbank ein Stück in sich zusammen. Sosehr Jos diese ruhige Stunde sonst genoss – heute rutschte er unruhig hin und her. Endlich verließ der Pfarrer seinen Platz vor dem Altar, der Mesner löschte die Kerzen und die Menschen erhoben sich, um sich wieder ihrem Tagewerk zu widmen.
Jos begleitete seine Mutter und die Geschwister bis zum Kirchenportal, doch dann verabschiedete er sich hastig. Er stülpte sich seinen ausgeblichenen Hut auf das wirre Haar, warf den Umhang über die Schulter und ging dann mit großen Schritten über die Henkersbrücke. Rasch passierte er das Kornhaus, überquerte zielstrebig den Marktplatz und verließ dann die Stadt durch das Langenfelder Tor. Nun befand er sich im Land der Schenken von Limpurg. Da die Ritter in ewigem Zank mit der Reichsstadt lagen, schützten sich die Haller mit zwei mächtigen Mauern und einem breiten Graben dazwischen vor ihren Nachbarn.
Der junge Mann folgte dem Pfad, der sich außerhalb der Stadtmauer den Berg herunterzog, und wandte sich dann nach Süden. Er ließ die Häuser, die sich zu Fuß der mächtigen Burg scharten, hinter sich und stieg den steilen Berg hinauf, bis sich links von ihm ein trutziger Rundturm erhob. Da Jos keine Lust hatte, sich von den Wächtern ausfragen zu lassen, durchquerte er den künstlich angelegten Graben und folgte dem Weg weiter, bis er zu einer alten Scheune kam. Sie gehörte zu dem großen Gehöft der Schenken, das am Rand der Hochebene über dem Kochertal stand.
»Ach, lässt der gnädige Herr sich auch noch einmal blicken!«, begrüßte ihn eine helle Stimme. »Wie viele Stunden habe ich hier gestern wohl umsonst gewartet?«
Ein junges Mädchen baute sich vorwurfsvoll vor Jos auf und stemmte die Hände in die Hüften. Sie war einen halben Kopf kleiner als Jos, hatte eine schlanke Taille und schmale Hüften. Ihre Augen waren von strahlendem Blau und ihr langes Haar, das sie in hoch gesteckten Zöpfen unter einer einfachen Leinenhaube trug, war goldblond wie das reife Korn im Sommer. Die Märzsonne hatte ihr Gesicht bereits etwas gerötet und auf die Nase ein paar Sommersprossen gezeichnet. Die rosigen Lippen, die meist ein Lächeln zeigten, waren heute allerdings abweisend zusammengepresst.
»Sara, schau doch nicht so böse drein«, bat Jos. »Es war ganz bestimmt nicht meine Schuld. Als ich gestern endlich hätte gehen können, da wurden die Stadttore schon geschlossen.«
Er nahm seinen Umhang von der Schulter, breitete ihn im Gras am Fuß der Scheunenwand aus und setzte sich dann, den Rücken an die Bretter gelehnt.
»Komm, setz dich zu mir.«
Einladend klopfte er mit der Hand auf den Platz an seiner Seite, doch Sara verschränkte schmollend die Arme vor der Brust.
»Erzähle mir erst deine Geschichte, dann entscheide ich, ob ich dir verzeihen kann. Hast dir wohl in der Stadt ein Liebchen zugelegt?«
»Sara, nein, du tust mir unrecht. Der Junker von Morstein wurde ermordet und dann hat Stefan mich zu Pfarrer Münkheim geschickt und …«
»Was? Nein, wie aufregend!« Das Mädchen gab seine Schmollhaltung auf und rutschte neben Jos auf den Umhang. Sie hatte den Rock ein wenig geschürzt, sodass unter dem Saum eine Handbreit ihrer weißen Beine hervorlugten. Sara umfasste Jos’ Arm.
»Wie ist das passiert?«, fragte sie. »Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«
Ausführlich berichtete Jos, was er am anderen Tag erlebt hatte.
»Einfach so erschlagen!«, wiederholte Sara und schüttelte sich schaudernd. »Die Straßen werden immer unsicherer, seit die Städte Krieg gegen die Rittergeschlechter führen.«
Jos widersprach ihr: »Diejenigen, die sich Edle nennen, sind es doch, die die Straßen unsicher machen. Der Bund der Städte greift ein, weil nur so der Salz- und Weinhandel wieder sicherer werden kann. Erinnerst du dich an den Händler, der von der Messe in Frankfurt kam und dem sie oben in den Wäldern bei Waldenburg aufgelauert haben?«
Sara nickte.
»Vielleicht ist’s sogar einer der Mannen des Schenken, der unseren Junker auf dem Gewissen hat. Immerhin wurde er nahe des Weilers Uttenhofen gefunden. Da ist die Grenze zum Land des Limpurgers nicht weit.«
»Ha!«, rief Sara erbost und rückte wieder ein Stück von Jos ab. »Einer dieser eingebildeten Haller Geldsäcke bekommt eine über den Kopf und schon soll mein Herr wieder schuld daran sein.« Sie piekte Jos in die Brust. »Schon vergessen? Schenk Friedrich kämpft auf Seiten der Städte, statt am Lager seiner kranken Gattin zu weilen.«
Das macht es umso wahrscheinlicher, dass sein Sohn, der wilde Jörg, oder einer seiner Männer etwas damit zu tun hat, dachte Jos, sagte es aber nicht, um Sara nicht noch mehr zu verärgern.
Das Mädchen wollte gerade etwas ergänzen, doch da erschollen übermütige Rufe aus dem Tal, Pferdegewieher und Hufgeklapper näherten sich den steilen Hang hoch. Sara wurde blass und sprang auf. Sie zerrte Jos am Ärmel.
»Schnell in die Scheune. Sie dürfen uns hier nicht sehen.«
Jos griff nach seinem Umhang und ließ sich von Sara in die düstere Scheune ziehen. Die Männer kamen näher. Ihre rauen Stimmen ließen vermuten, dass ihre übermütige Stimmung vom Trinken kam.
»Sie waren in Tullau drunten. Wegen irgendeiner Sache wollten sie dem Junker von Bachenstein einen Denkzettel verpassen«, wisperte Sara und drückte sich eng an Jos.
Der junge Mann erkannte Schenk Jörgs Stimme. Nun konnte er auch die scherzhaften Worte verstehen, die sich die Männer zuwarfen. Offensichtlich war der Haller Stadtadelige Götz von Bachenstein nicht in Tullau gewesen. Doch nun, so spotteten die Männer draußen, würde er seine Burg nicht wieder erkennen. Die Mannen des Schenkensohns hatten nicht nur die Mägde und Knechte zur Burg hinausgeprügelt und die Vorratskammern geplündert. Sie hatten das Vieh weggeführt und die Weinfässer geraubt und dann, nachdem sie alles kurz und klein geschlagen hatten, im Haupthaus Feuer gelegt.
Ein paar Eimer Wein waren sicher gleich durch ihre Kehlen geronnen, vermutete Jos, als er sie wüst scherzen und lachen hörte. Hatte der Teufel selbst seine Hand mit im Spiel, fragte er sich, als die Männer, statt zur Burg zu reiten, vor der Scheune absaßen. Doch bevor er sich auch nur Gedanken über ein Versteck machen konnte, riss einer der Männer das Tor auf.
»Sieh mal, Jörg, was für ein seltsames Vogelpärchen in deiner Scheune nistet«, lachte er und schob die beiden auf den Platz hinaus, auf dem ein Dutzend trunkener Männer ihre Beute teilten.
Breitbeinig stellte sich der Junkersohn Jörg vor Jos auf, der schützend einen Arm um Saras Schulter legte.
»Der kleine Schmetterling stammt aus meinem Garten«, sagte der Junker, »doch wer mag der Geck sein, der in meinen Blumen wildert?«
Der Schenkensohn war im gleichen Jahr wie Jos zur Welt gekommen, doch die stolze Haltung und das kriegerische Blitzen in seinen Augen ließen ihn älter erscheinen. Langsam zog er sein Schwert. Sara schüttelte Jos’ Arm ab und trat einen Schritt nach vorn.
»Ihr irrt Euch, Herr, keiner hat Euch etwas weggenommen, das Euch gehört. Eure Scheune und Euer Holz sind unversehrt.«
Die Männer grölten. »Eine scharfe Zunge führt das Weib im Mund!«, lachte Jörgs Vetter aus Gaildorf.
»Nehmt es ihr nicht übel, Junker, ich bitte Euch«, mischte sich Jos stotternd ein. »Jodokus Andreas Zeuner ist mein Name. Ich bin Siedersknecht der Herren Blinzig in Hall.«
Als sie den Namen der Reichsstadt hörten, murrten die Männer und sahen Jos finster an.
»So, so, ein Haller Siedersknecht«, wiederholte der Schenkensohn und hob sein Schwert. Mit einer Drehung seines Handgelenks schlitzte er Jos’ Kittel einige Fingerbreit auf. »Du solltest dich eilen, dass du vor Einbruch der Dunkelheit das Tor erreichst, sonst könnte es eine gefährliche Nacht werden, da draußen in den feindlichen Wäldern.«
Jos zögerte, doch der Schenkensohn hatte bereits das Interesse an ihm verloren. Stattdessen legte er den Arm um Sara und zog sie an sich.
»Schmetterling, ich verstehe dich nicht. Wie kannst du so einen schmutzigen Burschen an deine Haut lassen, wo du einen Edlen beglücken darfst.«
»Ich lasse niemanden an meine Haut, weder ihn noch Euch«, fauchte Sara und wand sich aus seinem Arm.
Die Männer lachten. »Du musst die Wildkatze zähmen«, rief einer übermütig.
»Aber ja«, nickte Schenk Jörg und fixierte Sara. »Noch einmal wirst du mein Lager nicht ablehnen«, sagte er leise.
»Eher lass ich mich in Schimpf und Schande von der Burg jagen, als dass ich mit Euch das Lager teile«, zischte Sara und funkelte den Schenkensohn wütend an. Jos zuckte zusammen. Zwar war ihm der Gedanke unerträglich, der arrogante Geck könne sie berühren, doch so ein unüberlegtes Reden konnte sie beide um Kopf und Kragen bringen.
»Ach ja?« Er stieß sie von sich. »Das kannst du haben, du freches Luder. Wir zeigen dir und deinem Knecht gerne, was wir mit dem Gesinde des Tullauers gemacht haben.«
Ohne auf seine Worte einzugehen, trat Sara noch ein paar Schritte zurück. »Verzeiht, Herr, ich kann nicht bleiben, Eure gnädige Mutter verlangt sicher nach mir.« Sie knickste kurz und lief dann eilig den Hang hinunter und auf das Burgtor zu. Jos stürmte ihr hinterher.
»Oh Sara, was für ein Unglück«, jammerte Jos. »Was sollen wir jetzt tun?«
Das Mädchen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, nimm das nicht so schwer. Der beruhigt sich schon wieder und bis dahin sehe ich zu, dass ich ihm nicht über den Weg laufe. Die Schenkin hat ein offenes Ohr für ihre Mägde«, sagte Sara und in ihrer Stimme klang Bewunderung. »Gräfin Susanna von Tierstein ist eine Heilige!«
Noch immer zögerte Jos, doch Sara gab ihm einen Schubs. »Nun lauf schon. Die Torwächter warten nicht auf dich. Du kannst ja morgen nach der Messe wieder kommen.«
Und damit drehte sie sich um und verschwand im Düstern des Torturmes. So blieb Jos nichts anderes übrig, als sich auf den Heimweg zu machen. Eilig lief er durch den Wald, bis er, außer Atem und mit rotem Kopf, das Haller Stadttor erreichte.
Jos schlief schlecht in dieser Nacht. Immer wieder warf er sich von einer Seite auf die andere, dass das Stroh in der Matratze knisterte. Sein jüngerer Bruder Martin zog sich ärgerlich die Decke über den Kopf.
»Lieg endlich still!«, schimpfte er schlaftrunken.
So lag Jos wach auf dem Rücken, die Hände vor der Brust gefaltet, und wartete ungeduldig auf den Hahnenschrei. Kaum kroch das Grau des Morgens durch die Ritzen, war er schon auf den Beinen. Er schlüpfte in Hemd und Kittel, zog die Beinlinge hoch und nestelte sie an der Bruech fest. Mit klappernden Holzschuhen eilte er in die Küche, löffelte schweigend seine Milchsuppe und begleitete dann Mutter und Geschwister zur Kirche hinüber. Der Pfarrer sprach über das sechste Gebot. Er ermahnte die Männer nicht mit den freien Weibern die Ehe zu brechen, und rügte die Frauen, die mit aufreizenden Blicken die Männer zu sündigem Tun verführten. Jos dachte an Sara.
Endlich war die Messe aus. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinunter.
»Jos!«
Der junge Mann bremste seinen Lauf abrupt, sodass er fast vornüberfiel. Drüben auf dem Brunnenrand saß Sara, ein Bündel auf ihren Knien. Atemlos eilte Jos zu ihr.
»Oh Sara, was ist geschehen?«
»Die Gräfin liegt im Sterben. Der junge Herr hat herumgewütet, dass keiner mehr seinen Weg kreuzen wollte. Ja, und sein Bruder Wilhelm hat sich – obwohl er der Ältere ist – weinend und betend in die Kapelle zurückgezogen.«
»Und da hast du einfach dein Bündel gepackt und bist weggelaufen?«, fragte Jos.
Saras blaue Augen blitzten schon wieder gefährlich. »Nein, nicht so einfach. Erst als der Junker Jörg wie der Teufel persönlich durch die Burg jagte und herumschrie, nun sei seine Zeit gekommen und wir alle würden merken, dass der Müßiggang vorbei wäre. ›Fürchtet euch zu Recht‹, schrie er, ›denn nun werdet ihr meine harte Hand spüren‹. Da habe ich mein Bündel gepackt. Wer weiß, ob der Schenk aus dem Kampf zurückkehrt.«
Jos streichelte unbeholfen ihre Hand. »Natürlich hast du Recht daran getan, die Burg zu verlassen, nur …«, er zuckte hilflos mit den Schultern, »… wie soll es denn jetzt weitergehen? Hier in Hall darfst du sicher nicht bleiben.«
Sara nickte. Natürlich wusste auch sie, dass es nicht möglich war, einfach bei Jos zu bleiben. Er war nur ein einfacher Haalknecht, der noch dazu drei Geschwister und seine Mutter unterstützen musste. Es würde noch viele Jahre dauern, bis er daran denken konnte, sich eine Frau zu nehmen.
Schweigend saßen sie nebeneinander auf dem Brunnenrand, bis Maria in einem kurzen braunen Kittel angelaufen kam, vor den beiden stehen blieb und Sara misstrauisch musterte.
»Wer ist denn die?«, fragte Maria nach einer Weile.
Jos war die unverhohlene Neugier seiner kleinen Schwester peinlich, doch er stellte die Mädchen einander vor. Bevor die kleine Sara mit unangenehmen Fragen löchern konnte, trat Jos’ Mutter heran. Auch sie musterte die fremde Magd kritisch, doch dann lächelte sie und lud Sara zu einem Teller Kohlsuppe und verdünntem Kocherwein ein.
Später schlenderten die beiden durch die Stadt. Jos zeigte Sara die Haalhäuser und führte sie dann über den Markt und in die Oberstadt zu den turmartig aufragenden Steinhäusern der reichen Junker. Dann folgten sie den engen Treppengässchen zum Unterwöhrd hinunter, wo sie Stefan trafen. Sie setzten sich auf einen mächtigen Eichenstamm und plauderten angeregt miteinander. Es wurde Nachmittag, doch noch immer hatten sie keine Lösung für Saras Problem gefunden.
»Wo leben deine Eltern?«, fragte Stefan und teilte einen Apfel mit seinem Messer in drei Stücke.
»In Winterrain«, antwortete Sara und nahm dankend einen Apfelschnitz entgegen. »Sie bewirtschaften für die Gnadentaler Nonnen einen Hof.«
Stefan überlegte kauend. »Das ist an der Bibers, am Fuß des Eichelbergs, nicht?«
Sara nickte.
»Kann dein Vater dir nicht wieder eine Stelle besorgen?«, fragte Jos aufgeregt.
Sara schien wenig begeistert. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
Stefan erhob sich und wischte sich die Hände an seinen schmuddeligen Beinlingen ab.
»Dennoch wäre es das Vernünftigste, wenn du dich heute noch nach Winterrain aufmachen würdest. Ich kann in den nächsten Tagen bei den Siedern herumfragen, ob einer eine tüchtige Magd braucht und ob er für dich vor dem Rat bürgen würde.«
Auch Jos bestürmte sie vernünftig zu sein und so gab Sara schließlich nach. Die beiden holten Saras Bündel und wanderten dann zum Weilertor hinaus. Auf keinen Fall wollte Jos es sich nehmen lassen, Sara zu ihren Eltern zu begleiten.
Die Sonne lugte nur ab und zu zwischen den dickbauschigen, düsteren Wolken hervor, als die beiden über die Ebene schritten. Sie durchquerten Heimach, verließen dann jedoch die Michelbacher Landstraße und wanderten, vorbei an zwei Burgruinen zu ihrer Rechten, auf den bewaldeten Streifelesberg zu. Zwischen Eichen und Buchen stieg der Weg an und folgte dann der steil in eine Klinge abfallenden Hangkante. Die Sonne stand schon tief, als sie Rinnen erreichten. Es war der letzte Weiler im Haller Gebiet. Noch einen Berghang hinunter, dann standen sie vor der Heg.
Die Grenze, die die Reichsstädter um ihr Land gezogen hatten, bestand meist aus einem Graben und einem Wall, der mit einer dichten Hecke bepflanzt war. An manchen Stelle gab es jedoch auch einen Graben mit zwei Wällen oder, im Abstand von nur wenigen Schritten, zwei Wälle mit jeweils einem Graben. Vier große Landtürme bewachten die Straßen, über die die Händler das Haller Land betraten und verließen, doch es gab auch kleine Durchlässe mit Fallen und Riegeln, mal so schmal, dass die Bauern sie nur zu Fuß passieren konnten, mal so, dass auch ein Reiter hindurchpasste. Die Bewohner der nahe gelegenen Weiler mussten die Hecken aus Hainbuchen und Haselnuss pflegen, bis sie so dicht wuchsen, dass kein Reiter sie passieren konnte. Jeder Bewohner des Haller Landes musste einmal im Jahr einen Tag an der Heg arbeiten. Die Haller Hegreiter kontrollierten die Grenze, doch es waren zu wenige, um Hegfrevel zu verhindern. Immer wieder schlugen sich die Bauern schmale Durchgänge in die Hecken, um lange Umwege zu außerhalb der Grenze liegenden Feldern zu vermeiden.
Sara und Jos passierten die Heg durch ein Tor, das unmittelbar neben dem Kloster Gnadental lag. Die Zisterzienserinnen hatten die Klostergebäude, die um den quadratischen Kreuzgang angeordnet waren, und den ummauerten Klosterweiler direkt an die Haller Grenze gebaut. Die Nonnen nannten einige Höfe, Wälder und Wiesen ihr Eigen. Die lagen verstreut im Land der Weinsberger oder der Hohenloher und so manches Stück auch innerhalb der Haller Landheg.
Jos und Sara wanderten weiter und folgten dem Flüsschen Bibers, bis sie einen Hof erreichten. Das Wohngebäude, der Viehstall und die Scheune umschlossen einen nahezu quadratischen Hof. An der offenen Seite, die nach Süden zeigte, zog sich eine dichte Dornenhecke entlang, in deren Mitte ein Tor war. Vor dem Haus saß eine Frau auf einem Schemel, rupfte ein mageres Huhn und steckte die Federn sorgfältig in einen Sack. Sie trug ein Leinenhemd und einen Rock aus ungebleichter Wolle, der an einigen Stellen geflickt worden war. Um den Kopf hatte sie sich ein grobes Tuch geschlungen, unter dem einige graue Strähnen hervorlugten.
»Heilige Jungfrau!«, rief die Bäuerin aus, als sie ihre älteste Tochter erblickte. »Sara, was in aller Welt tust du hier?«
Sie legte das Huhn beiseite, erhob sich und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sara druckste ein wenig herum, bis die Geschichte endlich heraus war. Und obwohl Jos versicherte, Sara träfe nicht die geringste Schuld, zog die Mutter ein unglückliches Gesicht und murmelte: »Das wird dem Vater nicht gefallen, oh nein. Wo er doch so froh war dich bei den Schenken gut untergebracht zu haben. Er wird toben, das kannst du glauben.«
Schweigend standen Sara und Jos im Hof und sahen sich hilflos an.
»Und was ist mit dir, Bursche?«, fragte die Mutter. »Suchst du auch Arbeit?«
»Jos ist mein Name, Frau Bäurin, Jos Zeuner aus Hall. Nein, ich arbeite auf dem Haal. Ich habe nur Sara begleitet. Es ist so manches Gesindel in den Wäldern unterwegs.«
Die Bäuerin nickte beifällig. »Wohl gesprochen, Jos. Man kann die Räubernester nicht mehr zählen, aus denen sie hervorquellen wie die Heuschrecken der ägyptischen Plagen, um unsere Felder zu verwüsten und unser Vieh davonzuschleppen.«
Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, doch dann erinnerte sie sich ihrer Gastgeberpflichten.
»Es ist viel zu spät, um heute noch nach Hall zurückzuwandern. Jos, setz dich zu uns zum Spätmahl. Du kannst dann mit unserem Knecht in der Scheune schlafen.«
Sara und Jos folgten der Bäuerin in die Küche. Hier brodelte schon das Gerstenmus in einem eisernen Kessel über dem Feuer. Sie stellte einen Krug mit Wasser und einen mit Molke auf den Tisch und eine Schale mit Apfelbrei.
Draußen bellten die Hunde, dann stürmten zwei Knaben in die Küche. Ihnen folgte ein vierschrötiger Mann mit schiefem Gesicht, der ein kleines Mädchen im kurzen Kittel auf den Armen trug. Zum Schluss betrat der Hausherr den Raum. Bauer Stricker betrachtete seine Tochter und den fremden jungen Mann und zog dann fragend die buschigen Augenbrauen hoch.
»Nun?«, brummte er nur.
Stotternd erzählte Sara noch einmal ihre Geschichte, ohne jedoch den Vater anzusehen.
»Es war nicht ihre Schuld«, fügte die Bäuerin hinzu, als Sara geendet hatte, und stellte die Schüssel mit dampfendem Mus auf den Tisch. Der Vater sah seine Tochter noch immer scharf an, doch dann griff er nach seinem Löffel und begann schweigend das Mus zu essen. Die anderen warteten, bis er sich dem Apfelbrei zuwandte, dann begannen auch sie zu essen. Jos saß neben Kaspar, dem stummen Knecht, der in solch einer Geschwindigkeit sein Mus in sich hineinschaufelte, dass es einem vom Zusehen schwindelig werden konnte. Sara saß zwischen ihren beiden jüngeren Brüdern, die Mutter hatte die Kleine auf dem Schoß, da für sie kein Hocker mehr übrig war.
Das ganze Nachtmahl über sprach der Vater kein Wort. Erst als er sich erhob, um im Stall noch einmal nach dem Rechten zu sehen, sah er seine Älteste wieder an.
»Ich bringe dich morgen zu den Nonnen nach Gnadental. Vielleicht haben die Verwendung für dich. Im Kloster gibt es keine Ritter, die nach einem Rock gieren.«
* * *
Die Sonne hatte sich noch nicht über die lichtgrün knospenden Buchenwipfel erhoben, da herrschte auf dem Gnadentaler Hof, den Bauer Stricker zur Pacht hatte, schon emsige Geschäftigkeit. Die Schweine und Ziegen mussten gefüttert werden, die beiden Kühe gemolken und auf die Weide gebracht. Sara fütterte noch schnell die Hühner und Enten, dann umarmte sie die Mutter und die kleine Schwester zum Abschied, packte wieder ihr Bündel und folgte dem Vater und Jos die Bibers entlang zum Kloster hinunter.
Bald erhob sich die ummauerte Klosteranlage vor ihnen. Die Sonne ließ die Spitze des Dachreiters blitzen, der schlank auf dem Giebel der einfachen Kirche saß. Wie die anderen Bettelorden auch verzichteten die Zisterzienser auf Prunk und Zierrat in ihren Kirchen und so war auch ein himmelwärts strebender Turm verboten. Nur ein Dachreiter mit einer Glocke, die Schwestern und Laien zum Gebet rief, erlaubte die Regel.
Bauer Stricker pochte an das Tor. Ein schmales Fensterchen öffnete sich, dann knirschte der schwere Riegel und das Tor schwang auf. Die alte Portnerin sah die Besucher streng an und fragte dann nach ihrem Begehren. Wie alle Zisterzienserinnen war sie mit einem langen weißen Gewand aus ungefärbter Schafswolle bekleidet, darüber das Skapulier und den schwarzen Schleier.
»Das kann ich nicht entscheiden«, sagte die Alte, als Bauer Stricker seinen Wunsch vorgetragen hatte. »Wartet hier. Ich werde die Bursnerin holen«. Langsam schlurfte sie davon.
Sara, Jos und Bauer Stricker warteten vor dem Tor. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Portnerin mit einer anderen Nonne zurückkehrte. Die Bursnerin gehörte, wie die Pförtnerin, zu den wenigen Nonnen, die mit Laien sprechen durften. Ja, sie musste es sogar, denn wie hätte sie sich sonst um die wirtschaftlichen Belange des Klosters kümmern sollen? Sie hatte nicht nur die Aufsicht über die Kellerin und die Kastenmeisterin, sie überwachte auch, ob die Laienbrüder und -schwestern ihre Arbeit taten, und teilte den Mägden und Knechten ihre Aufgaben zu. Um die verpachteten Höfe regelmäßig zu besuchen und dort nach dem Rechten zu sehen, hatte das Kloster allerdings einen Verwalter.
Schwester Rahel, eine hagere Frau in den Vierzigern, die schon als junges Mädchen nach Gnadental gekommen war, war sich der Ehre wohl bewusst, einen so verantwortungsvollen Posten ausfüllen zu dürfen, und so duldete sie nicht die geringste Nachlässigkeit. Die Bursnerin schritt einmal um Sara herum, um sie genau zu betrachten. Der Blick aus den kühlen grauen Augen schien das Mädchen zu durchbohren. Ihr Mund war zu einem Strich zusammengepresst, auf der Stirn erschien eine steile Falte.
»Nun gut«, sagte sie nach einer Weile in strengem Ton. »Du kannst bei der Wäsche helfen und im Garten.«
Der Bauer verbeugte sich. »Ich danke Euch, Schwester.«
Der Blick der Nonne wanderte zu Jos. »Ist der junge Mann dein Bruder?«
Jos wurde rot, riss seinen speckigen Hut vom Kopf und beugte den Nacken. »Nein, ehrwürdige Schwester, ich habe Sara nur von Hall her begleitet.«
»Hm, nun gut.« Sie wandte sich wieder Sara zu. »Ich sage es dir dennoch mit allem Nachdruck: Wenn du hier im Haus mit unseren Mägden und Laienschwestern wohnst, wird es keine unkeuschen Besuche geben! Verstöße gegen unsere Regeln wissen wir wohl zu strafen. Hast du das verstanden?«
Sara senkte den Blick und knickste. »Ja, Schwester.«
»Verabschiede dich nun von deinem Vater. Die Glocke wird gleich zur Messe rufen. Schließe dich den anderen Mägden an. Nach der Messe wird dich Laienschwester Gertrude in deine Pflichten einweisen.«
Nach diesen Worten wandte sie sich um und verschwand wieder hinter den düsteren Mauern des Klosters.
»Sara«, sagte der Vater und legte seine Hände schwer auf die Schultern seiner Tochter, »du wirst tun, was die Schwestern dir sagen, und der Familie keine Schande machen!«
»Ja, Vater«, murmelte sie.
Er küsste sie auf die Stirn, dann wandte er sich ab und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sara sah ihm nach, bis er durch das Tor in der äußeren Mauer, die den zum Kloster gehörenden Weiler umschloss, verschwand.
»Und nun müssen auch wir Abschied nehmen«, sagte Jos und drehte seinen Hut in den Händen. »Hör, die Glocke ruft schon zur Messe.«
»Werde ich dich nicht wieder sehen?«, fragte Sara und riss die Augen auf.
»Du hast doch gehört, was die Schwester gesagt hat«, gab Jos zu bedenken. »Sie sieht so aus, als wüsste sie wirklich zu strafen.«
Sara machte eine wegwerfende Handbewegung. Ein schelmisches Lächeln huschte über ihre Lippen.
»Nun, wenn du an unkeusche Besuche dachtest, dann fielen diese natürlich unter das strenge Verbot.«
Jos wurde rot. »Nein, nein, ich dachte nur, also, wenn du es möchtest, dann komme ich natürlich gern, wenn ich dich damit nicht in Schwierigkeiten bringe und wenn es dir auch wirklich recht ist …«
Sara trat vor, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Jos einen Kuss auf die Wange. »Gut, wann sehe ich dich?«
»Am Sonntag, nach der Messe, ganz bestimmt«, stotterte der junge Mann.
Sara drehte sich um, raffte ihren Rock und lief an der Mauer entlang auf die Kirche zu, doch nach einigen Schritten drehte sie sich noch einmal um und rief: »Ich werde auf dich warten!«
Dann war sie verschwunden. Jos stand noch eine ganze Weile vor den aufragenden Mauern des Klosters, während sich im Innern der Kirche die klaren Stimmen der Nonnen erhoben, um Gott zu danken und die Heilige Jungfrau zu ehren. Endlich gab sich Jos einen Ruck und machte sich auf den Heimweg. Hoffentlich war Stefan nicht allzu böse mit ihm, denn selbst wenn er mit strammem Schritt zulief, würde er kaum vor der elften Stunde auf dem Unterwöhrd eintreffen.
* * *
Mit hochrotem Kopf, durstig und außer Atem, erreichte Jos die Stadt. Nach dem Weilertor musste er seine Schritte zügeln: Zu viele Karren und Menschen waren in den engen Gassen unterwegs und alle wollten die Henkersbrücke überqueren.
Mitten auf der Brücke, bei dem kleinen Häuschen, in dem der Nachrichter seine Werkzeuge aufbewahrte, saß ein Mädchen auf einem niederen Hocker. Sie war klein, aber trotz ihrer vierzehn Lebensjahre schon üppig weiblich gebaut. Ihr Gesicht war von der Sonne gebräunt, das lange schwarze Haar fiel ihr offen über den Rücken. Beim ersten Hinsehen hätte man sie für ein Zigeunermädchen halten können, doch obwohl sie keine Schuhe trug, war ihr Rock aus teurem Tuch und ihre Haltung stolz. Das Mädchen saß ganz ruhig da, die dichten schwarzen Wimpern über die Augen gesenkt, und dennoch beobachtete sie das Geschehen auf der Brücke genau.
Wie meist um diese Uhrzeit herrschte auf der Brücke dichtes Gedränge. Immer wieder mussten die Menschen an die Mauer ausweichen, um ein Fuhrwerk oder Reiter durchzulassen. Mägde und Knechte, Ratsherren und Handwerker, Händler und Bettler waren unterwegs. Dem Mädchen jedoch kam keiner zu nahe. Als wäre sie von einer unsichtbaren Schranke umgeben, strömten die Menschen zwei Armeslängen von ihr entfernt vorbei.
Auch Jos machte um Rebecca einen großen Bogen. Ihr Vater war der Nachrichter, der mit seinem Knecht nicht nur das verendete Vieh verscharrte und die Kloaken leerte, er war auch der Herr über die Gefängnistürme, musste die ergriffenen Missetäter peinlich verhören und die Verurteilten strafen. So hatte er nicht nur gelernt mit Ruten umzugehen, auch das Schwert wusste er wohl zu führen.
Die Bürger hatten vor Meister Geschydlin Respekt und sein Wort hatte Gewicht. Dennoch machte seine Arbeit ihn und seine Familie unehrlich. Schon eine Berührung mit dem Henker oder seinen Kindern konnte einen geachteten Bürger ebenfalls unehrlich machen und ihn damit zu einem Leben als Außenseiter zwingen, der sich nur noch durch Betteln oder andere unehrliche Arbeit ernähren konnte. Jedenfalls würde ihn kein Handwerksmeister mehr beschäftigen.
Ein langer Karren, hoch mit Holz beladen, rumpelte auf die Brücke. Rebecca sprang auf, trat an den Wagen und streckte dem Fuhrmann einen kleinen Korb entgegen.
»Holzzoll für die Stadt«, sagte sie mit dunkler Stimme.
Der Mann auf dem Kutschbock vermied es, ihr in die braunen Augen zu sehen. Er öffnete den Beutel an seinem Gürtel, nahm ein paar Münzen heraus und ließ sie in das Körbchen fallen. Rebecca nickte mit dem Kopf, trat zurück und nahm ihren Platz auf dem Schemel wieder ein. Langsam ruckelte das Gefährt die Brücke hinab Richtung Grasmarkt weiter.
»Ach, der Herr Zeuner gesellt sich auch noch zu uns«, spottete Stefan, als Jos auf dem Unterwöhrd eintraf.
»Es tut mir Leid«, schnaufte Jos und ließ sich auf einen Stamm fallen. »Es war gestern so spät und da konnte ich nicht mehr zurück nach Hall und heute Morgen haben wir Sara zu den Nonnen gebracht und …«
»Jetzt beruhige dich erst einmal und trink etwas«, stoppte der Flößer den Redefluss seines Freundes und reichte Jos den Trinkschlauch. »Bisher ist noch keiner der hohen Herren hier aufgetaucht, also halte den Mund und hole dir deine Heller für den ganzen Tag ab. Ich habe mit unserem Stapel dort drüben schon angefangen. Sobald du wieder bei Atem bist, kannst du mir helfen.«
Jos’ Wangen röteten sich noch eine Spur tiefer. »Danke Stefan, du bist ein wahrer Freund unter den Augen des Herrn.«
»Ach was!« Der Hüne hieb Jos freundschaftlich auf den Rücken, sodass der fast von seinem Sitzplatz herunterfiel.
Die beiden jungen Männer arbeiteten, bis die Sonne unterging. Dann lud Stefan Jos auf einen Krug sauren Kocherwein in die »Glocke« ein. Das Gasthaus lag in der Mauergasse, drüben, jenseits des Kochers in der Katharinenvorstadt. So hatten es die beiden nachher nicht mehr weit nach Hause. Jos begleitete Stefan durch die Zollhüttengasse und verabschiedete sich dann vor dem windschiefen Häuschen von ihm, das er mit seiner Schwester und deren Gatten zusammen bewohnte.
Beschwingt ein Lied pfeifend, ging Jos die Lange Gasse entlang. Düster reckte sich der Kirchturm von St. Katharina in den sternenklaren Nachthimmel. Der Mond beschien die baufälligen, geduckten Häuser zu beiden Seiten der Kirche, die von Unrat bedeckte Gasse und die Stufen, die zur Kirche hinaufführten.
Bewegte sich dort an der Außenwand des Chores nicht etwas? Jos hielt inne, sein Lied erstarb. Schon in Friedenszeiten war es nicht immer ungefährlich, nachts durch die Gassen zu gehen, doch seit die Städte gegen die Raubnester der niederen Adeligen zogen, kam immer mehr Gesindel in die Wälder und die Vorstädte.
Im Schatten der Häuser schlich Jos vorsichtig weiter. Da! Da war tatsächlich eine merkwürdig geduckte Gestalt. Ein dunkler Umhang verbarg den Körper, der sich seltsam ruckhaft fortbewegte und dann durch die angelehnte Tür in einen niederen Holzschuppen kroch.
Wollte der Kerl dort drüben die Witwe Aspach bestehlen? Jos zögerte. Wie üblich war der Nachtwächter nie dort, wo man ihn brauchte. Drüben von St. Johann her erklang sein Lied.
Sollte er den Dieb selbst stellen? Jos war nicht gerade ein Schwächling, dennoch meldete sich sein Magen und seine Knie wurden seltsam weich, wenn er daran dachte, dass der Kerl dort drüben einen Dolch oder gar einen dieser mit eisernen Spitzen besetzten Knüppel dabeihaben könnte.
Stefan würde nicht einen Augenblick zögern, dachte Jos beschämt, fasste sich ein Herz und huschte dann lautlos über die Gasse. Langsam schlich der junge Mann an der bröckeligen Hauswand entlang und lugte dann um die Ecke. Ein Windstoß öffnete die Schuppentür. Die Scharniere gaben ein klagendes Geräusch von sich. Eine getigerte Katze huschte über den verunkrauteten Hof und kletterte blitzschnell auf die Linde, die bei der Kirche stand. Noch einmal knarrte die Schuppentür. Eine Hand erschien im Mondlicht, griff nach der Tür und wollte sie zuziehen, doch da stürzte Jos nach vorn, umfasste das Handgelenk des Unbekannten und drückte mit aller Kraft zu.
Ein heller Schmerzensschrei erklang und dann ein Schluchzen, das sich nicht nach einem Diebesburschen anhörte.
»Au, Ihr tut mir weh, ach bitte, lasst mich los, ich habe nichts Unrechtes getan«, flehte die weinerliche Stimme eines Mädchens.
»Und was tust du dann hier?«, fragte Jos mit strenger Stimme, lockerte aber seinen Griff ein wenig.
»Ich wollte in dem Schuppen nur schlafen. Ich hatte Angst, die Nacht alleine draußen zu verbringen«, antwortete das Mädchen und zog geräuschvoll die Nase hoch.
»Wer bist du? Komm heraus und lass dich ansehen!«
Ein Kratzen und Schaben, wieder quietschte die Tür, als die Gestalt ins Freie kroch. Der dunkle Umhang fiel zu Boden und das Mondlicht schien in ein schmutziges Kindergesicht mit hohlen Wangen.
»Ich bin’s doch nur, die Hinke-Anna«, sagte das Mädchen und sah Jos aus großen dunklen Augen an.