Das japanische Desaster - Johannes Hano - E-Book

Das japanische Desaster E-Book

Johannes Hano

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Beschreibung

Erdbeben, Tsunami und Reaktor-Gau - das hochtechnisierte Japan ist über Nacht in ein Katastrophengebiet verwandelt worden. Fukushima steht für die Unkontrollierbarkeit einer Risikotechnologie und hat tiefgreifende politische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse auch in Deutschland hervorgerufen. Das Schicksal und die Tapferkeit der japanischen Bevölkerung wecken weltweit größte Anteilnahme, der Wiederaufbau des Landes wird Jahre, Jahrzehnte andauern. Johannes Hano befand sich zufällig in Japan, als Erdbeben und Tsunami das Land trafen, und hat über Wochen praktisch rund um die Uhr für das ZDF berichtet. Sein Buch ist einmal eine Chronologie der Ereignisse. Es beleuchtet aber auch die Hintergründe der Katastrophe und spricht über die zu erwartenden Folgen und die zukünftige Entwicklung. Denn entgegen der gegenwärtigen Nachrichtenlage ist bspw. die Situation in Fukushima noch immer hochgefährlich und wird es noch Monate, wenn nicht Jahre bleiben. Johannes Hano erlebte viele bewegende Begegnungen und erschütternde Ereignisse, die sein Buch zu einem authentischen und packenden Bericht über eines der prägendsten Ereignisse des 21. Jahrhunderts machen.

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Johannes Hano

Das japanische Desaster

Fukushima und die Folgen

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: ©Hitoshi Katanoda/ Polaris/

StudioX – dpa picture-alliance

ISBN (E-Book) 978-3-451-33909-7

ISBN (Buch) 978-3-451-30544-3

Inhaltsübersicht

Vorwort

Prolog

Freitag, 11. März 2011

14:46 – 17:00 Uhr

17:00 – 24:00 Uhr

Samstag, 12. März 2011

00:00 – 07:00 Uhr

07:00 – 16:00 Uhr

16:00 – 00:00 Uhr

Sonntag, 13. März 2011

Montag, 14. März 2011

00:00 – 11:00 Uhr

11:00 – 24:00 Uhr

Dienstag, 15. März 2011

00:00 – 08:00 Uhr

08:00 – 00:00 Uhr

Osaka

Mittwoch, 16. März 2011

Wer ist Tepco?

Donnerstag, 17. März 2011

Was ist ein Sievert?

Freitag, 18. März 2011

Die Reisen in den Norden

Yamagata

Minamisanriku

Kesenuma

Tokio

Die Folgen

Fukushima

Iitate

Epilog

Danksagung

|7|Vorwort

DIESES BUCH IST in sehr kurzer Zeit, in sehr intensiver Arbeit entstanden. Es basiert auf Tagebucheinträgen, Erinnerungen und natürlich auf Recherchen. Die Dialoge, die sich in diesem Buch finden, haben so oder so ähnlich stattgefunden. Sollten sich dabei doch einzelne Fehler eingeschlichen haben, was ich nicht hoffe, dann gehen sie ganz alleine auf meine Rechnung. Die Personen, die auftauchen, sind Menschen, die es wirklich gibt, mit denen ich zusammengearbeitet habe oder noch zusammenarbeite. Manche Personen werden nicht mit Namen genannt, weil es entweder nur flüchtige Begegnungen waren oder weil es mir nicht möglich war, sie im Nachhinein zu fragen, ob ich ihre Namen in einem Buch nennen darf. Ich habe darauf verzichtet, einen Fußnotenapparat anzulegen, aber dort, wo es mir notwendig und sinnvoll erschien, habe ich im Text die Quelle genannt, auf der die Information beruht. Grundsätzlich aber gilt im Nachrichtengeschäft, dass wir auch das zur Kenntnis nehmen, was Kolleginnen und Kollegen in anderen Medien veröffentlichen. Wichtigste Quellen für unsere Arbeit in Japan waren die verschiedenen japanischen Fernsehsender, japanische Nachrichtenagenturen, aber auch die Veröffentlichungen des Kraftwerkbetreibers Tepco, der japanischen Regierung und der japanischen Atomaufsicht. Natürlich haben wir auch gelesen, was die Kollegen in den japanischen, amerikanischen und deutschen Zeitungen schreiben. Schon allein, um zu checken, ob sich die eigenen Recherchen mit den Recherchen der anderen decken. Doch die allermeisten Informationen in diesem Buch gehen zurück auf persönliches Erleben und auf persönliche Recherchen.

|8|Prolog

ES IST DER 9.März 2011, sechs Uhr abends, Flughafen Narita, Tokio. Aufatmen. Frische Luft, Freiheit. Nach Japan kommen wir alle gerne, die wir in Peking leben und arbeiten. Keine lästigen Visaformalitäten, keine willkürlichen Festnahmen, keine Selbstkritiken, die man schreiben muss, keine Stasischläger, die die Mitarbeiter malträtieren, keine Zensur, die einem vorschreibt, was man lesen darf und was nicht. Seit die Diktaturen in Nordafrika fallen, sind sie in China besonders nervös, behindern unsere Arbeit, laden uns vor oder bestellen uns ein, um uns wie kleine Kinder zu behandeln, uns zu drohen oder uns Dinge zu erzählen, an die sie wohl selbst nicht wirklich glauben können. Und jetzt Japan. Welch ein Glück, dass ich auch hier ein Büro habe, ein sehr kleines, aber immerhin. Zufluchtsort, wenn es in China mal wieder besonders viele Probleme gibt, wenn ich Abstand brauche, damit meine Berichterstattung nicht unter meinem Ärger leidet. Raus aus dem Psychostress, entspannen, einfach mal einen schönen Film machen; über japanische Sumoringer zum Beispiel, und dabei der Frage nachgehen, was diese dicken Männer für die japanische Seele bedeuten. Gerade wurde unter viel öffentlicher Anteilnahme zum ersten Mal seit tausend Jahren ein großes Sumo-Turnier, das Haru-Basho, abgesagt. Heimliche Videomitschnitte hatten belegt, dass viele der großen Kämpfe gekauft sind, und zur Gewissheit gemacht, was viele schon immer wussten: dass nämlich die japanische Mafia, die Yakuza, den Sport beherrscht. Meine japanische Producerin Fuyuko Nishisato und meine Assistentin Lilo Ohgo hatten schon einige Dreh- und Interviewtermine organisiert, was in dieser zwielichtigen Welt nicht so einfach ist. Aber auf die beiden ist Verlass. Die nächsten |9|Tage wollten wir in einer Sumo-Schule für Kinder drehen, ausgemusterte Ringer treffen, die uns helfen sollten, an die wirklich großen Jungs heranzukommen; die Ex-Ringer betreiben mittlerweile Restaurants, deren Ernährungsziel es kurz gesagt ist, gesund fett zu werden, um auf Wettkampfgewicht zu kommen. Wir wollten mit einem Shinto-Priester über die Geschichte und die kulturelle Bedeutung dieses, für uns Westler doch sehr merkwürdig anmutenden Sports sprechen. Einsteigen in eine andere Welt. Wie hatte ich mich nach dem Ärger in China darauf gefreut. Für den 11.März abends hatte ich dann noch eine Einladung der „Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens“. Ich sollte dort meine Dokumentation zeigen, die ich im vergangenen Jahr produziert hatte – „Chinas Grenzen“; 20.000Kilometer waren wir entlang der Grenzen Chinas gefahren und hatten dabei ein Land entdeckt, das die meisten Menschen so nicht kennen. Im Anschluss daran sollte dann noch eine Diskussion stattfinden mit Volker Stanzel, dem deutschen Botschafter in Japan und langjährigen Botschafter in China. Doch zu alldem kam es nicht.

Die folgenden Tage und Wochen wurden für meine Mitarbeiter und mich zu der größten körperlichen und psychischen Herausforderung unseres Lebens. Todesangst gehört in unserem Job, der uns oft in Kriegs- oder Krisengebiete führt, leider dazu. Und die meisten Kollegen, die im Laufe des März zur Verstärkung nach Japan geschickt wurden, kannten dieses Gefühl, das einen von innen aufzufressen droht; wenn man sich nicht mehr sicher ist, ob man seine Frau, seinen Mann und seine Kinder wiedersehen wird. Aber in den meisten Fällen hat man als Journalist zumindest die Illusion, dass man aus eigener Kraft der Gefahr, dem Tod entkommen kann. Wir sind es gewohnt, Risiken ein- und abzuschätzen und uns Informationen zu besorgen, die uns dabei helfen. Aber dieses Mal war alles anders.

|10|Der Schlag traf Japan, uns alle, die wir da waren, so plötzlich, so unvorbereitet und so hart, dass uns nur noch ein letztes Hoffen blieb. Ausgeliefert, völlig machtlos warteten wir auf unser Schicksal, darauf, was der liebe Gott mit uns vorhat, ob das Hochhaus, in dessen 13.Stock unser Büro liegt, einstürzt oder nicht. Es waren vier, fünf Minuten voller Konzentration darauf, Angst und Panik nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, in dem Bewusstsein, dass wir es selbst nicht mehr in der Hand hatten, ob wir überleben. Unser Haus und die anderen Hochhäuser, die wir aus den Fenstern sehen konnten, bewegten sich wie Grashalme im Wind.

Kurz nach dem ersten Schlag dann die Tsunamiwarnung aus den Lautsprechern auf den Straßen und immer wieder schwere Nachbeben. Unsere Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Und das Schlimmste stand uns zu diesem Zeitpunkt noch bevor.

Etwa 250Kilometer weiter nordöstlich begann sich – zunächst völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit – eine Katastrophe zu entwickeln, die bis heute anhält, die nach wie vor die Gefahr birgt, dass ganze Landstriche Japans Hunderte, vielleicht Tausende Jahre nicht mehr bewohnbar sein werden. Der nukleare Notstand, den die japanische Regierung am Abend des 11.März 2011 ausrufen musste, gab diesem Tag für mich eine religiöse Dimension: Da draußen ist etwas, das man nicht hören, riechen, fühlen oder sehen kann, das sofort tötet oder einem langsam und in vielen Jahren die Organe mit Krebs zerfrisst. Man weiß nicht, ob es erst kommt oder schon wieder gegangen ist. Das Schlimmste aber: Es pflanzt eine Angst, die droht, dich von innen aufzufressen, ohne dass es überhaupt bei dir war – es ist das absolut Böse.

Die Angst und Verunsicherung bei vielen Kollegen war so groß, dass wir es ihnen freistellten in Japan zu bleiben. Mehrere Kollegen nahmen das Angebot an, kaum in Tokio angekommen, in die Heimat zurückzufliegen. Viele internationale |11|Unternehmen evakuierten ihre ausländischen Angestellten und deren Familien. Die Deutsche Schule wurde geschlossen, das Abitur in Deutschland gemacht, und die deutsche Botschaft verlegte sich bis Ende April komplett in das etwa 800Kilometer südlich von Fukushima gelegene Osaka. Als am 15.März nach den Reaktorblöcken 1 und 3 auch noch die Reaktorblöcke 2 und 4 des Atomkraftwerkes Fukushima Daiichi explodierten, entschied ich, dass auch wir Tokio vorübergehend Richtung Osaka verlassen.

Zu diesem Zeitpunkt war völlig unklar, was eigentlich genau passiert war, wie groß die Schäden an den Reaktorkernen waren, ob es eine radioaktive Wolke geben würde, es zur Massenpanik kommen würde, zu Hamsterkäufen. Seit Beginn der Katastrophe und eigentlich bis heute gibt es immer wieder sich widersprechende Meldungen, deren Quellen meist die Betreibergesellschaft Tepco oder die japanischen Behörden sind und waren. Hieß es gleich zu Beginn, die Atomkraftwerke, auch die in Fukushima, seien nach dem schweren Beben planmäßig heruntergefahren worden, wurde noch am Abend plötzlich der nukleare Notstand ausgerufen. Mal hieß es, die Situation sei bei einem Reaktor außer Kontrolle, dann bei allen wieder unter Kontrolle. Es sei möglicherweise zu einer Kernschmelze gekommen, nein, doch wohl eher nicht, die Kühlsysteme würden versagen, aber die Notkühlung über Dieselgeneratoren würde wieder funktionieren, nein, doch nicht, und immer so weiter.

Wir rätselten, ob die Verantwortlichen wirklich nicht wussten und wissen, was sich gerade in den Reaktoren abspielt, und vieles spricht genau dafür, oder aber, ob sie auf jede schlechte Meldung ein paar gute folgen ließen, um die Menschen langsam auf den Super-GAU vorzubereiten, sozusagen daran zu gewöhnen. Viele Menschen, wenn nicht die meisten in Japan, hatten nämlich noch überhaupt nicht begriffen, was da auf sie zukam, waren ganz von den apokalyptischen |12|Zerstörungen, die der Tsunami hinterlassen hatte, gefangen. Viele hatten Freunde, Verwandte, Angehörige oder Kollegen in den Fluten verloren, eine meiner Mitarbeiterinnen ihre beste Freundin. Die 25.000Toten, die Städte und Dörfer, die komplett ins Meer gespült worden waren, wogen mehr als die paar Reaktoren, um die sich diejenigen kümmerten, die das am besten konnten und seit Jahrzehnten taten – dachten viele. Dass es sich bei der Betreibergesellschaft Tepco um eine Firma handelt, die in der Vergangenheit immer wieder Zwischenfälle runtergespielt oder verschwiegen und sogar Wartungsberichte gefälscht hatte, das war den meisten zu diesem Zeitpunkt gar nicht klar. Tepco, das war doch ein wichtiges Unternehmen, das gute, zivile Kernenergie lieferte, damit die japanische Wirtschaft wachsen konnte und in den schwül-warmen Sommermonaten die Klimaanlagen funktionierten. Für uns aber war relativ schnell klar, dass weder Tepco noch die japanische Regierung irgendetwas unter Kontrolle hatten – und dafür musste man kein Atomphysiker sein: explodierende Reaktorgebäude, hilflose Kühlversuche aus der Luft mit Hubschraubern, die entweder ihre Wasserlast überall abließen, nur nicht dort, wo sie gebraucht wurde, nämlich auf den Reaktoren, oder sich gleich ganz zurückziehen mussten, weil die Strahlung zu stark war. Dann Kühlversuche mit einem Wasserwerfer der Polizei, dem einzigen weit und breit, denn Demonstrationen oder gar gewalttätige Proteste gibt es in Japan so gut wie nicht. Und spätestens als die US-Navy ihre Schiffe, die sie zur Unterstützung der Rettungsmaßnahmen nach dem Erdbeben und dem Tsunami geschickt hatte, aus Angst vor radioaktiver Strahlung aus dem Gebiet abzog, klingelten bei uns alle Alarmglocken. Dass sich in den Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi der Super-GAU zumindest anbahnte, war für uns offensichtlich – alles deutete darauf hin, aber wir wussten mit Sicherheit eigentlich |13|gar nichts. Wir mussten lernen, zwischen den Zeilen all der öffentlichen Verlautbarungen zu lesen und zu diesem Zweck erst einmal verstehen, wie ein Atomreaktor funktioniert. Wir haben tagelang praktisch nicht geschlafen, mussten uns selbst, unsere Familien, Freunde und Kollegen immer wieder beruhigen und versuchen, trotz allem einen klaren Kopf zu bewahren, um keine Fehler zu machen, die uns selbst gefährden oder unsere Zuschauer in Deutschland in Panik versetzen könnten. Der massive Druck der chinesischen Sicherheitsbehörden, dem ich für ein paar Tage in Japan hatte entkommen wollen, war nicht mehr als das zwar unangenehme, aber doch im Verhältnis lächerliche Vorspiel zu der psychischen und körperlichen Herausforderung, die meine Kolleginnen, Kollegen und mich in Japan erwartete. Die Katastrophe begann am 11.März um 14:46Uhr und sie ist noch nicht vorbei. Ihre Folgen sind bis heute nicht überschaubar.

|14|Freitag, 11.März 2011

14:46–17:00Uhr

Unser Büro in Tokio ist klein. Es liegt im 13.Stock eines Hochhauses, das dem größten japanischen Privatsender TBS gehört. Es misst etwa 60 qm, ein schmaler, langer Schlauch mit einem großen Fenster an der Außenwand. Öffnet man die Tür, steht man gleich im Archiv und wird von Fuyuko Nishisato empfangen. Fuyuko ist klein, mit großer Brille und eigentlich schon fast im Rentenalter. Wenn sie nicht gerade frei für uns arbeitet, schreibt sie Bücher über japanische Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Ein Tabuthema in Japan. Sie ist klug, mutig und – was in Japan besonders selten vorkommt – äußerst kritisch im Umgang mit Autoritäten. Sie ist eine engagierte Journalistin, der man nichts vormachen kann, die alles und jeden kennt und zudem eine biologische Eigenschaft besitzt, die für uns in den Tagen, die vor uns lagen, von kaum zu überschätzender Bedeutung war: Fuyuko braucht keinen Schlaf. Wenn überhaupt, reicht ein Stündchen im Bürostuhl. Auf ihrem großen, braunen Tisch stehen Fernseher, Computer und ein Telefon, liegen Berge von Unterlagen und Notizen. Bei ihr laufen alle Informationen zusammen.

Geht man einen schmalen Gang weiter Richtung Fenster, befinden sich auf der linken Seite zwei kleine fensterlose Kammern. In der ersten schneiden wir unsere Beiträge und machen unsere Sprachaufnahmen. In der zweiten ist unser Equipment untergebracht, stehen Server, Router, Telefonanlage. Unser Kameramann Toby Marshall hat hier einen Arbeitsplatz, an dem er kleine Reparaturen an unseren technischen Geräten durchführen kann. Toby ist ein drahtiger |15|Amerikaner aus Los Angeles, mit langen grauen Haaren und einer Lebensgeschichte, die ihn über verschiedene Kontinente schließlich nach Japan brachte und die selbst ein Buch wert wäre. Seit mehr als 20Jahren arbeitet er für uns, hat alles gesehen und ist eigentlich nicht aus der Ruhe zu bringen. Auch Toby geht stramm auf die Rente zu, aber geistig und körperlich ist er noch immer sehr viel fitter als so mancher 30-Jährige.

Ein paar Schritte weiter, am Ende des Schlauches, ein kleiner Raum, der gleichzeitig Sekretariat, Korrespondenten- und Besprechungszimmer ist. Ein riesiges Fenster mit Blick auf die Tokioter Skyline und die Diet, das japanische Parlament, versöhnt mit der Enge des Raumes. Hier sitzt mit Blick nach draußen Lilo Ohgo. Lilo ist eine blonde, rheinische Frohnatur, die mit ihrem Mann Mahito in den 70er-Jahren nach Tokio ging. Beide hatten sich in einer Jazzbar kennengelernt. Mahito war damals ein hochdekorierter Judo-Kämpfer und Trainer in verschiedenen europäischen Verbänden. Lilo ist voll in der japanischen Gesellschaft angekommen und über ihren Mann auch bestens vernetzt. Erfolgreiche Judoka genießen sehr großes Ansehen in Japan, einem Land, das manchmal ein wenig in seiner Tradition zu erstarren droht. Lilo managt unser Tokioter Office, aber wichtiger noch: Als Wandlerin zwischen den Welten schafft sie es immer wieder, die für uns westliche Banausen eigentlich unverstehbare japanische Kultur und Mentalität ein bisschen verstehbarer zu machen.

Es ist der 11.März, 14:46Uhr. Lilo ist gerade im ersten Stock bei den Nachrichtenkollegen von TBS, um Archivmaterial verschiedener Sumo-Kämpfe zu besorgen, Fuyuko ist draußen, holt sich gerade etwas zu essen, und ich stehe bei Toby in der Tür, als ich ein leichtes Zittern unter den Füßen spüre. „Toby, ich glaube, wir müssen mal die Bodenplatte hier austauschen, die scheint mir kaputt zu sein.“ Toby schaut von seinem Arbeitplatz auf, als dem Zittern ein heftiges |16|Ruckeln folgt. „No, no I think that’s a quake“ – „nein, nein, ich glaube, das ist ein Erdbeben“, sagt er mit der Gelassenheit eines langjährigen Bewohners dieser Insel, die permanent von stärkeren und weniger starken Erdbeben erschüttert wird. Mir wird flau im Magen als sich plötzlich das ganze Haus in Bewegung zu setzen scheint. Ein Ächzen und Stöhnen dringt aus den Wänden, unsere Büromöbel beginnen ihre Position zu verändern.

„Toby, wir müssen hier raus!“

„Nein, ich bleibe hier. Du kannst gehen, aber es ist gleich vorbei, keine Sorge!“

Für einen kurzen Moment stehe ich unentschlossen in der Tür, warte ein paar Sekunden ab. Aus dem Ächzen und Stöhnen wird ein Grollen. Nichts ist vorbei.

„Oh, this is a real big one.“

„Toby, wir müssen raus – sofort!“

Die Möbel fangen an zu tanzen, Kassetten fallen aus dem Archivregal, der Boden schwankt immer stärker.

„Toby, das ist ein Befehl! Du kommst jetzt mit!“

Hastig greifen wir uns die Kamera, Batterien, Tonausrüstung und unsere Mobiltelefone, wollen raus auf den Flur. Aber unsere Bürotür hat sich verkantet. Wir zerren mit aller Kraft, sie geht auf. Auf dem Flur japanische Kollegen, die sich wie wir auf dem schwankenden Boden kaum auf den Beinen halten können. Allen steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Wir machen uns auf den Weg zum Treppenhaus, schwanken wie Matrosen auf schwerer See durch den Gang, müssen uns immer wieder an den Wänden abstützen. Wir sind im 13.Stock. Wir entscheiden uns, am Treppenhaus angekommen, dagegen, runterzugehen. Die Gefahr ist zu groß, dass wir stürzen. Abwarten. Aber es hört nicht auf. Wir fühlen uns machtlos, sind einer ungeheuren Gewalt hilflos ausgeliefert. Mir kommen die Bilder in den Kopf vom Erdbeben in Sichuan 2008, als wir uns durch Berge aus Geröll |17|und Leichen bewegten und um unser Leben rannten, als ein Damm zu brechen drohte. Verdammt, ich will nicht so enden wie diese armen Menschen in China, begraben und verwest unter Geröll und Schutt. Meine Kinder brauchen mich noch. Ich will meine Frau wiedersehen. Lieber Gott, lass dieses Haus nicht einstürzen!

Nach einer gefühlten Unendlichkeit hört das Grollen auf, wird es plötzlich ruhig. Das Beben ist vorbei. Noch schwankt das Haus, aber es scheint stabil zu sein. Wir entscheiden uns, die Treppen hinabzusteigen, bevor ein starkes Nachbeben kommt – und das kommt mit Sicherheit. In jedem Stockwerk strömen Menschen in das Treppenhaus. Niemand spricht, alle sind voll konzentriert, keine Panik. Ich frage mich, wie es wohl in den Treppenhäusern der beiden Türme des World Trade Centers aussah, nachdem die Flugzeuge eingeschlagen waren.

Unten angekommen, am Ausgang, treffen wir Lilo. Sie zittert vor Angst, macht sich Sorgen um ihren Mann und ihren Sohn. Was machen wir jetzt? Noch immer schwanken die Hochhäuser um uns herum. Stürzen sie vielleicht doch noch ein? Fällt etwas herab? Wir müssen einen sicheren Ort suchen, um zu uns zu kommen. Nicht leicht in einer Stadt, die praktisch nur aus Hochhäusern besteht. Wir gehen schnell über einen großen Vorplatz des TBS-Gebäudes, um Distanz zu unserem schwankenden Haus zu gewinnen. Kommt man aus dem Haus und auf den Platz, steht links ein Theater, in dem TBS seine Fernsehshows produziert. Über dem Eingang hängt ein riesiger LCD-Monitor. Normalerweise können Passanten oder Fans hier Fernsehserien oder Shows verfolgen. Jetzt werden die ersten Bilder von zerstörten Häusern und verwüsteten Büros gezeigt. Die Nachrichtensprecher und -sprecherinnen tragen weiße Bauarbeiterhelme. Solche Helme und ein Erdbeben-Notfallkit gehören in Japan zur Standardausrüstung für alle Mitarbeiter. Auch wir haben diese Notfallausrüstung |18|im Büro, aber bei unserer Flucht nicht daran gedacht, sie mitzunehmen. Wir gehen um das Theater herum auf einen kleinen Hügel. Nicht wirklich sicher, sollte eines der umliegenden Hochhäuser einstürzen, aber der sicherste Ort unter den gegebenen Umständen. Wir versuchen zu telefonieren, aber die Netze sind zusammengebrochen. Ganz unvermittelt dringt aus Lautsprechern, die irgendwo auf den Straßen versteckt sind, eine ruhige männliche Stimme. Der Horror ist nicht vorbei. Im Gegenteil. Beim Zuhören ahnen wir, dass das Beben nur das Vorspiel zu einer sehr viel größeren Katastrophe war, die noch auf uns zukommt. Wir sollen uns so schnell wie möglich an höher gelegene Orte begeben, ein schwerer Tsunami rolle auf die Küste zu, verkündet die Stimme aus den Lautsprechern. Tokio liegt in einer Bucht, große Teile knapp über Meereshöhe. Wie hoch ist die Welle? Trifft sie Tokio? Sind wir hoch genug?

Und dann auf einmal wieder dieses Zittern und dann dieses Grollen. Die Hochhäuser, die gerade dabei waren, sich zu beruhigen, beginnen erneut zu schwanken. Das nächste Beben ist da. Ängstliche Blicke nach oben. Die Nerven zum Zerreißen gespannt. Wir müssen uns beruhigen, sonst werden wir verrückt. Arbeiten, uns auf das konzentrieren, was unser Job ist. Berichten, recherchieren. Toby macht die Kamera klar, dreht die schwankenden Häuser und all die Menschen, die ängstlich nach oben blicken. Plötzlich klingelt Lilos Handy. Meine Frau ist dran. Ihre Stimme bebt, ich spüre ihre Angst und die Erleichterung, dass es uns gut geht. Sie erzählt von Julian, unserem 8-jährigen Sohn, der angefangen habe zu weinen, als er vor ein paar Minuten die ersten Bilder der riesigen Flutwelle gesehen habe. Die völlige Zerstörung, Japan – und Papi ist da. Und sie erzählt von unserer 11-jährigen Tochter Julie, die sich völlig in sich zurückgezogen habe. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihnen. Kurz darauf klingelt Lilos Telefon erneut. Die Kollegen aus Berlin vom Morgenmagazin. Auch sie |19|haben die Bilder der Riesenwelle und der völligen Zerstörung, die sie angerichtet hat, gesehen, Bilder, die mittlerweile, gut eine Stunde nach dem ersten Beben, um die ganze Welt gehen. Bilder, die wir noch nicht sehen konnten, weil wir bislang damit beschäftigt waren, uns selbst in Sicherheit zu bringen. Dass diese Bilder überhaupt so schnell verfügbar waren, hat einen Grund. Seit Jahrzehnten rechnet man in Japan mit dem sogenannten „Big Bang“, dem Riesenbeben. Und auf diesen Tag haben sich die großen japanischen Fernsehsender vorbereitet. Überall entlang der Küste, vor allem aber in den großen Städten, haben sie an neuralgischen Punkten kleine Kameras installiert, die 24Stunden am Tag das ganze Jahr hindurch Live-Bilder in die Nachrichtenredaktionen senden. Nur für dieses eine Ereignis. Und das ist heute eingetreten. Es wird zu dieser Katastrophe Fernsehbilder geben, wie zu keiner Katastrophe zuvor. Bilder von einer riesigen Welle, die ganze Städte wegspült und Tausende Menschen mit sich ins Meer reißt. Verstörend, apokalyptisch, Furcht einflößend.

Wir sehen diese Bilder zum ersten Mal auf dem großen Bildschirm, der über dem Eingang des Theaters vor dem TBS-Gebäude steht.

Fassungslos, ungläubig starren wir auf den Bildschirm, so wie Hunderte andere, die nicht begreifen können, was da gerade passiert ist und wohin das alles noch führen soll.

Eines ist jetzt, nachdem wir die Bilder gesehen haben, völlig klar. Wir müssen zurück, hinauf in unser Büro im 13.Stock. Müssen uns einklinken in den Informationsfluss und hoffen, dass die Daten-, Fernseh- und Telefonleitungen in unserem Büro durch das Erdbeben nicht zerstört wurden. Es ist ein mulmiges Gefühl, das Treppenhaus hinaufzulaufen. Uns begegnen Techniker, die das Haus auf Schäden, Risse, Brüche überprüfen, festzustellen versuchen, ob es sicher ist, hier weiter zu arbeiten. Durchgeschwitzt und extrem angespannt erreichen wir den 13.Stock. Zwischentüren auf dem Gang zu |20|unserem Büro haben sich verkeilt, wir können sie nur mit Gewalt öffnen. Das ganze Haus muss sich verzogen haben. Wir stoßen unsere Bürotür auf – ein Bild der Verwüstung. Der Boden übersät mit Videotapes, DVDs, Papieren. Umgestürzte Regale, verschobene Tische. Als Toby seinen Arbeitsplatz sieht, wird er weiß im Gesicht. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, als das Erdbeben begann – zerquetscht von einem schweren technischen Rack. Telefon- und Internetleitungen scheinen intakt. Bevor wir loslegen können, müssen wir erstmal aufräumen. Fuyuko steht auf einmal in der Tür. Ihr geht es gut. Nein, nach Hause will sie nicht, wir müssten doch mit Sicherheit viel arbeiten jetzt, oder? Und dann ist es schon wieder da, dieses Ächzen, Zittern, Grollen. Diesmal nehmen wir unsere Helme mit. Viele Male an diesem Tag gehen wir die 13Stockwerke hinunter und wieder hinauf. Immer in der Hoffnung, dass das Gebäude auch noch den nächsten Schlag aushalten wird. Was wohl mit den Atomkraftwerken ist, die entlang der Küste stehen, fragt Toby irgendwann auf unserem Weg hinab. Es habe in der Vergangenheit doch schon bei wesentlich schwächeren Erdbeben größere Zwischenfälle gegeben. Zwischenfälle, bei denen auch Radioaktivität freigesetzt worden sei.

17:00–24:00Uhr

Die Stärke des Erdbebens, das 130Kilometer vor der japanischen Küste den Tsunami ausgelöst hat, wird ständig nach oben korrigiert, bis hinauf auf 9,0 auf der Richterskala. Es wird das stärkste Erbeben sein, das die japanische Insel seit Beginn der Messungen erschüttert hat, und das viertstärkste, das jemals auf der Welt gemessen wurde. Schon Stärke 8 bedeutet Großbeben mit vielen Opfern und schweren Verwüstungen. Die japanischen Atomkraftwerke aber sind je nach Standort nur auf Erdbeben der Stärke 7,1 bis 8,5 ausgelegt.

|21|Es ist 17Uhr in Japan. Vor einer Stunde hat ein bis zu 30Meter hoher Tsunami die japanische Küste auf einer Länge von etwa 500Kilometern heimgesucht. Jetzt tritt Regierungschef Naoto Kan vor die Presse. Acht Kampfflugzeuge seien aufgestiegen, um Luftaufnahmen von der betroffenen Gegend zu machen. Er spricht von enormen Schäden. Vielerorts vollkommene Zerstörung, aus Tokio Bilder einer brennenden und explodierenden Raffinerie, infernalische Bilder. Japan unter Schock.

Truppen der Selbstverteidigungskräfte, wie die japanische Armee heißt, und Polizisten seien in die am schwersten betroffene Präfektur Miyagi unterwegs, um die Rettungsarbeiten zu unterstützen.

Die lokalen Rettungskräfte sind völlig überfordert. Bis zu 100.000Soldaten werden in den nächsten Tagen an die Küste der Hauptinsel Honshu verlegt. Kan ruft die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren.

Naoto Kan ist studierter Physiker, Patentanwalt und noch nicht einmal ein Jahr Premierminister. Er gehört der Demokratischen Partei Japans (DPJ) an, die 2009 einen historischen Wahlsieg über die seit fast 60Jahren ununterbrochen regierende, konservative LDP errungen hatte. Die LDP war Japan, verantwortlich für den ökonomischen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch für Korruption und die Verkrustung des politisch-ökonomisch-bürokratischen Systems. Politiker, Industrielle und Beamte machten Jahrzehnte gemeinsame Sache, mehr zum eigenen als zum Vorteil der Bevölkerung. Nach 20Jahren Rezession und Stagnation waren es die Menschen leid und stimmten 2009 zum ersten Mal mit großer Mehrheit für eine Oppositionspartei. Die DPJ war angetreten, das Geflecht aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung aufzubrechen, Japan zu erneuern. Doch nach knapp zehn Monaten muss der gewählte Premierminister Yukio Hatoyama wegen Parteispendenskandalen |22|und gebrochener Wahlversprechen zurücktreten. Am 4.Juni 2010 wird Naoto Kan zu seinem Nachfolger gewählt. Seine wichtigste Aufgabe, sagt er, sei die Revitalisierung des Landes. Japan müsse seine dramatische Staatsverschuldung abbauen, mit über 200Prozent des Bruttoinlandproduktes die höchste in der industrialisierten Welt.

Heute aber deutet sich an, dass daraus wohl so schnell nichts wird. Neben all den schlechten Nachrichten hat der Premierminister aber jetzt, gut zwei Stunden nach dem Beben, noch eine beruhigende parat: Die Lage in den Atomkraftwerken sei normal. Die Anlagen seien automatisch heruntergefahren worden. Am 20.Mai 2011 wird er vor dem Parlament einräumen, dass die Regierung die Öffentlichkeit „völlig falsch“ über die sich entwickelnde Atomkatastrophe informiert habe. „Wir haben die falschen Angaben von Tepco, der Betreibergesellschaft, nicht aufdecken können“, wird er sagen, und weiter: „Darüber bin ich zutiefst unglücklich“.

Aber jetzt, am 11.März um 17Uhr, scheint alles noch in Ordnung. Doch Fuyuko, Lilo und Toby glauben nicht so recht daran. Immer wieder hatte es in der Vergangenheit Erdbeben gegeben, und immer hieß es zunächst: alles in Ordnung mit den Atomkraftwerken. Oft stellte sich das aber als die Unwahrheit heraus. Zuletzt 2007, als das Atomkraftwerk Kashiwazaki-Kariwa, das ebenfalls Tepco gehört, von einem Beben der Stärke 6,6 erschüttert wurde. Es kam zu einem Transformatorbrand, der erst nach zwei Stunden gelöscht werden konnte. Radioaktivität sei nicht ausgetreten, ließ die Betreibergesellschaft Tepco damals zuerst mitteilen, musste diese Aussage aber später wieder zurücknehmen. Es seien doch größere Mengen Wasser aus dem Reaktor ausgetreten, wobei auch radioaktives Material mit ausgeschwemmt worden sei, räumte Tepco später ein.

„Wenn es um Atomkraft geht, dann wird in Japan viel gelogen“, |23|meint Fuyuko. „Dass der Premierminister jetzt sagt, alles sei in Ordnung, muss überhaupt nichts bedeuten.“

Gegen 18:30Uhr berichtet eine japanische Nachrichtenagentur, im Kernkraftwerk Onagawa sei ein Feuer ausgebrochen, in einem weiteren das Kühlsystem ausgefallen. Zum ersten Mal hören wir jetzt den Namen, der zum Symbol für die Unbeherrschbarkeit der Kernenergie werden soll – Fukushima.

Das Kernkraftwerk Fukushima 1 liegt etwa 240