5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €
Eine mächtige Geheimloge – eine dunkle Bedrohung: Der fesselnde Verschwörungs-Thriller »Das Judas-Testament« von Adam Blake jetzt als eBook bei dotbooks. In Arizona stürzt ein Flugzeug ab, niemand überlebt – von wem also stammen die rätselhaften Nachrichten der Opfer, die ihre Angehörigen plötzlich erhalten? Zur gleichen Zeit führt in London der Mord an einem Professor die Polizistin Heather Kennedy zu einer geheimnisumwitterten Schrift aus dem Johannes-Evangelium – dabei scheint ihr jemand wie ein Schatten zu folgen. Hat der undurchsichtige Ex-Söldner Leo Tillman etwas damit zu tun? Er scheint ein besonderes Interesse an ihrem Fall zu haben, doch welche Verbindung könnte es zu seiner Frau und seinem Kind geben, die vor 10 Jahren spurlos verschwanden? Immer tiefer verstricken sich Kennedy und Tillman in einem gefährlichen Spinnennetz, dessen Fäden bei den »Kindern Judas« zusammenzulaufen scheinen: einer mächtigen Geheimloge, der kein Preis zu hoch ist, um der Welt ihre Wahrheit wie einen blutigen Stempel aufzudrücken! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der große Endzeit-Thriller »Das Judas-Testament« von Adam Blake ist der spannungsgeladene Auftakt der Reihe um den Ex-Söldner Leo Tillman und die Polizistin Heather Kennedy – für alle Fans von Scott McBain und Dan Brown. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 723
Über dieses Buch:
In Arizona stürzt ein Flugzeug ab, niemand überlebt – von wem also stammen die rätselhaften Nachrichten der Opfer, die ihre Angehörigen plötzlich erhalten? Zur gleichen Zeit führt in London der Mord an einem Professor die Polizistin Heather Kennedy zu einer geheimnisumwitterten Schrift aus dem Johannes-Evangelium – dabei scheint ihr jemand wie ein Schatten zu folgen. Hat der undurchsichtige Ex-Söldner Leo Tillman etwas damit zu tun? Er scheint ein besonderes Interesse an ihrem Fall zu haben, doch welche Verbindung könnte es zu seiner Frau und seinem Kind geben, die vor 10 Jahren spurlos verschwanden? Immer tiefer verstricken sich Kennedy und Tillman in einem gefährlichen Spinnennetz, dessen Fäden bei den »Kindern Judas« zusammenzulaufen scheinen: einer mächtigen Geheimloge, der kein Preis zu hoch ist, um der Welt ihre Wahrheit wie einen blutigen Stempel aufzudrücken!
Über den Autor:
Adam Blake ist das Pseudonym eines internationalen Bestsellerautors. Er lebt in London.
Adam Blake veröffentlichte bei dotbooks seine »Tillman und Kennedy«-Reihe mit den Thrillern »Das Judas-Testament« und »Die Judas-Offenbarung«.
***
eBook-Neuausgabe Oktober 2022
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Originaltitel »The Dead Sea Deception« bei Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group Ltd, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Die Judas-Verschwörung« bei Ullstein.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2011 by Adam Blake
Copyright © der deutschen Erstausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: ©HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shuterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98690-115-8
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Das Judas-Testament« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Adam Blake
Das Judas-Testament
Thriller
Aus dem Englischen von Helmut Splinter
dotbooks.
Für Chris, meinen VaterUnd Chris, meinen BruderUnd Chris, meinen SeelenbruderUnd Sandra, meine Schwester – aber vielleicht sollte ich sie Chris nennen, um Zweideutigkeiten zu vermeiden
Als die Einsatzleitung anrief, um Sheriff Webster Gayle über den Flugzeugabsturz zu unterrichten, war er auf der Kegelbahn und gerade dabei, seinen Löffel in einen riesigen Eisbecher zu versenken. Doch beim Zuhören spürte er nicht nur Mitleid für die Toten und Verletzten oder den Schrecken über den ganzen Mist, der ihm bevorstand, sondern auch Ärger darüber, dass er seinen Sieben-Dollar-Becher jetzt vergessen konnte.
»Notlandung?«, fragte er, weil er sichergehen wollte, dass er richtig verstanden hatte. Er legte seine Hand über das Telefon, um den Lärm der auf der Nachbarbahn umfallenden und sich wieder aufrichtenden Kegel zu unterdrücken.
»Nein.« Connies Antwort war eindeutig. »Eine Landung hat nicht stattgefunden. Der Vogel fiel einfach vom Himmel und knallte auf den Boden, und dann brach die Hölle los. Ich weiß nicht, wie groß der Flieger war oder woher er kam. Ich habe die Flugsicherung in Phoenix und Los Angeles angerufen. Ich sag dir Bescheid, wenn sie sich bei mir melden.«
»Und das ist eindeutig innerhalb der Grenzen unseres Countys passiert?«, klammerte sich Gayle an einen schwachen Strohhalm. »Ich dachte, die Flugroute liegt weiter westlich, draußen neben Arcona ...«
»Das Ding kam gleich neben dem Highway runter, Web. Ich schwöre bei Gott, ich sehe hier aus meinem Fenster sogar den Rauch. Der steigt nicht nur innerhalb der County-Grenzen auf, die Absturzstelle ist so nah, dass man sogar vom Gateway-Einkaufszentrum aus hinlaufen kann. Ich habe Doc Beattie schon informiert. Soll ich sonst noch was erledigen?«
Gayle überlegte. »Ja«, antwortete er nach einer Pause. »Sag Anstruther, er soll herkommen und das Gelände weiträumig absperren. So weiträumig, dass niemand gaffen oder Fotos schießen kann.«
»Was ist mit Moggs?« Sie meinte Eileen Moggs, die den gesamten Vollzeitmitarbeiterstab des Peason Chronicler bildete. Moggs war Journalistin der alten Schule. Als solche fuhr sie herum und sprach mit Leuten, bevor sie eine Akte anlegte, und machte eigene Fotos mit einer übergroßen digitalen Spiegelreflexkamera, die Gayle an einen Umschnalldildo erinnerte, den er einmal in einem Katalog für Sexspielzeuge gesehen hatte und jetzt vergeblich zu vergessen suchte.
»Moggs darf durchgehen«, erlaubte Gayle. »Ich schulde ihr einen Gefallen.«
»Ach ja?«, vergewisserte sich Connie so kühl, dass Gayle nicht wusste, ob ihre Bemerkung eine versteckte Anspielung enthielt. Deprimiert schob er den Eisbecher von sich fort. Es war eine dieser ausgefallenen Geschmacksrichtungen mit langem Namen und einer noch längeren Zutatenliste, die in erster Linie auf Schokolade, Marshmallow und Karamell in verschiedenen Kombinationen basierten. Gayle war süchtig, hatte aber schon vor langer Zeit Frieden mit seiner Schwäche geschlossen. Das Zeug übertraf Alkohol bei weitem. Wahrscheinlich auch Heroin und Crack, auch wenn er beides noch nicht probiert hatte.
»Ich bin schon auf dem Weg«, sagte er. »Sag Anstruther, vier- bis fünfhundert Meter.«
»Vier- bis fünfhundert Meter von was, Chef?«
Er winkte der Kellnerin, um zu bezahlen. »Die Absperrung der Unfallstelle, Connie. Ich möchte, dass man mindestens fünf Minuten braucht, um zu Fuß dorthin zu gelangen. Die Leute werden aus allen Richtungen herbeiströmen, um einen Blick auf das Wrack zu erhaschen, und je weniger sie sehen, desto eher werden sie wieder nach Hause gehen.«
»Okay. Fünf Minuten zu Fuß.« Gayle hörte, wie Connie den Auftrag niederschrieb. Sie hasste Zahlen, behauptete, blind dafür zu sein, wie andere Menschen farbenblind sind. »War’s das?«
»Vorerst ja. Versuch’s noch mal bei den Flughäfen. Ich rufe dich an, wenn ich an der Unfallstelle bin.«
Gayle nahm seinen Hut vom Stuhl neben sich und setzte ihn auf. Die Kellnerin, eine attraktive Frau mit dunklem Gesicht, auf deren Namensschild MADHUKSARA zu lesen war, brachte ihm die Rechnung für seinen Eisbecher und den Hotdog mit Pommes frites. Sie spielte die Entrüstete, weil er seinen Nachtisch nicht angerührt hatte. »Nun ja, ich würde mir den Becher ja einpacken lassen und mitnehmen, wenn das irgendwie möglich wäre«, versuchte er das Beste aus der Situation zu machen. Sie verstand den Witz und lachte lauter und länger, als er es wert war. Seine Gelenke knackten leise, als er sich erhob. Er wurde alt, und sein Rheuma meldete sich, selbst in diesem Klima. »Ma’am.« Er hob die Hand an seinen Hut und verließ das Lokal.
Die Zahnräder in Gayles Hirn drehten sich, als er den kochend heißen Parkplatz zu seinem verbeulten, blauen Chevrolet Biscayne überquerte. Er hatte zwar Anspruch auf ein neues Polizeifahrzeug, doch der Biscayne war ein lokales Wahrzeichen. Egal, wo Gayle ihn parkte, bedeutete er: Es ist Sprechstunde.
Wie wurde »Madhuksara« ausgesprochen? Woher kam sie, und was hatte sie veranlasst, in Peason in Arizona zu leben? Dies war Gayles Stadt, mit der er durch starke Wurzeln verbunden war, doch er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand, der von weit her kam, hier leben wollte. Welchen Vorteil bot die Stadt? Das Einkaufszentrum? Das Kino mit den drei Leinwänden? Die Wüste?
Klar, das war das 21. Jahrhundert, rief er sich in Erinnerung. Madhuksara war vielleicht gar keine Einwanderin, sondern hier in der südwestlichen Ecke der USA geboren und aufgewachsen. Immerhin sprach sie völlig akzentfrei. Andererseits hatte er sie nie zuvor hier in der Stadt gesehen. Gayle war kein Rassist, was ihm als Ordnungshüter mitunter einen Exotenstatus eingebracht hatte. Doch er war mit all seinen Instinkten Polizist und legte neue Gesichter jeglicher Hautfarbe bei den unerledigten Dingen ab, weil unbekannte Größen sich immer in Probleme verwandeln konnten.
Der Highway 68 war bis zur Interstate frei, doch schon weit vor den Kreuzungen sah er den rabenschwarzen Rauch, der zum Himmel emporstieg. Eine Rauchsäule bei Tag, eine Feuersäule bei Nacht, dachte Gayle zusammenhanglos. Seine Mutter war Baptistin gewesen und hatte die Heilige Schrift zitiert wie jemand, der übers Wetter sprach. Gayle hatte seit dreißig Jahren keine Bibel mehr aufgeschlagen, doch ein paar Sachen hatten sich in sein Hirn eingebrannt.
Er bog auf die einspurige Asphaltstraße ab, die an Bassetts Farm grenzte und in einen namenlosen Feldweg überging, wo er vor vielen, vielen Jahren seinen ersten Kuss bekommen hatte, der ihm nicht von einer älteren weiblichen Verwandten aufgedrückt worden war.
Überrascht und erfreut bemerkte er das eindrückliche gelbschwarze Absperrband quer über dem Weg. Es hing zwischen zwei hölzernen Zaunpfählen, etwa einhundert Meter, bevor man einen guten Blick auf das über eine große Fläche verteilte verbogene Metall haben würde, von dem der Rauch aufstieg. Spence, einer seiner schweigsamsten und nicht aus der Ruhe zu bringenden Deputys, passte auf, damit kein Fahrzeug die Straßensperre mit einem Schlenker durchs Maisfeld umfahren konnte.
Gayle kurbelte das Fenster nach unten, als Spence das Band löste, um ihn durchzulassen.
»Wo ist Anstruther?«, fragte er.
»Da oben«, antwortete Spence mit einer Kopfbewegung zur Seite.
»Wer noch?«
»Lewscynski. Scuff. Und Mizz Moggs.«
Gayle nickte und fuhr weiter.
Wie Heroin und Kokain gehörte auch ein Flugzeugabsturz nicht zu Gayles Erfahrungsschatz. In seiner Vorstellung war das Flugzeug wie ein Pfeil nach unten gerast und hatte sich in den Boden gebohrt, mit dem Heck nach oben. Die Wirklichkeit sah weniger hübsch aus. Eine breite, eineinhalb bis zwei Meter tiefe Furche zog sich etwa zweihundert Meter weit durch die Landschaft. Das Flugzeug war in der Mitte zerbrochen, als es den Boden durchpflügt hatte. Große, gebogene Teile des Rumpfes lagen rechts und links wie riesige Eierschalen herum. Aus dem, was am Ende vom Rumpf noch übriggeblieben war, stiegen Flammen empor, die, wie Gayle feststellte, weil sein Fenster noch immer nach unten gekurbelt war, die Luft mit einem fürchterlichen Brandgeruch erfüllten. Ob es Fleisch oder Plastik war, was so stank, konnte er nicht sagen. Er hatte es nicht eilig, das herauszufinden.
Er stellte seinen Biscayne neben Anstruthers schwarzweißem Polizeiwagen ab und stieg aus. Das Wrack befand sich hundert Meter entfernt, doch die Hitze des Feuers legte sich über Gayles Körper wie ein Riegel vor eine Tür, als er zu einer kleinen Gruppe von Menschen trat, die am Rand der frisch gepflügten Furche stand. Anstruther, sein leitender Deputy, schirmte die Augen ab, als er seinen Blick über die neu modellierte Landschaft schweifen ließ. Joel Scuff, ein nichtsnutziger Staatspolizist, der mit seinen 27 Jahren schon eine größere Schande für seine Zunft war als doppelt so alte Kollegen, stand neben ihm und blickte in dieselbe Richtung. Beide wirkten düster und ratlos wie auf der Beerdigung eines Menschen, den sie nicht sehr gut gekannt hatten, und als fürchteten sie nun, in ein Gespräch verwickelt zu werden.
Auf der aufgeworfenen Erde saß zu ihren Füßen Eileen Moggs. Ihre phallische Kamera lag nutzlos in ihrem Schoß, den Kopf hielt sie gesenkt. Gayle war sich nicht sicher, aber ihr Gesicht machte den Eindruck, als hätte sie vor kurzem erst geweint.
Gayle wollte etwas zu ihr sagen, doch als er den Erdwall hinaufging und schließlich sah, was die anderen sahen, blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Hirn wurde von diesem schrecklichen Bild vollständig besetzt und unterbrach die Kommunikation mit seinen Beinen.
Bassetts North-40-Farmgelände war mit Leichen übersät. Männer, Frauen und Kinder lagen über die zerkaute Erde verstreut, während sich über ihnen in der nach oben steigenden, sengenden Hitze die Kleider aus den zerborstenen Koffern aufbauschten und wanden, als hätten sich die Geister der Toten kostümiert, um tanzend ihre neu gefundene Freiheit zu feiern.
Gayle versuchte zu fluchen, doch sein viel zu trockener Mund brachte keinen Laut über die Lippen. In der fürchterlichen Hitze verdampften die Tränen auf seinen Wangen, noch bevor jemand sie sehen konnte.
Das Foto zeigte einen Toten, der am Fuß einer Treppe lag. Es war perfekt eingerahmt und gestochen scharf, doch niemand schien das Interessanteste daran bemerkt zu haben, was in Heather Kennedy allerdings nichts weckte, das Begeisterung ähnelte.
Sie schloss die Aktenmappe wieder und schob sie über den Schreibtisch. Viel mehr gab es ohnehin nicht zu sehen. »Ich will das nicht, Jimmy«, sagte sie.
Ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Schreibtischs, zuckte DCI Summerhill, der Detective Chief Inspector, mit den Schultern. »Ich habe sonst niemanden, dem ich das geben kann, Heather.« Er klang vernünftig wie ein Mensch, der tat, was getan werden musste. »Die ganze Abteilung steckt bis zu beiden Ohren in Arbeit. Sie haben am meisten Spielraum.« Er fügte nicht hinzu, hätte es aber tun können: Sie wissen, warum Sie immer den Kürzeren ziehen, und Sie wissen, was passieren muss, damit das ein Ende hat.
»In Ordnung«, stimmte Kennedy zu. »Ich habe wenig zu tun. Also machen Sie mich zum Laufburschen für Ratner oder Denning. Aber drehen Sie mir nicht so einen bescheuerten Fall an, den ich bis zum Jüngsten Tag nicht mehr aus meinem Terminkalender streichen kann.«
Summerhill machte sich nicht die Mühe, Mitgefühl zu zeigen. »Wenn es kein Mord war, schließen Sie den Fall ab. Ich unterstütze Ihre Entscheidung, solange sie Hand und Fuß hat.«
»Wie soll ich das tun, wenn die Beweise drei Wochen alt sind?«, schoss Kennedy giftig zurück. Sie würde verlieren, das hatte Summerhill bereits entschieden. Doch sie hatte nicht vor, es dem alten Sack leichtzumachen. »Niemand hat den Tatort untersucht. Niemand hat die Leiche vor Ort untersucht. Alles, was ich habe, sind lediglich ein paar Fotos, die von einem Uniformierten der örtlichen Polizei aufgenommen wurden.«
»Nun ja, das und den Obduktionsbericht«, korrigierte Summerhill. »Die Fragen, die aufgrund des Laborberichts offenbleiben, reichen, um den Fall wieder aufzunehmen und Ihnen möglicherweise genügend Anhaltspunkte an die Hand zu geben.« Er schob die Akte entschlossen und unwiderruflich zu ihr zurück.
»Wieso wurde eigentlich eine Obduktion durchgeführt, wenn der Tod niemandem verdächtig vorkam?«, fragte Kennedy verwirrt. Und wieso soll das jetzt unser Problem sein?
Summerhill schloss die Augen und massierte sie mit Daumen und Zeigefinger, während er erschöpft das Gesicht verzog. Er wollte einfach nur, dass sie die Akte an sich nahm und für diesen Morgen aus seinem Leben verschwand. »Die Schwester des Toten drängt auf Wiederaufnahme. Jetzt hat sie, was sie wollte – eine richterliche Feststellung auf unbekannte Todesursache, mit der eine Welt spannender Möglichkeiten heraufbeschworen wird. Um ehrlich zu sein, im Moment haben wir kaum eine Alternative. Wir stehen dumm da, nachdem wir den Fall so rasch als Unfalltod abgeschlossen haben, und wir stehen dumm da, weil wir den ersten Antrag auf eine Obduktion blockiert haben. Jetzt müssen wir den Fall wieder aufnehmen und so tun, als kümmerten wir uns darum, bis eine von zwei Sachen passiert: Wir finden eine wirkliche Erklärung für den Tod dieses Typen, oder wir fahren gegen die Wand, können aber behaupten, wir hätten es ehrlich versucht.«
»Was ewig dauern könnte«, stellte Kennedy klar. Sie saß vor einem klassischen schwarzen Loch: Ein Fall, bei dem am Anfang nicht einmal halbe Arbeit geleistet worden war, hieß, dass man sich hinterher wegen jeder Kleinigkeit den Arsch aufreißen musste, angefangen bei der Gerichtsmedizin bis zu den Zeugenaussagen.
»Ja, locker. Aber sehen Sie die Sache doch von der guten Seite, Heather. Sie werden auch einen neuen Partner einarbeiten, einen engagierten, jungen Detective Constable, der neu bei uns ist und nichts über Sie weiß. Chris Harper. Direkter Transfer aus St. John’s Wood über die Akademie. Behandeln Sie ihn bitte sanft, ja? Drüben in der Newcourt Street sind sie höflichere Umgangsformen gewohnt.«
Kennedy öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Es hatte keinen Sinn. Eigentlich konnte man nur staunen, wie sauber und bequem die Sache wieder hingebogen wurde. Jemand hatte den Fall versaut, ihn viel zu schnell abgeschlossen und war dann von den Beweisen unter Druck gesetzt worden. Jetzt wurde der Mist dem entbehrlichsten Detective der Abteilung übertragen, das nötige Kanonenfutter dazu wurde aus einem der Stadtbezirke geliefert. Niemand trug Schaden oder Schuld. Und wenn doch, würde niemandem, der etwas zählte, die Schuld dafür in die Schuhe geschoben werden.
Leise fluchend ging sie zur Tür. Summerhill, der sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurücklehnte, blickte ihr hinterher. »Kommen Sie alle heil wieder zurück, Heather«, ermahnte er sie wenig überzeugend.
Wieder am Schreibtisch, fand Kennedy das letzte Geschenk der »Schaff sie uns bis Freitag vom Leib«-Brigade – eine tote Ratte in einer Edelstahlfalle, die quer über ihren Akten lag. Sieben oder acht Detectives hielten sich in wie zufällig zusammengewürfelten Grüppchen auf, schielten aber verstohlen zu ihr herüber, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Der angespannten Atmosphäre nach zu urteilen, hatten sie wahrscheinlich Wetten darüber abgeschlossen, wie die Sache ausgehen würde.
Kennedy hatte harmlosere Provokationen überlebt, doch als sie auf die schlaffe Rattenleiche hinabblickte, um deren Hals sich eine Krause getrockneten Blutes zog, wo die gezackte Falle zugeschnappt war, musste sie sich eingestehen, was sie zu neunzig Prozent bereits wusste – dass sie die Schikanen nicht unterbinden konnte, wenn sie ihr Kreuz ohne Murren trug.
Was konnte sie also tun? Sie ging rasch einige Möglichkeiten durch, bis sie eine fand, die sich zumindest sofort umsetzen ließ. Sie schnappte sich die Falle und öffnete sie, was wegen der harten Feder einiger Anstrengung bedurfte. Die Ratte fiel mit hörbar dumpfem Schlag auf den Schreibtisch. Dann warf Kennedy die Falle zur Seite – sie fiel scheppernd auf den Boden – und nahm die Ratte. Sie hielt sie nicht vorsichtig am Schwanz, sondern umfasste sie mit ihrer ganzen Hand. Sie war kalt. Kälter als die Luft im Büro. Jemand musste sie in seinem Kühlschrank aufbewahrt haben, voller Vorfreude auf diesen Augenblick. Kennedy blickte sich um.
Josh Combes. Nicht, dass er der Rädelsführer war. Die Kampagne war nicht bewusst organisiert worden, doch unter den Officers, die das Bedürfnis hatten, Kennedy das Leben zu versauen, riss Combes den Mund am weitesten auf und war Dienstältester. Also würde Combes mindestens so gut wie jeder andere hier herhalten können. Kennedy ging zu seinem Schreibtisch und warf die tote Ratte in seinen Schoß. Combes rollte erschrocken mit seinem Stuhl zurück. Die Ratte fiel auf den Boden.
»Pfui Teufel!«, bellte er.
»Weißt du, Josh«, sagte Kennedy in die entrüstete Stille, »große Jungs bitten nicht ihre Mutti, solche Sachen für sie zu erledigen. Du hättest in Uniform bleiben sollen, bis dir die Eier abfallen. Harper, Sie kommen mit.«
Sie war sich nicht sicher, ob er da war, hatte keine Ahnung, wie er aussah. Doch als sie fortging, bemerkte sie aus dem Augenwinkel heraus, wie einer der Männer aufstand und sich aus der Gruppe löste.
»Miststück!«, zischte Combes hinter ihr.
Ihr Blut kochte, doch sie kicherte für alle hörbar.
Harper saß am Steuer und fuhr durch den leichten Sommerregen, der wie aus dem Nichts kam. Kennedy sah die Akte durch. Das nahm den größten Teil der ersten Minute in Anspruch.
»Haben Sie sich das hier ansehen können?«, fragte sie Harper, als sie in die Victoria Street einbogen und sich in den dichten Verkehr einfädelten.
Der Detective Constable blinzelte ein paar Mal, sagte aber erst einmal nichts. Chris Harper, 28, von Camden Operations, St. John’s Wood und der vom SCD viel umworbenen Polizeiakademie. Kennedy hatte sich zwischen Summerhills Büro und der Löwengrube in der Behördendatenbank über ihn informiert. Es gab nichts Auffälliges, nur eine Belobigung für Tapferkeit bei einem Lagerbrand und einen Verweis wegen einer Auseinandersetzung mit einem höhergestellten Beamten wegen einer persönlichen Angelegenheit, die nicht genauer benannt wurde und ohne Schlichtungsverfahren beigelegt worden war.
Harper war blond und spindeldürr. Sein leicht asymmetrisches Gesicht ließ ihn aussehen, als würde er vor seinem Gegenüber zurückzucken oder ihn mit einem schmeichelnden Blinzeln bedenken. Kennedy überlegte, ob sie ihm schon einmal, ganz früher, begegnet war, aber wenn, hatte er keinen Eindruck hinterlassen, weder einen guten noch einen schlechten.
»Ich habe es noch nicht ganz gelesen«, gab Harper zu. »Ich habe erst vor etwa einer Stunde erfahren, dass ich dem Fall zugewiesen werde. Ich wollte mir die Akte gerade ansehen, als ... na ja, als Sie auftauchten und sich als Kabarettkünstlerin hervortaten, und dann sind wir gleich losgefahren.« Kennedy blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, was er geflissentlich übersah. »Ich habe die Zusammenfassung gelesen«, fuhr er fort. »Und den vorläufigen Unfallbericht durchgeblättert. Mehr nicht.«
»Dann fehlt Ihnen nur noch der Obduktionsbericht«, stellte Kennedy fest. »Die Polizei hat am Tatort so weit alles erledigt. Ist Ihnen irgendwas aufgefallen?«
Harper schüttelte den Kopf. »Nicht viel«, gab er zu. Er drosselte das Tempo. Sie hatten das Ende eines Staus erreicht, der die Hälfte der Parliament Street einzunehmen schien. Straßenarbeiten, die den Verkehr auf eine Spur reduzierten. Die Sirene einzuschalten hatte keinen Sinn, weil keins der Fahrzeuge ausweichen konnte. Also krochen sie langsam vorwärts. Zu Fuß wären sie schneller gewesen.
»Der Tote war Lehrer«, berichtete Kennedy. »Eigentlich Universitätsprofessor, am Prince Regent’s College. Stuart Barlow, Alter 57. Hat in der Fitzroy Street an der Fakultät für Geschichte gearbeitet, wo er auch starb. Indem er eine Treppe hinunterstürzte und sich das Genick brach.«
»Genau.« Harper nickte, als würde er sich an alles erinnern.
»Im Obduktionsbericht steht aber was anderes«, fuhr Kennedy fort. »Er lag am Fuß der Treppe, also sah es logischerweise so aus, als wäre er gestolpert und gestürzt. Genickbruch, Schädelfraktur links. Er hatte seinen Aktenkoffer dabei. Der lag rechts von ihm, der Inhalt war herausgefallen. Auch das unterstützte die offensichtliche Vermutung: Er hatte seine Sachen gepackt und war auf dem Weg nach Hause. Die Leiche wurde kurz nach neun Uhr abends gefunden, vielleicht eine Stunde, nachdem er üblicherweise Feierabend machte.«
»Das ergibt Sinn«, räumte Harper ein. Er schwieg einen Moment, während er mit dem Wagen ein winziges Stück vorwärtskroch und wieder stehenblieb. »Aber? Der Genickbruch war nicht die Todesursache?«
»Doch, schon«, antwortete Kennedy. »Es war vielmehr die falsche Art von Genickbruch. Schädigung der Kehlmuskulatur durch Torsionsspannung, nicht durch flächige Verletzung.«
»Torsionsspannung. So, als wäre der Hals gedreht worden?«
»Genau, als wäre er gedreht worden. Und dazu braucht es eine zielgerichtete Anstrengung. Wenn man eine Treppe hinunterstürzt, passiert so etwas nicht. Ja, gut, ein harter Schlag von der Seite könnte dazu führen, dass der Hals plötzlich gedreht wird, aber dann würde man davon ausgehen, dass das Trauma des weichen Gewebes linear verläuft und der geschädigte Muskel und die äußere Verletzung zusammen auf den Winkel hinweisen, in dem der Stoß erfolgte.«
Sie blätterte durch die wenigen, unbefriedigenden Seiten, bis sie auf diejenige kam, die sie nach dem Obduktionsbericht am meisten beunruhigte.
»Außerdem ist da die Sache mit der Verfolgung«, sagte Harper, als läse er ihre Gedanken. »Ich habe auch den anderen Bericht gesehen. Der Tote ist verfolgt worden.«
Kennedy nickte. »Sehr gut, Detective Constable. ›Verfolgung‹ ist vielleicht ein bisschen überbewertet, aber Sie haben recht. Barlow hatte berichtet, dass er sich beobachtet fühlte. Zunächst während einer Hochschulkonferenz, später vor seinem Haus. Wer auch immer den Fall abgeschlossen hat, wusste entweder nichts davon oder hielt es nicht für wichtig. Die beiden Berichte wurden nicht miteinander in Verbindung gebracht, weswegen ich für die erste Möglichkeit plädiere. Doch angesichts der Obduktionsergebnisse stehen wir alle in ziemlich schlechtem Licht da.«
»Gott bewahre«, murmelte Harper kühl.
»Amen«, intonierte Kennedy.
Stille trat ein, wie oft nach einem Gebet.
Harper durchbrach sie. »Und diese Sache mit der Ratte? Gehört so was zu Ihrem Alltag?«
»Derzeit jedenfalls. Warum? Sind Sie allergisch?«
Harper dachte darüber nach. »Noch nicht«, antwortete er schließlich.
Ungeachtet seines Namens, war das Nebengebäude der historischen Fakultät des Prince Regent’s College in angriffslustiger Weise modern gestaltet – ein nüchterner Beton- und Glasbunker, der in eine Seitenstraße ein paar hundert Meter vom Hauptsitz des Colleges auf der Gower Street entfernt gepfercht war. Vor einer Woche hatte die vorlesungsfreie Zeit begonnen, weswegen gähnende Leere herrschte. An einer Wand der Eingangshalle befand sich eine deckenhohe Anschlagtafel, an der alte Konzertplakate von Bands hingen, die Kennedy nicht kannte.
Der gepeinigte Quästor, Ellis, nahm sie draußen in Empfang. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, als käme er gerade vom bürokratischen Pendant einer Aerobic-Veranstaltung. Er schien den Besuch als persönlichen Angriff auf den guten Ruf des Instituts zu betrachten. »Uns wurde gesagt, die Ermittlungen seien abgeschlossen«, beschwerte er sich.
»Ich bezweifle, dass Ihnen das von irgendjemandem gesagt wurde, der dazu ermächtigt war, Mr Ellis«, entgegnete Harper mit ausdruckslosem Gesicht. Die offizielle Version zu diesem Zeitpunkt lautete: Die Behauptung, der Fall wäre abgeschlossen, beruht auf einem Missverständnis.
Kennedy hasste faule Ausreden. Zudem empfand sie im Moment wenig Loyalität ihrem Arbeitgeber gegenüber. »Die Obduktion ergab ungewöhnliche Ergebnisse«, fügte sie hinzu, ohne Harper anzublicken. »Damit sehen wir den Fall in einem ganz anderen Licht und werden weitere Ermittlungen durchführen müssen. Wahrscheinlich ist es am besten, mit niemandem von der Fakultät darüber zu sprechen.«
»Darf ich zumindest davon ausgehen, dass die Sache vor Beginn des Sommerschulprogramms abgeschlossen ist?«, fragte Ellis in einem Ton, der sich irgendwo zwischen Kampflust und Furcht bewegte.
Auch Kennedy wünschte sich dies von ganzem Herzen, doch Dinge zu versprechen, die den Crashtest noch nicht überstanden hatten, würde später nur zu weiterer Verstimmung führen. »Nein«, sagte sie freiheraus. »Gehen Sie bitte nicht davon aus.«
Ellis’ Unterkiefer fiel nach unten.
»Aber ... die Studenten«, merkte er an, obwohl keiner von ihnen zu sehen war. »Solche Dinge sind der Anwerbung oder unserem akademischen Gesamtprofil nicht förderlich.« Diese Bemerkung war so albern, dass Kennedy darauf nichts zu erwidern wusste. Sie entschied sich für Schweigen, hinterließ damit aber eine Leere, die zu füllen der Quästor sich leider verpflichtet fühlte. »Es gibt so etwas wie Kontamination durch Assoziation«, erklärte er. »Wie damals in Alabama nach der Schießerei in der biologischen Fakultät. Die Amokläuferin war eine verärgerte Dozentin, soweit ich weiß – ein verrückter Vorfall, wie er nur äußerst selten vorkommt, und es waren keine Studenten beteiligt. Doch die Fakultät berichtete von einem Rückgang der Bewerberzahlen im nächsten Jahr. Es ist, als glaubten die Menschen, Mord wäre ansteckend.«
Gut, dachte Kennedy, das war zwar nicht ganz so albern, aber weit widerlicher. Dieser Mann hier hatte einen Kollegen verloren, und das unter Umständen, die sich als verdächtig herausstellten, doch sein erster Gedanke war, wie dies die Bilanz des Instituts beeinflussen könnte. Ellis war ein Scheißkerl, weswegen er nur Anspruch auf die Grundausstattung in Sachen Höflichkeit hatte.
»Wir müssen die Stelle sehen, wo die Leiche gefunden wurde«, verlangte sie. »Und zwar gleich, bitte.«
Er führte sie durch leere, hallende Flure. In der Luft hing ein Geruch, der Kennedy an alte Zeitungen erinnerte. Als Kind hatte sie im Garten ihrer Eltern ein Spielhaus aus Kartons voller Zeitungen gebaut, die ihr Vater aus geheimnisvollen Gründen gesammelt hatte. Vielleicht hatte sein Verstand schon damals nachgelassen. Es war genau dieser Geruch – feuchtes, altes Papier, das seinem eigentlichen Zweck, der Information zu dienen, enthoben war.
Sie bogen um eine Ecke, hinter der Ellis plötzlich stehenblieb. Einen Moment lang dachte Kennedy, er wollte wieder Einwände vorbringen, bis er in seltsam verkrampfter Weise die Hände hob und auf die Umgebung deutete.
»Hier ist es passiert«, sagte er mit Betonung auf einem zugleich zurückhaltenden und lüsternen »es«. Kennedy blickte sich um, erkannte von den Fotos den kurzen, engen Flur und die steile Treppe.
»Danke, Mr Ellis«, sagte sie. »Wir kommen jetzt allein zurecht. Aber etwas später brauchen wir Sie noch einmal, damit Sie uns Mr Barlows Büro zeigen.«
»Ich werde am Empfang sein.« Als Ellis davonschlenderte, konnte man beinahe nach den Gewitterwolken über seinem Kopf greifen.
Kennedy wandte sich an Harper. »Okay«, begann sie, »bringen wir das hinter uns.« Sie reichte ihm die geöffnete Akte, in der oben die Fotos lagen. Harper nickte behutsam. Er ordnete die Fotos wie ein Pokerblatt an und blickte immer wieder von dort zur Treppe. Kennedy drängte ihn nicht. Er musste einen Blick dafür bekommen, und das würde so lange dauern, wie es eben dauerte. Ob er es wusste oder nicht, sie tat ihm einen Gefallen, indem er sich ein eigenes Bild machen durfte, statt dass sie ihn mit ihren eigenen Gedanken zuballerte. Schließlich war er noch grün hinter den Ohren, und theoretisch sollte sie ihn weiterbilden und nicht als Fußschemel benutzen.
»Er lag hier.« Harper zeichnete den Tatort mit seiner freien Hand nach. »Sein Kopf ... dort, etwa auf der vierten Stufe.«
»Kopf auf dem Läufer der vierten Stufe«, warf Kennedy ein. Sie widersprach ihm nicht, sondern verwendete nur ihre eigenen Worte. Sie wollte es sehen, wollte das Bild in ihrem Kopf in den Raum vor sich übertragen, und sie wusste aus Erfahrung, dass es half, dieses Bild in Worte zu fassen. »Wo ist der Aktenkoffer? Unten an der Wand, oder? Hier?«
»Dort.« Harper deutete auf eine Stelle etwa einen halben Meter von der untersten Treppenstufe entfernt. »Er liegt geöffnet auf der Seite. Eine Menge Blätter liegen verstreut herum. Ziemlich weit, bis zur Wand auf der anderen Seite. Sie könnten beim Sturz aus dem Koffer oder Barlow aus der Hand gefallen sein.«
»Was noch?«
»Sein Mantel.« Harper deutete wieder auf eine Stelle.
Damit brachte er Kennedy kurz aus dem Konzept. »Auf den Fotos ist keiner zu sehen.«
»Nein«, stimmte Harper zu, »aber er steht auf der Beweisliste. Er wurde weggenommen, weil er die Leiche zum Teil bedeckte und deswegen keine Fotos von den Verletzungen gemacht werden konnten. Barlow hielt ihn vielleicht über dem Arm. Ein warmer Abend. Vielleicht zog er ihn auch gerade an, als er stolperte. Oder als er angegriffen wurde.«
Kennedy dachte darüber nach. »Passt der Mantel zum Rest seiner Kleidung?«, fragte sie.
»Was?« Harper hätte beinahe gelacht, doch er merkte, dass Kennedy ihre Frage ernst meinte.
»Hat er die gleiche Farbe wie Barlows Jackett und Hose?«
Harper blätterte lange Zeit durch die Akte, fand aber nichts, was den Mantel beschrieb oder zeigte. Endlich entdeckte er ihn auf einem der Fotos, eins, das gleich am Anfang der Untersuchung aufgenommen worden, aber irgendwie ans Ende des Stapels gerutscht war. »Ein schwarzer Regenmantel«, verkündete er. »Kein Wunder, dass er ihn nicht angezogen hatte. Wahrscheinlich schwitzte er schon in seinem Jackett.«
Kennedy stieg die Treppe ein Stück hinauf und nahm sie genau unter die Lupe. »Man fand Blut«, rief sie nach hinten. »Wo war das Blut, Harper?«
»Von unten gezählt auf der neunten und dreizehnten Stufe.«
»Stimmt. Die Flecken sind noch auf dem Holz zu sehen. Hier, schauen Sie mal.« Sie fuhr mit der Hand kreisförmig über eine der Stellen, dann über die andere, die als Dreieck nach unten verlief. »Er stürzt, rums, prallt mit dem Kopf auf ...« Sie drehte sich zu Harper, sagte aber mehr zu sich selbst als zu ihm: »Ein Raubüberfall war das nicht.«
Er wandte sich wieder der Akte zu, diesmal aber nicht mehr den Fotos, sondern der Zusammenfassung. »Kein Hinweis darauf, dass etwas gestohlen wurde«, stimmte er zu. »Brieftasche und Telefon steckten noch in seiner Tasche.«
»Er hat elf Jahre lang hier gearbeitet«, sinnierte Kennedy. »Warum sollte er also gestürzt sein?«
Harper blätterte schweigend in den Seiten. Als er aufblickte, deutete er an Kennedy vorbei zur obersten Stufe. »Barlows Büro liegt in der ersten Etage am anderen Ende des Flurs«, sagte er. »Dies war so ziemlich der einzige Weg, um das Gebäude zu verlassen, wenn er nicht an der Rezeption vorbeigehen wollte, um dort seine Post oder etwas anderes abzugeben. Und hier steht, die Glühbirne brannte nicht, so dass es im Treppenhaus dunkel gewesen sein muss.«
»Brannte nicht? Weil sie herausgedreht worden war?«
»Nein, durchgebrannt.«
Kennedy ging die restlichen Stufen hinauf zu einem sehr schmalen Treppenabsatz. Hinter einer einzelnen Tür in der Mitte der Wand lag ein anderer Flur – nach dem, was Harper gesagt hatte, führte dieser zu Barlows Büro. Beiderseits der Tür befanden sich zwei bis zur Decke reichende Fenster mit Milchglasscheiben. Die etwa siebzig Zentimeter darunter waren mit Holz verkleidet.
»Also erreicht er die Treppe im Dunkeln«, überlegte sie. »Bleibt stehen, um das Licht einzuschalten, das aber nicht funktioniert.« Der Schalter befand sich links von der Tür. »Und jemand, der hier oben rechts wartet, tritt von hinten auf ihn zu.«
»Das ergibt Sinn«, stimmte Harper zu.
»Nein«, widersprach Kennedy. »Tut es nicht. Hier würde man doch niemanden aus dem Hinterhalt angreifen, oder? Jemand, der hier herumsteht, ist von unten und von hier oben aus durch die Fenster sichtbar. Trotz des Milchglases würde man ihn bemerken.«
»Auch wenn das Licht nicht brennt?«
»Das Licht war vielleicht nur auf dem Treppenabsatz kaputt, aber nicht auf dem oberen Flur. Man würde niemanden übersehen, der hier, auf der anderen Seite der Scheibe, vor einem steht.«
»Okay.« Harper dachte nach. »Aber das hier ist ein College. Hier erregt es nicht unbedingt Verdacht, wenn jemand oben an einer Treppe steht.«
Kennedy hob ihre Augenbrauen und ließ sie wieder sinken. »Der Mörder führte aber etwas im Schilde, und es wäre seltsam gewesen, wenn er sich diesen Ort ausgesucht hätte. Zumal Barlow von einem Verfolger berichtet hatte, weswegen er sicher vorsichtiger war als sonst. Aber es gibt bestimmt noch eine bessere Antwort darauf. Also weiter.«
»Eine bessere Antwort?«
»Ich zeige es Ihnen gleich. Fahren Sie fort.«
»Okay«, sagte Harper. »Hier lauert also jemand Barlow auf, lässt ihn vorbeigehen und schnappt ihn sich von hinten. Dreht ihm das Genick um, bis es bricht, und stößt ihn die Treppe hinab.«
Selbst während Harper das sagte, lächelte er und schnaubte dann spöttisch über seine eigene Zusammenfassung. Kennedy blickte ihn fragend an, bis er zuerst die Treppe hinauf, dann hinunter zeigte. »Sie haben recht«, gestand er ein. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Das wäre sozusagen zu viel des Guten. Der Kerl war siebenundfünfzig. Der Sturz allein hätte ihn wahrscheinlich schon getötet. Warum reichte es also nicht, ihn einfach nur hinunterzustoßen?«
»Interessanter Punkt«, stimmte Kennedy zu. »Vielleicht will unser Unbekannter kein Risiko eingehen. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass er im wörtlichen Sinn den Dreh raus hat, wie man jemandem das Genick bricht. Vielleicht hat er nicht oft Gelegenheit, seine Fertigkeiten zu zeigen, doch an diesem Abend kann er damit prahlen.«
Harper ließ sich auf das Spiel ein. »Oder sie kämpfen miteinander, und der Genickbruch erfolgt durch einen Schwitzkasten, der schiefgeht. Sowohl das als auch der Sturz könnten mehr oder weniger Unfälle sein. Selbst wenn wir den Täter finden, können wir ihm vielleicht keinen Vorsatz nachweisen.«
Kennedy war, während Harper gesprochen hatte, an ihm vorbei die Treppe wieder hinuntergegangen. Am Fuß der Treppe bog sich das Holzgeländer zu einem dickeren Ende nach oben. Kennedy suchte etwas, von dem sie wusste, dass es dort sein musste, und fand es schließlich an der Außenseite des Pfostens etwa einen halben Meter über dem Boden – an der dem Flur im Erdgeschoss zugewandten Seite und nicht an der Treppe.
»Okay«, sagte sie und zeigte auf die Stelle. »Jetzt schauen Sie sich das hier an.«
Er kam nach unten und ging neben ihr in die Hocke. »Eine Kerbe im Holz«, stellte er fest. »Glauben Sie, die entstand am Mordabend?«
»Nein«, antwortete Kennedy. »Davor. Wahrscheinlich lange davor. Zur Tatzeit jedenfalls war sie schon da. Sie ist auf einem der Fotos zu erkennen. Hier.«
Sie nahm ihm die Akte aus der Hand und blätterte sie bis zu dem Foto durch, das sie gesehen hatte, während sie Summerhill gegenübergesessen und den Giftbecher entgegengenommen hatte. Sie reichte Harper das Foto, der es zunächst nur flüchtig, dann aber genauer betrachtete.
»Mist«, sagte er schließlich.
»Ja, Mist, nicht?«
Das Foto zeigte einen kleinen Fetzen hellbraunen Stoffes, der an dem winzigen Kratzer im Holz hängengeblieben war. Der Fotograf hatte sich bemüht, die Stelle deutlich ins Bild zu bekommen, weil er wahrscheinlich davon ausgegangen war, dass es sich um einen Mordfall handeln könnte.
Auch der Stofffetzen war als Beweisstück mitgenommen und in eine beschriftete Tüte gepackt worden, die jetzt in einem beschrifteten Karton in einem Regal in der forensischen Abteilung lag. Doch niemand schien sich seitdem viele Gedanken darum gemacht zu haben. Schließlich kostete es für gewöhnlich nicht allzu viel Mühe, festzustellen, wer das Opfer an einem Tatort war.
Auf dem Foto war im Hintergrund Stuart Barlow in seinem hellbraunen Jackett mit dem für unverheiratete Akademiker typischen Lederbesatz an den Ellbogen zu sehen. Untypisch waren nur sein schrecklich verdrehter Hals und sein blau angelaufenes Gesicht.
»Ich habe mir die Fotos zwar angesehen, aber das hier nicht bemerkt«, gab Harper zu. »Ich war mehr auf die Leiche konzentriert.«
»Ebenso wie der ermittelnde Beamte. Ihnen ist doch klar, was das bedeutet?«
Harper nickte, doch sein Gesicht verriet, dass er sich immer noch mit den Zusammenhängen beschäftigte. »Der Fetzen stammt von Barlows Jacke«, überlegte er. »Oder vielleicht von seiner Hose. Aber ... er befindet sich an der falschen Stelle.«
»Ob Jacke oder Hose, Barlow hätte diese Stelle nicht berühren können«, stimmte Kennedy zu und tippte auf das Foto. »Sie befindet sich gut zwei bis zweieinhalb Meter von der Stelle entfernt, an der er liegenblieb, und das auch noch an der falschen Seite des Pfostens, nämlich außen. Zudem zeigt die scharfe Kante des Kratzers nach unten. Man muss sich also mehr oder weniger nach oben bewegen, damit Stoff daran hängenbleibt, und das auch nur, wenn man davon ausgeht, dass man genau hier steht, wo wir gerade stehen. Für meine Begriffe kann das also nicht passiert sein, während Barlow die Treppe nach unten stürzte.«
»Vielleicht zuckt Barlow noch herum, als er unten liegenbleibt«, überlegte Harper. »Er ist noch nicht tot. Versucht aufzustehen und Hilfe zu holen, oder ...« Er hielt abrupt inne und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist Quatsch. Der arme Kerl hat ein gebrochenes Genick.«
»Richtig. Wenn der Stoff von seinem Mantel stammen würde, könnten wir vielleicht davon ausgehen. Etwas, das man locker in der Hand trägt, flattert umher. Doch der Mantel ist schwarz. Das hier stammt von den Sachen, die Barlow am Leib trug, konnte aber nicht hier hängenbleiben, wenn er von oben herabstürzte – es sei denn, er drehte aufwändige Pirouetten. Nein, ich glaube, Barlow traf seinen Angreifer genau hier, am Fuß der Treppe. Der Typ hat sich hier versteckt, wahrscheinlich in dieser Nische unter der Treppe, und als er die Schritte hörte, kam er heraus und schnappte sich Barlow von hinten.«
»Und hat dann die Leiche so zurechtgelegt, dass die Sache nach einem Sturz aussieht«, beendete Harper den Gedanken. »Das hieße, Barlow wurde nach oben gerissen, wobei sein Anzug am gesplitterten Holz hängenblieb.«
Kennedy schüttelte den Kopf. »Erinnern Sie sich an das Blut auf der obersten Stufe? Barlow stürzte tatsächlich. Ich glaube nur, dass er erst später nach unten fiel. Der Angreifer tötet Barlow hier unten, weil es sicherer ist. Hier gibt es keine Fenster, Barlow bemerkt ihn nicht, erkennt ihn vor allem nicht wieder, falls sie sich bereits begegnet sind. Doch der Mörder ist gründlich, will sichergehen, dass die Sachbeweise stimmen. Sobald Barlow also tot ist, zerrt er die Leiche die Treppe hinauf und wirft sie wieder hinunter, um die Sache wie einen Unfall aussehen zu lassen. Dabei bleibt Barlows Jacke an der Kerbe im Holz hängen.«
»Das ist viel zu kompliziert«, protestierte Harper. »Man braucht den Kerl doch nur mit einer Rohrzange oder so was zu erschlagen. Jeder würde davon ausgehen, dass es sich um einen missglückten Raubüberfall handelt. Niemand würde etwas bemerken, wenn hier jemand mit der Tatwaffe unter der Jacke hinausmarschiert. Die Leiche die Treppe hinaufzuzerren, auch wenn es schon spätabends ist und sich niemand sonst hier aufhält, ist ein Risiko, das nur ein dummer Mensch auf sich nähme.«
»Könnte sein, er hat dieses Risiko dem Risiko einer Ermittlung vorgezogen«, hielt Kennedy dagegen. »Und da ist noch die Sache mit der Glühbirne.«
»Die Glühbirne?«
»Oben an der Treppe. Wenn ich recht habe, wurde Barlow dort oben weder angegriffen noch getötet. Doch das Licht ist kaputt, um die Theorie mit dem Sturz noch zu untermauern. Könnte nur ein seltsamer Zufall sein, doch das glaube ich nicht. Ich glaube, der Mörder achtet auch auf dieses winzige Detail. Schraubt die Birne heraus, schüttelt sie, bis die Drähte zerreißen, und dreht sie wieder hinein.«
»Hinterher.«
»Ja. Hinterher. Ich weiß, das klingt verrückt. Aber wenn es so passiert ist, dann könnte ...«
Sie ging wieder die Treppe hinauf, diesmal auf allen vieren und mit gesenktem Kopf, um die Kanten des Treppenläufers zu untersuchen. Doch es war Harper, der fand, wonach sie suchte, und zwar auf der siebten Stufe, über die sie bereits gekrabbelt war.
»Hier«, rief er ihr hinterher.
Kennedy drehte sich um und betrachtete die Stelle aus der Nähe. An einem Nagel, der nicht ganz gerade ins Holz gehauen worden war und ein Stück herausragte, hing ebenfalls ein Fetzen hellbrauner Stoff. Er war noch dort, weil sich der Nagel so nah an der Wand befand, dass ihn niemand beim Hoch- oder Hinuntergehen mit seinen Schuhen herauslösen konnte. Kennedy nickte zufrieden. »Bingo«, sagte sie. Ein bestätigender Beweis. Barlow war die Treppe hinaufgezogen und anschließend wieder nach unten geworfen worden, und das vermutlich, als er bereits tot war.
»Also«, begann Harper zusammenzufassen, »wir haben einen Mörder, der aus dem Hinterhalt angreift und einem Mann mit einem einzigen Griff das Genick bricht, ihn dann eine öffentliche Treppe hinaufzieht und den Tatort unter relativ hohem Zeitaufwand so manipuliert, dass die Sache wie ein Unfall aussieht und keine Ermittlungen eingeleitet werden. Dazu muss jemand ganz schön dreist sein.«
»Spätabends«, erinnerte Kennedy ihn, doch sie widersprach ihm nicht. Der Mörder musste ein kaltblütiger und beherrschter Mensch sein, um einen solchen Mord durchzuführen. Das war kein Mord aus Leidenschaft oder die Folge eines außer Kontrolle geratenen Kampfes.
Sie richtete sich auf. »Werfen wir mal einen Blick in Barlows Büro«, schlug sie vor.
In Leo Tillmans Träumen waren seine Frau und Kinder gleichzeitig tot und lebendig. Folglich konnte es sein, dass die Träume abschweiften, sich auf winzige Details konzentrierten, die in seinem schutzlosen Unterbewusstsein zu falschen Assoziationen führten und sich rasant in einen Alptraum verwandelten. Es gab nur wenige Nächte, in denen er bis zum Morgen durchschlief, nur sehr wenige Morgengrauen, in denen er nicht bereits wach auf der Bettkante saß und seine Unica auseinanderbaute und reinigte oder die Onlinedatenbanken durchforstete in der Hoffnung, fündig zu werden.
An diesem Morgen allerdings saß er nicht auf seinem Bett, sondern auf einem komplizierten Trainingsgerät im Schlafzimmer eines Fremden und beobachtete die über Magas aufgehende Sonne. Und in der Hand hielt er nicht seine Waffe, sondern ein DIN-A4-Blatt mit ein paar hundert leicht verschwommen kopierten Wörtern. Die Unica steckte gesichert in seinem Gürtel.
Ihm gegenüber befand sich ein riesiges Panoramafenster, durch das er auf den Präsidentenpalast jenseits einer schmalen Straße blickte, die entlang eines schmiedeeisernen Zauns verlief. Der Palast sah genau so aus, wie das Weiße Haus aussehen würde, wenn man mitten hinein eine Moschee fallen lassen würde. Dahinter befand sich die Hauptstraße, die auf die Kaukasus-Autobahn mündete. Magas als Stadt zu bezeichnen war in Tillmans Augen ein Witz, genauso wie es ein Witz war, Inguschetien ein Land zu nennen. Keine Armee. Keine Infrastruktur. Nicht einmal Menschen. Nach der letzten Volkszählung war die Bevölkerung kleiner als, nun ja, die von Birmingham.
Menschen aber waren für Tillman wichtig. Er konnte sich in der Menge verstecken, genauso wie diejenigen, die er suchte. Das machte Magas zugleich attraktiv und gefährlich. Wenn sich seine Zielperson hier aufhielt, was zugegebenermaßen eine vage Vermutung war, gab es nicht viele Orte, an denen sie untertauchen konnte. Das Gleiche würde für Leo gelten, wenn etwas schiefging.
Auf dem Bett hinter ihm bewegte sich etwas. Schwache, ziellose Bewegungen von jemandem, der gerade aufwachte.
Es wurde langsam Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
Trotzdem beobachtete er noch eine Weile den Sonnenaufgang, wie in einem Tagtraum. Rebecca stand in der Sonne wie ein Engel aus dem Buch der Offenbarung und hielt Jud, Seth und Grace in ihren Armen. Alle so, wie er sie am letzten Tag gesehen hatte – nicht gealtert, nicht von der Zeit verändert. Sie waren so echt, dass sie Magas wie einen Scherenschnitt, wie ein schlechtes Filmset aussehen ließen.
In Momenten wie diesem spürte Tillman, dass er lebte, dass er in Bewegung war. Doch gleichzeitig fürchtete er sie, weil sie ihn zermürbten und schwächten. Liebe gehörte nicht zu seiner Gegenwart, war jedoch in seiner Vergangenheit echt und leibhaftig gewesen. Deswegen waren diese Erinnerungen wie eine Art Voodoo für ihn. Sie ließen in ihm totes Gelände weit aufklaffen, ließen fast abgestorbene Teile seines Wesens aufsteigen. Eigentlich war Tillman ganz einfach gestrickt, doch die Erinnerung machte aus ihm etwas Komplexes, Widersprüchliches.
Vom Bett hörte er ein Seufzen und ein verschwommenes Murmeln. Dann eine Bewegung. Widerwillig schloss Tillman die Augen. Als er sie einige Sekunden später wieder öffnete, war die Sonne einfach nur die Sonne und nicht mehr in der Lage, seine Welt zu wärmen. Sie war nur wie die Taschenlampe eines Wachpostens, mit der er vom Himmel herableuchtete.
Er erhob sich und ging zum Bett. Kartojev war vollkommen wach und wurde sich seiner Situation bewusst. Er zog an den Fesseln, doch jeweils nur einmal, um die Spannung zu überprüfen. Er würde seine Energie nicht sinnlos vergeuden. Er blickte zu Tillman hinauf und bleckte die Zähne, als sich die Muskeln in seinen Armen zusammenzogen.
»Kto tyi, govn’uk?«, fragte er mit schnarrender Stimme.
»English«, erwiderte Tillman knapp. »Und bleib still liegen. Das ist eine freundliche Warnung.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Kartojev blickte zur Tür, lauschte und überlegte. Keine Geräusche, keine sich nähernden Schritte zu hören. Hatte der Eindringling seine Leibwächter getötet, oder hatte er sich unbemerkt hereingeschlichen? Das war ein Unterschied. Wie auch immer, am besten spielte er auf Zeit, auch wenn diese fallbedingt unterschiedlich lang sein konnte.
»Ya ne govorju pa-Angliski, ti druchitel«, murmelte er. »Izvini.«
»Nun, das ist eindeutig nicht der Fall«, antwortete Tillman sanft. »Ich habe gestern Abend gehört, wie du mit deiner Freundin gesprochen hast.«
Erst jetzt wagte Kartojev einen Blick nach links. Er war allein in dem riesigen Bett. Von der Rothaarigen, mit der er am Abend zuvor hier gelegen hatte, keine Spur.
»Sie ist unten«, beruhigte ihn Tillman, der den Ausdruck des Russen richtig interpretierte. »Zusammen mit deinem Schläger. Hat keinen Sinn, sie die unerfreulichen Dinge mit ansehen zu lassen, die wir beide gleich durchmachen werden. Nein, sie hat dich nicht verraten. Es war der Alkohol, nicht das Mädchen.« Er zog eine kleine, jetzt leere Flasche aus seiner Tasche. Auf den Russen mochte es wie Häme wirken, doch Tillman zeigte ihm nur, wie tief er in der Scheiße steckte. »Eins Komma vier«, sagte er. »Butanediol. Wenn es in den Magen gelangt, wandelt es sich in GHB, die Vergewaltigungsdroge. Aber wenn man es zusammen mit Alkohol trinkt, braucht es einen Moment, bis es wirkt. Sie wetteifern beide um dasselbe Verdauungsenzym. Deswegen hast du so tief geschlafen. Und deswegen sind deine Leute im Badezimmer wie Holzklötze aneinandergebunden.«
»Der Junge von der Bar«, sagte Kartojev, der schließlich doch ins Englische wechselte, heiser. »Jamaat. Er ist tot. Ich weiß, wie er heißt, kenne seine Familie, weiß, wo er wohnt. Er ist tot. Das verspreche ich dir.«
Tillman schüttelte den Kopf. Er machte sich nicht die Mühe, den jungen Tschetschenen als Komplizen zu leugnen. Der Alkohol war der einzige gemeinsame Faktor, und Kartojev war nicht dumm. »Dafür ist es zu spät«, sagte er. »Der Junge ist längst über alle Berge. Ich habe ihm ein paar Millionen Rubel aus deinem Tresor gegeben. Nicht viel, aber genug, damit er sich ein neues Leben in Polen oder Tschechien aufbauen kann. Irgendwo, wo du ihn nicht findest.«
»Ich finde jeden, den ich finden will«, erwiderte Kartojev. »Ich kenne alle Flüge, die von Magas abgehen, und ich habe Freunde im Innenministerium. Ich werde ihn aufspüren und auseinandernehmen. Ich nehme euch beide auseinander.«
»Kann sein. Aber vielleicht überschätzt du deine Freunde. Gleich nach der Beerdigung werden sie sich wohl eher bemühen, dein kleines Imperium zu zerrupfen, statt sich um den zu kümmern, der dich umgelegt hat.«
Kartojev blickte Tillman lange und unnachgiebig an. Schätzte ihn ab. Und fand mit Sicherheit etwas, das er für Schwäche hielt. »Du wirst mich nicht töten, zhopa. Wie ein Gangster hast du dir diese große Pistole in deinen Gürtel gesteckt, aber du hast nicht den Mumm. Du siehst aus, als würdest du gleich anfangen zu weinen wie ein kleines Mädchen.«
Tillman machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Vielleicht waren seine Augen feucht geworden, als er in die Sonne geblickt hatte, und das hatte der Russe als weiß der Himmel was gedeutet. »Du hast recht«, sagte Tillman. »Jedenfalls was die Waffe betrifft. Sie bleibt im Moment, wo sie ist. Das meiste von dem, was ich mit dir tun wollte, habe ich bereits erledigt. Aber vielleicht binde ich dich los, wenn du mir das gibst, wofür ich hergekommen bin.«
»Was?«, zischte Kartojev. »Bist du scharf auf mich, Amerikaner? Willst du meinen Schwanz lutschen?«
»Ich bin Brite, Janusch. Und ich verzichte, danke.«
Kartojev spannte sich an, als er mit seinem Vornamen angesprochen wurde, und zerrte erneut an den Fesseln. »Du wirst bluten, Arschloch. Am besten tötest du mich. Am besten sorgst du dafür, dass ich tot bin, denn wenn ich meine Hände um deinen ...«
Plötzlich schwieg er. Trotz seiner Phrasendrescherei hatte er laut und deutlich das Klicken unterhalb seines Rückens gehört.
»Ich habe dir gesagt, du sollst ruhig liegenbleiben«, erinnerte Tillman ihn. »Hast du etwa diese kleine Beule unter deinem Kreuz nicht gespürt? Jetzt scheinst du sie zu bemerken. Und vielleicht weißt du auch, was es ist, weil es in deinem Katalog aufgeführt ist. Im Abschnitt für Schnäppchenjäger.«
Kartojev riss die Augen auf und erstarrte.
»Na dann«, sagte Tillman aufmunternd. »Das Schnäppchen gehört dir.«
Kartojev fluchte lange und laut, allerdings ohne sich zu bewegen.
Tillman hob das Blatt Papier hoch, das er in der Hand hielt, und las vor: »Bei der SB-33-Landmine handelt es sich um eine ausgeklügelte Waffe, die einfache Verwendung, flexiblen Einsatz und schwere Auffindbarkeit und Entschärfung miteinander vereint. Sie wird per Hand oder durch das eigens dafür konstruierte SY-AT-System (siehe S. 92) aus der Luft in Stellung gebracht. Dank ihrer unregelmäßigen Umrisse lässt sie sich in den meisten Geländearten nur schwer lokalisieren, während der hohe Anteil an Plastik (nur sieben Gramm eisenhaltiges Metall) eine Ortung durch die meisten konventionellen Minensuchgeräte verhindert.«
»Yob tvoju mat!«, schrie Kartojev. »Du bist verrückt! Auch du wirst sterben! Wir werden beide sterben!«
Tillman schüttelte gelassen den Kopf. »Weißt du, Janusch, das glaube ich nicht. Hier steht, die Sprengkraft verläuft vor allem in eine Richtung, nämlich senkrecht nach oben, wo sie die Eier und vielleicht die Eingeweide des armen Schweins aufreißt, der auf die Mine tritt. Hier, wo ich mich befinde, bin ich wahrscheinlich sicher. Aber du hast mich aufgehalten, bevor ich zu der besten Stelle kam. Die SB-33 verfügt über eine doppelte Druckplatte. Wenn ein Gewicht darauf lastet, wie es durch deine Bewegung gerade der Fall war, detoniert sie nicht, sondern die Sperre rastet ein. Deswegen kann man sie nicht mit Minenräumgeräten aus der Ferne zünden. Mit der nächsten Bewegung wirst du die Sperre wieder lösen, und du wirst ein Leben kennenlernen, das wie ein Fußballspiel verläuft – in zwei Hälften.«
Kartojev fluchte wieder, ebenso heftig wie zuvor, doch diesmal war er leichenblass im Gesicht. Er kannte diesen Artikel in seinem Warenbestand sehr gut, und das nicht nur vom Hörensagen. Während seiner Zeit bei der Armee hatte er wohl ausreichend Gelegenheit gehabt, zu sehen, wie die SB-33 einen menschlichen Körper verstümmeln konnte. Wahrscheinlich wägte er in Gedanken die vielen Möglichkeiten ab, wie ihn die Sprengladung zerfetzen würde, wenn sie ihn nicht tötete. Da er mit dem Rücken direkt auf der Oberseite der Mine lag, würde er mit ziemlicher Sicherheit dabei draufgehen. Doch auch ein paar andere widerliche Szenarios waren denkbar.
»Also«, fuhr Tillman fort. »Ich suche nach Informationen zu einem deiner Kunden. Kein großer, aber ein regelmäßiger. Und ich weiß, dass er dich erst kürzlich besucht hat. Doch ich weiß nicht, an welchen deiner vielen Produkte und Dienstleistungen er interessiert war. Oder wie ich ihn erreichen könnte. Was ich sehr gerne täte.«
Kartojevs Augen zuckten nach oben, nach unten, zur Seite und kehrten auf der längstmöglichen Route wieder zu Tillman zurück. »Welcher Kunde?«, fragte er. »Sag mir seinen Namen.« Der Russe war zwar sehr gerissen und hatte sich im Griff, so dass sein Gesicht nichts verriet, doch Tillman merkte an dem ruhelosen Blick, wie das Hirn dahinter arbeitete. Man wurde nicht so erfolgreich, wie es dieser Mann in so vielen unterschiedlichen Bereichen war – illegaler Waffenhandel, Drogen, Schleusergeschäfte, Kauf und Verkauf von politischem Einfluss –, wenn man seine Kunden verpfiff. Jedes seiner Worte würde glaubhaft klingen und doch gelogen sein. Irrelevante Details und Kleinigkeiten würde er zumeist wahrheitsgetreu berichten, während die wesentlichen Informationen wie Ort, Zeit und Transaktion in großem Stil erstunken und erlogen sein würden. Kartojev baute in seinem Kopf eine umgekehrte Pyramide aus Lügen auf.
Tillman winkte mit einer heftigen Bewegung ab. »Ich hab den Namen vergessen«, antwortete er. »Mach dir deswegen erst mal keine Sorgen. Ich brauche einen Kaffee und vielleicht ein kleines Frühstück. Wir reden später.«
Kartojev riss die Augen weit auf. »Warte«, begann er, doch Tillman war bereits auf dem Weg zur Tür. Vom Flur aus vernahm er ein noch lauteres, drängenderes »Warte!«. Doch er ging weiter, stapfte mit schweren Schritten die Wendeltreppe hinab, damit Kartojev ihn hörte.
Zunächst warf er einen Blick auf seine anderen Gefangenen. Kartojevs Freundin und einige Leibwächter lagen nicht im Badezimmer. Es hätte zu lange gedauert, sie von überallher herzuzerren, nachdem sie in ihren Drogenschlaf gefallen waren. Tillman hatte sie nur gefesselt und geknebelt und hinter ein Möbelstück gezogen, damit sie von den gegenüberliegenden Gebäuden aus nicht gesehen werden konnten. Die meisten Gefangenen waren mittlerweile wach, wenn auch benommen, weswegen er wie ein drogensüchtiger Weihnachtsmann umherging, um ihnen eine Spritze mit Etomidat zu verpassen. Die Nadel versenkte er jeweils in die Vene an der Armbeuge, weil diese dank der Fesseln wie Seile angeschwollen waren. Bald würden sie alle wieder schlafen, noch tiefer als zuvor.
Beim Töten ging Tillman präzise und professionell vor, was seine Wahl der Medikamente widerspiegelte. Einem gesunden Erwachsenen musste man eine dreißigmal höhere Dosis Etomidat verabreichen, damit es nicht nur irgendwie, sondern tödlich wirkte. Diese Leute würden sich hundeelend fühlen, wenn sie aufwachten, und schwächer als Welpen, aber sie würden aufwachen.
Nachdem das erledigt war, setzte sich Tillman einen Moment ans Fenster, um die Straße zu beobachten. Das Haus lag zurückgesetzt auf dem Grundstück, war nur durch ein hohes Tor zugänglich und umgeben von einer Mauer mit Stacheldraht. Ungebetene Gäste ließen sich davon abhalten, doch es bestand die Gefahr, dass er von geladenen Gästen oder Kollegen und Bekannten überrascht werden würde, die sich erkundigen wollten, warum Kartojev nicht zu ihrer Verabredung gekommen war. In diesem Fall würden sich das Haus, die Stadt und die gesamte Republik Inguschetien rasch als ausbruchssichere Falle erweisen. Tillman musste sich beeilen.
Doch er hatte noch bessere Gründe zu warten, weswegen er genau das tat. Und weil er viel zu angespannt war, um etwas zu essen oder zu trinken, um zu lesen oder sich auszuruhen, wartete er einfach und betrachtete das Gras und die Tannen.
Tillman war neun Jahre lang Söldner gewesen. Er hatte nie Verhöre durchgeführt, fand auch keinen Geschmack daran. Seiner Erfahrung nach waren die Männer, die sich darauf spezialisiert hatten, völlig durchgeknallt, doch er hatte gesehen, wie es funktionierte, er kannte das große Geheimnis, das darin bestand, die Gefangenen die meiste Arbeit erledigen zu lassen. Kartojev war zäh und zu Berühmtheit gelangt, weil er auf seinem Weg nach oben die Eier und Kehlen von unbedeutenderen Sterblichen als Haltegriffe benutzt hatte. Doch jetzt lag er auf einer Landmine, und seine Phantasie arbeitete in wildem, vernichtendem Tempo. Wenn ein starker Mensch hilflos ist, wird seine Stärke zur Schwäche.
Tillman ließ sich zweieinhalb Stunden Zeit, bevor er wieder ins Schlafzimmer ging. Kartojev hatte keinen Muskel gerührt, soweit Tillman sehen konnte. Aber sein Gesicht war kreideweiß, die Augen hatte er weit aufgerissen, die Lippen leicht geöffnet, so dass die zusammengebissenen Zähne zu sehen waren. »Wie heißt er?«, fragte er leise, aber deutlich. »Über wen willst du etwas wissen?«
Tillman klopfte auf seine Taschen. »Tut mir leid«, sagte er. »Habe ich irgendwo aufgeschrieben. Ich sehe mal in meiner Jacke nach.«
Als er sich zur Tür wandte, gab Kartojev einen fürchterlichen, rauen Ton von sich, als versuchte er mit einer Distel im Mund zu sprechen. »Nein!«, krächzte er. »Sag ihn mir!«
Tillman machte viel Aufhebens darum, bis er zu einer Entscheidung kam. Er ging zu Kartojev zurück und setzte sich übertrieben vorsichtig auf die Bettkante. »Wenn du mich anlügst, bist du verloren«, sagte er. »Hast du mich verstanden? Auf meiner Liste stehen noch andere, zu denen dieses Schwein geht, also bist du entbehrlich – für mich und für ihn. Wenn du mich verarschst oder auch nur zögerst, mir alles zu erzählen, bin ich weg. In diesem Fall wird es ein sehr langer Tag für dich.«
Kartojev drückte sein Kinn auf die Brust und hob es wieder – ein zustimmendes Nicken in Zeitlupe.
»Michael Brand«, sagte Tillman.
»Brand?«, fragte Kartojev gequält und verständnislos. Er hatte mit Sicherheit einen anderen Namen erwartet. »Brand ... ist ein Nichts.«
»Ich habe nicht gesagt, dass er wichtig ist. Ich habe nur gesagt, ich will Infos über ihn. Also, was kannst du mir erzählen, Janusch? Was wollte er von dir? Waffen? Drogen? Frauen?«
Der Russe sog zitternd die Luft ein. »Frauen, nein. Nie. Waffen, ja. Drogen ... ja. Oder zumindest Dinge, die zur Herstellung von Drogen verwendet werden können.«
»Von welchen Mengen sprechen wir hier?« Tillman bemühte sich, gelassen zu klingen, sich den Druck nicht anmerken zu lassen, weil er der Starke sein musste. Eine Schwachstelle könnte den Russen dazu bringen, sich zu verschließen.
»Was die Waffen betrifft, nicht sehr viele«, murmelte Kartojev. »Nicht genug für eine Armee, aber genug für einen Terroristen, um einen mittelgroßen Dschihad zu finanzieren. Schusswaffen: eher Hunderte als Tausende. Munition. Ein oder zwei Granaten. Aber keinen Sprengstoff. Bomben schienen ihm nicht wichtig zu sein.«
»Und die Drogen?«
»Reines Ephedrin. Wasserfreies Ammoniak. Lithium.«
Tillman runzelte die Stirn. »Dann braut er Meth?«
»Ich verkaufe Meth.« Kartojev klang beleidigt. »Ich habe ihm einmal gesagt, wenn es das ist, was Sie wollen, Mr Brand, warum nehmen Sie dann dieses sperrige, unbequeme Rohmaterial? Für einen kleinen Aufpreis gebe ich Ihnen Crystal Meth oder Koks in jeder gewünschten Menge.«
»Und was hat er gesagt?«
»Er hat verlangt, dass ich seinen Auftrag erledige. Er hat gesagt, er bräuchte nichts von dem, was ich zu bieten habe.«
»Aber die Mengen?«, hakte Tillman nach. »Genug, um sie in großem Stil zu verkaufen?«
Kartojev zuckte eher mit dem Kopf, als dass er ihn schüttelte. Er lag bereits mehrere Stunden lang starr in dieser Position, und seine verkrampften Muskeln taten weh. »Eigentlich nicht«, brummte er. »Das letzte Mal allerdings viel, viel mehr als sonst. Tausendmal mehr.«
»Und Brand bezahlt und holt die Ware immer selbst ab?«
Wieder dieser Blick. Warum wollte er das wissen? »Ja, immer ... Der Mann verwendet diesen Namen. Brand.«
»Wen vertritt er?«
»Ich habe keine Ahnung. Es gab keinen Grund zu fragen.«
Tillmans Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Als er sich plötzlich erhob, wurde das Bett leicht erschüttert, so dass Kartojev einen unterdrückten, gequälten Schrei ausstieß. »Quatsch«, sagte Tillman und beugte sich über seinen Gefangenen. »Ein Mann wie du fliegt nicht blind. Nicht einmal bei kleinen Geschäften. Du hast alles über Brand herausgefunden, was es herauszufinden gab. Du hirntoter Wichser, ich habe dich gewarnt. Ich fürchte, meine Geduld ist am Ende.«
»Nein!«, hielt Kartojev ihn mit verzweifeltem Ernst auf. »Natürlich habe ich es versucht. Aber ich habe nichts herausgefunden. Ich habe keine Spur entdeckt, die zu ihm hin oder von ihm weg führte.«
Tillman überlegte mit undurchdringlicher Miene. Was Kartojev eben gesagt hatte, stimmte mit seiner eigenen Erfahrung überein. »Wie hast du dann mit ihm Kontakt aufgenommen?«
»Das tue ich nicht. Brand sagt mir, was er braucht, dann kommt er. Zahlung in bar. Er organisiert den Transport selber. Autos für gewöhnlich. Einmal einen Laster. Die sind immer unter falschem Namen gemietet. Bevor sie zurückgegeben werden, werden sie saubergeschrubbt.«
»Wie nimmt Brand Kontakt mit dir auf?«
»Telefonisch. Immer per Handy. Immer eins zum Wegwerfen. Er gibt sich durch ein Wort zu erkennen.«
Tillman entging dieses Detail nicht. Es klang unwahrscheinlich – amateurhaft und unnötig. »Glaubt er nicht, dass du ihn an der Stimme erkennst?«
»Was weiß ich. Er gibt sich durch ein Wort zu erkennen. Diatheke.«
»Was soll das heißen?«