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Die Welt endet mit der Wahrheit: Der Mystery-Thriller »Die Judas-Offenbarung« von Adam Blake jetzt als eBook bei dotbooks. Ein Einbruch im British Museum stellt die Londoner Polizistin Heather Kennedy vor Rätsel: Nichts wurde gestohlen, nur von einigen Buchseiten wurden Fotos gemacht. Die Schriften eines fanatischen Propheten aus dem 17. Jahrhundert, der vor der drohenden Apokalypse warnte – mit Vorzeichen, die sich plötzlich überall auf der Welt zu erfüllen scheinen: Flüsse mit blutrotem Wasser, eine Engelsgestalt mit feurigem Schwert, die über Jerusalem auftaucht … Zusammen mit dem ehemaligen Söldner Leo Tillman, der brisante Verbindungen zu einem Geheimbund von Judas-Jüngern hat, muss Kennedy nun alles daransetzen, damit sich die letzte Voraussage des Propheten nicht bewahrheitet: Das Ende der Menschheit! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der actiongeladene Verschwörungs-Thriller »Die Judas-Offenbarung« von Adam Blake ist das Finale der Reihe um den Ex-Söldner Leo Tillman und die Polizistin Heather Kennedy – für alle Fans von Jens Henrik Jensens »Oxen«-Reihe. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 699
Über dieses Buch:
Ein Einbruch im British Museum stellt die Londoner Polizistin Heather Kennedy vor Rätsel: Nichts wurde gestohlen, nur von einigen Buchseiten wurden Fotos gemacht. Die Schriften eines fanatischen Propheten aus dem 17. Jahrhundert, der vor der drohenden Apokalypse warnte – mit Vorzeichen, die sich plötzlich überall auf der Welt zu erfüllen scheinen: Flüsse mit blutrotem Wasser, eine Engelsgestalt mit feurigem Schwert, die über Jerusalem auftaucht … Zusammen mit dem ehemaligen Söldner Leo Tillman, der brisante Verbindungen zu einem Geheimbund von Judas-Jüngern hat, muss Kennedy nun alles daransetzen, damit sich die letzte Voraussage des Propheten nicht bewahrheitet: Das Ende der Menschheit!
Über den Autor:
Adam Blake ist das Pseudonym eines internationalen Bestsellerautors. Er lebt in London.
Adam Blake veröffentlichte bei dotbooks seine »Tillman und Kennedy«-Reihe mit den Thrillern »Das Judas-Testament« und »Die Judas-Offenbarung«.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2022
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2012 unter dem Originaltitel »The Demon Code« bei Sphere, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Pakt der Krieger« bei Ullstein.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2012 Adam Blake
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2012 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: ©HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-336-7
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Adam Blake
Die Judas-Offenbarung
Thriller
Aus dem Englischen von Helmut Splinter
dotbooks.
Für A. J. Lake, in Liebe
Die Teilnehmer waren bereit.
Mit gefesselten Händen und Füßen knieten sie in der vorgeschriebenen Reihenfolge auf dem kalten Steinboden in dem kleinen Raum an der Rückseite des alten Gebäudes. Der Raum war wirklich zu klein für das Ritual, das gleich hier stattfinden würde. Andere Räume wären geeigneter gewesen, doch diesen hier hatte der Prophet aus esoterischen Gründen ausgesucht, die nur wenige verstanden.
Es war warm an diesem Abend, nachdem sich die Sonne gerade erst hinter den Horizont zurückgezogen hatte. Doch die Steinplatten waren noch immer kalt. Vielleicht aus diesem oder einem anderen, ebenso erklärlichen Grund zitterten die Männer und Frauen.
Ber Lusim schickte einen seiner Männer zum Propheten, um mitteilen zu lassen, dass sie fortfahren könnten.
Der Mann kehrte, respektvoll hinter dem Heiligen schreitend, sofort zurück. Shekolni hatte sich einen roten, schwarz gesäumten Umhang umgelegt – rot für das Blut, schwarz für die Trauer. Rote Zöpfe waren in seinen schwarzen Bart geflochten, und in den Flächen seiner Hände, schlank wie die eines Geigenspielers oder eines Arztes, standen mit roter Tinte geschrieben und schwarz umrandet die aramäischen Worte für Leben und Tod, als Zeichen dafür, dass Gott ihm die Macht übertragen hatte, zu bewahren und zu zerstören.
Der Prophet hielt den Kopf über das Heilige Buch gesenkt, das aufgeschlagen auf seinen Händen lag, als läse er, doch seine Augen waren geschlossen. Die anderen Männer im Raum wagten in einem solchen Moment nicht, ohne Erlaubnis zu sprechen, wechselten jedoch nervöse, ehrfurchtsvolle Blicke angesichts dieses kleinen Zeichens für das Anderssein des Propheten.
Ber Lusim, gefolgt von den anderen, verneigte sich langsam und tief vor dem heiligen Mann. Schließlich öffnete Shekolni seine Augen und lächelte seinen alten Freund voller Wärme und geteilter Freude an.
»Du hast so lange darauf hingearbeitet«, sagte er in der Sprache ihrer Heimat. »Und jetzt ist es endlich so weit.«
»Wir haben alle hart gearbeitet«, erwiderte Ber Lusim. »Vielleicht steht dir der eine Name bei, Avra. Möge der Herr deiner Hand die notwendige Kraft verleihen.«
»Bitte! Sagt uns doch, was ihr mit uns vorhabt!«
Es war einer der Gefangenen, ein Mann, der gesprochen hatte, verzweifelt bemüht, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. Ber Lusim respektierte seinen Mut, weil er die Antwort mehr oder weniger kannte.
Shekolni ging zwar nicht auf die Frage ein, betrachtete aber lange und nachdenklich die knienden Männer und Frauen. Ber Lusim blieb schweigend neben ihm stehen. Jetzt, nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, wartete er ab, welche Aufgaben ihm der Prophet übertragen würde.
»Ich denke, sie sollten zum Schweigen gebracht werden«, erklärte Shekolni schließlich. »Der ungebührliche Lärm würde von der Feierlichkeit dieses Ereignisses lediglich ablenken.«
Ber Lusim nickte dem ihm am nächsten stehenden Mann zu. »Tu es.«
Zwei seiner Gefolgsmänner gingen die Reihe entlang und stopften den Opfern Knebel in den Mund. Es dauerte nicht lange, bis sie fertig waren. Als das letzte der zwölf Opfer mundtot gemacht worden war, salutierten sie vor ihrem Anführer mit geballten Fäusten. Der Prophet machte das Handzeichen des Galgens, dann zogen sie sich zur Tür zurück.
»Wo ist das Messer?«, fragte Shekolni. Natürlich wusste er, wo es sich befand. Die Frage diente lediglich rituellen Zwecken.
Also reagierte Ber Lusim ebenfalls auf rituelle Weise. Er öffnete seine Jacke, an deren Innenfutter eine Scheide aus Hanf mit mehreren Taschen befestigt war, und zog eins der Messer heraus, das eher improvisiert wirkte, da Griff und Klinge nahtlos ineinander übergingen, und an der leichten Verdickung gehalten wurde. Die Klinge selbst war an der Spitze gebogen und so scharf, dass man mit ihr ein Haar hätte spalten können.
»Hier ist das Messer.« Er reichte es Shekolni mit dem Griff nach vorn.
Der Prophet nahm es entgegen und nickte zum Dank, bevor er sich den Männern und Frauen zuwandte.
»Aus eurer Sünde wird etwas Wertvolles entstehen«, sagte er ihnen in ihrer Sprache, damit sie ihn verstehen konnten und sich getröstet fühlten, »aus eurem Schmerz ein unfassbarer Segen, und aus eurem Tod das ewige Leben.«
Er hatte recht gehabt mit dem Lärm. Trotz der Knebel und Shekolnis rascher Arbeit waren die nächsten zwanzig Minuten qualvoll und anstrengend. Keinem der Zuschauer war der Tod fremd, doch der Tod dieser hilflosen und panischen Opfer, die ihn kommen sahen, war auch für sie keine angenehme Angelegenheit.
Aber sie sahen zu, weil sie wussten, wozu das Töten diente und was davon abhing.
Schließlich erhob sich der Prophet mit vor Erschöpfung zitternden Händen. Sein Umhang war nicht mehr rot, sondern einheitlich schwarz gefärbt vom eingetrockneten Blut. Ber Lusim trat vor, um Shekolni zu helfen, besudelte sich selbst mit Blut – im wörtlichen Sinn, da es bereits symbolisch an ihm klebte.
»Die Räder beginnen sich zu drehen«, verkündete Shekolni.
»Und die Flügel zu schlagen«, fügte Ber Lusim hinzu.
»Amen.«
Ber Lusim gab das Zeichen, um das Feuer entfachen zu lassen.
Als sie fortfuhren, brannte das Haus lichterloh – nicht wie eine Fackel, sondern wie ein Leuchtfeuer, das in alten Zeiten auf einem Hügel angezündet wurde, um die schlafenden Bürger vor einer bevorstehenden Krise zu warnen.
Doch als solches würde es niemand sehen, das wusste Ber Lusim. Niemand würde auf die Warnung achten, bis es zu spät sein würde.
In diesem verheißungsvollen Moment kam ihm ein Gedanke. In jüngeren Tagen, als sein Eifer manchmal seine Besonnenheit besiegte, hatte man ihm den Spitznamen »der Dämon« verpasst. Jetzt machte er diesem Namen mehr als alle Ehre.
Wenn der Deckel von der Hölle gerissen sein wird und sich alle Dämonen gleichzeitig erheben werden, wird man sich vielleicht dieser Ironie erinnern.
Heather Kennedy, ehemals Detective Sergeant Kennedy 4031 beim Kommissariat für Kapital- und organisiertes Verbrechen der London Metropolitan Police, jetzt ohne Dienstrang, verließ das Gebäude 32 London Bridge, auch unter dem Namen Shard bekannt, und trat in das grelle Sonnenlicht hinaus. Mit forschen Schritten eilte sie die Treppe hinunter, blieb dann aber, unsicher, was sie tun sollte, auf dem Bürgersteig stehen, wo sie von den Passanten angerempelt wurde.
Ihre rechte Hand tat weh.
Ihre rechte Hand tat weh, weil zwei der Knöchel bluteten.
Zwei der Knöchel bluteten, weil sie sie am Kiefer des Mannes aufgerissen hatte, der noch vor fünf Minuten ihr Auftraggeber gewesen war.
Sie befand sich noch auf dem Weg der Lösungsfindung für diesen Dreisatz.
Kennedy ärgerte sich über ihren unkontrollierten Ausbruch, der sie hochgradig überraschte. Machte ein Kunde sexistische Bemerkungen, grapschte sie zufällig an oder zog ihre berufliche Unbescholtenheit in Zweifel, ging sie unter normalen Umständen professionell vor und blieb ruhig und gelassen. Auf keinen Fall hätte sie ihn niedergeschlagen.
Aber sie erinnerte sich nicht, wann sie sich das letzte Mal normal gefühlt hatte.
Ihre verletzte Hand massierend, ließ sie sich von dem ständigen Strom aus Pendlern und Touristen mitziehen. Sie wollte nach Hause und ihre Hand in kaltes Wasser tauchen. Dann wollte sie sich einen kräftigen Schluck genehmigen, gefolgt von einem noch kräftigeren.
Das einzige Problem bei diesem Vorhaben war Izzy, ihre Partnerin. Wie weit konnte es mit diesem Tag noch bergab gehen, bevor weitaus Schlimmeres passieren würde? Und welche Folgen könnte es haben, mitten am Tag unangemeldet bei Izzy aufzukreuzen? Das letzte Mal, als das passiert war ...
Kennedy zwang sich, ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Doch das tat sie erst, nachdem sie das Bild vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte, das sie zu verbannen versuchte, und von denselben Gefühlen gepackt wurde, die von ihm ausgelöst wurden. Schiere Wut legte sich auf die erschreckende Leere wie billiger Whisky mit Eis.
Sie ging nicht nach Hause, sondern in eine Bar – eine nichtssagende Kettenkneipe mit einem falsch-humorigen Namen, der »Fass« beinhaltete. Für sie war der Whisky etwas Gewöhnliches, nichts Metaphorisches. Sie brütete vor sich hin, während sie nippte, fragte sich, was als Nächstes kommen würde. Der Auftrag bei Sandhurst Ballantyne hätte der Beginn von etwas Gutem werden sollen, doch Hand an einen Auftraggeber zu legen verringert die Chancen, von ihm weiterempfohlen zu werden. So saß sie also hier, mit einer Null-Kalorien-Kundenliste, einem leeren Terminkalender und einer untreuen – vielleicht notorisch untreuen – Freundin. Die Zukunft sah rosig aus.
Entweder war es Kennedys gutes Aussehen und ihr langes blondes Haar, wodurch sie die Blicke vieler anderer Tagtrinker auf sich zog, oder es lag an ihrer Uniform. Diese wirkte äußerst streng – knapper, polizeiblauer Overall, schwarze Militärstiefel. Auch wenn der Anblick einer Frau in Uniform mittlerweile bereits langweilig war, so brachte er einige Männer noch immer auf Hochtouren.
Sie leerte gerade ihr Glas, als ihr Telefon klingelte. Mit einem Anflug von Hoffnung zog sie es heraus. Manchmal öffnet sich genau dann eine Tür, wenn eine andere zugeschlagen wird.
Doch es war Emil Gassan, Akademiker, Historiker an einer schottischen Universität. Sie hatte ihn im Rahmen eines alten Falles kennengelernt – und genau darüber wollte er ständig mit ihr reden. Kennedy nahm das Gespräch nicht an und steckte das Telefon in ihre Tasche zurück.
Sie überlegte, den Tag damit zu verbringen, durch London zu streunen – eine Ausstellung zu besuchen, ins Kino zu gehen. Aber das wäre lächerlich. Sie schwänzte nicht die Schule, sondern war arbeitslos. Da brauchte sie sich nichts vorzumachen. Sie straffte ihre Schultern und marschierte nach Hause.
Zu Hause war sie in Pimlico, eine kurze Fahrt mit der U-Bahn entfernt, gefolgt von einem langen Spaziergang die Vauxhall Bridge Road entlang. Lang genug, dass sie, bis sie vor ihrer Haustür stehen würde, diese anfängliche rhetorische Frage überdacht haben würde: Wie weit genau konnte es noch bergab gehen? Und wollte sie das wirklich herausfinden?
Sie machte eine Menge Lärm mit dem Schlüssel, schlurfte mit den Schuhen über den Boden und ließ die Tür mit einem viel zu lauten Knall zufallen. Auf halbem Weg den Flur entlang kam ihr Izzy entgegen – aus dem Wohnzimmer, nicht dem Schlafzimmer, wie Kennedy erleichtert feststellte.
Izzy hatte einen dunkleren Teint, war kleiner als Kennedy und verströmte eine verrufene, geballte Ladung an Erotik. Davon konnte auch ihre breite Hüfte nicht im Mindesten ablenken. Ihr Gesicht drückte sowohl Überraschung als auch Misstrauen aus, als sie Kennedy vom anderen Ende des Flurs aus beäugte und sich eine Haarsträhne aus ihren schokobraunen Augen schnippte.
»Hey«, grüßte sie.
»Was du nicht sagst«, erwiderte Kennedy.
»Krieg ich ’nen Kuss?«
Das war eine gute Frage, doch darauf hatte Kennedy keine Antwort, aber auch keinen Grund, der Bitte nicht nachzukommen. Mit einem Hundeblick schlich sie den Flur entlang, strich mit den Lippen über Izzys Wange und ging weiter.
Izzy blickte ihr hinterher. »Du bist früh zu Hause«, stellte sie fest. »Kontrollierst du mich?«
»Nein«, erwiderte Kennedy. »Sollte ich?«
»Nein.«
»Dann ist ja gut.«
Das Gespräch schien beendet. Kennedy betrat das Wohnzimmer, aber nicht ohne vorher einen Umweg über die Küche zu machen, um sich etwas Eis in ein Glas zu füllen. Als sie allerdings die Bar öffnete und sich in der verspiegelten Rückwand erblickte, ließ ihre Begeisterung nach. Sie hatte bereits einen Whisky intus. Sich um elf Uhr morgens volllaufen zu lassen würde sehr nach einem Hilfeschrei aussehen.
Izzy war ihr ins Wohnzimmer gefolgt. »Was ist denn los?«, wollte sie wissen. »Solltest du heute Morgen nicht im Shithouse Brigadoon sein?«
»Sandhurst Ballantyne.«
»Ja und?«
»Ich war dort.« Kennedy drehte sich zu ihr, die Flasche noch in der Hand.
»Und hast du deinen Bericht abgegeben?«
»Hab ich versucht.«
Izzy neigte den Kopf zur Seite und blickte Kennedy übertrieben verwirrt an, was Kennedy in einer anderen Stimmung anziehend gefunden hätte. Doch im Moment empfand sie nur Ärger.
»Der Kunde wollte nicht informiert werden. Er hat verlangt, ich soll den Bericht nicht vorlegen, und angeboten, mir einen Leistungsbonus zu zahlen, wenn ich den Bericht entsorge und seiner verlotterten Abteilung einen Freibrief ausstelle.«
»Das verstehe ich nicht«, gab Izzy zu.
Kennedy stellte die Whiskyflasche in den Schrank zurück, nahm sie aber gleich wieder heraus und schenkte sich schließlich doch einen guten Schluck ein.
»Glaubwürdige Bestreitbarkeit«, murmelte sie währenddessen. »Der Bericht sagt aus, dass es mindestens einen Mitarbeiter im Unternehmen gibt, wahrscheinlich aber noch einen zweiten, der Insidergeschäfte mit Kundenaktien betreibt. Wenn Kenwood davon weiß, muss er etwas dagegen unternehmen. Und da einer dieser Gauner – derjenige, von dem ich es sicher weiß – sein Chef ist, will er davon lieber nichts wissen.«
»Warum hat er dich dann engagiert?«, hakte Izzy nach. »Das ist doch dumm.«
Kennedy nickte, nahm einen kräftigen Schluck des herben Whiskyverschnitts und verzog das Gesicht. Izzy hatte einen grausamen Geschmack, was Alkohol anging. »Compliance-Prüfung ist Teil seiner Stellenbeschreibung«, fuhr sie fort, nachdem sie das Glas trotzdem geleert hatte. »Er musste es so aussehen lassen, als würde er etwas unternehmen, hoffte aber, ich würde nichts herausfinden. Als ich es doch tat ...«
Sie verfiel in Schweigen.
»Dann hast du ihn genommen?«, wollte Izzy wissen.
»Was genommen?«
»Den Leistungsbonus.«
Kennedy seufzte und stellte ihr leeres Glas ab. »Nein, Izzy, ich habe ihn nicht genommen. Er wollte sich aus der Verantwortung ziehen, indem er sie mir aufbürdet. Wenn ich das Bestechungsgeld annehme und, sagen wir, in einem Jahr das Unternehmen selbst oder die Finanzaufsichtsbehörde eine Ermittlung durchführt, kann er behaupten, ich hätte Informationen zurückbehalten. Dann hätte er eine reine Weste, und die Betrugsabteilung würde sich über mich hermachen.«
»Ach herrje.« Izzys Gesichtsausdruck veränderte sich. »Und nun?«
Kennedy zeigte ihre Fingerknöchel mit dem verkrusteten Blut. Izzy ergriff die Hand und küsste sie. »Gut für dich, Schatz«, sagte sie. »Sofern er dich nicht verklagt. Wird er doch nicht, oder?«
»Ich glaube nicht. Immer wenn ich mit jemandem unter vier Augen spreche, nehme ich das auf. Deswegen habe ich sein unanständiges Angebot auf Band. Und ich schicke den Bericht auf jeden Fall los – an ihn, seinen Chef und den CEO. Leider schuldet er mir noch die Hälfte meiner Bezahlung. Als ich ging, hat er nicht nach seinem Scheckbuch gegriffen.«
»Gibt es noch weitere Kunden in der Pipeline?«
»Die Pipeline ist ausgetrocknet bis zum Kaukasus. Dieser Fall hätte mir die Türen zu anderen städtischen Kunden öffnen sollen, die einen Bedarf an meinen Sicherheitsdiensten haben, den sie selbst nicht abdecken können. Irgendwie glaube ich, dass das jetzt nicht passieren wird.«
Izzy schien in perverser Weise erfreut über die schlechte Nachricht zu sein. »Okay«, sagte sie, »dann musst du dich eben eine Weile aushalten lassen. Von meinem unmoralischen Einkommen leben.«
Sie machte einen Witz, doch Kennedy konnte nicht lachen, konnte Izzys Bemerkung rein gar nichts abgewinnen. »Ehrlich gesagt, klingt das nach dem tiefsten Tal der Hölle.«
Ihr wurde bewusst, dass sie eigentlich nur nach Hause gekommen war, um zu streiten – eine spontane Auseinandersetzung über Treue und Verantwortung, die in den ersten fünf Minuten wahrscheinlich eine reinigende Wirkung haben, sich dann aber anfühlen würde, als wollte sie sich und die Frau, die sie lieben sollte, mit Glasscherben zwangsernähren. Sie musste hier raus. Es gab zwar keinen Ort, an den sie gehen konnte, aber sie musste raus.
»Ich gehe nach unten«, murmelte sie. »Noch ein paar Sachen von meinem Vater einpacken. Wenn ich hierbleibe, bringe ich dich nur aus dem Konzept.«
»Oder du inspirierst mich«, erwiderte sie, doch Kennedy war bereits auf dem Weg zur Tür. »Heather ...«
»Nein, danke.«
»Ich muss noch nicht arbeiten. Wir könnten ...«
»Nein, danke, hab ich gesagt.«
Sie hörte ein Geräusch aus Izzys Richtung. Ein Seufzer vielleicht, oder Izzy schnappte nach Luft. Sie drehte sich nicht um.
Unten, in ihrer eigenen Wohnung, warf sie wahllos Gegenstände in Kartons, öffnete Schranktüren und knallte sie wieder zu, ging in stummer Demonstration einer sinnlosen Geschäftigkeit von einem Zimmer ins andere.
Mit Izzy zusammenzuziehen schien nach dem Tod von Kennedys Vater logisch gewesen zu sein. Im letzten Jahr seines Lebens war Izzy die De-facto-Krankenschwester oder das Kindermädchen oder vielleicht beides für Kennedys Vater, Peter Kennedy, gewesen. Das hatte sie zusammengebracht. Kennedy war als Detective der aufstrebende Stern der London Metropolitan Police gewesen. Wegen ihrer unvorhersehbaren Arbeitszeiten mit vielen Überstunden hatte sie jemanden in der Nähe gebraucht, der auf Abruf verfügbar war. Izzy war dafür perfekt gewesen, weil sie ansonsten ihr Geld mit Telefonsex verdiente. Sie war als Animateurin für die Masturbationsvorstellungen anderer Leute zuständig, eine Arbeit, die sie überall leicht erledigen konnte. Dazu brauchte sie nur ein Mobiltelefon und eine schmutzige Phantasie. Sie hatte beides.
Dass sie eine Liebesbeziehung eingegangen waren, hatte sich nicht vermeiden lassen. Angefangen hatte es, als Kennedy mit einem Arschtritt vom Polizeidienst suspendiert worden war, was hieß, dass sie ziemlich oft gleichzeitig mit Izzy zu Hause gewesen war. Die Beziehung hatte sich über die Monate hinweg weiterentwickelt, und nach Peters Tod schien es nur natürlich gewesen zu sein, dass Kennedy bei Izzy einzog. In der Wohnung, in der sie mit ihrem Vater gelebt hatte, fühlte sie sich wie in einem Museum mit festgelegten Assoziationen. Auszuziehen, wenn auch nur einen Stock höher, war ihr wie eine Flucht zumindest aus diesem Teil der Vergangenheit vorgekommen.
Doch eine Flucht hing von vielen Dingen ab und verfolgte ihre eigenen Regeln. Eine besagt, dass man nicht vor Dingen fliehen kann, die man noch mit sich herumträgt. So ausbeuterisch und erniedrigend Izzys Arbeit auch war, hatte sie nie daran gedacht zu kündigen. Izzy stand auf Sex, total, und wenn sie keinen hatte, redete sie gern darüber.
Und wie sich herausgestellt hatte, stand sie auch darauf, wenn Kennedy gerade nicht da war.
Ihr gemeinsames Leben steckte in einer Sackgasse, zeigte das Standbild mit dem Titel »Die entlarvte Ehebrecherin«, auf dem Izzy hektisch die Decke über ihren Oberkörper zog, ein verlegener junger Mann zu verstehen versuchte, was hier los war, und Kennedy taumelnd und mit aufgerissenen Augen in der Tür stand.
Izzy hatte ihr nie die Treue versprochen, und sie machte einen großen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Frauen waren Liebhaberinnen, Partnerinnen und Seelenfreundinnen. Männer hingegen ein gelegentlicher Juckreiz, den man durch Kratzen wegbekam. Kennedy hatte Versprechen nie für nötig gehalten und hätte nie eins eingefordert. In der lückenhaften Geschichte ihres Sexlebens war die Eins die höchste Anzahl an Liebhaberinnen, die sie gleichzeitig am Kochen gehabt hatte, und im Allgemeinen hatte ihr das gereicht.
Sie sollte Izzy verzeihen. Oder sich mit einer bissigen Bemerkung wie »Finde erst mal heraus, was du eigentlich willst« aus der Affäre ziehen. Zu beidem war sie nicht fähig. Vorwürfe, mürrischer Rückzug und passive Aggression aufgrund von Schuldgefühlen sprachen aus dem zwischen zwei kontradiktorischen Gegensätzen stehenden ausgeschlossenen Dritten.
Kennedys Telefon klingelte. Schon wieder Emil Gassan. Diesmal nahm sie den Anruf an, aber nur, um ihm zu sagen, der Zeitpunkt wäre ungünstig.
Noch bevor Kennedy etwas sagen konnte, meldete sich Gassan. »Heather, ich habe schon einen wunden Finger, weil ich den ganzen Tag Ihre Nummer getippt habe. Endlich habe ich Sie erwischt.«
Sie versuchte das Gespräch abzubiegen. »Professor ...«
»Emil«, entgegnete er. Sie ging nicht darauf ein. Sie wollte mit Gassan keine Vornamen-Vertrautheit. Ihr kam es komisch vor, dass der trockene, empfindliche Akademiker überhaupt einen Vornamen hatte. »Professor, ich kann im Moment nicht sprechen. Ich stecke mitten in der Arbeit.«
»Oh.«
Gassan klang niedergeschlagener als sonst, was Kennedy ein schlechtes Gewissen bereitete. Sie wusste, warum er anrief und was es für ihn bedeutete. Immer ging es um den alten Fall, den größten Fund seiner Hochschulkarriere, über den er unter Androhung der Todesstrafe mit niemandem reden konnte – außer mit ihr. Hin und wieder tauchte er deswegen aus der Versenkung auf, erzählte ihr Dinge, die sie beide bereits wussten, und sie musste zuhören. Diese persönliche Dienstleistung gab ihr ein Gefühl dafür, was Izzy während eines Arbeitstages mitmachte.
»Es ist nur ... na ja, ich stehe total unter Druck«, erklärte sie, um Zeit zu schinden. »Ich rufe Sie diese Woche noch zurück.«
»Ihr Terminkalender ist also voll?«, fragte Gassan. »Dann haben Sie keine Zeit, einen Auftrag zu übernehmen?«
»Einen Auftrag?« Kennedy war verblüfft und, trotz ihrer schlechten Laune, amüsiert. »Sie brauchen einen Detektiv, Emil? Soll ich ein fehlendes Buch aus Ihrer Bibliothek suchen?«
»Ja, mehr oder weniger«, bestätigte Gassan. »Hätten Sie Zeit gehabt, dann hätte ich Sie gebeten, einen sehr heiklen und gut bezahlten Auftrag für meinen gegenwärtigen Arbeitgeber zu übernehmen.«
Kennedy zögerte. Mit einer raschen Kehrtwendung kam sie sich verlogen und lächerlich vor, doch sie brauchte dringend das Geld. Noch dringender brauchte sie einen Grund, um nicht zu Hause sein zu müssen, bis ihr klar sein würde, was sie mit Izzy anstellen sollte.
»Und wer ist Ihr derzeitiger Arbeitgeber, Professor?«
Bei seiner Antwort hoben sich ihre Augenbrauen. Nach der städtischen Schmierenkomödie war dies eindeutig ein Aufstieg.
»Ich bin sofort bei Ihnen«, versicherte Kennedy ihm.
Im Innenhof des Britischen Museums wurden die Geräusche rund um Kennedy wie in einem Flüstergewölbe verstärkt, so dass sie das Gefühl hatte, in die Gespräche der anderen Besucher einzutauchen. Und als wäre die Akustik funktionsgestört, hörte sie die direkten Stimmen um sich herum wie gedämpft und verzerrt.
Oder vielleicht hasste sie den Innenhof nur, weil er damals, als sie als Kind mit ihrem Vater hierhergekommen war, ein nach oben offener Hof gewesen war. Sie erinnerte sich, wie sie sich an seine Hand geklammert hatte, während er sie über den von der Sonne beschienenen Platz in die Kathedrale der Vergangenheit geführt hatte – ein Ort, an dem er sich lebendig, glücklich und zu Hause gefühlt und es etwas gegeben hatte, was er ausnahmsweise mit ihr hatte teilen wollen.
Jetzt war der Innenhof, in dessen Mitte sich der ehemalige Lesesaal befand, mit Glasplatten überdacht. Das Licht innerhalb dieses riesigen, verschlossenen Raums war grau wie an einem Winternachmittag kurz vor dem Regen. Das Dach als beeindruckende architektonische Leistung hatte aber auch etwas Perverses. Warum wurde der Himmel verborgen und dann künstlich nachgebildet?
Kennedy setzte sich an eine der drei Bars und begann, die Glasscheiben zu zählen, während sie auf Gassan wartete. Da sie ihn kannte, hatte sie sich formell angezogen – hellblauer Hosenanzug, graue Stiefel – und ihr widerspenstiges blondes Haar in einem Pferdeschwanz gebändigt. Formalität und Ordnung standen auf Emil Gassans Liste der Kardinaltugenden ziemlich weit oben.
Sie sah bereits aus einiger Entfernung, wie er mit der entschlossenen Würde eines Oberkellners durch die große Halle geeilt kam. Allerdings war er weit besser als ein Kellner gekleidet. Sein blauer Dreiteiler mit der unverkennbaren Zickzackstickerei von Enzo Tovare auf der Brusttasche sah neu und unverschämt teuer aus. Seine ausgestreckte Hand eilte ihm und seinen Worten voraus.
»Heather! Schön, dass Sie gekommen sind! Freut mich sehr, Sie wiederzusehen.«
Er sah aus, als meinte er seine Worte ernst, und entwaffnete Kennedy mit seinem strahlenden Lächeln. Sie reichte ihm die Hand, die er umschlang und überschwänglich schüttelte. »Professor«, begann sie, kapitulierte dann aber, »Emil. Es ist lange her. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie in London arbeiten.«
Keine Ahnung sagten auch seine ausgebreiteten Arme. »Ich auch nicht! Jedenfalls nicht bis letzte Woche. Ich habe bis jetzt oben in St. Andrews frühe mittelalterliche Geschichte unterrichtet. Aber man hat mich abgeworben.«
»Innerhalb einer Woche?« Kennedy war so skeptisch, wie er sie haben wollte.
»Innerhalb eines Tages! Der Museumsvorstand rief mich an und fragte, ob ich mich um die Magazinbestände kümmern wolle. Na ja, eigentlich hat mich der Vorstand nicht direkt angerufen, sondern Marilyn Milton von Validus Trust, einer unabhängigen Trägerschaft, die meine Forschungen in den letzten beiden Jahren unterstützt hat. Validus Trust unterstützt auch das Britische Museum und die Britische Bibliothek in großem Stil. Sie wissen ja, dass sie ein und dieselbe Institution waren, bis die Bibliothek 1997 verlegt wurde.«
Kennedy zuckte unverbindlich mit den Schultern. Sie war sich nicht sicher, ob sie dies gewusst hatte oder nicht, doch sie wollte Gassan nicht zu weiteren Erklärungen ermuntern.
»Jedenfalls wurde eine Stelle frei«, fuhr er fort. »Aufgrund tragischer Umstände, wie ich leider sagen muss. Der vorherige Amtsinhaber Karyl Leopold hatte einen schweren Schlaganfall. Und Marilyn rief mich an, um mir mitzuteilen, ich solle mich ruhig bewerben – und versprach, den Bewerbungsausschuss wissen zu lassen, dass ich der bevorzugte Kandidat von Validus wäre. Ich wollte ablehnen. Mitten im Semester zu gehen macht alles ziemlich kompliziert. Doch am Ende wollte mich der Museumsvorstand unbedingt haben, so dass sogar mit der Universität ein Sondervertrag ausgehandelt wurde. Die Uni hat einen Dozenten als Ersatz eingestellt, bis ich ... nein, nein, bleiben Sie sitzen.« Kennedy war aufgestanden, um Kaffee zu besorgen und Gassans Wortschwall zu unterbrechen. Doch Gassan wehrte ab, eilte selbst zum Tresen und kam mit einem Tablett mit zwei Stückchen Karottenkuchen und zwei Kaffees zurück. Offenbar wollte er mit ihr eine Wiedersehensfeier veranstalten. Kennedy würde ihn also ausreden lassen müssen, bevor sie den Grund ihres Treffens erfahren würde.
»Äh, Sie sind also zuständig für ... was noch mal?«, fragte sie.
»Die Magazinbestände.«
»Und das ist was genau, Emil?«
»Alles«, antwortete Gassan fröhlich. »Das heißt, fast alles. Alles bis auf das, was nicht in der Ausstellung zu sehen ist. Sie können sich sicher vorstellen, dass die Sammlung des Britischen Museums riesig ist. Der Teil, den die Öffentlichkeit zu sehen bekommt, macht etwa ein Prozent des gesamten Bestands aus.«
Kennedy schreckte höflich zurück. »Ein Prozent?«
»Zählen Sie mal nach«, forderte Gassan sie spielerisch auf, während er den Daumen zum Zählen nach oben hielt. »Eins. Der Rest der Sammlung verteilt sich auf zwanzigtausend Quadratmeter Lagerräume. Die Aufbewahrung und Lagerung kosten das Museum jährlich zwölf Millionen Pfund.«
Kennedy nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, widerstand aber dem verräterischen Duft des Kuchens. Als sie noch bei der Polizei gearbeitet hatte, war sie dank des Stresses und der körperlichen Strapazen schlank gewesen, egal, was sie gegessen oder getrunken hatte. Seitdem hatte sie gelernt, Verzicht zu üben. »Darauf müssen Sie aber sehr stolz sein«, sagte sie. »Dass man sich so um Sie bemüht hat.«
Der Professor zeigte eine pantomimische Abfolge aus Achselzucken und Augenverdrehen, die falsche Bescheidenheit ausdrücken sollte. »In vielerlei Hinsicht fühlt sich das wie ein Höhepunkt an«, gab er zu. »Ich hatte immer den Eindruck, dass der Unterricht eine Verschwendung meiner Fähigkeiten war. Jetzt ist es mir gestattet zu publizieren, und ich werde sogar dazu ermutigt, habe aber keine öffentlichen Pflichten mehr.«
Kennedy dachte darüber nach und erinnerte sich an das, was sie Izzy über die Bereiche in der Hölle gesagt hatte. Der Gedanke, ihr Leben in einem unterirdischen Gewölbe zu verbringen, ohne einen Grund zu haben hinauszutreten, ließ Izzys endlose, schmutzige Tretmühle wie das Paradies auf Erden aussehen.
Gassan hatte gerade den Mund voller Kuchen, so dass Kennedy eine Frage anbringen konnte. »Und welche Rolle werde ich in dieser Geschichte einnehmen?«
Gassan bemühte sich, den Kuchen rasch hinunterzuschlucken. »Es gab einen Einbruch«, antwortete er schließlich, während er sich penibel die Unterlippe mit der Ecke seiner Serviette abwischte. »Vor einem Monat. In der Nacht von Montag auf Dienstag, den 25. Juli.«
»Im Magazin?«, fragte Kennedy nach. »Nicht im Museum selbst?«
Gassan nickte nachdrücklich. »In die Magazinbestände, ja – die jetzt mir unterstehen. Die Einbrecher waren sehr erfahren. Sie gingen rein und raus, ohne Alarm auszulösen.«
»Und woran hat man gemerkt, dass eingebrochen wurde?«, hakte Kennedy nach. »Moment, lassen Sie mich raten: an den Lücken in den Regalen.«
»O nein«, versicherte ihr Gassan. »Und so weit wir sagen können, fehlt nichts. Nein, das fanden wir einige Stunden nach dem Vorfall heraus. Die Sache ist ziemlich beunruhigend. Der Eindringling ließ ein Messer zurück. Es lag einfach auf dem Boden und wurde am nächsten Morgen von einem der Sicherheitsleute gefunden. Und es schien benutzt worden zu sein. Zumindest war Blut an der Klinge. Danach wurde das Museum nach Beweisen durchsucht, und eine der Überwachungskameras zeigte einen Eindringling, der durch die Verkleidung einer abgehängten Decke verschwand.«
»Moment mal«, warf Kennedy ein. »Um das klarzustellen: Wir haben einen Einbruch, bei dem nichts gestohlen, und ein Messer, mit dem niemand verletzt wurde?«
»Also, wir gehen davon aus, dass jemand verletzt wurde. Andererseits gibt es – Gott bewahre! – am Tatort keine Leiche, und wir wissen nicht, wer verletzt wurde oder wie dies passiert ist. Das ist äußerst beunruhigend. Und wir hatten große Mühe, die Angelegenheit vor der Presse geheim zu halten. Eine solche Geschichte wäre eine Sensation.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, stimmte Kennedy zu. »Aber Sie sagen, die Überwachungskameras haben den Einbrecher aufgenommen?«
»Ja, aber er ist maskiert, und mehr als dass er männlich ist und nichts in den Händen hält, lässt sich nicht sagen. Wenn man ihn sich genauer betrachtet, scheint er einen kleinen Rucksack bei sich zu haben, in den aber nicht viel hineinpasst. Und eine kurze Bestandsaufnahme ergab nichts Ungewöhnliches. Allerdings umfasst die Sammlung eine viertel Million Gegenstände, so dass sich nicht sagen lässt, ob etwas fehlt.«
Kennedy dachte kurz nach. Ein erfahrener Einbrecher umgeht eine Reihe wirkungsvoller Schlösser und Alarmvorrichtungen, um in ein Museum einzubrechen, das voller hochwertiger und leicht zu transportierender Gegenstände ist. Doch er bringt nur einen kleinen Rucksack mit, und wenn er etwas geklaut hat, war es so klein und unauffällig, dass man es nicht bemerkt hat. Dies lässt auf eiserne Selbstbeherrschung oder auf eine bestimmte Botschaft schließen. Und dann das Messer mit den Blutflecken. Irgendeine Nachricht? Eine Drohung? Ein schlechter Streich? Eigentlich war Kennedy nur hergekommen, um dem Professor einen Gefallen zu tun und das Geld zu kassieren, doch jetzt war das innere Organ, das für den Instinkt eines Detektivs zuständig war – welches auch immer es sein mochte –, angeregt. Sie hatte Blut geleckt.
»Wie lautet mein Auftrag?«, fragte sie Gassan.
Der Professor hob eine Hand, Daumen, Zeige- und Mittelfinger nach oben gestreckt. Mit der anderen Hand zählte er ab. »Es sind drei Aufträge«, erklärte er. »Drei, sofern Sie annehmen. Erstens wollen wir wissen, wie der Einbruch durchgeführt wurde, damit wir die Sicherheitslücke stopfen können.«
Kennedy nickte. Genau das hatte sie bereits vermutet.
»Zweitens möchten wir vor allem wissen, was tatsächlich gestohlen wurde. Und wenn die Antwort ›nichts‹ lautet, möchten wir wissen, was der Eindringling während seines Aufenthalts auf unserem Gelände tat. Wenn etwas beschädigt wurde, könnte dies genauso ernst sein wie ein Diebstahl. Ach ja, und wir würden gerne wissen, wer verletzt wurde«, fügte er hinzu.
»Und drittens?«
»Drittens möchten wir, dass Sie den Eindringling finden. Und ihn bei Bedarf verhaften.«
»Ich bin keine Polizistin mehr, Emil.«
»Das weiß ich. Und natürlich weiß ich auch, warum. Wir würden Sie nur bitten, uns die komplette Sachlage – die Akten, die Beweise, alles, was Sie gefunden haben – zu überlassen. Den Rest werden wir erledigen. Wenn wir es für notwendig und wünschenswert erachten, übergeben wir die Sache der Polizei.«
»Darf ich eine dumme Frage stellen?«, bat Kennedy.
»Jederzeit.«
»Warum wurde die Polizei noch nicht eingeschaltet?«
Gassan spielte mit dem Rest seines Kuchens. »Diesen Fall habe ich geerbt«, begann er vorsichtig. »Es wurde eine polizeiliche Ermittlung durchgeführt, die allerdings nicht viel ergeben hat. Unbefugtes Betreten – mehr konnten wir nicht nachweisen – ist kein Verbrechen, solange nichts beschädigt wird. Die Ermittlungen verliefen im Sande, was auch ein Fehler des Museums war. Es war bereits beschlossene Sache, die ganze Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Marilyn Milton bestand darauf, dass der Museumsvorstand mich mit der Angelegenheit persönlich betraute – und der Vorstand wollte kein weiteres Mal offizielle Behörden hinzuziehen.«
Kennedy musste lächeln. »Da dachten Sie an mich?«
Gassan erwiderte das Lächeln. »An die inoffiziellste Person, die ich kenne.«
»Gut. Nun wäre noch die Frage mit dem Geld zu klären, weil ...«
»Natürlich!«, rief Gassan. »Entschuldigen Sie, dass ich das nicht schon eher erwähnt habe.« Er zog ein Blatt Papier aus seiner Tasche und reichte es ihr. Es war ein bereits auf ihren Namen ausgestellter Scheck mit Validus Trust als Kontoinhaber. Die fast wie gedruckt aussehende Summe betrug zwanzigtausend Pfund. Kennedy betrachtete die vier Nullen. Die Tatsache, dass ihnen eine andere Ziffer als beim vorherigen Auftrag voranging, stellte ein unübersehbares Unterscheidungsmerkmal dar.
»Ist das annehmbar?«, fragte Gassan.
»Ja«, antwortete Kennedy spontan. »Uneingeschränkt. Aber ich hätte gerne einen Vertrag. Ich meine das nicht böse, aber Punkt drei – den Einbrecher aufspüren – könnte sich als unlösbares Problem erweisen. Ich möchte nicht ewig an dem Fall arbeiten. Oder das Geld zurückerstatten müssen.«
»Das ist völlig verständlich«, beruhigte Gassan sie. »Marilyn sagte, dies sei die Bezahlung für vier Wochen, wenn Sie exklusiv für uns arbeiten, sofern das möglich ist. Aber wenn Sie andere Fälle ...«
»Ich habe keine anderen Fälle. Ich habe Scheiße erzählt.«
»Oh! Na ja, Ihre Scheiße klang sehr glaubwürdig.«
»Danke. Und wem erstatte ich Bericht?«
»Sie erstatten mir Bericht, und ich erstatte dem Museum und Validus Bericht. Mit Validus stehe ich in einer Art Vertretungsverhältnis – und dem Museum ist das ganz recht. Was die Befugnisse betrifft, schlage ich vor, Sie fungieren als meine Vertreterin. Damit können Sie alles tun, was ich tun kann. Sie können mit allen Mitarbeitern sprechen und haben Zugang zu allen Bereichen des Museums und zu allen Akten und Informationen.«
»Personen außerhalb des Museums zu Rate ziehen?«
Gassan schürzte leicht die Lippen. »Sofern angemessen. Und solange absolute Diskretion gewahrt wird. Ich glaube, diese Vereinbarungen sind zumutbar.«
»In jeder Hinsicht. Ich übernehme den Auftrag.«
»Freut mich, das zu hören.« Gassan warf seine Arme in die Luft und schien sich beinahe über den Tisch beugen zu wollen.
»Okay«, wehrte Kennedy die drohende Umarmung ab. »Möchten Sie mir jetzt den Tatort zeigen?«
»Aber selbstverständlich.«
Gassan erhob sich und bedeutete ihr mit einer Armbewegung, ihm zu folgen.
Kennedy hatte ein sehr romantisches Bild vom Magazin eines Museums, wie ihr bewusst wurde. Sie hatte sich riesige, unterirdische Hallen mit gotischen Deckengewölben und hochmodernen Stahltüren wie die in Banken vorgestellt. Oder so etwas wie ein riesiges Lager im ersten Indiana-Jones-Film mit endlosen Wundern, die in endlosen gleich aussehenden Kisten verpackt waren.
Doch die Realität sah weltlicher aus. Das Hauptmagazin befand sich nicht im Museum, sondern in einem eigenen Gebäude, dem Ryegate House auf der St. Peter’s Street in Islington, zehn Minuten mit dem Taxi entfernt. Kennedy fragte sich kurz, warum Gassan sie zuerst ins Museum bestellt hatte, doch die Antwort war klar: Er wollte ihr sein Glück präsentieren und mit seiner neuen Stelle prahlen. Zu diesem Zweck war der Innenhof besser geeignet als der Ort, zu dem sie nun fuhren.
Er hatte recht. Die rohe Betonfassade des Magazins, vor dem das Taxi hielt, wurde geringfügig von Kieselrauputz aufgewertet. Bei einem neuen Gebäude hätte die Sache vielleicht gut ausgesehen, doch bei diesem hier waren bereits viele Steinchen herausgefallen. Die mit Moos bewachsenen Vertiefungen ließen die Fassade wie ein Gesicht voller Pockennarben aussehen.
Kennedy erwähnte das Zwölf-Millionen-Pfund-Budget, von dem Gassan gesprochen hatte. Damit müsste doch wenigstens ein Facelifting möglich sein.
»Im Grunde schon«, versicherte ihr Gassan ernst. »Doch wir wollen nicht zu erkennen geben, dass wir hier sind. Wir möchten lieber übersehen werden.«
Er zeigte zu einem Schild neben dem Eingang, auf dem lediglich RYEGATE HOUSE stand, ohne Hinweis auf das Britische Museum. Die Tarnung war also effektiv.
Im Innern sah alles ganz anders aus: weicher Teppich in der Eingangshalle, Automatiktüren, die mit einem leisen, einladenden Seufzen zur Seite glitten. Kennedy spürte, wie dick der Beton unter dem unregelmäßigen Kieselrauputz war. Er dämpfte die Akustik, verschluckte alle Geräusche im Innern und von außen.
Der Empfang war so groß wie eine kleine Yacht. Die rothaarige Dame dahinter, die weiße Bluse bis zum Hals zugeknöpft, erkannte Gassan und grüßte ihn höflich mit einem Anflug von Herzlichkeit, doch Kennedy wurde von ihr mit einem zögernden, suchenden Blick bedacht, der an offenes Misstrauen grenzte. Ob sich Gassan bewusst war, welchen Glückstreffer er in nur einer Woche gelandet hatte? Wenn allen Mitarbeitern so viel an ihm lag wie der Empfangsdame, dann hatte er einen guten Stand.
Gassan stellte seinen Gast mit Besitzerstolz vor. »Lorraine, das ist Sergeant Kennedy. Sie ist auf Antrag des Museumsvorstands hier und ermittelt im Einbruchsfall. Könnten Sie bitte Glyn Thornedyke Bescheid geben, dass wir Zugang zu Raum 37 benötigen?«
Sie warteten in der Nähe eines Drehkreuzes. »Die Sicherheit fällt in meinen Zuständigkeitsbereich«, erklärte Gassan. »Aber Thornedyke, der direkt mir untersteht, koordiniert den aktuellen Dienstplan und überwacht den täglichen Ablauf.« Seine Erklärung passte zu dem, dass er Kennedy als Sergeant vorgestellt hatte, obwohl sie nicht mehr bei der Polizei arbeitete. Je illustrer er die Menschen um sich herum und seine Position zu ihnen darstellte, desto gefestigter wurde sein eigenes Ego.
Schließlich wurde neben ihnen eine Tür geöffnet, durch die ein uniformierter Wachmann kam. Er schien erst knapp über zwanzig zu sein, war schlaksig und hochgewachsen, was Mädchen wie ein Fohlen aussehen ließ, bei Jungs jedoch, wenn sie Glück hatten, höflich übersehen wurde. Sein Haar war militärisch kurz geschoren, doch seine Augen strahlten in einer puppenhaften Klarheit, die ihm die Strenge wieder nahm. Beinahe hätte er salutiert, um sich Gassan vorzustellen.
»Rush, Sir«, stellte er sich vor. »Mr Thornedyke sagte, ich soll für Sie ein paar Türen öffnen.«
»Eigentlich bräuchte ich zunächst eine Führung durchs Gebäude«, meldete sich Kennedy zu Wort. »Wäre das in Ordnung, Professor?«
»Selbstverständlich«, stimmte Gassan zu.
Der junge Mann machte ein zweifelndes Gesicht. »Eigentlich müsste ich am Personaleingang stehen, Sir«, wandte er ein. »Vielleicht sollte ich das mit Mr Thornedyke klären, bevor ich ...«
»Das untersteht meiner Verantwortung«, wehrte Gassan den Einwand verärgert ab. »Sergeant Kennedy ist professionelle Sicherheitsberaterin, eine Expertin mit langjähriger Erfahrung bei der Polizei. Wir sind froh, sie für uns gewinnen zu können, und wir müssen ihre Ermittlungen in jeder erdenklichen Weise unterstützen.«
Die Führung dauerte länger, als Kennedy gedacht hatte, und schien den größten Teil des Gebäudes abzudecken. Ganz sicher war sich Kennedy allerdings nicht, da das Ryegate House eher einem verwinkelten Labyrinth als einem geordneten Magazin glich. Es bestand aus Dutzenden mehr oder weniger gleicher kühler Räume mit hohen Decken und Energiesparbeleuchtung, die sich wie ein Sonnenaufgang ein- und ausschalten ließ, und aus Hunderten von Metern Flur mit Kartenidentifizierungsgeräten an jeder Ecke und Feuerschutztüren, die die Flure in kleinere Abschnitte unterteilten. Ein leichter, aber durchdringender Geruch hing in der Luft, der sich schwer identifizieren ließ. So riecht die klimatisierte Luft in einem Flugzeug, die vor ihrer Entlassung in die Freiheit noch mehrere Male gereinigt wurde, dachte Kennedy.
Während sie durch die Lagerräume marschierten, pries Rush deren Wunder. Kennedy hatte den Eindruck, er wollte den alten Hasen spielen, obwohl er eher klang, als plapperte er Sachen aus einem Einführungsunterricht nach. Das Sicherheitssystem sei wirklich gut, erklärte er, und in den meisten Fällen auf dem neuesten Stand der Technik. Es gab an allen Außentüren und Fenstern Druck- und Einbruchsalarmmelder sowie in den meisten Räumen und an Knotenpunkten Bewegungssensoren, und an allen Ein- und Ausgängen wurde die Verwendung von Schlüsseln elektronisch aufgezeichnet.
»Überwachungskameras?«, fragte Kennedy, die bisher keine gesehen hatte.
»Überall«, versicherte Rush ihr. »Aber die sieht man nicht. Sie sind in Ecken, Winkeln, Zierleisten und in Teilen der Sammlung versteckt. Wir verwenden ein präventives System mit dem Namen CPTED – Crime Prevention Through Environmental Design. In öffentlichen Räumen würde man mit offen gezeigten Kameras das Verhalten der Menschen regulieren. Zum Beispiel in einem Einkaufszentrum oder einem mehrstöckigen Parkhaus. So in der Art ›Der große Bruder sieht alles‹. Aber wir tarnen unsere Kameras, weil das hier eine abgeschlossene Einheit ist. Ohne Berechtigung kommt hier niemand rein, sofern er nicht einbricht. Deswegen sollen Verbrecher auf frischer Tat ertappt werden.«
Einschließlich deiner eigenen Kollegen, dachte Kennedy. Weil sichtbare Kameras beides leisten würden – Kriminelle abwehren und Übertretungen erkennen. Aber sie regulierten nicht das Verhalten von Menschen, die täglich mit der Sammlung zu tun hatten. Dieses System nahm unliebsame Überraschungen vorweg, indem es jeden als Feind behandelte.
Rush allerdings verlor kein Wort über die Sammlung selbst. Doch während sie von einem Raum in den nächsten gingen, ließ Kennedy ihren Blick von riesigen Skulpturen zu Totempfählen der Indianer, Eichenkanus und Ritterrüstungen wandern. Die kleineren Gegenstände waren, wie sie erwartet hatte, sicher in Kisten verpackt, die entlang der Wände oder in kilometerlangen Regalen gelagert wurden. Lediglich die großen Sachen standen offen herum.
Raum 37 war in dieser Hinsicht am unauffälligsten. Hier befanden sich Regale und Kisten. Sie schauten nur in den Raum hinein, ohne ihn zu betreten, weil Kennedy sich erst einen Überblick über das gesamte Lager verschaffen wollte.
»Auch die Kontrolle der Umgebungsbedingungen ist hochmodern«, erklärte Gassan, als sie weitergingen. »Temperatur, Feuchtigkeit, Licht – alles wird in Echtzeit reguliert und überwacht.«
»Was ist das?« Kennedy deutete auf einen grauen, mit SICHERHEIT beschrifteten Kasten an der Wand, der rechts neben einem roten Kasten hing, auf dem FEUER stand. In der Mitte befand sich eine quadratische Glasscheibe mit der Aufschrift HIER DRÜCKEN.
»Das ist eine weitere Sicherheitsvorrichtung«, erläuterte Gassan. »Wurde von meinem Vorgänger Dr. Leopold installiert. Wird das Glas eingeschlagen oder der Knopf gedrückt, wird eine Totalverriegelung ausgelöst. Alle Innentüren werden deaktiviert. Die Außentüren und Fenster werden geschlossen und die Sicherheitsrollläden heruntergelassen. Das macht das Lager mehr oder weniger zu einem Gefängnis.«
Rush hielt ein paar Meter entfernt eine Tür für sie auf. Er ging neben Kennedy weiter, nachdem Gassan vorausgegangen war. »Das Ding nützt leider nicht viel«, sagte er in einem vertraulichen Flüsterton.
Kennedy sah ihn an. »Warum?«
»Erstens weil es manuell betätigt wird. Es ist nicht mit Bewegungssensoren oder den Kameras verbunden. Und es gibt keine automatische Auslösung.«
Trotz Flüstern hatte Professor Gassan alles mitbekommen. »Weil das Risiko besteht, dass ein Eindringling verletzt wird«, fügte er deshalb an und warf Rush einen missbilligenden Blick zu, bevor er sich wieder an Kennedy wandte. »Wir haben eine rechtliche und ethische Verantwortung.«
»Der Alarm ist mit der örtlichen Polizeistation verbunden, Sir«, merkte Rush an. »Und die durchschnittliche Reaktionszeit beträgt zwölf Minuten.«
»Die Haftung läge immer noch bei uns«, wies Gassan ihn zurecht.
Als geschlagener Mann ging Rush weiter.
Die Tour endete mit einem Besuch auf dem Dach, wo Rush auf die Druck- und Bewegungsalarmmelder, die Überwachungskameras und den eineinhalb Meter hohen Stacheldraht zeigte, der rund ums Dach verlief. »Das ist alles neu«, prahlte er. »Von hier oben aus waren wir früher leicht angreifbar. Jetzt sind wir ...« Er zögerte.
»Hochmodern?«, kam ihm Kennedy zu Hilfe.
»Ja, genau. Das ist ziemlich toll.«
Kennedy ging ein bisschen umher und suchte nach Zugangspunkten. Die Rohre für die Klimaanlage waren so groß, dass ein Mensch hindurchpasste, doch die Ausgänge waren mit schweren Metallgittern verschlossen. Kennedy konnte nicht erkennen, dass an den Schrauben manipuliert worden war. Die Stahltür, die aufs Dach führte, war mit einem normalen Schloss und drei Vorhängeschlössern gesichert. An der Außenseite befand sich nicht einmal ein Griff.
Geduldig warteten die beiden Männer, bis sie ihre Inspektion beendet hatte. Kennedy trat an den Rand des Dachs und ließ ihren Blick über das Gelände unter sich und die Zufahrten schweifen. Die umliegenden Gebäude standen in einem Abstand von mindestens zwei Metern zum Lager. Es gab keine Bäume, Telegraphen- oder Laternenmasten, an denen Einbrecher hätten hinaufklettern können. Die Regenrinnen waren mit Zackenkränzen versehen, und die Überwachungskameras schwenkten hin und her, um die gesamte Umgebung zu erfassen.
Kennedy ging zu Rush und Gassan zurück. »Die Kameras da unten haben nichts aufgenommen, vermute ich.«
»In der Nacht des Einbruchs, meinen Sie?« Rush schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben alle Aufnahmen gesichtet, die ab der Schließung des Lagers gemacht wurden. Nichts. Keine Menschenseele.«
»Okay«, sagte Kennedy. »Ich bin hier oben fertig. Danke fürs Warten.«
»Haben Sie schon was herausgefunden?«, fragte Rush fast schüchtern.
Sein schlichtes Vertrauen in das Können einer Detektivin war rührend. »Noch nicht«, gab sie zu. »Aber ich würde mir gerne die Aufnahmen aus Raum 37 ansehen – den Teil, auf dem der Eindringling zu sehen ist. Und auch den Raum selbst würde ich jetzt gerne genauer unter die Lupe nehmen.«
Sie gingen in den Überwachungsraum, der etwa so groß war wie ein Besenschrank. Rush öffnete einen verriegelten Stahlschrank und griff zu einer der etwa hundert DVDs.
Es gab nur eine Sitzmöglichkeit, die Kennedy auf Gassans Drängen hin einnahm, auch wenn Rush sich in die Ecke zwängen musste, um die DVD laufen zu lassen. Er schob sie in das Abspielgerät, ein einfaches Stahlteil ohne Tasten oder Rädchen, öffnete auf dem Computerbildschirm daneben ein Fenster und tippte eine Zeitsignatur ein. Ein zweites, etwa scheckkartengroßes Fenster öffnete sich auf dem Bildschirm, in dem die Kameraaufnahme gezeigt wurde.
Das, worauf Kennedy blickte, als das Bild aufgebaut war, hätte irgendeiner der unzähligen Räume sein können, durch die sie gerade gegangen war.
»Warum Raum 37?«, fragte Rush mit einem Hauch Melodramatik in der Stimme. »Die Nacht auf Dienstag, den 25.«
Die Überwachungskamera hatte sich in der Nähe der Decke befunden. Ein Regal teilte das Bild, so dass sie auf zwei parallele Gänge blickten. Es hätte sich auch um ein Standbild handeln können, wäre oben links nicht die Zeitanzeige weitergelaufen.
»Können Sie das vergrößern?«, bat Kennedy.
Rush fummelte an Dropdown-Menüs herum, aber nichts geschah. »Tut mir leid. So gut kenne ich mich nicht aus.«
Plötzlich erschien eine Person auf dem Bildschirm. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, und mit einer schwarzen Sturmhaube über dem Kopf sah sie aus wie der typische Agent aus irgendwelchen Spionagefilmen. Die unheimliche Widersinnigkeit verursachte Kennedy einen leichten Schauder auf der Kopfhaut. Ungeachtet dessen, was Gassan behauptet hatte, sah Kennedy lediglich eine kräftige, junge Person, aber nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Person kletterte an einem Regal hoch wie auf einer Leiter, drückte gegen etwas, was nicht zu sehen war, und hievte sich hinauf, wo sie aus dem Blickfeld verschwand.
Die ganze Sequenz dauerte nicht länger als zwanzig Sekunden.
Rush ließ die DVD zu dem Moment zurücklaufen, in dem die Person vom Bildschirm verschwand, und hielt das Bild an.
»Deckenverkleidung.« Er tippte auf den Bildschirm. »Er verschwand in der Zwischendecke.«
»Und dann?«
»Keine Ahnung. Wir haben nachgesehen, aber da oben war nichts. Keine Spur von ihm.«
»Und hat jemand nach dem Einbruch den Raum betreten?«, wollte Kennedy wissen.
»Nun ja, wir sind reingegangen«, antwortete Rush. »Die Sicherheitsmannschaft, meine ich. Gleich nachdem wir uns die Aufzeichnungen angesehen haben. Dann kam die Polizei und durchsuchte den Raum. Und während die Polizei immer noch hier war, kamen ein paar Mitarbeiter, um zu zählen, ob etwas fehlte, aber das geschah in Anwesenheit der Polizei. Seitdem hatte niemand mehr Zutritt zum Raum.«
»Okay«, sagte Kennedy. »Dann werden wir als Nächstes dorthin gehen.«
Gassan entschuldigte sich und zog sich zurück, weil er vor seinem Feierabend noch einiges zu erledigen habe. Er bat Kennedy, nach Beendigung ihrer Untersuchungen in seinem Büro vorbeizuschauen, doch Kennedy tat so, als hätte sie diese Aufforderung überhört.
Auf dem Weg in Raum 37 versuchte sie Rush dazu zu bewegen, etwas über sich zu erzählen. Die meisten Wachmänner, die sie kennengelernt hatte, waren früher Polizisten, Soldaten oder Kriminelle gewesen und hatten dann die Fronten gewechselt. Sie war neugierig, warum jemand direkt nach der Schule diesen Beruf ergriff. Doch Rush war schüchtern und ließ sich nichts aus der Nase ziehen.
Der Raum war noch genauso unauffällig – reihenweise Regale mit Holzkisten und Pappkartons. An der Wand lehnte eine Leiter. Größere oder auffälligere Ausstellungsstücke, wie sie in den anderen Räumen über die Regale hinausragten, befanden sich hier nicht.
Kennedy ging an den Regalen entlang. Wie sie bereits wusste, schien nichts angerührt worden zu sein. Es gab keine vielsagenden Lücken auf den Regalböden, Kisten und Kartons waren nicht verrutscht. Auf Staub hätten sich Fingerabdrücke befinden können, doch es gab keinen Staub. Nach drei Wochen hermetischer Abriegelung war der Raum noch immer makellos.
Sie kehrte zu Rush zurück, der eine Trittleiter aufstellte. »Dort.« Rush deutete nach oben. »Hier ist er hochgeklettert. Cobbett und ich sind hochgestiegen, um nachzusehen, während wir auf die Polizei gewartet haben. Dann sind auch ein paar Polizisten hochgeklettert. Daher weiß ich, dass nichts verändert wurde.«
Er reichte Kennedy eine Taschenlampe, die er aus dem Überwachungsraum mitgenommen hatte, und hielt die Leiter fest, während Kennedy hinaufstieg.
»Passen Sie auf!«, ermahnte er sie.
Obwohl Kennedy eine Hose trug, bemerkte sie, dass der Junge seinen Blick sittsam von ihrem Hintern abgewandt hielt – abgesehen von einem kurzen Schielen, als er an seinem Gesicht vorbeihuschte. Tadelloses Benehmen. Oder aber sie war zu alt für ihn.
Das Metallgitter der Zwischendecke war mit Styroporplatten ausgefüllt. Kennedy drückte mit den Händen gegen die Platte, auf die Rush gezeigt hatte, und schob sie zur Seite. Von der obersten Stufe der Leiter aus konnte sie den Kopf und die Schultern durch die Öffnung schieben. Der Zwischenraum bis zur eigentlichen Decke betrug etwa einen Meter.
Sie knipste die Taschenlampe an. Die Fläche hier oben entsprach der des Raumes darunter, so weit Kennedy mit dem bloßen Auge erkennen konnte. Es gab keine Lüftungsschächte, Leitungen, Rohre oder Gitter, durch die der Eindringling hätte entwischen können.
»Habe ich hier was übersehen?«, rief Kennedy zu Rush nach unten. »Sieht nicht so aus, als gäb’s hier oben einen Ausgang.«
»Wir haben auch keinen entdeckt«, rief Rush zurück. »Wände und Decke sind stabil. Wenn der Typ da oben ein Loch gefunden hat, hat er es hinterher unsichtbar verschlossen.«
Kennedy leuchtete noch einmal alles ab, aber nicht auf der Suche nach einem Fluchtweg, sondern nach irgendetwas, was auch nur annähernd ungewöhnlich war. Nichts. Sie beugte sich vor, um die Wand in ihrer Nähe genauer zu betrachten, und klopfte dagegen. Absolut massiv.
»Alles aus Backstein?«, rief sie Rush zu. »Kein Gipskarton?«
»Kein Gipskarton. Keine Hohlräume. Keine verborgenen Paneele. Nur das, was Sie sehen, Sergeant.«
Kennedy spähte durchs Loch nach unten, wo Rush ihr neugierig und leicht nervös entgegenblickte. »Kein Sergeant«, sagte sie. »Nicht mehr.«
»Ach so. Okay.«
»Heather ist auch in Ordnung.«
»Okay.«
Dort oben schien es nichts mehr zu sehen zu geben, weswegen sie wieder nach unten stieg. Wieder Boden unter den Füßen, bat sie Rush, ihr die genaue Abfolge der Ereignisse ab dem Moment der Entdeckung des Einbruchs zu erzählen.
Rush dachte darüber nach. »Da gibt es nicht viel zu erzählen, um ehrlich zu sein. Wir fanden das Messer gleich am Dienstagmorgen. Von dem Messer haben Sie ja bereits gehört, oder? Aber der Einbruch erfolgte in der Nacht davor. Die Zeitangabe auf der DVD zeigt 23:58 Uhr.«
»Wie wurde das Messer gefunden?«, wollte Kennedy wissen. »Kontrollieren Sie jeden Tag alle Räume?«
»Ja. Der diensthabende Kollege fängt um sechs Uhr morgens an, trägt den Rest von uns auf der Liste ein und teilt uns alle Besonderheiten mit. Dann führen wir bei jedem Raum unsere Sikos durch – die Sichtkontrollen. Ich meine nicht die Kameraaufnahmen, sondern wir gehen das Gebäude ab. Steve Furness fand das Messer dort auf dem Boden. Eine zwölf oder fünfzehn Zentimeter lange Klinge. Tierisch scharf. Und es war benutzt worden. Es war Blut darauf.«
»Hat man herausgefunden, wessen Blut es war?«
Rush schüttelte den Kopf. »Ich vermute, es wurde untersucht. Aber das Ergebnis hat man uns nicht verraten. Wir suchten nach einer Leiche, aber es gab keine. Auch kein weiteres Blut, nur das auf dem Messer. Niemand von den Mitarbeitern oder aus der Gegend fehlte, und auf den Kameraaufnahmen sehen Sie ja, dass der Typ keine Leiche mit nach oben zerrt, als er verschwindet.«
»Er scheint überhaupt nichts bei sich gehabt zu haben.«
»Nein«, stimmte Rush zu. »Und Sie wissen, dass nichts fehlt, so weit wir festgestellt haben. Allerdings sprechen wir hier von Tausenden, wenn nicht gar Millionen von Gegenständen, von denen einige ziemlich winzig sind. Die Lagerkräfte haben festgestellt, dass keine Kiste fehlt und die Versiegelungen an den wichtigen Sachen unversehrt sind. Erst irgendwann sehr viel später könnte irgendetwas vermisst werden.«
»Ist alles versiegelt?«
»Nein. Nur die wertvollsten Stücke. Vielleicht zehn oder fünfzehn Prozent der Sammlung. Das gesamte Zeug wurde kontrolliert. Aber es ist trotzdem möglich, dass was übersehen wurde. Das ist sogar wahrscheinlich.«
Kennedy durchschritt den Raum, blickte von den Regalen zur Decke und wieder zurück. »Wie viele Kameras gibt es hier?«, wollte sie wissen.
»Zwei.«
»Unbeweglich?«
»Alle unsere Kameras sind unbeweglich, Sergeant ... äh, Heather. Auf Drehgelenken wären sie natürlich sichtbar.«
Kennedy wusste, dass ihr etwas entging, etwas Unnormales, das irgendwo am Rand ihres Bewusstseins lauerte. Sie beschloss, es für den Moment dort zu lassen, bis es sich von alleine melden würde. Sie wollte es nicht in die Flucht schlagen, indem sie danach griff.
»Ist am Montag oder Dienstag noch was passiert?«, fragte sie.
»Nichts Relevantes.«
»Relevanz ist im Moment nicht wichtig«, entgegnete sie. »Was ging Ihnen an jenem Tag noch so im Kopf herum?«
Rush dachte über diese Frage nach. »Mark Silver«, sagte er schließlich.
»Wer?«
»Einer unserer Mitarbeiter von der Sicherheit. Er starb am Sonntagabend, wie sich herausstellte. Das erfuhren wir am Montag.«
»Und wie starb er?«
»Ein betrunkener Fahrer überfuhr ihn an einer Fußgängerampel. Am Montagabend gingen ein paar Mitarbeiter vom Empfang rum, um zu sammeln. Es herrschte eine ziemlich trübe Stimmung. Dr. Leopold – er war Professor Gassans Vorgänger – hatte erst ein paar Wochen zuvor einen Schlaganfall. Alle haben davon geredet, dass aller bösen Dinge drei wären. Der Einbruch in dieser Nacht war die Nummer drei.«
»War dieser Silver ein Freund von Ihnen?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich kannte ihn, habe mich aber mit ihm nie richtig unterhalten. Mir ging es nur nicht so gut, weil er auf so dumme Weise starb.«
Kennedy stellte noch ein paar weitere Fragen, mit denen sie das Gespräch auf neutraleres Gebiet lenkte. Bisher passte nichts zusammen, doch sie merkte, dass für Rush das Thema Stress bedeutete, und wollte ihn nicht weiter damit belasten. »Danke für Ihre Hilfe, Rush«, sagte sie schließlich. »Morgen würde ich mir gerne die Eintragungen und die Akten der Mitarbeiter ansehen. Ich werde auch mit allen sprechen, die an jenem Montag Dienst hatten. Könnten Sie in Professor Gassans Büro vorbeigehen und ihm das sagen?«
»Klar«, erwiderte Rush. »Ich kann Sie aber auch zu ihm bringen, damit Sie es ihm selber sagen können.«
»Ist nicht nötig«, wimmelte sie rasch ab. »Ich wäre froh, wenn Sie das übernehmen könnten.«
Als Kennedy das Ryegate House verließ, wurde sie von drei Personen beobachtet.
Die ersten beiden saßen in einem silberfarbenen Ford Mondeo – der beliebtesten Farbe eines sehr beliebten Autos – ungefähr fünfundvierzig Meter vom Eingang des Gebäudes entfernt. Sie waren unverdächtig oder vielmehr langweilig gekleidet, strahlten aber eine schweigsame Intensität aus, die dem Betrachter einen zweiten Blick abverlangte.
Sie warteten, während Kennedy ein Taxi heranwinkte und das Taxi an ihnen vorbei Richtung Innenstadt fuhr. Der Mann auf dem Fahrersitz startete den Motor und folgte dem Taxi mit gekonnter Gleichgültigkeit. Der Mann neben ihm kontrollierte mit geübten Blicken die Straße, ob sie beobachtet wurden.
Das wurden sie, doch er merkte es nicht. Viel weiter entfernt spähte Diema vom Dach einer Garage durch Blattwerk hindurch, das sie davor schützte, selbst gesehen zu werden, ihr aber mehr oder weniger ungehinderte Sicht auf den Teil der Straße gestattete, der sie interessierte.
Sie folgte ihnen nicht. Sie war nur hier, um zu beobachten und das Risiko einzuschätzen. Und das schätzte sie im Moment sehr gering ein. Weder Kennedy noch die Leute, von denen Kennedy beobachtet wurde, hatten bemerkt, dass sie von Diema überwacht wurden oder ihre Überwachung in eine viel größere Sache einbezogen war.
Diema würde zum richtigen Zeitpunkt in Aktion treten. Diejenigen, auf die sich ihre Aktionen bezogen, würden sie nicht kommen sehen.
Als Kennedy Izzys Wohnung betrat, ging sie gleich ins Wohnzimmer. »O Gott, ich will dich«, stöhnte Izzy. »Ich will dich in mir haben, jetzt, sofort. Würde dir das gefallen? Komm, nimm mich. Ich wette, ich könnte dich ganz in mir aufnehmen ...«
Die Worte hätten beunruhigend sein können, wenn Izzy nicht allein auf dem Sofa sitzen und im Fernseher nicht Coronation Street bei abgedrehtem Ton laufen würde. Sie hielt ihr Mobiltelefon in einer Hand, in der anderen eine Tasse mit starkem Yorkshire-Tee. Und obwohl sie ihr Gesicht zu einer Grimasse verzerrte, die Erregung und Drängen ausdrückte, hing sie sehr entspannt ab.
Sie war bei der Arbeit. Mit anderen Worten: Sie trieb einen Fremden über den Rand des orgiastischen Abgrunds zu dem Schnäppchenpreis von 80 Penny pro Minute plus MwSt. Da beide Hände beschäftigt waren, winkte sie Kennedy mit dem linken Bein zu. Tee in der Kanne, formte sie mit den Lippen und nickte in Richtung ihrer Tasse, die sie anhob.
Kennedy war nicht nach Tee zumute. Sie schenkte sich einen Whisky mit Wasser ein – ganz leise, damit derjenige am anderen Ende des Telefons nichts hören konnte. Mit dem Glas in der Hand ging sie ins Schlafzimmer, wo sie ihre Tasche von der Schulter aufs Bett rutschen ließ. Sie selbst ließ sich daneben sinken, schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und streckte sich aus, den Kopf gegen das lästige schmiedeeiserne Kopfteil von Izzys Bett gelehnt.
Auch im Schlafzimmer stand ein Fernseher. Automatisch schaltete sie ihn ein, nur um sich vom Ton trösten zu lassen. Doch der Sender zeigte dasselbe wie im Wohnzimmer, und die siebzehnte Wiederholung davon, wie Frank Foster seine Verlobte Carla Connor am Abend vor ihrer Hochzeit vergewaltigt hatte, ging ihr irgendwie auf die Nerven. Sie zappte herum, entschied sich auch gegen einen Naturfilm und blieb schließlich bei den Nachrichten hängen.
Während sie so dalag, wurde ihr bewusst, dass es das Messer war, das sie am meisten faszinierte. Ohne dieses Ding hätte es sich bei dem Einbruch um ein Rätsel in einem geschlossenen Raum gehandelt – und für die meisten Verbrechen dieser Art gab es ziemlich nüchterne Erklärungen, sobald man den Unrat entfernte. Doch das Messer deutete auf etwas anderes hin. Es könnte ein anderes, schwereres Verbrechen begangen worden sein. Doch bis jetzt führten alle ihre Überlegungen ins Nichts.
Auch die Nachrichten waren alles andere als angenehm. Bei einem Brand in einem Landhaus im Norden Englands waren zwölf Menschen ums Leben gekommen, obwohl das Haus als verlassen gegolten hatte. Die Polizei tippte auf Brandstiftung. Eine Terrorgruppe hatte in Deutschland in einer Kirche eine Bombe versteckt und während des Sonntagsgottesdienstes hochgehen lassen. Und von einer IDF-Batterie war vor den Toren Jerusalems aus Versehen eine Bodenluftrakete gezündet worden, die direkt über den Felsendom flog und schließlich in der Luft explodierte – und um Haaresbreite den blutigsten Religionskrieg seit dem Dritten Kreuzzug ausgelöst hätte.
Das war zu viel. Zu viel des Wahnsinns. Kennedy schaltete den Kasten wieder aus und konzentrierte sich aufs Ryegate House. Die naheliegendsten Dinge erledigte sie zuerst, um sie abhaken zu können. Und das Naheliegendste von allem war Ralph Prentice.
Prentice ging nach dem dritten Klingeln ran, reagierte aber schroff. »Ich stecke bis zum Hals in Arbeit, Heather. Kurz und knapp, oder ich lege gleich wieder auf.«