Das Judentum - Susanne Galley - E-Book

Das Judentum E-Book

Susanne Galley

4,8

Beschreibung

Das Judentum gehört nicht nur zu den großen Weltreligionen, sondern umfasst auch eine Jahrtausende alte, faszinierende Kultur mit einer wechselvollen und, wie wir wissen, tragischen Geschichte. In dieser Einführung geht es vor allem um die Grundzüge und Wandlungen der jüdischen Religion, beginnend mit dem Werden der Tora und Israels im ersten vorchristlichen Jahrtausend. Die Bedeutung dieser beiden Konstanten des jüdischen Lebens und Denkens wird durch die Jahrhunderte verfolgt: von den Anfängen über Mittelalter, Frühe Neuzeit und Moderne bis hin zur Shoa und dem durch sie geprägten heutigen Judentum. Zu jeder Epoche stellt Susanne Galley – neben einer Schilderung der historischen Entwicklung – die religionsgeschichtlichen Besonderheiten sowie exemplarische Werke und Persönlichkeiten vor.

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LESEPROBE

Galley, Susanne

Das Judentum

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Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40432-5

|7|Vorwort

Wer sich daran macht, das Judentum kennen zu lernen, begibt sich auf einen langen und höchst interessanten Weg. Bereits mit dem ersten Wort des Buchtitels stößt man jedoch auf ein Problem: Das Judentum gibt es nicht und hat es nie gegeben. Wir haben es vielmehr mit einem komplexen Phänomen zu tun, das in seiner Vielfalt und Wandlungsfähigkeit nur schwer einzugrenzen und zu definieren ist.

Der vorliegenden Einführung liegt die Einsicht zugrunde, dass die jüdische Kultur in ihrer Geschichte überwiegend von religiösen Traditionen geprägt worden ist. Wir werden daher die Grundzüge und Wandlungen der jüdischen »Religion« in den Mittelpunkt der Darstellung rücken – wohl wissend, dass »Religion« ein moderner Begriff ist, welcher das Phänomen Judentum zumeist kaum angemessen erfasst. Eine zweite wichtige Beschränkung, die wir uns auferlegen müssen, besteht darin, bedeutende regionale Ausprägungen jüdischer Kultur, wie die jemenitische oder die kaukasische, weitgehend auszublenden. Die Geschichte, die wir erzählen werden, richtet ihren Blick vor allem auf diejenigen jüdischen Gemeinschaften, welche intensiv auf das Judentum Europas wirkten.

Um bei aller Komplexität und Verschiedenheit das einigende Band nicht aus den Augen zu verlieren, benötigen wir Grundmotive, deren Kontinuität und Entwicklung wir durch die Jahrhunderte hindurch beobachten können. Als Gravitationszentren jüdischen Lebens, die den Großteil der Traditionen auf sich ziehen und prägen, haben wir |8|die Tora und Israel ausgemacht. Sie werden uns als cantus firmus der folgenden Darstellung begleiten.

Jüdisches Denken war und ist geprägt von einem engen Zusammenhang von erzählter Geschichte (Haggada) und einer sorgfältig weiten Bereichen des Alltagslebens angepassten ethischen und rituellen Praxis (Halacha). Wir werden dieses Zusammenspiel von Haggada und Halacha unserer Darstellung als Struktur zugrunde legen.

Jedes einzelne Kapitel der chronologisch orientierten Darstellung wird somit die Interaktion zwischen der erzählten und erinnerten Geschichte und der religiösen und kulturellen Entwicklung des Judentums analysieren. Dabei gilt es vor allem, die Grundmotive Tora und Israel in ihren Wandlungen und Deutungen zu beobachten; die Einflüsse fremder Kulturen auf die jüdische Geschichte und Lebensweise zu würdigen und nach den Ursachen für die internen Konflikte zu forschen, welche sich in religiösen, sozialen und politischen Formen äußern konnten. Zur Abrundung der Darstellung werden wir die jeweils prägende(n) Schrift(en) und Person(en) einer Epoche näher vorstellen, um an deren Beispiel die Besonderheiten ihrer Zeit transparent zu machen.

Der Versuch, eine so reiche und alte Kultur wie die jüdische auf relativ eng begrenztem Raum und nach strengem Schema darzustellen, führt notwendig zu unzulässigen Vereinfachungen und Lücken. Diese Einführung möchte daher vor allem Neugierde wecken und dazu verhelfen, die notwendigen weiteren Studien vielleicht etwas strukturierter in Angriff zu nehmen.

Zuletzt und vor allem sei den Freunden, Studierenden und Kollegen herzlich gedankt, die mitgelesen, diskutiert und geholfen haben, den folgenden Text zu verfassen: meinem Mann, Marc Olivier Talabardon, ohne den gar nichts geht; meinen lieben Freundinnen Helga Völkening und Hiltrud Wallenborn, die mir gründlich und genau ihre |9|Meinung sagen; den Studierenden, die ich unterrichten darf, und unter ihnen insbesondere Christian Reiher, der die Graphiken digitalisiert hat, und Marie-Luise Schmidt, die alles über den Bund weiß.

|10|1. Einleitung

Das Judentum zeigt sich in seiner mehr als dreitausendjährigen Geschichte stets als eine ausgesprochen pluralistische Kultur, deren Ränder oft nur vage zu bestimmen waren und sind. Es präsentiert sich insofern als eine komplexe Größe, da es sich in wechselnder Gewichtung ethnisch, national, kulturell oder religiös definiert. So wird beispielsweise die Frage, ob säkulare Jüdinnen und Juden überhaupt als solche zu bezeichnen sind, innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bis heute kontrovers diskutiert. Das Judentum weist deshalb so pluralistische Züge auf, weil es auf eine lange Geschichte und vielfältige Erfahrungen als Minderheit im Exil zurückblickt. Der Begriff »Exil« bezeichnete jedoch stets unterschiedliche geographische Räume, die zu jeweils eigenen Strategien der Selbstbehauptung und Akkulturation genötigt haben.

Die nächste Schwierigkeit, die sich mit dem Titel Das Judentum stellt, begegnet im Begriff Judentum. Allzu selbstverständlich wird er als Bezeichnung einer Religion oder einer Kultur verwendet, die weit älter ist als der Begriff selbst. Im Grunddokument des jüdischen Volkes, der Hebräischen Bibel, sucht man ihn nämlich vergeblich.

Judentum

Die Bezeichnung Judentum leitet sich vom hebräischen Wort Jehudi her, was mit »Bewohner des Königreiches J(eh)uda« oder »Judäer«, zunächst jedoch nicht mit »Jude«, zu übersetzen wäre. Das Königreich Juda, der südliche Teil des von Israel besiedelten Gebietes, existierte von etwa 925 bis 586 v.d.Z. Von 540 bis 333 v.d.Z. diente Jehud als Bezeichnung einer kleinen persischen Verwaltungseinheit, die zur Provinz Abar Nahara (»jenseits des Stromes«) gehörte. Bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v.d.Z. wurde die |11|Bezeichnung Jehudi bzw. sein griechisches Äquivalent Ioudaios ausschließlich im ethnisch-geographischen Sinne (»Judäer«) verwendet. Der älteste Beleg für die Bezeichnung »Judentum« entstammt ebenfalls dem 2. Jahrhundert (2 Makk 2,21-22; 8,1; 14.38). Er beschreibt eine komplexe politisch-ethnisch-kulturelle Größe, welche sich gegen die griechische Herrschafts- und Lebensweise abgrenzt. Bis weit in das 1. Jahrhundert n.d.Z. hinein dominierte die ethnisch-geographische Interpretation des Begriffs.

Paradebeispiel für die changierende Bedeutung des Wortes Jude beziehungweise Judäer ist König Herodes, der von 37 bis 4 v.d.Z. als römischer Vasall über Palästina herrschte. Ethnisch betrachtet gehörte er zum Volk der →Idumäer, das jedoch im 2. Jahrhundert v.d.Z. zwangsweise dem jüdischen Volk eingegliedert worden war. Aus diesem Grunde war Herodes ethnisch-politisch zugleich Idumäer und Judäer, was von vielen seiner Zeitgenossen, wie dem jüdischen Historiker Josephus, auch anerkannt wurde. Dieser Umstand ebnete ihm den Weg zur Herrschaft über das jüdische Volk. In dieser Funktion konnte er auch den Tempel zu Jerusalem beträchtlich erweitern und verschönern. Die politischen Gegner des Herodes sahen in ihm jedoch lediglich einen »Halb-Judäer« (vgl. Josephus, Ant 14,403) und hielten seinen Anspruch auf religiöse Teilhabe am Judentum für schlichte Anmaßung. 

Eine neue und bis heute weithin anerkannte Definition der Zugehörigkeit zum Judentum wurde von der →rabbinischen Theologie frühestens ab dem 2. Jahrhundert n.d.Z. entwickelt. Als Jude (nicht mehr: Judäer) gilt, wer eine jüdische Mutter hat (vgl. Mischna Qid 3,12). Dieser Bestimmung zufolge wäre der judäische König Herodes keinesfalls »Jude« gewesen, da seine Mutter einer arabischen Familie entstammte. Entsprechend urteilt im 5./6. Jahrhundert der Babylonische Talmud (BB 3b), Herodes sei ein (heidnischer) Sklave gewesen – hätte also weder König Judäas noch gar Tempel-Erbauer werden dürfen. Je |12|nach Epoche und politisch-religiöser Prägung wird derselbe Herodes somit als Idumäer-und-deshalb-kein-Judäer, Idumäer-und-deshalb-Judäer, als Judäer-und-Jude oder als Araber definiert (Cohen 1999: 13–24).

Die Bezeichnung Judentum im Sinne einer Religion bzw. einer vornehmlich religiös definierten Größe entwickelte sich erst in Abgrenzung zum Begriff »Christentum«, der kaum vor dem 4. Jahrhundert seine heute bekannte Ausprägung erfuhr. Sie muss jedoch eher als eine Fremdbezeichnung denn als ein Eigenname angesehen werden. Die jüdische Gemeinschaft im religiösen Sinne verstand sich nämlich als Volk Israel – und tut dies weithin bis heute. In gewisser Weise kommt somit in der Bezeichnung Judentum für die Religion des jüdischen Volkes ein Konflikt zum Ausdruck, da die Christen die Bezeichnung Israel für sich selbst (als das »Neue Israel«) reklamierten und sie mithin den Juden streitig machten.

Sieht man von modernen Entwicklungen einmal ab, so zeigt sich, dass sich Juden zu allen Zeiten überall auf der Welt auf zwei klar umrissene Größen bezogen haben: auf die →Tora, die Offenbarung Gottes am Sinai, sowie auf Israel – in seiner Doppelgestalt als geographische Heimat und ethnisch-religiöse Gemeinschaft. Erst in jüngster Zeit, etwa ab dem 19. Jahrhundert, haben Juden diesen doppelten Bezug in Frage gestellt. Dies geschah einerseits, indem sich das liberale Judentum Westeuropas als eine Konfession im christlichen Sinne definierte, so dass sich deren Anhänger zum Beispiel als »deutsche Staatsbürger mosaischen Glaubens« verstanden. Damit wurde die Bindung zu Israel als geographischer Heimat relativiert. Eine komplementäre Entwicklung vollzog sich bei manchen säkular lebenden Juden, die, wie etwa weite Teile der zionistischen Bewegung, die Befolgung der Tora als obsolet betrachteten, an der ethnisch-geographischen Bezogenheit zu Israel jedoch festhielten.

|13|Tora

Der Begriff Tora (hebr. Weisung, Belehrung) zeigt im Laufe der jüdischen Religionsgeschichte einige Veränderungen. Ursprünglich bezeichnete der Begriff die elterliche oder priesterliche Unterweisung, später auch die von Propheten übermittelten Worte Gottes. Eine weitere Bedeutungsebene verknüpfte sich mit den in Israel entstehenden Sammlungen von Rechtstexten, welche ab dem 6. Jahrhundert v.d.Z. von den Autoren der Fünf Bücher Mose in eine große Erzählung von den Anfängen Israels eingefügt wurden. Im Zuge der Entstehung des Pentateuch (der Fünf Bücher Mose) wird Tora schließlich zu einer feststehenden Bezeichnung für eben dieses Werk: Die Torat Mosche (Weisung Moses) ist die Gesamtheit der Offenbarung Gottes an Israel, wie sie in schriftlicher Form (»Schriftliche Tora«) in den ersten fünf Büchern beziehungsweise der gesamten Hebräischen Bibel niedergelegt ist und in mündlicher Form (»Mündliche Tora«) alles umfasst, was jemals in Auslegung der Schriftlichen Tora gesagt worden ist und werden wird.

In der Hebräischen Bibel, im Fünften Buch Mose (Deuteronomium), findet sich die klassische Beschreibung der Beziehung zwischen der Tora, dem Volk Israel und dem ihm verheißenen Land. Es ist die Tora, welche den einzig relevanten Unterschied zwischen Israel und den anderen Völkern ausmacht. Es ist dieser Unterschied, der Israel dazu bestimmt, das ihm verheißene Land tatsächlich zu besitzen. Ohne Tora, so schärft es insbesondere das Deuteronomium seinen Hörern immer wieder ein, gibt es keine Zukunft für Israel.

»Siehe, ich lehrte euch Satzungen und Rechtssätze, welche der Ewige, mein Gott, mir geboten hat, so zu tun inmitten des Landes, in welches ihr kommt, es zu erben. Und ihr sollt [sie] bewahren und tun, denn dies ist eure Weisheit und eure Einsicht in den Augen der Völker, welche all diese Satzungen hören und sagen werden: ›Es ist gewiss ein weises und einsichtiges Volk, diese große Nation!‹ Denn wo ist eine große Nation, der Götter [so] nahe sind wie der Ewige, unser Gott, wann immer wir zu ihm rufen? Und wo ist eine große |14|Nation,welche [solch] gerechte Satzungen und Rechtssätze besitzt wie diese ganze Tora, welche ich heute vor euch stelle?« (Dtn 4,5–8)

Die nachfolgenden Generationen Israels haben diese Überzeugung geteilt, sie unter dem Eindruck von Fremdherrschaft und Vertreibung sogar noch stärker betont als ihre biblischen Vorfahren. Als das verheißene Land in den ersten beiden Jahrhunderten n.d.Z. auf lange Sicht endgültig an die Fremden fiel und der Tempel zu Jerusalem in Trümmern lag, blieb die Tora das einzige Unterpfand der jüdischen Existenz. Einzig und allein die Bewahrung der Tora konnte den Unterschied zwischen Israel und den Völkern aufrecht erhalten und somit die Hoffnung nähren, dass die jüdische Gemeinschaft eines Tages in das Gelobte Land würde heimkehren können.

In diesem Sinne ist es tatsächlich die Tora, welche Jahrhunderte lang die jüdische Gemeinschaft konstituierte. Dies konnte allerdings nur deshalb gelingen, weil man der in der Hebräischen Bibel aufgezeichneten Offenbarung Gottes (»Schriftliche Tora«) eine dynamische mündliche Tradition (»Mündliche Tora«) an die Seite stellte, welche alle Interpretationen und Aktualisierungen der in der Bibel niedergelegten Gebote umfasst. Alles, was in Auslegung der Schriftlichen Tora gelehrt worden ist und noch gelehrt werden wird, ist Mündliche Tora und somit Offenbarung Gottes. Im Zusammenspiel dieser beiden Geschwister, die Identifikation und Innovation gleichermaßen ermöglichen, kann sich die jüdische Gemeinschaft konstant definieren, aber auch veränderten geschichtlichen und geographischen Situationen stellen.

Die Ausrichtung der jüdischen Gemeinschaft an der Tora ist jedoch kein folkloristischer Selbstzweck. Die Erfüllung ihrer Gebote nährt die Hoffnung auf Israel: auf Heimkehr und nationale Wiedergeburt. Jene Erwartung aber pulst stetig, mal intensiver, mal weniger stark durch |15|die jüdische Geschichte. Die Dichte jener Hoffnung bestimmt das Bild der jeweiligen Epoche: Zeiten fiebriger Gewissheit wechseln mit Jahren der Enttäuschung und der Resignation. Manchmal wird die Einwanderung in das arabisch, byzantinisch, türkisch, englisch beherrschte Palästina propagiert, in anderen Zeiten versucht man hingegen eher, das Gelobte Land in Europa oder Amerika zu finden. Es ist nicht zuletzt wiederum die Tora, welche als kühle Konstante der jüdischen Lebensgestaltung die allzu feurigen Geister wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringt.

Halacha und Haggada

Die Schriftliche und Mündliche Tora präsentiert sich in zwei einander ergänzenden Konzepten: Halacha (hebr. Gehen) bezeichnet die Gesamtheit der Regeln, welche das jüdische Leben prägen; die Haggada (hebr. Erzählen) umfasst die narrativen Traditionen des Judentums. Sie verhilft der Halacha zu Begründungen, Beispielen, Kontexten und zu einer Verankerung in der Geschichte Israels. Beide, Halacha und Haggada, wirken zusammen wie Standbein und Spielbein einer Statue. Auch wenn das Gefüge der jüdischen Religion und Kultur nur auf den insgesamt 613 Geboten und Verboten der Tora zu fußen scheint, so können diese ohne die Erzählungen um die großen Helden wie Mose, David und Elija, ohne die ständige Rückbindung an die Geschichte und Zukunft Israels keinen Bestand haben. Seine prägende Formulierung findet dieser Zusammenhang im Ersten Gebot ( jüdischer Zählung), wo es heißt: »Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten hinausgeführt hat, aus dem Haus der Sklaven.« (Ex 20,2)

Das Erste Gebot beinhaltet die halachische Forderung des Ewigen an Israel, der einzige Gott zu sein. Dieser Anspruch wird haggadisch mit der Befreiung aus dem Sklavendasein in Ägypten begründet. Ohne die Erzählung vom Auszug aus Ägypten hinge die Halacha von der Exklusivität Gottes buchstäblich in der Luft.

Die Bibel hat mit ihrer engen Verknüpfung von Offenbarung und Geschichte das Denken revolutioniert. Anstatt das Wirken der Götter und die Entstehung |16|menschlicher Ordnungen mythisch zu fundieren, wie es beispielsweise die Ägypter, Sumerer oder Babylonier taten, hat sie die Begegnung zwischen Gott und Mensch in die historische Zeit verlegt. Die Halacha, das System ethischer, kultischer und juridischer Gebote, wird in die Haggada eingebettet und geschichtlich begründet. Nach und nach, in einem langen Prozess gegenseitigen »Kennenlernens«, unterweist Gott sein Volk in den wichtigsten Lebensregeln und begleitet es bei seinen Erfahrungen in deren Anwendung. Aus dieser Konstellation resultiert die permanente Aufforderung an Israel, sich zu erinnern, das Vergangene weiterzuerzählen, in Fest und Ritual die Erfahrungen der Geschichte Gottes mit seinem Volk wieder aufleben zu lassen.

Sowohl die Hebräische Bibel als auch die rabbinische Literatur (vgl. S. 55), allen voran →Mischna und →Talmud, haben höchst erfolgreich versucht, das Volk Israel als eine homogene Größe darzustellen. Die Hebräische Bibel zum Beispiel sah das Volk unter der Führung korrumpierter Könige entweder komplett auf dem Holzweg oder kollektiv reumütig auf dem dornigen Pfad zurück zu Gott. Mischna und Talmud hingegen zeichnen das Bild eines lernwilligen Volkes unter der unbestrittenen Führung durch heilige Gelehrte, die →Rabbinen. Doch diese Holzschnitte entsprechen kaum der historischen Realität. Ein Blick unter die Oberfläche der Geschichtskonstruktionen der Bibel zeigt, dass priesterliche, höfische und prophetische Konzepte von Israel miteinander konkurrierten. Weisheitliche Skeptiker standen apokalyptischen Zirkeln oder national-konservativen Strömungen gegenüber. In der hellenistischen Epoche wird die innere Vielgestaltigkeit Israels durch die Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur noch verstärkt: An der Frage, wie weit man sich den fremden Einflüssen öffnen solle, schieden sich die Geister. In den Jahrhunderten der griechisch-römischen Fremdherrschaft (3. Jahrhundert |17|v.d.Z. bis 6. Jahrhundert n.d.Z.) entstanden darüber hinaus große jüdische Gemeinden außerhalb Palästinas, die ein je eigenes kulturelles Gepräge entwickelten.

Mit der Christianisierung des Römischen Reiches (4. Jahrhundert) und den arabischen Eroberungszügen wurde die jüdische Gemeinschaft zu einer ethnischen und religiösen Minderheit innerhalb christlich oder islamisch beherrschter Staaten. Dies führte zur Herausbildung zweier Grundformen jüdischer Kultur: Der sefardischen (von hebr. Sefarad für Spanien), die von der arabisch-islamischen Umwelt intensiv beeinflusst wurde, und der aschkenasischen (von hebr. Aschkenas für Deutschland), die sich unter christlichem Einfluss behaupten musste. Die Sefarden prägten in Spanien, Nordafrika und im Vorderen Orient eine jeweils besondere jüdische Lebensart aus. Die kulturellen Zentren des Judentums im mittelalterlichen Europa befanden sich in Südfrankreich, dem Rheinland und Norditalien, bis sich aufgrund großflächiger Verfolgungen ab dem 12. Jahrhundert Mittel- und Osteuropa zu einem Refugium der aschkenasischen Juden entwickelte.

Doch auch innerhalb der sefardischen und aschkenasischen Gemeinden gab es heftige Konflikte darüber, worin das Wesentliche des jüdischen Lebens besteht und welchen philosophischen, theologischen und religiösen Traditionen besonderes Gewicht zukommt. So tobte im sefardischen Spanien des 13. und 14. Jahrhunderts eine harte Auseinandersetzung um die aristotelische Deutung des Judentums durch Mosche ben Maimon (Maimonides, 1135–1204). Die →Kabbala, die klassische jüdische Mystik, stellte dem ein völlig anders geartetes Konzept entgegen – nicht ohne sich dabei platonischer Vorstellungen zu bedienen. Dispute über das Wesen des Judentums erschütterten auch die osteuropäischen Gemeinden ab dem 17. Jahrhundert, als der →Chassidismus seinen Siegeszug durch Galizien und die Ukraine antrat. Mit der Rezeption der europäischen Aufklärung durch das |18|aschkenasische Judentum (ab dem 18./19. Jahrhundert) wurden schließlich Grundwerte in Frage gestellt, die seit Jahrhunderten das Leben der Gemeinden bestimmt hatten. Liberale, konservative und orthodoxe Interpretationen der Halacha standen jüdischen Strömungen gegenüber, welche sich vollständig säkular definierten. Manche dieser Gruppen erhoben die Angleichung an die nichtjüdische Umwelt zum Programm (wie die Sozialisten), andere versuchten, ihre jüdische Identität politisch (die Mehrheit der →Zionisten) oder kulturell (→Bundisten) zu behaupten.

|19|2. Vorgeschichte: Vom Werden der Tora und Israels (1300 v.d.Z. bis 70 n.d.Z.)

2.1. Von den Ursprüngen. Die Religionsgeschichte Alt-Israels

Die Darstellung in der Hebräischen Bibel

Die Bibel stellt ihrer Erzählung von den Anfängen Israels eine Vorgeschichte voran: Bevor Israel zu einem Volk wurde, lebten deren Urahnen Abraham, Isaak und Jakob als Kleinviehzüchter in →Kana’an, einem von fremden Völkern besiedelten Gebiet, in dem sie keinen Landbesitz hatten. Aufgrund einer schweren Hungersnot verschlug es die Familie Jakobs in das östliche Nildelta, wo diese trotz harter Sklavenarbeit zu einem Volk heranwuchs.

Als eigentlicher Beginn der Geschichte Israels gilt der Bibel (und mit ihr der jüdischen Tradition) die Befreiung der Nachkommen Jakobs aus der ägyptischen Knechtschaft durch den Ewigen (Jhwh), der sich dem Volk Israel als sein Gott zu erkennen gibt.

Jhwh

Der geheimnisvolle Gottesname Jhwh, das so genannte Tetragrammaton, entstammt vermutlich dem Bergland des Sinai, wo, ägyptischen Quellen zufolge, Hirtenstämme einen Berg- und Wettergott ähnlichen Namens verehrten. Auch einige sehr alte biblische Texte (Richter 5,4 f.) verbinden den Namen Jhwh mit jener Gegend. Er gilt der jüdischen Tradition seit der Antike als der am meisten heilige und wirkmächtige der vielen Bezeichnungen Gottes und darf daher nicht ausgesprochen werden. Wo immer die vier Konsonanten in biblischen oder liturgischen Texten begegnen, ersetzt man sie durch Adonai (hebr. »Mein Herr«) oder ha-Schem bzw. Schemá (hebr. bzw. aram. »der Name«).

|20|In der biblischen Haggada verbindet sich der Auszug aus Ägypten (Exodus) mit der Person Moses, dem sich der Ewige als erstem offenbart, um ihn mit der Führung Israels zu betrauen: »Und es sprach Gott zu Mose: Ich bin der Ewige. Ich zeigte mich jedoch dem Abraham, dem Isaak und dem Jakob als Gott Schaddaj. Aber meinen Namen Ewiger habe ich sie nicht wissen lassen.« (Ex 6,1) Mit der Erfahrung der wunderbaren Rettung vor dem heranstürmenden Heer des Pharao im Gepäck verlassen die einstigen Sklaven Ägypten und werden von Mose zum Berg Sinai geführt. Dort offenbart sich der Ewige dem ganzen Volk, übergibt ihm die Gebote und schließt mit ihm einen Bund, der Ihn zum Gott Israels und Israel zu Seinem Volk macht.

Jüdischer Festkalender

Die immense Bedeutung dieser Grunddaten biblischer Historiographie erschließt sich auch dadurch, dass die alten agrarischen Wallfahrtsfeste, die den Festkalender der Israeliten strukturierten, nachträglich mit ihnen verknüpft wurden: der Beginn der Getreideernte (Mazzot) und das Fest zum Wechsel auf die Sommerweide (Pessach) mit dem Exodus, das Ende der Getreideernte mit der Übergabe der Gebote am Sinai (Wochenfest, Schavu’ot) sowie das Weinlesefest im Herbst mit der Wüstenwanderung (Laubhüttenfest, Sukkot). Durch die Verknüpfung von Pessach (dt. Passa) und Mazzot mit dem Exodus wurden deren Elemente umgedeutet: Das Schlachten eines neugeborenen Lammes wurde nun als Hinweis auf die zehnte ägyptische Plage verstanden, da ein »Schlächter« alle erstgeborenen Menschen und Tiere Ägyptens tötete (Ex 12). Im ungesäuerten Brot der neuen Getreideernte (Mazzot) sah man das Symbol der Eile vor der Flucht aus Ägypten, da man keine Zeit hatte, Sauerteig reifen zu lassen (Ex 12, Dtn 16,3). Schon in der Antike entwickelte sich der Seder (hebr. Ordnung), ein häusliches Mahl mit fünf traditionellen Speisen und vier Bechern Wein, zum Zentrum des Festes. Das Mahl wird geprägt von der Pessach-Haggada, einer von Liedern und Gebeten begleiteten Erzählung der Ereignisse rund um den Auszug aus Ägypten. Fünfzig Tage nach Pessach wird Schavu’ot (Wochenfest) gefeiert. In seinem Zentrum steht die Tora, die man am besten dadurch würdigt, dass man sie studiert. Das herbstliche Laubhüttenfest (Sukkot) schließt unmittelbar an die Hohen Feiertage (Rosch ha-Schana bis Jom Kippur, vgl. S. 104) an. |21|In Gärten, Höfen und auf Balkonen errichtet man Laubhütten. Ursprung dieses Brauchs ist das Weinlesefest, bei dem man in den Weinbergen Hütten baute. Die theologische Umdeutung verband die Hütten mit der Wüstenwanderung, als das Volk keine feste Behausung hatte und auf die Fürsorge Gottes angewiesen war. Mit dem Bau der Hütte und dem rituellen Essen darin soll sich Israel daran erinnern. Zweiter Bestandteil des Sukkot bildet der Lulav, ein Strauß aus einer Zitrusfrucht (Etrog) und verschiedenen Zweigen, der auch auf das alte Agrarfest zurückgeht. Der Lulav sollte während des siebentägigen Festes immer mitgeführt werden. Besondere Bedeutung hat er in den Gottesdiensten, wo er Prozessionen in der Synagoge begleitet. Den Abschluss des Wochenfestes bildet Simchat Tora, das Fest der Torafreude, mit dem der jährliche Lesezyklus der Tora endet. Es gibt Gesang und Tanz, auch mit den liebevoll geschmückten Torarollen.

Nach einem vierzigjährigen Irrweg durch die Wüste, verursacht durch den permanenten Widerstand des Volkes gegen den Willen des Ewigen, erlangt Israel schließlich unter der Führung Josuas das ihm verheißene Land. Während das biblische Buch Josua von der nahezu vollständigen Eroberung →Kana’ans zu berichten weiß, verzeichnet das Buch der Richter (Ri 1–3) eine lange Liste von Gebieten, aus denen die ursprünglichen Bewohner nicht vertrieben werden konnten. Diese »fremden Völker« werden von der Bibel wesentlich dafür verantwortlich gemacht, dass Israel in der Folgezeit auf religiöse Abwege geriet.

Zermürbt von inneren und äußeren Konflikten verlangt das Volk nach einem König, wie ihn die anderen Nationen hätten (vgl. 1. Sam 8), was ihm von Gott (widerwillig) gewährt wird. Mit König David ersteht Israel sogar eine Lichtgestalt auf dem Thron, da es ihm durch seine Eroberungszüge gelingt, aus Israel ein mächtiges Reich zu formen. Unter Davids Enkel allerdings zerfällt dieser Staat: Dessen nördlicher Teil (Israel) wird von den biblischen Erzählern weithin negativ beurteilt. Er hätte zu sehr unter dem kulturellen Einfluss fremder Völker |22|gestanden und sei dem Ewigen untreu gewesen. Die von Gott gesandten Propheten konnten an diesem Zustand nichts ändern, so dass es nur folgerichtig schien, dass Israel dem neuassyrischen Reich zum Opfer fiel. Etwa 230 Jahre später ereilte den südlichen Teilstaat Juda allerdings ein ähnliches Schicksal: Der babylonische König Nebukadnezar eroberte 597/586 v.d.Z. Jerusalem und verbrannte den Tempel, das zentrale Heiligtum des Landes.

Skeptische historiographische Beurteilung der biblischen Darstellung

Die moderne Archäologie und Historiographie hat gegen die biblische Darstellung schwere Bedenken angemeldet. Die Existenz der Erzväter sei nicht zu belegen. Die frühen Vorfahren Israels seien Bewohner des kanaanäischen Berglandes gewesen, die je nach ökonomischer Situation Kleinviehzucht oder Ackerbau betrieben hätten und nach dem Zusammenbruch der Stadtstaaten in den Ebenen des Landes (um 1200 v.) in das dadurch entstehende Machtvakuum hineinstießen. Für den Auszug aus Ägypten ließen sich weder außerbiblische Quellen noch archäologische Belege finden. Er habe entweder gar nicht oder nur in sehr viel bescheideneren Ausmaßen stattgefunden, als es die Bibel glauben machen will.

Auch für eine militärische Eroberung Kana’ans gibt es keinerlei Indizien. Die im Buch Josua liebevoll erwähnten Orte Jericho und Ai (Jos 6–8) waren zur mutmaßlichen Zeit gar nicht besiedelt. Ähnlich skeptisch fällt das Urteil vieler Forscher bezüglich des Königreichs Davids aus: Die Bibel habe dessen geographische Ausmaße und politische Bedeutung erheblich überdimensioniert. Tatsächlich sei David (um 1000 v.d.Z.) lediglich Herrscher über Juda, ein peripheres, bäuerlich geprägtes Gebiet im Gebirgsland um Jerusalem gewesen. Ein bedeutendes Staatswesen mit einer zentralen Verwaltung sei für die fragliche Epoche nicht aufzuweisen. Ganz anders die Situation |23|in dem von der Bibel so geschmähten nördlichen Bergland um die Stadt Sichem, wo sich der Teilstaat Israel entwickelte. Aufgrund der weitaus günstigeren geographischen, klimatischen und demographischen Bedingungen in jenem Teil Kana’ans gelang es ab dem 9. Jahrhundert v., dort ein aufstrebendes Staatswesen zu etablieren, welches, wie assyrische Zeugnisse belegen, um die Mitte des 9. Jahrhunderts v.d.Z. zu einem bedeutenden Machtfaktor in der Region aufstieg. Ein einheitliches Königreich unter den Königen David und Salomo (1000 bis 950 v.d.Z.) habe es möglicherweise nie gegeben.

Israel und Juda (8. Jh. v.d.Z.)

|24|Biblische Historiographie

Diese im weiten Feld der biblischen Historiographie eher skeptische Darstellung fußt vor allem auf Finkelstein/Silberman (2002), deren Urteile unterschiedlich gut begründet sind. Während man die Erzväter tatsächlich nicht zwingend für historische Personen halten muss, enthält der archäologische »Beweis« dafür, den Exodus als Fiktion einzustufen, einen Denkfehler. Er stützt sich nämlich auf das Fehlen von Spuren menschlicher Besiedlung an den von der Bibel genannten Orten auf dem Sinai, die jedoch an anderer Stelle als Anachronismus des 7. Jahrhunderts v.d.Z. bezeichnet werden. Die Reduktion des davidischen Königtums auf einen provinziellen Kleinststaat wiederum gründet sich auf eine grundsätzliche Umdatierung archäologischer Funde, die man nicht notwendig teilen muss. Folgt man der Rekonstruktion israelitischer Geschichte bei Finkelstein/Silberman, so muss das 7. Jahrhundert v.d.Z. beinahe alles hervorbringen, was die Bibel Interessantes zu bieten hat.

Der Glanz des nördlichen Staates Israel währte nicht lange. Bibel und archäologische Funde berichten übereinstimmend von der schrittweisen Eroberung des Landes durch die (Neu-)Assyrer, die im Jahr 722 v.d.Z. mit dem Fall Samarias besiegelt war. Israels Untergang, so legen es archäologische Quellen nahe, führte zu einem nie da gewesenen Aufschwung im südlichen Königreich Juda. Flüchtlinge aus dem eroberten Israel kamen in Scharen und brachten ihr technisches, administratives und kulturelles Wissen mit. Juda entwickelte sich seit dem Ende des 8. Jahrhunderts zu einem »richtigen« Staat und Jerusalem zu einer echten Metropole. Sowohl das Nachdenken über Israels Zusammenbruch als auch das kulturelle Erblühen Judas mündete in eine große religiöse Reformbewegung, die Jerusalems Heiligtum, den Tempel, zu einem Zentrum der Verehrung des Ewigen werden ließ.

Aber auch das Glück Judas sollte keinen Bestand haben. Das assyrische Reich brach schnell zusammen und an seiner Statt stiegen die Babylonier zu Macht und Einfluss in Mesopotamien auf. Die Eroberungszüge Nebukadnezars (605–562 v.d.Z.) in die Levante ereilten schließlich auch das Königreich Juda, welches 597 zum ersten |25|Mal erobert und, nach einem Bruch der Vasallenverträge, im Jahre 586 v.d.Z. völlig zerschlagen wurde. Jerusalem und der Tempel lagen in Trümmern. Die intellektuelle Elite des Landes wurde nach Babylon deportiert (»Babylonisches Exil« von 597 bzw. 586 bis ca. 540 v.d.Z.). Dies hätte das Ende des Volkes Israel sein können – es gelang jedoch eine umfassende Neubesinnung, als deren Manifest große Teile der Hebräischen Bibel zu betrachten sind.

Religionsgeschichtliche Perspektive

Für die Entwicklung einer Nation und deren Kultur ist es nicht unbedingt von entscheidender Bedeutung, ob ein bestimmtes Ereignis »wirklich passiert ist« oder ob eine Person »tatsächlich« so gehandelt und geredet hat, wie man es ihr über Generationen hinweg zuschreibt. Oft sind diese Zuschreibungen so wirkmächtig, dass sie im Bewusstsein der Menschen eine eigene Art von Realität erlangen. Gleiches gilt für das jüdische Volk und seine Religion: Der Auszug aus Ägypten als Begründung des Verhältnisses zwischen Gott und Israel, die Gabe der Tora am Berg Sinai, die großen Heroen Mose und David haben die jüdische Geschichte geprägt – ob es sie nun so oder anders gegeben hat oder nicht. Dem Auszug aus Ägypten, der Verpflichtung Israels auf die Gebote am Sinai und dem Tempel Davids und Salomos zu Jerusalem hat die Macht der Erinnerung und der Erzählung eine ganz eigene Wirklichkeit verliehen. Grund genug, die biblische Geschichte noch einmal unter dem Aspekt der Entwicklung der jüdischen Religion zu betrachten.

Die Urahnen des jüdischen Volkes waren semitische Kleinviehzüchter, welche im Bergland Kana’ans Schafe und Ziegen hielten, im Bedarfsfall auch Ackerbau betrieben. Sie lebten in Familienverbänden, an deren Spitze ein Clanchef, der Patriarch, alle wesentlichen Angelegenheiten zu entscheiden hatte, weil er über das dafür nötige|26|Wissen (Weideplätze, Brunnen, Familiengeschichte, um Inzest zu vermeiden) verfügte. Dazu gehörte auch die Kenntnis, wie der Familiengott – verantwortlich für den Nachwuchs bei Mensch und Tier, den Schutz vor Dämonen und Wetterunbilden – angemessen zu verehren sei. Die Viehzüchter verehrten mutmaßlich nur einen Gott, ohne jedoch die Existenz anderer Götter auszuschließen (Henotheismus). Beim Wechsel von der Winterweide in den Steppengebieten auf die Sommerweide, welche näher an den fruchtbaren Ebenen Kana’ans gelegen war, feierten sie ein Fest (Pessach), bei welchem zur Abwehr von Gefahren des Weges ein Jungtier geschlachtet wurde. Antike Bauern, ob nun Viehzüchter oder Ackerleute, lebten zumeist von der Hand in den Mund. Brach eine Seuche oder eine Trockenheit aus, konnten sie auf keinerlei Rücklagen zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, dass kleine Gruppen semitischer Viehzüchter auf der Suche nach Wasser für ihre Tiere ins Nildelta gerieten und dort etwas erlebten, was sich im Laufe der Zeit zu einer Erfahrung der Errettung von Fronarbeit verdichtete. Auf heute nicht mehr nachvollziehbaren Wegen gelangte das Wissen um einen rettenden Gott vom Sinai nach Kana’an.

Mose empfängt die Tora auf dem Berg Sinai

|27|Mose und der Exodus

Die Errettung aus Ägypten, die man sich als eine erfolgreiche Flucht einer kleinen Gruppe ehemaliger Zwangsarbeiter aus dem von Grenzpatrouillen abgesicherten Ostdelta vorstellen kann, mag durchaus unter der Führung einer Persönlichkeit namens Mose (hebr. Mosche) erfolgt sein. Dafür spräche der für einen hebräischen Helden ungewöhnliche ägyptische Name (von Mss, Kind). Im Laufe der Traditionsbildung hätte die Figur Moses dann ein ganzes Bündel weiterer Funktionen an sich gezogen, von denen die des Gesetzgebers (des Mittlers der Tora Gottes) besondere Bedeutung erlangte.

Die beiden grundlegenden Erfahrungen, der Schutzgott Vieh züchtender Familien und der Rettergott ehemaliger Sklaven, verschmolzen miteinander. Ungewöhnlich an dieser werdenden Kultur ist die Tatsache, dass sie nicht – wie die meisten altorientalischen Kulturen – einen Staat voraussetzt und begründet, sondern die Befreiung von staatlicher Unterdrückung als eine ihrer Wurzeln hat. Dieser Umstand sollte der weiteren Entwicklung Israels eine besondere Dynamik verleihen.

Holzdruck des Tempels aus der »Mischne Tora« des Maimonides, Venedig 1524

|28|Eine erste Schwellenzeit in der Geschichte Alt-Israels dürfte um das Jahr 1200 v.d.Z., im Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit anzusetzen sein, als die Stadtstaaten der Ebenen Kana’ans reihenweise zusammenbrachen und an der Küste ein fremdes Kulturvolk auftauchte: die Philister, nach denen das Land später Palästina (Philistäa) genannt werden sollte. Für die Bewohner des Berglandes, aus denen das Volk Israel hervorging, ergab sich einerseits die Chance, in das Vakuum vorzustoßen, welches die untergegangenen Städte hinterließen; andererseits erwuchs ihnen mit den philistäischen Küstenstädten ein neuer, machtvoller Konkurrent um den Besitz der fruchtbaren Tiefebenen Kana’ans. In jedem Falle eröffneten sich den ehemaligen Kleinviehzüchtern des Berglandes eine Fülle neuer kultureller Kontakte: sei es, dass sich die Bewohner der einstigen Stadtstaaten Kana’ans nun ebenfalls in Dörfern organisierten; sei es, dass sich die ehemaligen Berglandbewohner mit den Philistern auseinanderzusetzen hatten. Es vollzog sich ein Prozess kultureller Anpassung, in dessen Folge (wohl um das Jahr 1000 v.d.Z., in welches man König David datiert) ein oder zwei Staatengebilde entstanden, deren nördlicher Teil als Israel und deren südlicher Kern als Juda bezeichnet werden.

Für die Kultur der einstmaligen Berglandhirten brachte dies schwerwiegende Veränderungen mit sich. Es wurde ein Staatskult mit festen Heiligtümern (der Jerusalemer Tempel in Juda; Bethel und Dan in Israel) installiert, der die Macht der Könige begründete und repräsentierte. Der von den Herrschern Israels und Judas verantwortete Kult nahm intensiv Anleihe bei vorderorientalischen Systemen: der König wurde als Mittler zwischen Gott und dem Volk gesehen, der Segen und Recht für sein Staatsgebiet garantierte. Der Kult wurde stellvertretend für den Herrscher von Priestern ausgeführt. Die Familienverbände und ihre Patriarchen verloren in dieser Konstruktion jede eigenständige Funktion. Somit entstand eine unauflösliche |29|Spannung zwischen der »Staatsreligion« mit ihrer herrschaftsstützenden Aufgabe und der alten »Stammesverfassung« oder »Familienreligion«, welche durch die Exodus-Erfahrung noch dazu einen herrschaftskritischen Akzent aufwies. Soziale Konflikte, die sich aus der erblühenden Stadtkultur und ihrem königlichen Verwaltungs und Fronsystem einerseits und der Landbevölkerung andererseits ergaben, verschärften den internen Gegensatz zwischen der →synkretistischen »Staatsreligion« und der Ein-Gott-Verehrung der ehemaligen Kleinviehzüchter. Zum Sprachrohr dieses sozialen und kulturellen Protests entwickelten sich (ab dem 8. Jahrhundert v.d.Z.) die biblischen Propheten, allen voran Männer wie Amos, Jesaja und Micha.

Der Zusammenbruch des Königreichs Israel (722 v.d.Z.) schien den prophetischen Mahnern Recht zu geben. Unter den gelehrten Eliten Judas, in einer Gruppe von schreibkundigen Beamten und Priestern, wuchs die Überzeugung, dass eine große Reform vonnöten sei, welche die Anliegen der Propheten (sozialer Ausgleich, ausschließliche Verehrung des Ewigen, Abgrenzung von fremden Kulten) mit dem judäischen Königtum in Einklang bringen sollte. Manifest dieser Reform ist die Grundschrift des Deuteronomiums, nach der man die gesamte Unternehmung als »Deuteronomische Reform« bzw. »Deuteronomische Theologie« bezeichnet. Aufgrund äußerst turbulenter politischer Entwicklungen blieb die Deuteronomische Reform jedoch in ihren Anfängen stecken. Auch Juda wurde 586 v.d.Z. erobert, der Tempel zu Jerusalem in Brand gesteckt. Die Geschichte des israelitischen Volkes schien an ihr Ende gekommen zu sein.

|30|2.2. Die Geschichte von Exil und Heimkehr

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|44|2.3. Profile des biblischen Israel: Tora, Tempel und Gelobtes Land

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|51|3. Das rabbinische Judentum (bis 7. Jahrhundert)

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3.2. Profile des rabbinischen Judentums

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|74|4. Mittelalter: Juden unter islamischer Herrschaft (7. bis 15. Jahrhundert)

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4.1. Zur Geschichte der Juden »Babylons«

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|79|4.2. Ein »Goldenes Zeitalter«? Juden im maurischen Spanien

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4.3. Profile des sefardischen Judentums: Philosophie und Kabbala

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|98|5. Mittelalter: Juden unter christlicher Herrschaft (7. bis 16. Jahrhundert)

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5.1. Zur Geschichte des aschkenasischen Judentums

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5.2. Profile des aschkenasischen Judentums: Kommentar und Liturgie

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|116|6. Neuanfänge des sefardischen Judentums (16. bis 20. Jahrhundert)

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6.1. Zur Geschichte der Sefarden im Osmanischen Reich

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6.2. Profile des sefardischen Judentums in der frühen Neuzeit: Lurianische Kabbala

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|129|7. Neuansätze im aschkenasischen Judentum (17. /18. Jahrhundert)

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7.1. Zur Geschichte der Juden Ost- und Zentraleuropas

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7.2. Profile des osteuropäischen Judentums

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|146|8. Tora und Israel auf dem Prüfstand (19. bis 20. Jahrhundert)

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8.1. Zur Geschichte der Juden Europas in der Neuzeit

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8.2. Profile des modernen europäischen Judentums

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|166|Schoa

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|169|10. Israel und das Judentum der Gegenwart (seit 1948)

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10.1. Zur Geschichte des Judentums in Amerika und Israel

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10.2. Profile des Judentums der Gegenwart

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Anhang

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|187|Literatur

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|193|Abkürzungen

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|195|Glossar

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