Das kalte Schweigen der See - Morgan Audic - E-Book

Das kalte Schweigen der See E-Book

Morgan Audic

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Beschreibung

 Ein gestrandeter Wal, eine tote Frau und das kalte Schweigen des Nordpolarmeers – dieser Thriller, der in der rauen Natur Spitzbergens und der Lofoten spielt, entfaltet einen unentrinnbaren Sog.  Longyearbyen auf Spitzbergen, die nördlichste Siedlung der Welt: In einer entlegenen Bucht wird neben einem gestrandeten Pottwal die Leiche einer Studentin der Meeresbiologie gefunden. Ist die junge Frau einem Eisbären zum Opfer gefallen? Die ermittelnde Polizistin Lottie hat immer stärkere Zweifel. Dann wird auf dem norwegischen Festland die Leiche einer Journalistin geborgen, auch sie an einem einsamen Strand. Ihr ausgeprägtes Interesse an den großen Meeressäugern verbindet die beiden Toten. Lottie und ein Freund der Journalistin machen sich daran, die Tode aufzuklären – und kommen einer erschreckenden Wahrheit auf die Spur. »Ein höchst origineller und bis zur letzten Seite überraschender Thriller!« Générations

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Morgan Audic

Das kalte Schweigen der See

Thriller

Tobias Scheffel | Claudia Steinitz

Meiner ersten Leserin.

Danke, dass du die Liebe zu Büchern an mich weitergegeben hast.

I

1

Flughafen von Longyearbyen, letzte Stadt vor dem Nordpol.

Lottie Sandvik parkte zwischen zwei Autos mit zugeschneiten Windschutzscheiben. Es war fünfzehn Grad unter null, und sie zögerte den Kontakt mit der eisigen Luft noch etwas hinaus, indem sie sich eine weitere Zigarette anzündete. Das Telefon auf dem Beifahrersitz bombardierte sie mit Mitteilungen. Freunde, Kollegen im Urlaub, die Lokalzeitung. Alle wussten schon Bescheid. Die Nachricht von ihrem Chef Jørn Røst war noch auf dem Display zu lesen. Die Leiche sieht übel aus. Mach dich auf was gefasst.

Langer Zug an der Zigarette, ordentliche Ladung Nikotin, leichter Schwindel, Frösteln. Ihr Blick klammerte sich an das dreieckige Schild am Flughafenzugang. Der rote Rand signalisierte Gefahr. Weißer Bär vor schwarzem Hintergrund.

Verfluchte Eisbären, dachte sie und stieß nervös den Rauch aus. Es gab fast dreihundert auf den Inseln, bei knapp dreitausend Einwohnern. Als Kind hatte sie gelernt, mit ihrer Anwesenheit zu leben. Sie konnten überall sein und unsichtbar im Schnee lauern, manchmal kaum nur hundert Meter entfernt. Ein geduldiges Raubtier, mit dem sich die Menschen die Spitze der Nahrungspyramide teilen mussten.

Seitdem sie fast zwei Jahre zuvor die Kriminalpolizei von Oslo verlassen hatte, um in den Polizeidienst des Svalbard-Archipels einzutreten, war sie unter anderem dafür zuständig, dass sich das Zusammenleben mit den Bären so reibungslos wie möglich gestaltete, wobei sie immer im Kopf behalten musste, dass das Schlimmste passieren konnte.

Wie heute.

Sie drückte die Kippe im Aschenbecher aus und holte ihr Gewehr aus dem Kofferraum. In der Flughafenhalle wartete eine kleine, fröstelnde Menge vor den Gepäckbändern auf die Koffer. Die Passagiere des Flugs Tromsø–Longyearbyen, der einzigen regelmäßigen Verbindung zwischen dem norwegischen Festland und Spitzbergen, wie die größte Insel des Archipels hieß. Eine Mischung aus gleichmütigen Einheimischen, die erst mal warme Sachen überstreiften, bevor sie sich dem Polarklima stellten, und Touristen, die vor dem ausgestopften Eisbären über dem Gepäckband Selfies machten.

Trotz des umgehängten Gewehrs achtete niemand auf sie. Die meisten wussten, dass auf den Inseln von Svalbard jeder eine Waffe tragen musste, wenn er die Städte verließ. Ohnehin war Lottie so klein und schmal, dass man sie kaum bemerkte. Sie hatte blaue Augen und blondes Haar, das unter der Mütze hervorsah. Ihre Haut war so blass wie bei allen, die zu lange auf die Sonne verzichten müssen, weil sie in Longyearbyen von November bis Ende Januar ganz verschwunden bleibt. Mørketid. Polarnacht. Mehr als drei Monate nur künstliches Licht und grünliche Nordlichter. Die deprimierendste Zeit des Jahres. Aber seit ein paar Tagen wurde es wieder heller. Eine zarte Dämmerung färbte die Berghänge tiefblau. Kaum wahrnehmbar für die Ankömmlinge vom Festland. Für die hier Lebenden ein blaues Feuer.

Auf der Landebahn lud der Super Puma, ein Rettungshubschrauber der Svalbard-Verwaltung, Freiwillige des Roten Kreuzes aus, die vom Unfallort zurückkamen. Verschlossene Gesichter, müder Schritt. Während sie fröstelnd das Rollfeld überquerten, ließ der Wind den Schnee um ihre Schuhe wirbeln.

Lottie glaubte, in manchen Blicken den Schrecken zu erkennen. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Projizierte ihre eigenen Ängste auf sie.

Sie stieg in den Hubschrauber, der gleich darauf mit entsetzlichem Lärm abhob. Bald zogen vertraute Landschaften unter ihr vorbei. Die kahlen Masten der früheren Transportlinie für Kohle, die Stadt und Hafen verbunden hatte. Die Sternbilder der flackernden Laternen entlang der Straßen im Stadtzentrum. Und dann sehr bald die langen Risse der vereisten Fjorde und die wilde Landschaft von Spitzbergen, ein endloses Wogen felsiger Grate und verschneiter Täler. Wie geschaffen für Trolle und Riesen, aber sicher nicht für Menschen.

Wie fern waren hier die engen Straßen, die schäbigen Parkhäuser und Industriebrachen, zwischen denen sie jahrelang gearbeitet hatte! Der Unbekannte vom Fjord würde die erste Leiche sein, die sie seit Oslo sah. Plötzlich schossen versunkene Erinnerungen an die Oberfläche. Ein Mädchen, das von seinem Exfreund totgeprügelt worden war. Ein Dealer, dem ein Junkie auf offener Straße den Kopf eingeschlagen hatte. Aufgedunsene, aus dem Wasser gefischte Körper. Durch ihren Kopf wirbelten Bilder junger Mordopfer, brutale Bilder, die sie nicht stoppen konnte.

Ohne Vorwarnung brach ein lautloses Gewitter in ihrem Körper los. Zittern, Herzrasen. Brechreiz. Nicht jetzt, bitte, nicht jetzt. Die Vibration der Rotoren, das Rütteln des Hubschraubers. Sie hatte das Gefühl, nein, die Gewissheit, dass sie auf der Stelle sterben würde, hier, in dieser Kabine, die plötzlich zu schrumpfen schien. Sie zog die Handschuhe aus, ließ sie zu Boden fallen und suchte hektisch in ihren Taschen nach dem Medikament. Sie musste daran gedacht haben. Selbst in der Eile des Aufbruchs.

In einer Innentasche endlich die Rettung. Ein Angstlöser, den sie hastig schluckte. Sie schloss die Augen. Endlos lange fühlte sie sich wie in eisigem Wasser, das ihr bis zum Hals, bis zum Kinn, bis zur Unterlippe stieg und das sie verschlingen würde, wenn sie nur die kleinste Bewegung machte.

Dann knisterte eine Stimme in ihrem Kopfhörer:

»Wir sind da.«

2

Als sie die Augen aufmachte, sah sie in den Fenstern ein violettes Flackern. Unter ihnen ließ eine Signalrakete den Schnee zucken wie wundes Fleisch. Dort landeten sie.

Lottie wischte sich die Stirn und atmete tief ein. Nach der Uhr waren fünfzehn Minuten vergangen. Für sie hatte der Anfall eine Ewigkeit gedauert. Die Relativität der Zeit. Auch als die Attacken noch häufiger kamen, hatte sie das immer überrascht. Reiß dich zusammen. Sie löste den Gurt, griff nach ihren Handschuhen und schob die Tür des Helikopters auf.

Eisiger Wind rückte ihre Gedanken zurecht. Der Super Puma war etwa hundert Meter vor einer Gruppe von vier Hütten gelandet. Sie war in Brucebyen, einer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verlassenen Siedlung schottischer Bergarbeiter. Dahinter erahnte man die massiven Umrisse des Nordenskiöld-Gletschers am Rand des Fjords. In der schwindenden Dämmerung glich er einer riesigen Welle, die erstarrt war, bevor sie alles verschlingen konnte.

Während sie aus der hinteren Klappe ihr Gewehr holte, war die kräftige Gestalt ihres Kollegen Thor Kristiansen im Licht der Landescheinwerfer aufgetaucht. Er hatte einen klaren Blick und einen athletischen Körper, der in einem Winteruniformmantel mit dem Wappen des Archipels steckte. Nach dem Raureif in seinen Brauen und in dem dichten Wikingerbart zu urteilen, war er schon eine Weile draußen.

»Jørn setzt also die Superpolizistin aus Oslo ein?«, rief er ihr entgegen, als sie auf ihn zuging.

»Notgedrungen. Harry Hole war nicht verfügbar«, antwortete sie schlagfertig.

Thor grinste bei der Erwähnung des berühmtesten Polizisten Norwegens. Beide wussten, dass Jørn nicht viel Auswahl hatte. Im Polizeidistrikt Svalbard gab es zwölf Polizisten für ein Gebiet von der Größe Irlands. In normalen Zeiten reichte das bequem aus, um die alltäglichen Angelegenheiten auf den Inseln zu erledigen: Hier gab es weniger als zweihundert Ermittlungen im Jahr. In einem großen Kommissariat auf dem Festland fielen die in ein paar Wochen an.

»Wo ist die Leiche?«, fragte sie.

»Am Strand.«

Thor ging auf die Hütten zu, und sie folgte ihm. Hinter ihr trug der Wind winzige Schneeflocken vom Vogelreservat Gåsøyane heran, das unsichtbar hinter der bläulichen Dämmerung am anderen Ende des Fjords lag. Jeden Frühling nisteten dort Zugvögel wie Eiderenten, Eissturmvögel, Weißwangengänse und Dickschnabellummen. Es sah aus, als hätte die Brise den Flaum aus ihren verlassenen Nestern bis hierher getragen.

»Zu viel getrunken gestern Abend?«, fragte Thor unvermittelt.

Die Frage überrumpelte sie.

»Wie? Nein, warum?«

»Du siehst grauenvoll aus.«

Sie mied seinen spöttischen Blick. Er wusste nichts von ihren Angstanfällen. Niemand hier wusste davon, und sie hoffte, dass es so bliebe.

»Ich habe nicht viel geschlafen. Das ist alles«, log sie.

»Neuer Freund?«, fragte Thor anzüglich.

»Was hältst du davon, mir zu erzählen, was du bis jetzt weißt, anstatt in meinem Privatleben rumzuschnüffeln?«, erwiderte sie gereizt.

Thors große Schritte brachten sie außer Atem. Er war ein begeisterter Sportler und hatte schon zweimal das Birkebeinerrennet mitgemacht, die Königsstrecke im Skilanglauf, vierundfünfzig Kilometer mit einem dreieinhalb Kilo schweren Rucksack, dem Gewicht eines Neugeborenen. Und nicht irgendeines Neugeborenen, sondern dem Gewicht von Håkon Håkonsson, dem norwegischen Thronerben, der nach einer nordischen Saga von zwei Wikingern gerettet wurde. Norwegischer geht nicht. Abgesehen vielleicht vom Rentierrennen, wenn Skifahrer aus ganz Lappland hinter ihrem Ren die Hauptstraße von Tromsø entlangrasten, eine Art nordisches Fast and Furious.

»Vor etwa anderthalb Stunden haben zwei Wachleute aus Pyramiden genau hier eine Signalrakete abgefeuert«, fing Thor an. »Ich war gerade mit Alkoholkontrollen an der Flughafenstraße beschäftigt, als Jørns Anruf kam. Eine halbe Stunde später sind wir hier gelandet. Die beiden Wachmänner waren total durchgefroren. Sie sprechen weder englisch noch norwegisch, aber sie haben uns zu dem Opfer gebracht, und wir haben schnell begriffen, was passiert ist.«

»Ein Bärenangriff«, sagte sie, als erwartete er eine Antwort. »Was hatten die Russen hier zu suchen?«

Pyramiden lag auf der anderen Seite des Fjords. Die verlassene Bergarbeiterstadt wurde im Winter nur von ein paar Russen bewohnt, die auf die leeren Gebäude aufpassten und ein Hotel mit Bar und Restaurant am Laufen hielten. Dort stiegen ab und zu Touristen ab, die in der Gegend wanderten.

»Sie haben einen Rundgang gemacht und dabei das Schneemobil gesehen«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf eine Yamaha, die neben den Holzhütten stand. »Das kam ihnen komisch vor, deshalb sind sie hergekommen, um nachzusehen.«

»Waren sie bei dem Angriff dabei?«

»Nein. Jedenfalls habe ich das so verstanden, bevor mein Telefon den Geist aufgegeben hat. Wir haben uns mithilfe der Übersetzungs-App verständigt, bis der Akku in der Kälte leer war.«

Jetzt verstand sie endlich, warum Jørn sie und nicht einen ihrer Kollegen hierher beordert hatte: Sie war die Einzige in ihrem Team, die Russisch sprach.

»Als sie eintrafen, war der Bär gerade dabei, das Opfer zu fressen«, fuhr Thor fort.

»Haben sie ihn erlegt?«

»Nein. Sie haben in die Luft geschossen, da ist er abgehauen. Sie meinten, er sei in Richtung Gletscher abgezogen. Wir sind mit dem Hubschrauber mehrere Runden geflogen, haben ihn aber noch nicht gefunden.«

Angriffe von Bären waren auf Spitzbergen selten. Erst recht tödliche. Aber die Begegnungen mit ihnen nahmen überall in der Arktis zu. Vor allem wegen der Klimaerwärmung. Mit jedem Jahr schrumpfte das Eis, und die Robbenjagd wurde für die Eisbären schwieriger. Deshalb näherten sie sich immer häufiger von Menschen bewohnten Orten und suchten dort etwas zu fressen. Hinzu kam der Tourismus, der sich rasch entwickelte und ganze Heerscharen von Neugierigen mitten in ihr Revier brachte.

Deswegen lautete die Frage am Ende nicht, ob es einen weiteren Angriff geben würde, sondern wann.

Als sie das Schneemobil erreichten, sah Lottie, dass der Sattel total zerfetzt war. Das hatte sie schon mal gesehen. Die Bären liebten es, den synthetischen Schaumstoff zu kauen. Er musste irgendwas Chemisches enthalten, das sie anzog. Das Tier hatte auch den Inhalt des Anhängers ausgekippt, um an die Lebensmittelboxen zu kommen. Kanister, Werkzeugtasche, Satellitentelefon und Überlebenskit lagen im Schnee.

»Weiß man, wer das Opfer ist?«, fragte Lottie atemlos.

»Agneta Sørensen, sechsundzwanzig, aus Tromsø. Das Gesicht ist fast unkenntlich, aber wir konnten sie anhand des Schlittenkennzeichens identifizieren.«

»Was hat sie hier gemacht?«

»Hier in Brucebyen oder hier auf Spitzbergen?«

»Fang mit Spitzbergen an.«

»Doktorarbeit in arktischer Biologie am UNIS.«

Das Universitätszentrum Svalbard war das nördlichste der Welt, wie fast alles, was es hier oben gab.

»Wurden die Eltern benachrichtigt?«

»Das musst du Jørn fragen.«

Lottie wurde das Herz schwer. Irgendwo weit weg von Longyearbyen gab es eine Familie, die noch nicht ahnte, dass ein Unglück über sie hereingebrochen war.

Sie ballte die Fäuste. Los, mach deinen Job.

»Und weiß man, was sie in Brucebyen gemacht hat?«

»Wir müssen noch mit der Uni sprechen, aber wahrscheinlich war sie wegen dem Wal da.«

»Wegen dem Wal?«

3

Die Hütten von Brucebyen lagen an einem kleinen Strand, der den Fjord säumte. Als sie das letzte Gebäude hinter sich gelassen hatten, bot sich Lottie der unglaublichste Anblick ihrer Laufbahn.

Ein starker tragbarer Scheinwerfer beleuchtete einen entsetzlich verstümmelten menschlichen Körper im Schnee. Ein paar Meter dahinter, halb in dem Eis gefangen, das die Oberfläche des Fjords bedeckte, erhob sich ein lang gestreckter Berg von aufgedunsenem Fleisch.

»O Gott!«, stöhnte Lottie.

»Solche Riesen hast du in Oslo nicht gesehen, was?«, fragte Thor.

»Das ist ein Pottwal«, sagte Lottie, die den Koloss anstarrte.

Zwei ihrer Kollegen liefen um das Tier herum, machten Fotos und sicherten Spuren, es sah fast so aus, als wären sie hier, um die Todesumstände des Tieres aufzuklären. Größe: fünfzehn bis achtzehn Meter. Gewicht: dreißig, vierzig Tonnen. Geschlecht: männlich, bei der Größe. Ausgewachsen, ziemlich alt, nach all den weißen Narben auf der Haut zu urteilen. Viele Risswunden nach dem Tod, da, wo die Bären gefressen hatten. Todesursache: unbekannt.

»Ein Pottwal, ja, stimmt«, sagte Thor. »Ich habe mit jemandem von der Umweltbehörde gesprochen. Der Wal ist wohl im Spätherbst hier gestrandet. Zu spät, um ihn zurück in den Fjord zu bringen.«

Das riesige Tier war so überwältigend, dass sie das Opfer fast vergessen hatte, eine junge, ziemlich große, blonde, sportliche Frau. Trotz ihrer Wunden sah man, dass sie hübsch gewesen war. Sie lag auf dem Rücken, die Arme am Körper ausgestreckt, als hätte man sie gerade aus einem Sarkophag aus Eis gehoben. Der Bär hatte ihren Overall aufgerissen, und ringsum hatte der Schnee eine hässlich braun-rote Farbe angenommen.

Während Lottie die Wunden genauer betrachtete, dachte sie unwillkürlich daran, wie sie einmal Bären beim Fressen einer Robbe beobachtet hatte. Wie sie ihr die Haut abzogen, mit ihren schwarzen Zungen das Fett ableckten und dann mit den Zähnen das Fleisch abrissen. Genau das hatte dieses Tier hier getan. Es hatte die Haut der jungen Frau über der Brust, den Schenkeln und dem Bauch bearbeitet und anstelle des Unterleibs eine durch die Kälte gefrorene Masse von rötlichem Gewebe und inneren Organen hinterlassen. Das eisige Licht der Scheinwerfer ließ die freigelegten Muskeln hervortreten.

Lottie spürte, wie sich Beklemmung in ihrer Brust ausbreitete, obwohl die Angstlöser inzwischen wirkten. In Thors Beisein durfte sie auf keinen Fall schwach werden. Sie zwang sich, ihre Begutachtung fortzusetzen, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Gesicht, das ebenfalls entstellt war. Tiefe Verletzungen zogen sich durch die Kopfhaut. Gewaltige Kratzer. Das rechte Ohr hing zerfetzt herab. Ein Auge war ausgerissen. Das andere war mit einem weißlichen Film bedeckt, gerade so, als hätte die junge Frau an grauem Star gelitten.

Sie wurde von einem vagen Unbehagen ergriffen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem misshandelten Körper. Natürlich waren da die offenkundigen Spuren der Bestialität des Bären. Bisse, Kratzspuren, zerfetzte Haut. Aber sie hatte das Gefühl, noch etwas anderes wahrzunehmen. Etwas wie eine menschliche Absicht.

Jetzt kommen wieder deine verdammten Erinnerungen hoch, dachte sie und erlaubte sich, den Blick abzuwenden, um sich die Spuren im Schnee anzusehen.

Alles war voller Fußabdrücke. Hin und Her, Unentschlossenheit, Überschneidungen. Viele Personen waren um die Leiche herumgelaufen. Die Wächter aus Pyramiden, Rettungskräfte, ihre Kollegen. Das Ganze würde sich schwer entschlüsseln lassen. Und es gab die imposanten, ovalen Spuren des Bären, daneben die winzigen Abdrücke eines Polarfuchses. Polarfüchse folgten den Bären gern, um sich von den Resten zu ernähren, die sie zurückließen.

»Hast du keine Fußabdrücke gesichert?«, fragte sie Thor.

Der Wikinger lächelte.

»Immer langsam, Oslo, hier gab es einen Bärenangriff, keinen Mord.«

»Das könnte helfen, um den Verlauf des Angriffs zu verstehen.«

»Wir haben da schon so unsere Vermutungen.«

Er richtete seine Taschenlampe auf den Pottwal. In die Haut des Tieres war ein Viereck mit geraden Rändern geschnitten, zweifellos von Menschenhand ausgeführt. Auf dem Boden wies eine gelbe Markierung auf ein halb im Schnee vergrabenes Messer hin. Erst jetzt fiel ihr der Geruch auf. Es roch nach Blut, Meerwasser und gefrorenem Aas.

»Wir vermuten, dass sie dabei war, eine Art Autopsie vorzunehmen, als der Bär sie überrascht hat«, erklärte Thor.

»Eine Nekropsie«, korrigierte sie. »Autopsie sagt man nur bei Menschen.«

»Die Dame weiß sich auszudrücken. Allmählich verstehe ich, warum Jørn dir die Ermittlung übergeben hat.«

Lottie ignorierte die Spitze.

»Deine Hypothese wäre also, dass sie allein hergekommen ist, um Proben zu entnehmen? Das ist purer Leichtsinn.«

Thor zuckte mit den Schultern.

»Dabei habe ich mir das Beste für den Schluss aufgehoben: Sie hatte kein Gewehr.«

»Was?«

Lottie ging zu der Toten zurück. Tatsächlich lag kein Gewehr neben ihr. Sie hatte nur ein Holster umgeschnallt, in dem eine Signalpistole steckte.

»Das ist purer Leichtsinn«, wiederholte Lottie.

Nachdenklich fuhr sie mit dem Lichtstrahl ihrer Lampe über die graue Haut des Pottwals. Warum war die Frau allein und ohne Schusswaffe gekommen, um das Tier zu untersuchen? Wusste die Universität Bescheid? Eigentlich legte man dort größten Wert auf die Sicherheitsvorschriften im Gelände. Sie hatte ein privates Schneemobil benutzt, nicht das des UNIS. Das deutete darauf hin, dass sie auf eigene Faust hergekommen war.

Plötzlich fiel ihr eine Wunde in der Haut des Tieres auf. War es das, was sie vermutete?

»Hast du das bemerkt?«, fragte sie Thor.

»Was?«, sagte er und starrte auf den Punkt, den sie anstrahlte. »Scheiße, das hätten wir glatt übersehen«, entfuhr es ihm gleich darauf.

Die Haut des Wals wies eine kreisförmige Wunde auf, groß genug, dass sie von einem Projektil stammen konnte, klein genug im Verhältnis zur Größe des Tieres, um sie zu übersehen.

»Glaubst du, das waren die Russen?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, es rauszukriegen.«

»Müssen wir … müssen wir ihn aufschneiden?«

»Siehst du eine andere Lösung?«

Thor starrte seufzend auf das Tier.

»Kopf oder Zahl?«, fragte er.

»Lass stecken. Ich mach’s. Bring mir Handschuhe, Messer und Klammer. Und beim nächsten Mal bist du dran, okay?«

Thor nickte erleichtert. Während er die Sachen holte, kontrollierte sie die Oberfläche des Wals auf weitere Einschüsse, fand aber keine. Endlich kam Thor mit der Kiste zurück, die sie für ihre Tatort-Untersuchungen benutzten. Sie fand darin ein Paar ziemlich dicker Handschuhe und verzog beim Anziehen das Gesicht. Sie waren kalt und etwas klebrig, wie die Haut eines toten Fischs.

»Leuchte mir und mach Fotos«, befahl sie.

Sie griff nach einem Messer und legte los. Wegen der Kälte und der Dicke der Haut ließ sich das Fleisch des Tieres nur mühsam aufschneiden. Hinzu kam der widerliche Gestank. Wenn man ihr zwei Jahre zuvor gesagt hätte, dass sie mal in so eine Situation geraten würde … Sie dachte an die Seeleute, die sich Jahrhunderte zuvor in Svalbard niedergelassen hatten, um Wale zu jagen. Schiffsbesatzungen aus Basken, Engländern, Holländern, Spaniern, Deutschen und Dänen. Ruderer, Steuermänner, Harpuniere, Zerleger waren hergekommen, um mit dem Walfett reich zu werden. Zu Tran geschmolzen und in den Häfen Europas verkauft, wurde es zu Brennstoff, Kerzen, Margarine, Seife, Farbe, Lack, Schmier- oder Imprägniermittel. In manchen Städten betrieb man damit sogar die Straßenlaternen.

Auf allen Inseln des Archipels fand man Spuren dieser barbarischen Zeiten. Die Hütte am Ufer des Van Keulenfjorden im Osten der Insel Spitzbergen mit ihren gewaltigen, von den Elementen gebleichten Knochenbergen. Die Ruinen von Tran-Öfen auf Amsterdamøya im Norden, wo die Holländer eine große Walfangstation errichtet hatten. Smeerenburg, wörtlich: Tran-Stadt.

Nach langem Herumschneiden im Fleisch erblickte sie, was sie suchte. Sie steckte die Hand in das zähe Fett und holte ein vom Aufprall verformtes Projektil heraus.

»Was hatten die Wächter für Gewehre?«

»Mauser.«

Trotz seines Alters war das Mauser eine der häufigsten Waffen auf dem Archipel. Viele dieser Gewehre mit Zylinderverschluss stammten noch aus dem Zweiten Weltkrieg, aber sie waren robust und für die unwirtlichen Bedingungen auf Spitzbergen gut geeignet.

»Die verschießen solche Dinger, oder?«

Thor sah es sich aufmerksam an.

»Kann gut sein.«

Lottie steckte das Projektil in einen verschließbaren Beutel. Sie mussten nach Pyramiden.

4

In Pyramiden herrschte eine besondere Atmosphäre. Leise quietschten die Ketten der Kinderschaukeln im Wind. Polarfüchse tobten durch die Straßen. Der Schnee hatte der Leninbüste eine Tschapka aufgesetzt. Alles war zu ruhig, zu sauber, als hielte die Stadt im Warten auf die Rückkehr ihrer Bewohner den Atem an.

Die Phantomstadt war eine Anomalie, die mit dem Sonderstatus von Svalbard zu tun hatte. Lange Zeit war der Archipel terra nullius gewesen, ein Gebiet, das niemandem gehörte, bis nach dem Ersten Weltkrieg ein internationaler Vertrag unterzeichnet wurde, der Norwegen die Souveränität über die Inselgruppe zusprach. Er legte aber auch fest, dass alle Unterzeichnerstaaten ihre Bodenschätze nutzen konnten. Nur Russland hatte sich auf diese Klausel berufen, um zwei Kohlevorkommen auszubeuten, eins in Barentsburg, etwa dreißig Kilometer westlich von Longyearbyen, das andere hier.

Zu Zeiten der Sowjetunion hatten ungefähr tausend Menschen in der Stadt gelebt. Bergleute mit ihren Familien, Techniker, Wissenschaftler. Hier fehlte es ihnen an nichts: Die Geschäfte waren voll, die Löhne großzügig, es gab sogar ein Schwimmbad und ein großes Kulturzentrum. In der Sowjetunion drängte man sich danach, in Pyramiden eingestellt zu werden: Damals lohnte es sich, in der Arktis zu arbeiten, man verdiente genug, um sich nach der Heimkehr eine Wohnung zu kaufen. Allerdings musste man gute Beziehungen haben, um dorthin entsandt zu werden.

Im Frühling 1998 aber war es damit vorbei. Die Mine war nie sehr ergiebig gewesen, und nach dem Zerfall der UDSSR hatte das neue Russland kein Geld, um sie weiter zu betreiben. Pyramiden wurde von einem Tag auf den anderen geräumt, und alle Investitionen konzentrierten sich fortan auf Barentsburg. Seither waren die Bewohner hauptsächlich Polarfüchse, Zugvögel, die im Frühling an den Fenstern nisteten, und ein paar Touristen, die den Fjord hinauffuhren und für eine Nacht im Hotel Tulpan Station machten, das die Russen erst kürzlich renoviert hatten. Es war nicht sehr rentabel, aber Moskau wollte verhindern, dass Pyramiden an Norwegen zurückfiel.

Der Super Puma landete im Stadtzentrum, direkt neben dem Hotel. Lottie war froh auszusteigen. Sie hatten den Leichnam von Agneta Sørensen auf eine Trage gelegt und in den Hubschrauber gebracht, nachdem sie die Arbeit am Ort des Bärenangriffs in Brucebyen beendet hatten. Während des kurzen Flugs nach Pyramiden war Lottie dem toten Blick ausgewichen, um nicht wieder in Panik zu geraten.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Thor.

»Ich verhöre den einen Wachmann, du lädst dein Handy und guckst, was du aus dem anderen rauskriegst. Dann tauschen wir.«

Der Hubschrauber flog ohne sie nach Longyearbyen weiter. Dort wartete ein Krankenwagen, um Agnetas Körper zur Kirche zu bringen. Die Stadt war zu klein für eine Leichenhalle im Krankenhaus. Wenn jemand starb, kam er in die Kirche, bis man ihn mit dem nächsten Postflugzeug aufs Festland schicken konnte.

Die Wachleute, die die Tote gefunden hatten, erwarteten sie vor dem Tulpan. Sie trugen beide lange schwarze Mäntel, deren Ledergürtel von goldglänzenden Schnallen zusammengehalten wurden. Mit ihren tief in die Stirn gezogenen schwarzen Wollmützen, sogenannten Papachas, wie sie früher die Kosaken getragen hatten, sahen sie aus, wie einem Tolstoi-Roman entstiegen. Im Winter waren die Wachmänner auch Reiseführer, und die Touristen schätzten diese Aufmachung.

»Wer von euch hat die Signalrakete abgeschossen?«, fragte Lottie barsch.

Die Männer sahen sich an, vom schneidenden Ton der kleinen Norwegerin ebenso überrascht wie davon, dass man sie auf Russisch anredete.

»Ich«, sagte der jüngere.

»Und du bist?«

»Alexej Borissowitsch Saikow.«

Der Russe hatte braunes Haar und ebensolche Augen. Seine schlanken Finger zitterten, als er ihr die Hand gab. Sie roch den Alkohol in seinem Atem. Er hatte sich wohl an der Bar einen Wodka gegönnt. Verständlich nach dem, was er erlebt hatte.

»Okay, Alexej. Wir müssen für die Untersuchung des Vorfalls deine Aussage aufnehmen. Du kommst mit, dein Freund redet erst mal mit meinem Kollegen, dann ist er dran. Einverstanden?«

Er nickte ebenso wie der andere Russe, der seine Zigarettenkippe in den Schnee warf und die Tür zum Tulpan aufstieß. Ende dreißig, Hakennase, struppiger Bart, ausdrucksloses Gesicht, als wäre ihm das Eis unter die Haut gedrungen. Thor setzte sich mit ihm an ein Ende der Bar, wo er eine Steckdose fand, um sein Telefon aufzuladen. Die Frau hinter der Theke zeigte zum Zapfhahn, um ihm ein Bier anzubieten. Thor lehnte mit einem höflichen Spassiba ab.

Lottie setzte sich mit Alexej in eine Ecke des Speisesaals. Er war vielleicht fünfundzwanzig, dreißig, trug einen kleinen Schnurrbart und hatte etwas dunklere Haut. Vielleicht lag es an seiner Kleidung oder am Schnurrbart, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Doktor Schiwago in Gestalt von Omar Sharif sah. Das passte gut zur »Themenpark«-Atmosphäre des Hotels: kitschige Schnitzereien, Matroschkas, Fahne der einstigen Sowjetunion über dem Tresen, Zitat von Iwan Petrowitsch Pawlow, dem ersten russischen Nobelpreisträger, Wodka »UDSSR« und Omelett »Gorbatschow« auf der Speisekarte. Das Tulpan setzte ganz auf Kalter-Krieg-Nostalgie.

»Zigarette?«, fragte sie und streckte ihm ihre Schachtel hin.

Hier am Ende der Welt scherte man sich nicht um Nichtraucherzonen. Alexej bediente sich mit ehrlicher Freude. Pyramiden würde erst im Frühjahr wieder mit Nachschub versorgt werden. Womöglich hatte er seine Tabakreserven schon aufgebraucht.

»Woher kommst du?«, begann Lottie harmlos.

»Murmansk. Und du? Du sprichst gut Russisch.«

»Von hier. Meine Mutter ist Russin.«

Sie holte den Block und den Bleistift heraus, die sie immer bei sich hatte, um sich draußen Notizen zu machen. Kugelschreiber benutzte sie schon lange nicht mehr: Bei Temperaturen bis zu minus dreißig Grad war die Tinte meistens gefroren. Dann legte sie ihr Telefon auf den Tisch und schaltete die Diktierfunktion ein.

»Nimmst du das auf?«, fragte er besorgt.

»Das ist nur ein informelles Gespräch, damit wir die Todesumstände verstehen, aber wir sollten das schon festhalten. Ist das ein Problem?«

Plötzlich sprach sie wieder so schneidend wie am Anfang. Warm, kalt. Im Ungewissen lassen. Guter und böser Bulle in einer Person. Der Russe blies etwas Rauch durch die Nase aus und schüttelte den Kopf. Sie begann mit seinem Dienstgrad, seinem Namen, Uhrzeit und Ort, dann stellte sie ihm ein paar Standardfragen, ehe sie zum Thema kam:

»Wie hast du die Leiche entdeckt?«

Er räusperte sich, dann antwortete er wie ein Schüler, der etwas vorträgt:

»Ich war draußen, um einen Rundgang zu machen, dabei habe ich gemerkt, dass ein Bär versucht hatte, in die Sporthalle einzudringen.«

Sie fragte nach der Uhrzeit, er sagte sie ihr und fuhr fort:

»An der Tür waren Kratzspuren und daneben Exkremente. Ich wollte nachsehen, ob der Bär noch in der Nähe ist, und bin den Spuren gefolgt. Sie führten bis zum Strand und dann weiter in Richtung Gletscher. Ich habe mit dem Fernglas nach ihm gesucht. Bei den Hütten von Brucebyen sah ich ein Schneemobil. Das fand ich komisch, weil es schon vor zwei Tagen dort gestanden hat.«

»Bist du dir sicher, dass es vor zwei Tagen war?«

Er nickte, und sie notierte: »Opfer am Dienstag angegriffen?«

»Man sieht nur selten jemanden allein mit Schneemobil in der Gegend«, fuhr Alexej fort. »Wenn Touristen kommen, dann immer in Gruppen. Auch die Wissenschaftler sind mindestens zu zweit. Ich habe Nikolai davon erzählt, und wir haben uns gedacht, dass wir mal nachsehen sollten, was da los ist.«

Sie warf einen Blick zu dem anderen Wachmann. Thor und er versuchten sich über das Übersetzungsprogramm zu verständigen. Das sah ziemlich mühsam aus.

»Warum seid ihr selbst hingefahren? Ihr hättet uns benachrichtigen können.«

»Hier sind wir es gewohnt, allein klarzukommen. Wir haben ein Gewehr und Leuchtmunition mitgenommen und sind über das Packeis gefahren. Als wir ankamen, war der Bär da und schlug sich den Bauch voll und …«

Sein Blick ging ins Leere, und sie spürte, dass er die Szene wieder vor sich sah.

»Ich habe es nicht gleich kapiert … Von Weitem sah es aus, als hätte der Bär eine Robbe gefangen, wegen der Farbe des Overalls, den das arme Mädchen getragen hat.«

Seine Stimme brach. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette und drückte sie nervös im Aschenbecher aus. Lottie stellte sich vor, was es für ein Schock gewesen sein musste, als er das Tier die Leiche fressen sah.

»Wir haben in die Luft geschossen, um den Bären zu erschrecken, und er ist weggelaufen. Dann haben wir euch angerufen.«

Jetzt kamen sie zum Kern.

»Wie weit wart ihr entfernt, als ihr versucht habt, den Bären zu verscheuchen?«

»Hundert, hundertfünfzig Meter.«

»Mit welcher Waffe hast du geschossen?«

»Nur mit der Signalpistole.«

Der Wachmann war nicht blöd. Er wusste, dass Eisbären auf Svalbard seit den 1970er-Jahren geschützt waren. Man durfte nur in unmittelbarer Gefahr auf sie schießen. Vor ein paar Jahren hatte ein Touristenführer eine Strafe von zwölftausend Kronen kassiert, nur weil er einem Bären zu nahe gekommen war.

»Und dein Kollege?«

»Wir haben nur die Signalpistolen benutzt«, wiederholte er.

»Und euer Gewehr?«

Er zögerte kurz.

»Wir brauchten es nicht. Der Bär ist weggelaufen, ohne dass wir es einsetzen mussten.«

»Dann musst du mir wohl erklären, warum wir das hier in der Haut des Wals gefunden haben.«

Lottie holte den Beutel mit dem Projektil aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

Der Russe erbleichte.

»Sieht ganz nach dem Projektil eines Mauser-Gewehrs aus, meinst du nicht?«

»Ich … ich verstehe das nicht.«

»Komm schon, lass uns nicht lange herumreden. Früher oder später werden wir den Bären finden und ihn erlegen müssen. Ein Biologe wird ihn untersuchen und feststellen, ob ihr auf ihn geschossen habt. Es ist besser, wenn du gleich die Wahrheit sagst.«

Alexej zögerte ein wenig, dann kapitulierte er.

»Na ja … Nikolai hat auf den Bären geschossen.«

Sie sah zur Bar. Der Wachmann beobachtete sie mit verschlossenem Gesicht. Er hatte schon begriffen, dass sein Kollege alles ausplauderte: hängende Schultern, hektisch gestikulierende Hände – Alexejs Körpersprache war unschwer zu entschlüsseln.

»Wir haben zuerst Leuchtmunition abgeschossen, ich schwöre es, aber es hat nichts geholfen. Der Bär wollte nicht weg. Er wurde immer gereizter.«

Die Erklärung war schlüssig. Etwas mehr als hundert Meter von der Leiche entfernt hatten ihre Kollegen Hülsen von Leuchtmunition gefunden.

»Und dann? Was ist dann passiert?«

Er senkte verlegen den Kopf.

»Als wir gesehen haben, dass die Leuchtmunition nicht hilft, habe ich das Gewehr rausgeholt, um in die Luft zu schießen. Aber ich weiß nicht, was los war, der Schuss ist nicht losgegangen. Ich habe abgedrückt, aber es ist nichts passiert. Ich dachte, es liegt an der Munition, ich habe eine Patrone ausgeworfen … Immer noch nichts. Der Bär kam auf uns zu. Ich habe Panik gekriegt. Nikolai hat mir das Gewehr abgenommen. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber er hat geschossen.«

Sie hatte solche Gewehre schon am Schießstand benutzt. Das Mauser hatte zwei Sicherungsstellungen: Eine blockierte die Waffe vollständig, mit der anderen konnte man zwar Patronen auswerfen, aber nicht schießen. Wenn man das nicht wusste, konnte man annehmen, die Waffe funktioniere nicht oder es gebe ein Problem mit der Munition.

»Wie oft hat er in Richtung des Bären geschossen?«

»Zweimal.«

»Und die Hülsen? Habt ihr sie eingesammelt?«

Er nickte mit gesenktem Kopf.

»Wo sind sie?«

»Wir haben sie in den Fjord geworfen.«

Lottie hatte gehört, was sie wissen wollte. Sie schickte Alexej weg und gab Thor ein Zeichen, ihr den anderen Wachmann herzubringen. Dann begann sie eine neue Aufnahme, machte diesmal aber keine Umschweife.

»Dein Kamerad hat zugegeben, dass ihr in Richtung des Bären geschossen habt. Was hast du dazu zu sagen?«

Nikolai zischte einen Fluch.

»Was hat er sonst noch gesagt?«

»Dass du geschossen hast.«

Er sah sie lange an, wie ein Pokerspieler, der herausfinden will, ob sein Gegner blufft. Dann verzog er das Gesicht zu einem nervösen Grinsen.

»Der Schwachkopf ist zu blöd, ein Gewehr zu bedienen. Er sollte nur in die Luft schießen, aber nicht mal das hat er hingekriegt. Und jetzt stecke ich wegen ihm in der Scheiße.«

Er sah kurz zu seinem Kollegen, der einen Wodka bestellt hatte, um sich zu beruhigen.

»Du bestätigst also, dass du auf den Bären geschossen hast?«

»Ja doch!«

»Glaubst du, dass du ihn getroffen hast?«

»Keine Ahnung. Ich habe schnell geschossen. Was macht das für einen Unterschied? Der Bär war zu nah bei uns. Das war Notwehr.«

»Das wird die Gouverneurin entscheiden.«

Angesichts der Umstände konnte ihm niemand zum Vorwurf machen, dass er auf den Bären geschossen hatte. Aber es ärgerte Lottie, dass die beiden versucht hatten, die Wahrheit zu verheimlichen.

»Wer hatte die Idee, uns anzulügen? Du oder er?«

»Ich«, sagte er beinah stolz. »Ich wusste, dass ihr Norweger versucht, uns einen Strick daraus zu drehen, auch wenn wir uns den Arsch aufgerissen haben, um bis Brucebyen zu fahren. Der gottverdammte Bär hätte uns beide erledigen können.«

»Hast du Hinweise, die uns helfen können, ihn zu identifizieren? Größe, Fell, Narben?«

»Es war ein Weibchen.«

»Woher weißt du das? Hatte es Junge?«, fragte Lottie besorgt.

Das Tier, das die Studentin getötet hatte, musste sterben. Einen Bären, der Menschen fraß, konnte die Gouverneurin nicht frei herumlaufen lassen. Wenn es sich um ein Weibchen handelte und es Junge hatte, mussten auch die getötet werden, um ihnen unnötiges Leid zu ersparen. Ohne ihre Mutter würden sie auf dem Packeis verhungern.

»Ich habe keine Jungen gesehen, aber es hatte ein GPS-Halsband, ganz sicher«, antwortete Nikolai.

Frost! Lottie wusste Bescheid. Die Wissenschaftler kennzeichneten Männchen und Weibchen auf unterschiedliche Weise: Männchen bekamen eine Marke ans Ohr, weil Halsbänder über ihren kegelförmigen Hals rutschten. In dieser Jahreszeit gab es nur ein einziges gekennzeichnetes Weibchen in der Gegend, eine Bärin, die Frost genannt wurde und die die Gouverneursverwaltung im vergangenen Herbst schon einmal mit einem Hubschrauber hatte wegbringen müssen, weil sie Longyearbyen zu nahe gekommen war. Lottie hatte den Wissenschaftlern des norwegischen Polarinstituts geholfen, die das Tier mit einem Betäubungsgewehr ruhiggestellt und ihm bei der Gelegenheit das Halsband angelegt hatten. Mit dem Band konnten sie seinen Weg verfolgen, aber es war auch so programmiert, dass es einen Alarm auslösen würde, wenn die Bärin wieder zu nah an die Stadt herankäme.

»Hast du Frost vorher in der Gegend gesehen?«

»Zwei- oder dreimal.«

Ein Dröhnen wurde lauter, die Wände bebten. Ein Hubschrauber näherte sich. Seltsam. Der Super Puma sollte sie erst in einer Stunde abholen. Sie wandte sich zu Thor um und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er zuckte die Schultern und hob ratlos die Arme.

Kurz drauf betrat der russische Konsul Anton Iwanowitsch Sorokin das Restaurant.

»Aufhören!«, befahl er in einem Norwegisch, das zwischen den Dialekten von Oslo und Nordland schwankte.

Sorokin trug Lackschuhe und einen Anzug, der besser in einen Moskauer Salon gepasst hätte als zu einer Polarexpedition. Das ganze Äußere des Diplomaten kündete von einem Hang, alles im Griff haben zu wollen. Die schwarzen Haare, gefärbt und sorgsam frisiert, um die beginnende Kahlheit zu verbergen, die trotz der eisigen Temperaturen glatten Wangen, der Windsorknoten seiner Krawatte.

»Diese russischen Bürger haben das Recht, von einem Dolmetscher unterstützt zu werden, wo ist er?«

»Ich spreche Russisch«, antwortete Lottie in der Sprache ihrer Mutter.

Er musterte sie von oben bis unten.

»Von einem offiziellen und unparteiischen Dolmetscher«, erklärte er. »Haben Sie ihnen einen Anwalt angeboten?«

»Wir lassen uns nur berichten, was vorgefallen ist, da braucht man …«

»Natürlich braucht man. Haben Sie ihnen erklärt, dass alles, was sie sagen, gegen sie verwandt werden kann? Wie Sie es bei Norwegern getan hätten?«

»Wir sind hier, um die Umstände eines tragischen Todesfalls zu klären. Egal ob Russen oder Norweger, wir wollen begreifen, was geschehen ist.«

Der Konsul ignorierte ihre Antwort.

»Ich bestehe darauf, allein mit den Männern zu sprechen.«

»Wir sind hier noch nicht fertig …«

»Und ich sage, dass es erst einmal reicht. Wenn Sie ihnen weitere Fragen stellen wollen, wenden Sie sich ans Konsulat. Wir werden sie gern auf unsere Kosten zu Ihnen bringen. Sie und ihren Anwalt, wenn nötig.«

Lottie biss sich auf die Lippen. Der Konsul hatte kein Recht, ihre Ermittlungen zu unterbrechen, aber wenn sie ihn ignorierte, riskierte sie einen diplomatischen Zwischenfall. Und das wusste er.

»Wir empfehlen den russischen Bürgern dringend, Pyramiden nicht zu verlassen, solange die Bärin nicht neutralisiert wurde«, sagte sie gereizt. »Und wir müssen das Gewehr beschlagnahmen, das sie benutzt haben, um auf sie zu schießen. Wenn Sie nicht auch dagegen Einwände haben.«

Sorokin wedelte mit der Hand, als verjagte er eine Fliege.

»Machen Sie nur. Diese Männer mussten sich gegen ein wütendes Tier verteidigen, das eine norwegische Bürgerin getötet hat. Ich wüsste nicht, was man ihnen vorwerfen sollte.«

5

»Bist du sicher, dass du das willst? Wie gut kanntet ihr euch?«

Der Chefarzt der Abteilung für klinische Pathologie des Krankenhauses von Tromsø hielt kurz inne, bevor er das Metallfach mit der Leiche von Åsa Hagen öffnete. Nils Madsen fragte sich, was er antworten sollte. War sie eine vertraute Kollegin gewesen? Eine Freundin? Eine Seelenverwandte? Sie hatten sich bald sechs Jahre nicht mehr gesehen. Seitdem sie ihn zu ihrer Hochzeit in der Eismeerkathedrale auf der anderen Seite des Fjords eingeladen hatte. War auch nur eine dieser Bezeichnungen noch passend?

»Sie war jemand, der mir viel bedeutet hat«, antwortete Madsen schließlich.

Ein Allerweltssatz, der den Arzt offenbar zufriedenstellte.

»Wenn du denkst, du musst dich erbrechen, dahinten ist das Waschbecken. Bei Ertrunkenen ist es immer besonders schwierig.«

Madsen nickte. Sein Kiefer war zu verkrampft, als dass er hätte antworten können. Irak, Ukraine, Afghanistan. Er kannte die obszönen, indiskreten Leichenhallen der Länder im Krieg, die nicht über den Luxus verfügten, Leichen in Fächern zu verstecken, nicht einmal die widerlichsten. Aber das hier war etwas Persönliches.

Der Rechtsmediziner zog an der Metallklappe, und Åsas Leichnam kam heraus. Madsen zuckte nervös. Die Leiche war aufgedunsen und bläulich rot, kaum noch zu erkennen. Eine Karikatur der Frau, die er gekannt hatte. Die Haut an der Schädeldecke war fast vollständig abgerissen und entblößte den Knochen. Knie, Hände und Füße wiesen tiefe Einschnitte auf.

»Erhebliche Zyanose an Gesicht und einem Großteil des Körpers, Hyperämie der Bindehaut, Meerwasser in den Lungenbläschen«, leierte der Arzt mit emotionsloser Stimme herunter.

Madsen hielt sich die Hand vor die Nase. Die Maske, die er beim Eintreten aufgesetzt hatte, reichte nicht aus, um den muffigen Geruch nach verfaultem Fleisch, Algen und Antiseptikum zurückzuhalten, der aus dem Kühlfach drang.

»Um es kurz zu machen: Wir haben es mit einem Tod durch Ertrinken zu tun. Die Todesursache ist Herz- und Atemstillstand, verursacht durch massives Inhalieren von Wasser, das die Sauerstoffversorgung des Blutes blockiert hat. Daher die Zyanose.«

Leises Türklappern. Ein Sektionsassistent teilte dem Rechtsmediziner mit, dass sie eine gefrorene Leiche erhalten würden, die aus Spitzbergen überführt wurde. Der Arzt bat ihn, sie gleich nach Eintreffen in eine Kühlkammer zu bringen und in ein nasses Laken zu hüllen, um zu vermeiden, dass während des Auftauens Teile des Körpers austrockneten.

»Bist du sicher, dass es sich um Selbstmord handelt?«, fragte Madsen, als der Assistent wieder gegangen war.

»Mein Job sind die klinischen Fakten, nicht deren Bewertung. Das überlasse ich der Polizei. Ich kann dir sagen, dass sie ertrunken ist, mehr nicht. Die Schnittwunden sind für mich Treibverletzungen. Wenn ein Mensch ertrinkt, sinkt er irgendwann auf den Grund. Dann wird er wie eine Puppe von der Strömung mitgezogen. Wegen der Reibung oder durch Einwirkung der Fauna kommt es an manchen Stellen zu Hautverletzungen. Bei Männern sind es häufig Schädigungen am Kopf, an den Knien, Händen und Füßen. Bei Frauen ist es ein wenig anders. Eine Frage der Verteilung der Fettmasse.«

Der Rechtsmediziner fuhr mit dem behandschuhten Finger über eine Wunde an der Stirn.

»Wie du siehst, gibt es keine Ekchymosen. Das hier sind postmortale Zersetzungen. Die anderen Schädigungen wurden durch die Wasserfauna verursacht. Bisse, Stiche.«

Er stellte sich Åsa auf dem Strand vor, an dem man sie gefunden hatte. Ihre langen Haare voller Sand, Seesterne und Algen. Ihre toten Augen. Die Krustentiere in ihren Wunden.

Er schluckte mühsam. Seine Kehle war trocken.

»Wir haben auch ein kleineres Schädeltrauma festgestellt, das kurz vor dem Tod erfolgt ist.«

»Wurde sie geschlagen?«

»Die Polizei hat diese Hypothese ausgeschlossen. Vielleicht hat deine Freundin sich gestoßen, kurz bevor sie starb: an einem Felsen, am Rumpf eines Bootes …«

Madsen betrachtete den y-förmigen Schnitt, der sich von den Schultern bis zum Schambein zog und den der Arzt vorgenommen hatte, um die Autopsie durchzuführen.

»Warum hat die Polizei auf Selbstmord geschlossen? Vielleicht ist sie gestürzt und dann ertrunken.«

Er spürte, wie er sich verzweifelt an die Idee klammerte, dass sie nicht gesprungen war.

»Sie haben ihr Auto gefunden, das mit eingeschalteten Scheinwerfern neben einer Brücke stand. In der Gegend gab es nichts anderes, was ihre Anwesenheit erklären könnte. Die Geländer sind ziemlich hoch und stabil. Um zu springen, muss man drüberklettern. Ein Unfall ist höchst unwahrscheinlich.«

Der Rechtsmediziner legte die Hand in Höhe des Brustbeins auf Åsas Brust.

»Es gibt einen weiteren Grund, der die Polizei dazu gebracht hat, auf Selbstmord zu schließen. Das Herz deiner Freundin. Sie hatte das Takotsubo-Syndrom. Eine ziemlich seltene Kardiomyopathie.«

»Sie war herzkrank?«, fragte Madsen erstaunt.

»Nicht so, wie du es verstehst«, antwortete der Arzt. »Der linke Herzventrikel war deformiert. Er ähnelte ein wenig einer Amphore.«

Der Rechtsmediziner ließ sich einen Moment zur Namensherkunft dieses Syndroms aus, ein japanisches Team habe das Phänomen zum ersten Mal beobachtet und ihm den Namen Takotsubo gegeben, in Anlehnung an den Krug, den japanische Fischer verwendeten, um Tintenfische zu fangen.

»Was hat das mit der Selbstmordthese zu tun?«

»Stress. Bei uns im Westen nennt man das Takotsubo häufig ›Krankheit des gebrochenen Herzens‹. Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass das Syndrom mit der Sekretion von Katecholaminen verbunden ist, die durch ein starkes traumatisches Ereignis ausgelöst wird. Intensiver Stress, besonders starker Schmerz, eine zu große körperliche Anstrengung, ja selbst eine Chemotherapie …«

»Auch eine Scheidung?«, fragte Madsen.

»Möglich. Alles, was negativen psychischen Stress verursachen kann. Deshalb ist die Zahl an Takotsubo-Fällen während der Corona-Pandemie explodiert. Erstaunlicher ist, dass diese Krankheit eher Frauen über fünfzig trifft. Von seltenen Ausnahmen abgesehen. Hatte deine Freundin eine Vorgeschichte mit Depressionen, Angstanfällen oder intensivem Stress?«

»Sie war Kriegsreporterin. In Krisengebieten. Aber sie ist vor Jahren davon weggekommen.«

Davon weggekommen … Er redete von ihrem Job immer noch wie von einer Droge.

»Verstehe. Posttraumatischer Stress. Das ist ein Faktor, der als Auslöser des Syndroms mitspielen kann. Aber natürlich kann man auch nicht ausschließen, dass es durch den Stress beim Ertrinken verursacht wurde.«

Madsen fröstelte, als er sich Åsas letzte Momente vorstellte. Den Todeskampf im eiskalten Wasser des Fjords. Die Gewissheit des Todes. Warum hatte sie sich entschieden, auf diese Weise zu gehen? Das ergab keinen Sinn.

»Habt ihr das Blut untersucht?«

»Keine Drogen, keine Medikamente, kein Alkohol. Nichts Ungewöhnliches.«

Der Rechtsmediziner schob die metallene Trage zurück, und Åsas Leiche verschwand wieder in der Dunkelheit des Kühlfachs. Sie zogen sich im Vorraum um.

»Sag Gunnar, dass ich was bei ihm guthabe, wenn er aus dem Kongo zurückkommt«, sagte der Rechtsmediziner, während er seine Plastikschürze ablegte und in den Mülleimer warf. »Wo habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?«

Gunnar Blom hatte als Experte für klinische und forensische Pathologie für den Internationalen Strafgerichtshof gearbeitet. Ruanda, Kosovo, Kongo, er hatte Leichen aus den Massengräbern der ganzen Welt obduziert und war als Sachverständiger bei Verfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgetreten. Madsen vermutete, dass Blom seine Kriegsreporterkarriere erwähnt hatte, um den Rechtsmediziner zu überreden, ihn Åsas Leiche sehen zu lassen. Der hatte daraus geschlossen, dass sie sich in einem der Länder kennengelernt hatten, in denen Blom gearbeitet hatte.

»Wir haben uns in Norwegen kennengelernt«, antwortete Madsen. »In Utøya.«

6

Stille.

So lange wie möglich unter Wasser bleiben. Trotz der Kälte. Obwohl ihm der Körper zubrüllt, er solle aufsteigen. Den Herzschlag anschwellen lassen. Das Pochen in den Schläfen spüren. Den sich beschleunigenden Rhythmus. Dann die Wasseroberfläche durchbrechen. In die Welt der Lebenden zurückkehren.

Atmen.

Madsen atmete geräuschvoll ein, setzte seine Lunge mit kalter Luft in Brand. Die Hausfrauen des Tromsø isbade klubb, ihre Wollmützen fest auf dem Kopf, drehten sich mit missbilligenden Blicken zu ihm um, bevor sie langsam weiterschwammen. Als er energisch die Metallleiter zu der schwimmenden Sauna hochkletterte, richteten sich ihre Blicke erneut auf ihn. Muskulöser, gebräunter Körper, der gegen den kreidigen Teint der anderen Schwimmer abstach. Manche betrachteten ihn mit einem Anflug von Lust …

Gleichgültig wischte er den Schnee von einer Außenbank und setzte sich so, dass er auf die Eismeerkathedrale blickte, die den Fjord überragte, eine Pyramide, weiß wie die Knochen eines Wals. Die Kälte elektrisierte seinen gesamten Körper, dass es schmerzte, aber er fühlte sich gut.

Nachdem er sich dem Anblick von Åsas Leichnam ausgesetzt hatte, hatte er das Bedürfnis verspürt zu tauchen, wie um sich zu beweisen, dass er sich nicht ebenfalls von den schwarzen Wassern aufsaugen ließ. Als sie zusammenarbeiteten, war immer sie die Stärkere gewesen. Diejenige, die nicht kniff. Die in Stresssituationen einen kühlen Kopf bewahrte. Wie hatte sie sich das Leben nehmen können und vor allem so?

Er zwang sich, noch eine Minute draußen zu bleiben, bevor er den Rückzug in die Sauna antrat. Temperaturschock. Atemnot. Die Hitze verzögerte die Entspannung. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem, wiederholte die Übungen, die er regelmäßig machte. Durch intensives Trainieren konnte er ohne Sauerstoffflasche über drei Minuten tauchen. Er schwamm, sooft er konnte, sommers wie winters. Ein körperlicher Zwang, aber ebenso eine Art und Weise, seinen Geist zu klären.

Er zog sich an und verließ die schwimmende Sauna. Es war noch früh, und eine weiße Sonne stand über den Gebäuden der Innenstadt von Tromsø. Er beschloss, bis zum Haus von Åsas Exmann Lars zu laufen. Es stand an der Südspitze von Tromsøya, der Insel im Zentrum von Tromsø, nahe genug am Fjord, dass man das dumpfe Dröhnen der Wellen hörte und das Naturreservat Grindøysundet sah.

Von den Fenstern im Obergeschoss gab es immer etwas zu beobachten. Die schwarzen Rücken der Schwertwale. Den Blas, den sie aus ihren Luftlöchern ausstießen. Eine fünf oder sechs Meter hohe Säule wie ein Geysir: der Blauwal. Ein schräger Stoß aus dem seitlichen Atemloch: ein Pottwal. Die Form eines Ballons: ein Buckelwal. Im Frühling konnte man eine Menge Vögel beobachten, Knutts, Löffelenten, Kampfläufer und Uferschnepfen. Åsa hatte ihm das alles gezeigt, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

Lars hatte ihn von Åsas Verschwinden unterrichtet, als die Polizei noch nach ihr suchte. Er hatte ihm erzählt, man habe ihren Wagen an einer Brücke auf den Lofoten entdeckt, aber niemand habe eine Ahnung, wo sie sei. Madsen war überzeugt, dass Lars in dem Moment bereits wusste, dass seine Exfrau tot war. Trotzdem hatte er mit all ihren Freunden, Angehörigen und Bekannten telefoniert, bis am Nachmittag der Anruf kam, den man nicht erhalten möchte. Die Polizei hatte Åsas Leiche am Strand einer kleinen Insel bei Svolvær gefunden. Nach der Autopsie fiel das absurde Urteil.

Selbstmord.

Die Nachricht war so unvorstellbar, dass Madsen alles andere hingeschmissen hatte und nach Tromsø gekommen war. Er hatte Blom kontaktiert. Er musste die Leiche selbst sehen. Der frühere Rechtsmediziner hatte sich erst gesträubt, dann aber seine Beziehungen spielen lassen, und Madsen hatte Zugang zum Leichenschauhaus der Universitätsklinik und Antworten auf seine Fragen erhalten. Madsen hatte gedacht, das würde das Feuer löschen, das ihm das Hirn verzehrte. Er würde eine Schwachstelle finden. Es war ein Unfall. Das hatte er sich während des Fluges von Oslo aus eingeredet: Irgendwo gab es einen Fehler. Und er würde es beweisen. Alles war ein Missverständnis. Die Bullen, die Ärzte, niemand, nicht einmal Lars, kannte Åsa so gut wie er. Sie hatten sie nicht so erlebt wie er.

Nach seinem Gespräch mit dem Rechtsmediziner war alles zusammengebrochen.

Was war in Åsas Leben schiefgelaufen? Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, schien sie zufrieden. Sie hatte acht Jahre zuvor auf den Lofoten ihr Glück gefunden, als sie mit Schwertwalen getaucht war. Eine Offenbarung, nachdem sie jahrelang von den härtesten Konflikten auf allen Kontinenten berichtet hatte. Schon vom ersten Tauchgang war sie verändert zurückgekommen. Als hätte sie eine Unterwasser-Epiphanie erlebt. Sie investierte alles Geld, das sie beiseitegelegt hatte, um ein Unternehmen für Meeres-Safaris aufzuziehen. Sie lernte Lars kennen, heiratete, bekam einen Sohn, Tomas.

Madsen dagegen war an der Front geblieben. Syrien, Palästina, Ukraine. Eine andere Art zu tauchen, in die Tiefe der Niedertracht. Er war nicht unversehrt aus ihr emporgestiegen. Narben an der rechten Seite, wie Pockennarben. Schrapnellsplitter, die seine schusssichere Weste durchbohrt hatten. Und sein Glaube an die Menschheit noch stärker ramponiert als bei seiner Abreise aus Norwegen. Jedes Mal, wenn er nach Hause zurückkehrte, der Eindruck, sich ein bisschen weniger norwegisch zu fühlen. Nicht mehr im Gleichklang mit dem sichersten Land der Welt zu sein.