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Das christliche Kreuz ist ein allgegenwärtiges und dabei schwer verständliches Symbol. Es ist aus den unterschiedlichsten Formen der Kunst nicht wegzudenken, begegnet uns in Bildern, Schnitzereien, Buchmalereien, Schmuckgegenständen und Reliquiaren. Seine Darstellung bildete von Beginn an einen wesentlichen Bestandteil der Kontroversen um den richtigen Glauben und das Verhältnis von Welt, Menschen und Gott und ist noch immer Gegenstand hitziger politischer Debatten. In dieser einzigartigen Kunst- und Kulturgeschichte des Kreuzes erklärt Kathrin Müller, wie aus einem abseitigen Symbol einer randständigen Sekte das zentrale Zeichen abendländischer Kultur werden konnte und lässt uns anhand faszinierender Kunstobjekte die sich überlagernden Deutungen und Instrumentalisierungen des Kreuzes verstehen.
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Seitenzahl: 348
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Kathrin Müller
Das Kreuz
Eine Objektgeschichte des bekanntesten Symbols von der Spätantike bis zur Neuzeit
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Gestaltungssaal, RohrdorfUmschlagmotiv: Rekonstruktion der Rückseite von einem Vortragekreuz, Kupfer, Gold, Emaille (um 1160–1170), Herstellungsort: Maasland, Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin © bpk / Kunstgewerbemuseum, SMBE-Book-Konvertierung: SatzWeise GmbH, Bad WünnenbergSatz: SatzWeise, Bad WünnenbergISBN Print 978-3-451-38713-5ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82847-8ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82848-5
Vorwort
Kapitel 1: Hohn und Spott: Die Schmach des Kreuzes
Die Maskell-Elfenbeine
Die Kreuzigung Jesu
Die Form des Kreuzes
Die Verteidigung des Kreuzes
Typologie in Bildern
Das Bildprogramm eines frühen Prozessionskreuzes
Vom rechten Verständnis des paradoxen Kreuzes
Kapitel 2: Kosmos: Das Kreuz und die Beschaffenheit der Welt
Mittelalterliche Handschriften: Die Welt der Bücher
„Vom Lob des heiligen Kreuzes“ des Hrabanus Maurus
Die Welt als Makro- und Mikrokosmos
Das Kreuz als Makrokosmos
Das Kreuz im kosmologischen Diagramm
Das Kreuz aus Kreisen im Gittergedicht
Platons Weltseele wird zum christlichen Kreuz
Kosmisches Kreuz und irdische Macht
Das Kreuz im Mikrokosmos
Die kosmische Ordnungsmacht des Kreuzes
Kapitel 3: Sieg: Der Triumphzug des Kreuzes
Bekenntniszeichen und Schutzschild
Das Kreuz als Siegel
Konstantins Triumph im Zeichen des Kreuzes
Das Kreuz als Standarte Konstantins
Das Siegeszeichen auf dem Sarkophag
Das Kreuz als sprechendes Bilddetail
Die Auferstehung Christi und das Kreuz als Waffe
Eine erstaunliche Erfolgsgeschichte
Kapitel 4: Pracht: Das überirdische Kreuz
Konstantin und die Herrlichkeit des Kreuzes
Ein Goldkreuz auf Golgatha?
Irdisch und himmlisch zugleich: Das Kreuz im Apsismosaik von Santa Pudenziana
Das Kreuz und der „leere“ Thron Christi
Das Gemmenkreuz als kosmische Figur
Ornamentale Kreuze in der Buchmalerei
Das überwältigende Kreuz
Kapitel 5: Golgatha: Der Ort des Kreuzes
Jerusalem, der Nabel der Welt
Verseuchte Erde: Konstantins Heldentat
Der Felsen Golgatha
Golgatha in der Ecke des Säulenhofes
Golgatha in der Wahrnehmung der Pilger
Die architektonische Neugestaltung des Felsens
Das Grab Adams
Golgatha, bis zur Unkenntlichkeit verbaut
Das Schicksal des Felsens Golgatha
Kapitel 6: Echtes Holz: Kreuzreliquien
Splitter vom Kreuz und das Blut Christi
Helena entdeckt das wahre Kreuz
Glanz und Gloria: Reliquiar und Reliquie
Das Schicksal der Jerusalemer Kreuzreliquie
Die Kreuzreliquie im Schmuckstück
Die Inszenierung von Reliquie und Bild in einer Staurothek
Holz und Blut im Kristallflakon
Jerusalem – Konstantinopel – Halberstadt
Das kostbarste Holz der Welt und seine Behältnisse
Kapitel 7: Gegen die Juden: Erniedrigungen durch das Kreuz
Das Cloisters Cross: Ein Bildwerk der Rechtfertigung
„Gegen die Juden“: Justins fiktiver Dialog
Ein antijüdisches Bildwerk?
Spuren ins mittelalterliche England
Die jüdische Missbilligung des Kreuzes
Die Legende vom Kreuz als Baum des Lebens
Ein zweiter Judas
Fixpunkt der antijüdischen Verdammung
Schattenseiten des Kreuzes
Kapitel 8: Kreuztragung: Die Bürde des Kreuzes
Das Kreuzwort Jesu
Der Erste Kreuzzug als Nachfolge Christi
Pilgerwege als Kreuzparcours
Hans Tuchers Pilgerbericht
Von Jerusalem nach Nürnberg
Kreuzwege und Ablasskritik
Giandomenico Tiepolo und die Last der Sünde
Ablasseifer versus Verinnerlichung
Kapitel 9: Das katholische Kreuz: Verehrung und Verherrlichung
Freskenprogramme zur Kreuzlegende in Rom
Protestanten versus Katholiken
Adam Elsheimers „Verherrlichung des Kreuzes Christi“ als gelehrtes Bild
Bedeutung über Bedeutung
Kapitel 10: Außer Kontrolle: Heutige Debatten über das Kreuz
Behördenkreuze
Kuppelkreuz und Reichsapfel
Schlusswort
Anhang
Anmerkungen
Literaturempfehlungen
Namensregister
Bildnachweis
Über die Autorin
Das christliche Kreuz ist ein allgegenwärtiges, dabei schwer verständliches Symbol. Das Todesinstrument steht für das ewige Leben, Todesqual bedeutet Erlösung. Es ist in etwa so, als würde man den elektrischen Stuhl zum Symbol der Auferweckung machen. Das religiöse Verständnis des Kreuzes mag nicht für jede Verwendung – etwa als Tattoo oder politisches Emblem – ausschlaggebend sein. Dennoch assoziieren wir mit dem Kreuz immer das christliche Symbol. Meistens ist es dezidiert als solches gemeint, und dies nicht nur im kirchlichen Kontext. Auch in politischen Debatten über Identität, sei sie abendländischer, europäischer oder bayerischer Art, dient das Kreuz als gemeinsamer symbolischer Nenner. In den meisten Fällen kommen dabei visuelle Darstellungen zum Einsatz: Bilder, die das Kreuz darstellen, oder Kreuze als dreidimensionale Objekte. Dadurch wird das Thema für die Kunst- und Bildgeschichte interessant, denn sie beschäftigt sich nicht zuletzt mit der Funktion von Bildwerken in der Gesellschaft. Entscheidend ist dabei die Feststellung, dass Bildwerke keinesfalls nur dienender Art sind, sondern Reaktionen provozieren und ihrerseits Aussagen enthalten. Zudem gilt, dass kein Bildwerk jemals ganz „neu“ ist, wie aus dem Nichts erschaffen. Vielmehr steht es in einer Darstellungstradition und besitzt Schichten von Bedeutungen und Problemstellungen.
Dieses Buch, eine kunst- und bildgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Kreuz, entstand aus der Verwunderung heraus, dass ausgerechnet das Kreuz, dieses komplizierte und paradoxe Symbol, in heutigen öffentlichen Debatten aussagekräftig sein soll. Das Buch analysiert das Spektrum des Kreuzverständnisses und seiner Bildwerke von der Spätantike bis in die Neuzeit. In diesem Spektrum sind wesentliche, bis in die Gegenwart wirkende Kreuzauffassungen enthalten.
Jedes Kapitel beginnt mit einem Bildwerk. Gleich zu Beginn wird sich zeigen, dass das Buch zu einer vielleicht ungewohnt detaillierten Betrachtung einlädt. Wer sich darauf einlässt, kann der Frage nachgehen, wie die künstlerische Gestaltung Bedeutung herstellt und unser Kreuzverständnis prägt. Ein klassischeres Thema der Kunst- und Bildgeschichte wäre die Darstellungstradition des Gekreuzigten und der Kreuzigung gewesen. Hier allerdings soll, wenn auch mit Ausnahmen, das schlichte Kreuz im Zentrum stehen, da es ganz eigene Herausforderungen sowie Möglichkeiten der Gestaltung in sich birgt.
Am Schluss des Buches wird ein Blick auf aktuelle Kreuzdebatten geworfen, die sicherlich nicht alle zuvor behandelten Inhalte wieder aufnehmen. Dennoch soll deutlich werden, wie sehr unsere Sicht auf das Kreuz historisch durchtränkt ist. Dabei ist zu betonen, dass dieses Buch keine lineare Entwicklung behaupten will, sondern sich überlagernde Deutungen und Instrumentalisierungen des Kreuzes diskutiert. Es muss folglich nicht zwingend in der vorgegebenen Kapitelreihenfolge gelesen werden, wenn diese auch mit Bedacht gewählt ist. Ein Stöbern je nach Interesse sollte gleichermaßen möglich sein.
Letztlich soll das Buch auch ein Plädoyer für die historischen Geisteswissenschaften, insbesondere die Kunst- und Bildgeschichte und hier die Erforschung der mittelalterlichen Bildkünste sein. Wenn es ihm gelingt, die Relevanz dieser – an den Universitäten häufig von Streichungen bedrohten – wissenschaftlichen Felder zu verdeutlichen, ist viel gewonnen. Ohne ein vertieftes Wissen über historische Kontexte lassen sich gegenwärtige Phänomene nur unzureichend verstehen.
Dieses Buch ist ein Gemeinschaftswerk. Mein größter Dank gilt Bruno Reudenbach, dem ich zumuten durfte, jedes frisch abgespeicherte Kapitel über die historischen Auffassungen des Kreuzes kritisch zu lesen und zu kommentieren. Ich danke ihm sehr für seine Zeit und die Begeisterung für das Thema. Er hat sein Wissen großzügig mit mir geteilt und mich vor so manchem inhaltlichen Schnitzer bewahrt, wobei ich befürchten muss, später neue Mängel eingebaut zu haben. Danken möchte ich auch Patrick Oelze vom Herder Verlag für sein Vertrauen und seine Geduld. Unsere Gespräche bedeuteten für mich immer eine sehr wohltuende Auszeit vom hektischen Universitätsbetrieb. So insgeheim Horst Bredekamp hinter diesem Buch steckt, so sehr möchte ich ihm für seine Initiative danken. Claudia Blümle und Eva Ehninger haben mir vieles in der Geschäftsführung unseres Instituts abgenommen, wenn es hart auf hart kam. Kathrin Heidenreich denkt für mich voraus und kontert die Bürokratie mit Schwung und guter Laune. Ihnen gilt mein herzlichster Dank. Ohne die verlässliche und engagierte Arbeit von Caroline Herma und Leon Pschierer hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Auch bei ihnen möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Florentine Schaub vom Herder Verlag danke ich für die Betreuung des Manuskripts, Jitske Jasperse und Margherita Tabanelli für die Unterstützung bei der Bildbeschaffung in kniffligen Fällen. Schließlich danke ich den Studierenden, die an meiner Vorlesung über das Kreuz teilgenommen und auch noch im Nachhinein ihr Interesse an dem Thema gezeigt haben. Auf dieser Vorlesung baut das Buch auf.
Berlin, im September 2022
Abb. 1: Maskell-Elfenbein, Tod des Judas und Christus am Kreuz, Rom, zwischen 420 und 430, ca. 7,5 x 9,8 cm, London, The British Museum
Auf einem kleinen Elfenbeintäfelchen im British Museum in London sind fünf Figuren zu sehen. Am auffälligsten unter ihnen ist Christus am Kreuz, da er alle anderen überragt. Aufrecht und erhobenen Hauptes, die Arme im rechten Winkel zu den Seiten gestreckt und die Füße akkurat nach vorn gerichtet, scheint er am Kreuz zu stehen oder vielmehr zu schweben. Seine Augen sind weit geöffnet; auf den Lippen deutet sich ein Lächeln an. Da die Hände an den Querbalken genagelt sind und eine Fußstütze fehlt, müsste der massige, nur mit einem Lendenschurz (subligaculum) bekleidete Körper eigentlich absacken, doch die breite Brust, die fülligen Hüften und kräftigen Beine bringen das Kreuz fast zum Verschwinden. Unten ist ein schlanker Schaft zu sehen, oben in verkürzter Form der sogenannte Kreuztitulus, den der römische Statthalter Pontius Pilatus am Kreuz anbringen ließ. Er verhöhnte Christus als „König der Juden“ (REX IVD(aeorum)).
Unterhalb des Querbalkens wenden sich drei Figuren zum Kreuz. Rechts kommt der römische Soldat Longinus großen Schrittes aus der Fläche hervor. Sein Körper ist voller Dynamik. Zum einen verankert der rechte, hinter dem Kreuz stehende Fuß die Figur in der Bildfläche. Zum anderen setzt sie den linken Fuß resolut auf den Bildrahmen und stützt so die Bewegung aus der Fläche heraus.
Longinus, der den Kopf weit über den Bildrahmen hinausneigt, um zu Christus emporzuschauen, hielt ursprünglich eine Lanze, mit der er dem Gekreuzigten in die Seite stach. Bei genauem Hinsehen ist die Seitenwunde Christi als kleine Einkerbung zu erkennen. Beides, der Lanzenstich und die Seitenwunde, wird von dem Evangelisten Johannes erwähnt (Joh 19,34). Blut und Wasser kamen demnach aus der Wunde hervor, was beweisen sollte, dass Christus keinen Scheinleib, sondern einen menschlichen Leib aus Fleisch und Blut besaß. Der ans Kreuz genagelte Erlöser war zweifacher Natur: Einerseits starb er wie ein Mensch am Kreuz, andererseits konnte er den Tod bald darauf mit göttlicher Macht überwinden. Auch das Elfenbeintäfelchen macht beide Naturen anschaulich: Christus hat einen dicklichen, nur allzu menschlichen Körper, dessen Last er jedoch nicht spürt, weil er seinen wachen Blick in eine Welt jenseits der irdischen Qual richtet.
Von der linken Seite nähern sich Maria und Johannes, die Mutter Jesu und der von ihm besonders geliebte Jünger. Der Zusammenklang der beiden Figuren ist besonders eindrücklich. Auf die gleiche elegante Weise setzen sie ihren rechten, etwas nach hinten gestellten Fuß auf den Bildrahmen. In der Beinstellung und mehr noch in den Obergewändern, die in einem leichten Schwung am Körper hinaufführen, setzt sich die Parallelität fort. Auch ihre identische Größe macht deutlich, dass Maria und Johannes wie ein Paar zusammengehören, sodass in der Darstellung die Aufforderung Christi, sie mögen sich einander als Mutter und Sohn anvertrauen (Joh 19,36–27), wiederzuerkennen ist.
Hinter Maria ist die erschütternde Figur des erhängten Judas zu sehen. Seine Reue, Jesus den Häschern der Hohepriester und Pharisäer ausgeliefert zu haben, war ihm unerträglich geworden. Er hatte die bewaffneten Männer nach Getsemani geführt, einen Olivenhain am unteren Abhang des Ölbergs vor den Toren Jerusalems, wo sich Jesus mit seinen Jüngern aufhielt. Mit seinem Kuss hatte er Jesus verraten und dessen Gefangennahme ermöglicht. Die Darstellung auf dem Elfenbeintäfelchen ist jedoch weniger am Verrat und an der Frage nach der Schuld interessiert. Letztere ist selbst auf der Basis der vier Evangelien nicht eindeutig zu beantworten, denn bei Matthäus und Johannes ist Judas ganz explizit ein von Jesus erwählter Verräter, der sich ebenso wie die übrigen Jünger davor fürchtet, die Tat ausführen zu müssen. „Bin ich es etwa?“, fragt er im Matthäusevangelium, woraufhin Jesus antwortet: „Du hast es gesagt.“ (Mt 26,25)
Auf dem Elfenbeintäfelchen geht es vielmehr um die Todesarten. Die Strangulation ist das Gegenbild zur Kreuzigung und wesentlich detailreicher dargestellt. Judas hat den Strick an einem Bäumchen angebracht und hängt mit überstrecktem Kopf in der Schlinge. Der schlaffe Körper ist so schwer, dass sich der Ast weit nach unten neigt und bald zu brechen droht. Unten auf dem Boden liegt ein geöffneter Beutel, aus dem die Silberlinge herausfallen, die Judas für den Verrat erhalten hatte. Sein Versuch, das Geld zurückzugeben und sich von seiner Schuld freizukaufen, war fehlgeschlagen. Auch die Darstellung auf dem Elfenbeintäfelchen bietet keinen Ausweg, denn sollte der Ast brechen und der Körper hinabfallen, würde Judas auf dem Geld liegen. Er gehört ganz der irdischen Welt mit ihren vermeintlichen Reichtümern an und stirbt einen einsamen Tod ohne Hoffnung auf Erlösung. Wer hingegen wie Maria und Johannes alles Weltliche hinter sich lässt und Christus folgt, so verheißt das Bild, erleidet einen Tod, der besiegbar ist.
Um diese Botschaft zu vermitteln, schuf der Künstler auf kleinster Fläche eine komplexe Komposition aus mehreren Figuren, in der allerdings manches nicht stimmt: So hatte Judas die Silberlinge vor seinem Tod weggeworfen, und Christus musste elendig am Kreuz sterben. Außerdem ist das Kreuz unglaubwürdig zierlich im Vergleich zum voluminösen Körper des Erlösers. Das Bild ist somit keine unmittelbare Wiedergabe dessen, was in den Texten erzählt wird, sondern schafft etwas Neues. Mit dem Kontrast der Todesarten liefert es ein Argument, das für den christlichen Glauben spricht, es demonstriert dessen Überlegenheit.
Abb. 2: wie Abb. 1, Pilatus, Christus mit dem Kreuz, Petrus
Das kleine Bildwerk gehört zu einer Gruppe von vier Elfenbeintäfelchen identischen Formats, die das British Museum 1856 von dem Kleriker und Antiquar William Maskell ankaufte und die deshalb als „Maskell-Elfenbeine“ bekannt sind. Das Wort Elfenbein lässt sich am besten über seine altdeutsche Form verstehen: Helfant meinte den Elefanten, helfenbein das Zahnbein der Stoßzähne. Letztere waren ein ebenso rares wie begehrtes Importgut, das im 5. Jahrhundert, als die Elfenbeintäfelchen in Rom entstanden, auf einem langen Weg – von Ostafrika über Handelsplätze an der nordafrikanischen Küste und im östlichen Mittelmeerraum – nach Europa gelangte. Elfenbein eignete sich aufgrund seiner Härte, Dichte und Elastizität besonders gut für die Schnitzerei. Der Künstler der Maskell-Elfenbeine beherrschte die Technik bravourös. Seine Figuren sind voluminös und voller Bewegung, was sich auch auf dem Täfelchen mit der Kreuztragung zeigt (Abb. 2). Es ist gut denkbar, dass die vier Elfenbeine ursprünglich ein Kästchen von außen zierten. Das auffällige Motiv des Kreuzes mag ein Hinweis darauf sein, dass sich darin eine Kreuzreliquie befand, ein kleines Stück vom Kreuz Jesu. Mit dieser ganz besonderen Sorte von Holz wird sich ein späteres Kapitel dieses Buches befassen.
Stilistische Eigenschaften weisen darauf hin, dass die Elfenbeine zwischen 420 und 430 in einer römischen Werkstatt geschnitzt wurden. Es muss sich um eine Sonderanfertigung für einen Käufer gehandelt haben, der die Aussagekraft der Bilder zu schätzen wusste und sich gerne in ihre Details vertiefte. Die Bestellung von Gegenständen mit dezidiert christlichen Bildprogrammen war Anfang des 5. Jahrhunderts keine Besonderheit mehr. Rund 100 Jahre zuvor hatte sich der römische Kaiser Konstantin der Große unter den Schutz des Christengottes gestellt und dem christlichen Glauben staatstragende Bedeutung gegeben. Die christliche Kunst steckte jedoch auch im 5. Jahrhundert noch in den Kinderschuhen. Die Reflexion darüber, auf welche Weise christliche Glaubensinhalte in Bilder übertragen werden konnten, hatte erst begonnen. Selbst die Darstellung Christi als Gekreuzigter, der Nukleus der christlichen Ikonografie, kam erst in dieser Zeit auf. Das Elfenbeintäfelchen ist eines der ältesten erhaltenen Bildwerke mit diesem Motiv. Das schlichte Kreuz ohne den Gekreuzigten war zwar schon früher, doch letztlich auch erst verblüffend spät zum Bildgegenstand geworden. Während es heute das christliche Symbol schlechthin ist, führte es vor dem 4. Jahrhundert ein Schattendasein, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Obgleich sich dieses Buch nicht mit der Darstellung des Gekreuzigten beschäftigt, beginnt es dennoch mit den beiden Szenen auf dem Elfenbeintäfelchen, denn sie enthalten mit den Todesarten eine Thematik, die für die frühen Debatten über das Kreuz von zentraler Bedeutung war.
Zwar erwähnen nur wenige Schriftzeugnisse die Kreuzigung Jesu, doch da wesentliche Daten übereinstimmen, gilt die Hinrichtung als verbürgt. Jesus starb mit etwa 30 Jahren unter dem römischen Statthalter Pontius Pilatus in Jerusalem am Kreuz. In den vier Evangelien ist die Kreuzigung ein Ereignis mit vielen Beteiligten. Zwei Verbrecher werden ans Kreuz geschlagen und zu beiden Seiten Jesu hingerichtet; jemand bringt den Kreuztitulus an; dem dürstenden Jesus wird ein Schwamm mit Essig emporgehalten; die Soldaten losen um sein Gewand. Hinzu kommt die Gruppe jener, die Jesus verspotten: „Die Vorübergehenden aber schmähten ihn, schüttelten ihre Köpfe und sagten: ‚Der den Tempel zerstört und diesen in drei Tagen wieder aufbaut – rette dich selbst! Wenn du der Sohn Gottes bist, steige vom Kreuz herunter!‘ In gleicher Weise verspotteten ihn auch die Ersten der Priester mit den Schriftkundigen und den Ältesten und sagten: ‚Andere hat er gerettet, sich selber kann er nicht retten. Wenn er der König Israels ist, dann soll er jetzt vom Kreuz steigen, und wir werden ihm glauben! Er wird auf Gott vertrauen! Er soll ihn jetzt befreien, wenn er will; er hat nämlich gesagt: Ich bin der Sohn Gottes.‘“ (Mt 27,39–43)
Die Kreuzigung war ein öffentliches Ereignis mit vielen Zeugen. Einige von ihnen reagierten mit Häme auf die Machtlosigkeit, die sich ihren Augen darbot: Der vermeintliche Sohn Gottes musste die Strafe tatsächlich erleiden und am Kreuz sterben. Dieser Erneuerer des Glaubens, der den jüdischen Tempel in Jerusalem als gottfernen Ort kritisiert hatte, er war ein Betrüger. Die leibliche Auferstehung Jesu dürfte kaum einen der Spötter eines Besseren belehrt haben, denn sie geschah ohne Zeugen. Das Grab war schon leer, als die Frauen drei Tage nach der Kreuzigung dorthin kamen, um den Leichnam zu salben (Abb. 22). Für viele Skeptiker blieb die Auferstehung daher nur eine Behauptung. Möglicherweise hatte man den Leichnam nur gestohlen und ihm war lediglich die Seele entwichen. Als Fakt konnte letztlich nur die Kreuzigung gelten.
Bedenkt man das historische Verständnis des Todes am Kreuz, so sind die Schmährufe ohne Weiteres nachvollziehbar. Am Kreuz starben verurteilte Straftäter, wie die beiden Männer rechts und links von Jesus, die des Mordes bezichtigt wurden (Mk 15,7). Auch politische Agitatoren, Verräter und unwillige Sklaven ließen die Römer in aller Öffentlichkeit ans Kreuz schlagen, um jeden Gedanken an eine Auflehnung gegen die politische Ordnung im Keim zu ersticken. Ein besonders grausames Beispiel ist die Massenhinrichtung vor den Toren Jerusalems, von der Flavius Josephus, der Chronist des ersten jüdischen Krieges (66–70), berichtet. Titus (später Kaiser Vespasian), Oberbefehlshaber des römischen Heeres, ließ demnach all jene Bewohner Jerusalems kreuzigen, denen die Flucht aus der belagerten Stadt gelungen war. Flavius stellt Titus als einen durchaus mitfühlenden Feldherrn dar, der jedoch um des militärischen Erfolges willen nicht umhinkam, die hundertfachen Kreuzigungen als Kriegsstrategie einzusetzen: „Nur der Hunger verlieh ihnen den Mut, sich hinauszuwagen, und hatten sie auch die Stadt unbemerkt verlassen, war es immer noch nicht sicher, ob sie nicht den Feinden in die Hände fielen. Wenn sie aber gefaßt wurden, wehrten sie sich gewöhnlich aus ihrer Notlage heraus. Da es ihnen nach einem Kampf schon zu spät zu sein schien, noch um Gnade zu flehen, wurden sie folglich gegeißelt und mit Mißhandlungen jeder Art vor ihrem Tod gefoltert, um dann schließlich der Mauer gegenüber gekreuzigt zu werden. Freilich war Titus für dies jammervolle Schicksal nicht blind, zumal an jedem Tag 500 oder mehr Gefangene eingebracht wurden; doch andererseits erkannte er auch, daß man vorsichtigerweise diese mit Gewalt Ergriffenen nicht einfach freilassen könne. Eine solche Menge aber bewachen zu lassen, bedeute eigentlich, die Wächter bewachen zu lassen. Der Hauptgrund aber, warum er die Kreuzigungen nicht untersagte, war in Wirklichkeit noch ein anderer: er hoffte, daß dieser Anblick vielleicht die Juden zur Übergabe veranlassen könnte, da sie das gleiche Schicksal zu erwarten hätten, wenn sie sich nicht ergeben wollten. Die Soldaten aber trieben voller Wut und Haß ihren Spott mit den Gefangenen, indem sie jeden in einer anderen Stellung ans Kreuz nagelten, und bald fehlte es an Platz für die Kreuze und an Kreuzen für die Leiber, so viele waren es.“1
Es gab unterschiedliche Arten des Kreuzes und verschiedene Foltermethoden. Das Kreuz Jesu wird in den Evangelien nicht näher beschrieben, sondern lediglich als staurós (σταυρός) beziehungsweise crux bezeichnet. Das griechische wie das lateinische Wort meint zunächst das Marterholz, das wahlweise dazu dienen konnte, den Verurteilten anzupfählen, aufzuhängen oder aufzuspießen. Die Quellen lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass Jesus an einem Kreuz starb. Es wird, wie damals üblich, aus einem Längsbalken (stipes) und einem Querbalken (patibulum) bestanden haben. Am Längsbalken gab es häufig einen Pflock oder einen kleinen Sitzbalken (sedile), von dem der Gekreuzigte jedoch bald abrutschte. Das Sterben vollzog sich langsam, denn die Kräfte versiegten erst nach und nach. Am Ende hing der Oberkörper so weit nach vorne, dass die Atmung versagte und der Mensch erstickte. Eine Kreuzigung war unvergleichlich grausam und nahm den Verurteilten jede Würde.
Abb. 3: Fußknochen eines Gekreuzigten, wohl 1. Hälfte 1. Jh. n. Chr., Grabungsfund, Israel, Giv’at ha-Mivtar
Der bisher einzige archäologische Fund, der Aufschluss über diese Hinrichtungsart gibt, evoziert sogleich körperlichen Schmerz (Abb. 3). Ein massiver, etwa elf Zentimeter langer Nagel aus Eisen, der durch ein Holzstück zusätzlich stabilisiert wird, durchstößt das Fersenbein eines rechten Fußes. Der originale Nagel liegt oben links im Bild, und das Fersenbein wurde der besseren Anschaulichkeit halber durch künstliche Skelettteile ergänzt. Nur den Kreuzbalken, an den der Fuß geschlagen war, muss man sich hinzudenken. Die Knochenreste wurden 1968 in Givʾat ha- Mivtar nordöstlich von Jerusalem in einem Grab gefunden, dessen Inschrift den Namen des Gekreuzigten nennt: „Jehochanan, Sohn des Chezkil“. Die Reste stammen vermutlich aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts und damit aus der Zeit der Kreuzigung Jesu. Die Verletzungen an Jehochanas Armknochen verweisen darauf, dass er nicht an den Händen festgenagelt, sondern an den Armen am Querbalken festgebunden worden war.
Auf dem vier Jahrhunderte später entstandenen Elfenbeintäfelchen hat das Kreuz eine ganz besondere, dem Buchstaben T ähnelnde Form (Abb. 1). Zum einen sind die Arme Christi im rechten Winkel horizontal zu den Seiten gestreckt, zum anderen betont die geschlossene Beinstellung die Vertikale des Kreuzschafts. Wenn man sich fragt, ob dies die Form des historischen Kreuzes gewesen sein soll, greift man am besten zu den „Drei Büchern über das Kreuz. Nützlich für die heilige wie die profane Geschichte“ („De Cruce Libri Tres. Ad sacram profanámque historiam utiles“), einer Abhandlung des flämischen Philologen Justus Lipsius, die sich mit historischen Marterkreuzen und Foltermöglichkeiten beschäftigt und erstmals 1593 veröffentlicht wurde. Ausgehend vom Kreuz Jesu und den frühchristlichen Diskussionen über dessen Form, entwickelt Lipsius eine Typologie der unterschiedlichen Kreuzarten. Darin unterscheidet er zwischen der crux commissa und der crux immissa, dem „aneinandergefügten Kreuz“ einerseits und dem „ineinandergesetzten Kreuz“ andererseits.2
Die erste dieser beiden Varianten ist das T-förmige Kreuz, bei dem der Querbalken oben auf dem Längsbalken aufliegt. Manche der frühchristlichen Theologen, die Lipsius zitiert, beschreiben die Kreuzform des Buchstabens, ohne aber einen engeren Bezug zum Kreuz Christi herzustellen. Historisch wäre dies durchaus plausibel gewesen, da auch die crux commissa im römischen Strafvollzug zum Einsatz kam. Man ging jedoch mehrheitlich davon aus, dass es sich beim Kreuz Jesu um eine crux immissa mit einem Querbalken, der in der oberen Hälfte des Schafts aufgenagelt war, gehandelt hat. In der mittelalterlichen Kunst sind beide Varianten zu finden. So zeigt das zweite Maskell-Elfenbeintäfelchen eine zierliche, von Christus mit großer Leichtigkeit geschulterte crux immissa, die nicht zum Foltern taugt (Abb. 2). Was wie eine Parodie des echten Kreuzes aussieht, ist zum einen als Attribut Christi zu verstehen, mit dem die Szene kenntlich gemacht wird. Dieser so forsch voranschreitende junge Mann ist Christus, der auf der letzten Etappe zur Kreuzigung sein Todesinstrument selbst tragen muss. Zum anderen signalisiert das kümmerliche Kreuz, dass selbst eine der fürchterlichsten Strafen durch Christus ihren Schrecken verlor. Letztlich sollte er den Sieg davontragen und jede irdische Pein zunichtemachen. Die Inszenierung Christi ist hier eine andere als auf dem Täfelchen mit der Kreuzigung (Abb. 1), doch das Erlösungsversprechen ist das gleiche, denn in beiden Fällen dominiert Christus das Kreuz. Die beiden Bildwerke zeigen, dass das Kreuz ein variables Motiv war. Seine experimentierfreudige Handhabung in der Kunst täuscht ein wenig über die schwerwiegenden Probleme hinweg, die es den christlichen Theologen von Anfang an bereitete.
Mit welchen Argumenten macht man aus dem schmachvollsten Hinrichtungswerkzeug der Römer ein göttliches Heilszeichen? Noch während der Kreuzigung konnten die Christen eine Ahnung davon gewinnen, wie schwierig es werden würde, andere von ihrer Umdeutung des Kreuzes zu überzeugen. Mit der Frage, wie das Kreuz zu erklären sei, musste wohl jeder von ihnen rechnen. Die fortwährende Verhöhnung bezeugt das sogenannte Spottgraffito, eine Ritzzeichnung (Graffito), die auf dem Palastareal des Palatins in Rom gefunden wurde und vermutlich aus dem 2. Jahrhundert stammt (Abb. 4). In der unbeholfenen Zeichnung wendet sich eine männliche Figur mit stumpfartigen Gliedmaßen einem Kreuz zu, an dem ein eselsköpfiges Wesen hängt. In der krakeligen Inschrift unter dieser Karikatur Christi heißt es: „Alexamenos betet (seinen) Gott an.“ Man meint, das gemeine Lachen über diesen Alexamenos noch hören zu können.
Abb. 4: Spottgraffito, Rom, wohl 2. Jh. n. Chr.
Es nimmt deshalb kaum Wunder, dass die Apologie des Kreuzes, das heißt seine Verteidigung oder Rechtfertigung, zu einem zentralen Thema der frühchristlichen Theologie wurde. Sie hatte sich insbesondere gegenüber einem Fluch Gottes zu behaupten, der in der Thora beziehungsweise einem der fünf Bücher Mose zu Beginn des Alten Testaments steht. Die Christen konnten ihn nicht so einfach abtun, da viele von ihnen – wie Jesus selbst – ursprünglich jüdischen Glaubens gewesen waren. Das hebräische Wort „Thora“ macht deutlich, dass die Texte als Sammlungen göttlicher Gesetze, Lehren und Weisungen gelten. Im fünften Buch, das sich wie ein strafrechtliches Kompendium liest, spricht der Gott Israels: „Wenn ein Mensch eine Sünde begangen hat, die mit dem Tod bestraft werden muss, und er zum Tod verurteilt an den Galgen (patibulum) gehängt worden ist, wird seine Leiche nicht am Holzpfahl (in ligno) bleiben, sondern am selben Tag begraben werden. Denn von Gott verflucht ist, wer am Holzpfahl hängt.“ (Dtn 21,22– 23) Aus dieser Perspektive konnte Jesus, der am Marterpfahl (gr. staurós; lat. crux) starb und an das Querholz (patibulum) genagelt war, nicht der von Gott gesandte Erlöser, sondern nur ein gottferner, verbrecherischer Mensch sein.
Das Bemühen um eine Entkräftung der Thora und die Bestärkung des Glaubens an den Gekreuzigten sind bereits in den Briefen, die der Apostel Paulus zwischen 50 und 55 an verschiedene Gemeinden von Heidenchristen, nichtjüdische Konvertiten, sandte, eindrücklich zu vernehmen. Paulus, geboren in Tarsus in Kilikien und nach eigenem Bekunden ein ehemals strenggläubiger Jude, hatte nach einer göttlichen Vision eine radikale Kehrtwende in seinem Leben vollzogen und war zum Botschafter des christlichen Glaubens geworden (Apg 22,1–21). Mit seinen Briefen reagierte er auf Zerwürfnisse innerhalb der urchristlichen Gemeinden, was Aufschluss darüber gibt, wie fragil und unbestimmt der neue Glaube in seiner Anfangszeit war.
Für die Rechtfertigung des Kreuzes ist der erste Brief an die Gemeinde in Korinth besonders aufschlussreich. Paulus kritisierte die dortige Sektiererei und erinnerte daran, dass er das Evangelium verkünde, „damit das Kreuz Christi nicht entwertet wird“. (1 Kor 1,17) Der folgende Passus enthält paradigmatische Äußerungen über den Glauben an den Gekreuzigten: „Weil auch die Juden nach Zeichen verlangen und die Griechen die Weisheit suchen, verkünden wir dagegen Christus, den Gekreuzigten, für die Juden zwar ein Ärgernis (scandalum), für die Heiden aber eine Torheit (stultitia), für die Berufenen aber selbst, Juden und Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ (1 Kor 1,22–24) Das Ärgernis war die Anmaßung der Christen, in der gottverfluchten Kreuzigung eine Heilsbotschaft zu sehen, zumal eindeutige Zeichen, etwa der Sieg über den Tod noch während der Kreuzigung, ausblieben. Aus philosophischer Sicht wiederum war es eine Torheit, in den Worten und Taten des Gekreuzigten die Wahrheit zu erkennen, weil kein wahrhaft weiser Mann eine so unwürdige Strafe würde erleiden müssen.
Paulus aber verstand das Blasphemische der Kreuzigung als eine göttliche Provokation: „Aber was in der Welt töricht ist, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu verwirren; und was schwach ist in der Welt, hat Gott auserwählt, um das Starke zu verwirren.“ (1 Kol 1,27) Wer gedacht hatte, Gott zu kennen, und wer der Überzeugung gewesen war, Macht äußere sich durch Stärke, den habe das Kreuz eines Besseren belehrt. Es deute auf eine neue Weltordnung und den Anbruch einer neuen Zeit. Auch für den göttlichen Fluch aus dem Alten Testament – „Denn von Gott verflucht ist, wer am Holzpfahl hängt“ (Dtn 21,23) – fand Paulus eine recht kühne, doch der Logik des Sühneopfers folgende Antwort: Christus habe als Gekreuzigter gerade diesen größten Fluch stellvertretend auf sich genommen, um die Gläubigen von jeder Art des Fluches zu befreien.
Zu einem Bollwerk gegen den Fluch wurde die Deutungshoheit über die biblischen Schriften, die die Christen für sich beanspruchten. Erst das Heilsgeschehen, das sich durch Christus ereignet hatte und im Neuen Testament bezeugt wird, offenbarte ihnen zufolge den wahren Sinn der jüdischen Bibel. Jenseits des wörtlichen Sinns, so das Argument, enthielten die biblischen Texte Hindeutungen auf Christus – seine Menschwerdung durch eine Jungfrau, seinen Kreuzestod, die verzögerte Auferstehung und andere schwer erklärbare Dinge. Das heißt im Umkehrschluss, dass die jüdische Bibel den Glauben an Jesus Christus als dem prophezeiten Erlöser rechtfertigte. Auch der Kreuzestod sei von Beginn an im göttlichen Heilsplan verankert gewesen. Aus dieser Sicht hatte Gott sein Heilsversprechen eingelöst und durch Christus einen neuen Bund mit den Menschen gestiftet. Die Auffassung der jüdischen Bibel als das „Alte Testament“ wird durch diese Überzeugung besser verständlich. Das christliche Bibelverständnis, das diese Art von Verknüpfungen zwischen beiden Testamenten herstellt, wird typologisches Bibelverständnis genannt, da es Handlungen, Personen oder Gegenstände aus dem Alten Testament als „Typen“ (gr. týpos; Pl. týpoi) – Vorprägungen oder Vorwegnahmen – auffasst, die einen entsprechenden „Gegentypus“ (gr. antitýpos) im Neuen Testament haben. Die Sinnbeziehung wirkt zugleich in die andere Richtung, sodass das Alte Testament im Neuen präsent ist und in diesem Sinn seine Gültigkeit behält. Gleichwohl ist das Neue Testament dem Alten übergeordnet, da es den göttlichen Heilsplan nicht allein vervollständigt, sondern dessen Erfüllung bedeutet.
Entsprechend galten einzelne Vorkommnisse als Verwirklichung alttestamentlicher Prophezeiungen. So habe sich im Verhalten der Soldaten unter dem Kreuz der Psalm „Sie haben meine Kleider unter sich aufgeteilt, und über mein Gewand haben sie das Los geworfen“ (Ps 21 (22),19) bewahrheitet. Auch die Frage, warum die Evangelisten ausgerechnet den lästernden Zuschauern so große Aufmerksamkeit schenkten, lässt sich mit einem Psalm erklären: „Alle, die mich sehen, verspotten mich; sie lassen die Lippe herunter, sie bewegen ihr Haupt: ‚Er ist zum Herrn geflüchtet – er soll ihn retten! Er soll ihn befreien, da er ihn will!‘“ (Ps 22 (21),8–9) Die Typologie fand somit auch für die Glaubensfeinde einen Platz im göttlichen Heilsplan. Die Ungläubigen unter dem Kreuz ahnten ihrerseits nicht, dass sie mit ihrer Häme zum Erlösungswerk beitrugen.
Abb. 5: Biblia pauperum, Typologie der Kreuzigung, Ostmitteldeutschland, um 1455/58 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 438, fol. 122v
Für die mittelalterliche Kunst besaß die Typologie weitreichende Konsequenzen, da die Bildwerke fortan entscheidend zur Konstruktion von Geschichte und Erfüllung beitrugen. Ein Kreuz mit einem besonders komplexen Programm aus Bildern und Inschriften wird im Zentrum des siebten Kapitels stehen (Abb. 42–45). Am anschaulichsten jedoch wird die visuelle Typologie in den spätmittelalterlichen „Bibliae pauperum“ („Armenbibeln“; Abb. 5), deren Name seit Langem kontrovers diskutiert wird. Er wird nur in den wenigsten der erhaltenen Exemplare als Titel verwendet, dient aber heute als allgemeine Bezeichnung. Konsens ist, dass mit den „Armen“ keinesfalls mittellose, des Lesens unkundige Menschen gemeint sind. Es gibt diese Bibeln in verschiedenen Varianten, denen jedoch ein gemeinsames Prinzip des Bildgebrauchs zugrunde liegt. Kennzeichnend ist die Zusammenstellung mehrerer Bilder, häufig nach der Art eines Tableaus oder Diagramms, mit einer Szene aus der Vita Christi als wichtigstem Bestandteil. Ihr werden zwei alttestamentliche Typen sowie vier männliche Büsten beigeordnet, die Propheten, Könige oder andere Figuren aus dem Alten Testament darstellen. In dem hier abgebildeten Exemplar aus der Heidelberger Universitätsbibliothek dient ein großes, fast die gesamte Seite einnehmendes Rahmenwerk zur systematischen Anordnung der Bilder. Es handelt sich um ein Blockbuch, in dem das Rahmenwerk und die Bilder im Medium des Holzschnitts gedruckt, die Farben und Texte hingegen per Hand hinzugefügt sind. Das zentrale, eigens hervorgehobene Feld nimmt die Kreuzigung ein, flankiert von Abraham und Isaak (links) sowie Moses und der ehernen Schlange (rechts). In der Hierarchie der Bilder erhalten David, Jesaja, Habakuk und Hiob die kleinen Eckfelder, wo sie mit lang gestreckten Fingern auf den Vers zeigen, der sie jeweils zitiert. Im Bildganzen wirken die Zeilen wie Kommentare zur zentralen Kreuzigung. Auch Jesaja meint deshalb Christus, wenn er sagt: „Er wurde dargebracht, weil er selbst [es] wollte“ (Oblatus est quia ipse voluit; Jes 53,7; oben rechts). Der längere Text ganz unten bietet weitere Erklärungen des Dargestellten.
Die alttestamentlichen Typen links und rechts von der Kreuzigung heben jeweils andere Aspekte des Kreuzestodes hervor. Links holt Abraham zum tödlichen Schwerthieb aus, um seinen Sohn als gottgewolltes Opfer darzubringen, nicht ahnend, dass er von Gott lediglich auf die Probe gestellt wird (Gen 22,1–19). Im letzten Moment hält ihn ein Engel von der Tötung ab, und Abraham sieht einen Widder, den er als Opfertier verwenden kann. Die typologische Verknüpfung bezieht sich auf den Opfertod Christi. Zum einen nimmt der Gehorsam Isaaks jenen von Christus vorweg, denn wie Isaak wird sich Christus nicht gegen den Willen seines Vaters auflehnen. Zum anderen geht es in beiden Geschehnissen um die Opferung des Sohnes durch den Vater, welche jedoch erst im Neuen Testament Wirklichkeit werden soll.
Auf den alttestamentlichen Typus der Kreuzigung im rechten Bild wird das siebte Kapitel noch genauer eingehen. Es handelt sich um die Episode aus der Wüstenwanderung des Volkes Israel, in der Gott zur Strafe für das wehleidige Klagen giftige Schlangen schickt. Zugleich aber beauftragt er Moses, eine Schlange aus Bronze zu fertigen und sie aufzustellen, damit alle, die sie anschauen, geheilt werden (Num 21,4–9). Im Bild scheint es allerdings, als stünden Moses und die übrigen Männer etwas verschüchtert vor einer allzu lebendigen Schlange, die sich kraftvoll an einem Holzpfahl hinaufwindet und bedrohlich zu der kleinen Gruppe herabschaut. Die irritierende Analogie, die im Nebeneinander der Bilder zwischen Christus am Kreuz und der Schlange am Holzpfahl geschaffen wird, muss an dieser Stelle rätselhaft bleiben. Da aber die eherne Schlange der gängigste Typus des Gekreuzigten war, besteht an der Verständlichkeit der Darstellung kein Zweifel.
Abb. 6: Spiegel menschlicher gesuntheit, Typologie der Verspottung Christi am Kreuz, Mittelrhein, zwischen 1420 und 1430, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 432, fol. 32r
Abb. 7: wie Abb. 6, fol. 32v
Ungewöhnlich ist hingegen die typologische Herleitung der Spötter unter dem Kreuz, die in einem Exemplar des moral-didaktischen Traktats „Spiegel menschlicher gesuntheit“ in drastischen Bildern vermittelt wird (Abb. 6 und 7). Am Beginn steht die Darstellung des toten, blutüberströmten Gekreuzigten, der von vier Männern mit fratzenhaften Gesichtern verhöhnt wird. Sie zeigen mit dem Finger auf ihn, strecken die Zunge heraus und halten noch immer ihre Waffen bereit. Dass es sich um Juden handelt, ist an den breitkrempigen, flach aufliegenden, spitzen Hüten zu erkennen, einem untrüglichen Bildmotiv, dessen Realitätsbezug allerdings Rätsel aufgibt, denn ob, wann und wo Juden derartige Hüte trugen, lässt sich nicht genau sagen. Die antijüdische Gehässigkeit der Christen, die sich in den hässlichen Gesichtern zeigt, geht auch aus dem Text unterhalb des Bildes unverhohlen hervor. Er macht die Frevler unter dem Kreuz zu fanatischen Leugnern Christi: „Nun sollen wir hören, wie Christus nach seinem Tod verspottet wurde. Den Juden genügte nicht, dass sie ihn getötet hatten, sondern sie mussten auch mannigfaltig Spott nach seinem Tod an ihn richten.“
Ohne Umschweife geht der Verfasser nun zu den alttestamentlichen Episoden über und unterweist seine Leser nicht nur in deren christlicher Bedeutung, sondern auch der lebensweltlichen Moral, die in ihnen steckt. Die Typologie im „Spiegel menschlicher gesuntheit“ ist erzieherischer Art und mit der „Gesundheit“ das gottgefällige, tugendhafte Leben gemeint. In dem reich bebilderten und weit verbreiteten Text, der auf eine lateinische Fassung vom Beginn des 14. Jahrhunderts zurückgeht, werden jeder Episode aus dem Leben Christi drei alttestamentliche Typen zugeordnet. Bei der Verspottung des Gekreuzigten sind dies die Verhöhnung König Davids durch seine Frau Michal, nachdem er aus Freude getanzt hat (2 Sam 6,16 und 20); die Tötung von Davids Sohn Absalom, der während der Schlacht mit dem Kopf in einer Eiche hängengeblieben ist (2 Sam 18); Ewil-Merodachs Zerstückelung des Leichnams seines Vaters König Nebukadnezar, die allerdings nicht unmittelbar auf dem Bibeltext, sondern einer mittelalterlichen Bibelinterpretation beruht. Die Szenen werden immer blutiger und die drei Varianten der Verhöhnung gehen mit einer Eskalation der Gewalt einher. Während Michal und David, ein hübsches, galantes Paar, vertraut miteinander kommunizieren, stirbt der hilflose Absalom durch die Lanzenstiche der infamen Soldaten. Während sein Körper bis auf die Wunden am Rücken unversehrt ist, quillt das Blut im nächsten Bild so stark aus den Beinstümpfen und dem Hals Nebukadnezars hervor, dass der übrige Körper ganz blutverschmiert ist. Der niederträchtige Sohn führt die Tat seelenruhig aus und stört sich auch nicht an den Raubvögeln, die sich die Füße und den Kopf gegriffen haben und mit weit ausgebreiteten Flügeln davonfliegen. Das Ungeheuerliche der Verspottung Christi und der Kreuzigung könnte kaum abstoßender vermittelt werden. Da das Neue Testament in allem als eine Überbietung oder Übersteigerung des Alten galt, konnte die Zerstückelung nichts mehr als eine Vorform der jüdischen Blasphemie und Kreuzesqual Christi sein. Die typologischen Bilder dienten in diesem Fall dazu, ein unbegreifliches Ausmaß an Gewalt in die Kreuzigung hineinzuprojizieren.
Abb. 8: Prozessionskreuz (Vorderseite), Kleinasien/Syrien (Antiochia?), 5. Jh., 52,4 x 40,9 cm, München, Sammlung Christian Schmidt
Abb. 9: wie Abb. 8 (Rückseite)
Typologische Programme auf dreidimensionalen Kreuzen sind ebenso ein Phänomen des späteren Mittelalters. Auf den erhaltenen frühen Kreuzen kommen selbst einzelne typologische Bildpaare nur äußerst selten vor. Ein Beispiel ist ein mit Zink überzogenes, aus Messing bestehendes Prozessionskreuz aus dem 5. Jahrhundert, das wohl aus Kleinasien oder Syrien stammt (Abb. 8 und 9). Vorder- und Rückseite unterscheiden sich nicht nur in ihren Bildprogrammen, sondern auch in der Technik, mit der die Motive in das Metall eingearbeitet sind. Während die Zinkschicht vorne ausschließlich für die Figuren und Medaillons belassen wurde, sind die Motive auf der Rückseite in die Zinkfläche eingraviert. Die Medaillons, die sich hier aneinanderreihen, enthalten auf den Kreuzarmen Büsten der elf Jünger (ohne Judas, den Verräter). Die Figuren wenden sich – mal mehr, mal weniger entschieden – dem in Frontalansicht dargestellten Christus im großen Medaillon der Vierung zu. An den geschweiften Kreuzenden befinden sich weitere große Medaillons mit ornamentalen Blüten beziehungsweise einem Kreuz. Das untere Motiv ist nicht mehr zu erkennen.
Dreht man das Kreuz um, geraten die beiden Anhänger Alpha (A) und Omega (ω), der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets, ins Schwingen. Den überlieferten Exemplaren nach zu urteilen, war es bis ins Frühmittelalter durchaus üblich, Goldschmiedekreuze an den Querarmen mit Anhängern (Pendilien) zu schmücken. Bestanden sie aus Edelsteinen, trugen sie dazu bei, das Kreuz in ein prachtvolles Triumphzeichen zu verwandeln (Abb. 25). Die Buchstaben Alpha und Omega hingegen verleihen Christus eine spezifische Präsenz und enthalten andererseits den Anspruch der christlichen Religion auf universelle Gültigkeit. Sie sind einem Ausspruch Christi in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testaments, entnommen: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, Anfang und Ende.“ (Off 22,13) Da die beiden Buchstaben den gesamten Satz in sich enthalten und an das gesprochene Wort Christi erinnern, wird er in ihnen gegenwärtig. Die Bewegung der Anhänger mag diesen Eindruck von Präsenz und Lebendigkeit verstärkt haben.
Am unteren Ende des Kreuzes ist eine Figur zu sehen, die man auf den ersten Blick für eine Frau halten könnte, doch es handelt sich um den alttestamentlichen Propheten Daniel. Die zwei kleinen Löwen zu seinen Füßen erinnern an die Episode, in der Daniel nach einer Verleumdung zur Strafe in eine Löwengrube geworfen wurde, doch dank göttlichen Schutzes unversehrt blieb (Dan 6). Er weist mit beiden Händen nach oben, zum Medaillon in der Vierung des Kreuzes, das von vier lang gestreckten Engeln gehalten wird. Ganz oben thront eine Figur, bei der es sich vermutlich um Christus handelt. Ob sich im Zentrum eine weitere Christusbüste, ein Christogramm aus den griechischen Buchstaben Chi (X) und Rho (P) (Abb. 17), das Lamm als Christussymbol (Abb. 45) oder vielleicht ein Edelstein befand, muss offenbleiben. Die Engel und der kaum noch sichtbare Lorbeerkranz des Medaillons lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass das Kreuz ein triumphales Zentrum besaß. Indem Daniel auf dieses Zentrum zeigt, tut er nicht nur kund, dass seine Errettung jene von Christus vorrausnahm, sondern dass Letztere als Sieg über den Tod die endgültige Erlösung bedeutete.
Das Kreuz ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie ein solches Objekt schon in frühchristlicher Zeit zu einem komplexen Bildwerk werden konnte, und dies auch ohne die Figur des Gekreuzigten. Die Grundform des Kreuzes mit einem klaren Zentrum, Schaft und Querbalken beziehungsweise vier Armen wandelte sich in ein Bildprogramm mit Figuren, Ornamenten und Inschriften, wobei die Grundform immer klar erkennbar blieb. Die besondere Qualität des dreidimensionalen Kreuzes als Bildträger scheint genau darin zu liegen: Es ist eine dominante Figur, auf der sich eine Bildwelt entfalten lässt, die die Bedeutungsschichten des Kreuzes Christi zur Anschauung bringt.
Um diese Schichten in den Bildwerken wird es in den folgenden Kapiteln gehen. Sie sind selten voneinander zu lösen, da das christliche Kreuz widersprüchlicher nicht sein könnte: Es ist ein von Gott verfluchtes Todeswerkzeug, das die göttliche Erlösung symbolisiert. Noch während der Kreuzigung mussten sich die Anhänger Jesu das Gespött der Leute anhören, ausgerechnet einen Gekreuzigten für den Gottessohn zu halten, und tatsächlich entwickelte sich das Kreuz erst seit dem 4. Jahrhundert zu dem heilsversprechenden christlichen Symbol. Von den theologischen Anstrengungen, die Rechtmäßigkeit des Kreuzes zu begründen, wird in diesem Buch immer wieder die Rede sein. Die Typologie, eine der frühesten Argumentationsstrategien, verdeutlicht, dass das christliche Verständnis des Kreuzes von Beginn an ein Ringen um Deutungshoheit war. Wer das Kreuz richtig erklären wollte, musste die Heilige Schrift richtig interpretieren.
Die Bildwerke waren – mal mehr, mal weniger offenkundig – an dieser Debatte beteiligt. Zwei Pole eines identitätsstiftenden Bildgebrauchs stehen sich in diesem Kapitel gegenüber, zum einen – im „Spiegel menschlicher gesuntheit“ (Abb. 6 und 7) – die Diffamierung der Juden, zum anderen die Vergewisserung des Heils durch Christus. Das Prozessionskreuz (Abb. 8 und 9) überblendet das Kreuz mit einem Bildprogramm des Triumphes und der Auferstehung; hier wird das Symbol des christlichen Glaubens von dessen Erlösungsversprechen vereinnahmt. Das Maskell-Elfenbein (Abb. 1), mit dem dieses Buch begonnen hat, lässt noch wesentlich deutlicher erkennen, dass das Kreuz in der frühchristlichen Kunst ein schwacher, durch Christus überwundener und besiegter Gegenstand ist. Der so aufrechte Körper mit den zur Seite gestreckten Armen wirkt wie eine Parodie des Kreuzes. Christus ist dem vermeintlichen Todesinstrument in jeder Hinsicht überlegen.