Das krumme Haus - Agatha Christie - E-Book

Das krumme Haus E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Ein Haus. Ein Mord. Viele Verdächtige. Drei Generationen der Familie Leonides leben in dem großen, krummen Haus mit den vielen Giebeln. Doch dann wird der alte Aristide Leonides ermordet. Jeder hatte einen Grund, den alten Tyrannen ins Jenseits zu befördern, aber als Motiv für einen Mord reicht eigentlich keiner dieser Gründe aus. Solange der Mordfall ungeklärt bleibt, weigert sich Sophia, die geliebte Enkelin des Millionärs, ihren Verlobten Charles zu heiraten. Dann geschieht ein zweiter Mord ... Kann Charles Scotland Yard helfen, den Mörder zu entlarven?

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Seitenzahl: 296

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Agatha Christie

Das krumme Haus

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

Atlantik

Vorwort der Autorin

Dieses Buch ist einer meiner ganz besonderen Favoriten. Ich habe es mir jahrelang aufgespart, habe darüber nachgedacht, es bis ins Detail ausgearbeitet und mir dabei gesagt: »Eines Tages, wenn ich viel Zeit habe und mich wirklich amüsieren will, werde ich damit anfangen!« Normalerweise ist es für mich als Schriftstellerin so, dass auf ein Buch, das pures Vergnügen darstellt, fünf kommen, die Arbeit bedeuten. Das krumme Haus war das pure Vergnügen. Ich frage mich oft, ob Leser einem Buch anmerken können, ob es Freude oder Mühe beim Schreiben gemacht hat. Immer wieder bekomme ich zu hören: »Was muss es für einen Spaß gemacht haben, dies oder das zu schreiben!« Und das in Bezug auf ein Buch, das sich standhaft geweigert hat, sich so zu entwickeln, wie ich es mir vorgestellt hatte, dessen Figuren leblos, dessen Handlung unnötig verwickelt und dessen Dialoge hölzern sind, wie ich finde. Aber vielleicht ist die Autorin nicht die beste Kritikerin ihrer Werke. Da Das krumme Haus allerdings praktisch jedem gefallen hat, fühle ich mich in meiner Überzeugung bestätigt, dass es eines meiner besten ist.

Ich weiß nicht, was mir die Leonides in den Kopf gesetzt hat – sie waren auf einmal da. Und dann sind sie, wie Topsy in Onkel Toms Hütte, »einfach gewachsen«.

Ich selbst, so kommt es mir vor, war lediglich ihre Chronistin.

Agatha Christie

1

Ich lernte Sophia Leonides während des Krieges in Ägypten kennen. Sie hatte einen recht hohen Verwaltungsposten in einer der dortigen Abteilungen des Außenministeriums inne. Ich hatte zunächst die nstlich mit ihr zu tun und konnte mich schon bald von der Tüchtigkeit überzeugen, die ihr trotz ihrer Jugend (sie war zu dem Zeitpunkt erst zweiundzwanzig) ihre Position verschafft hatte.

Abgesehen davon, dass sie ein außerordentliches Vergnügen für das Auge darstellte, besaß sie einen klaren Verstand und einen trockenen Humor, was ich sehr reizvoll fand. Wir wurden Freunde. Sie war ein Mensch, mit dem man sich ungewöhnlich gut unterhalten konnte, und wir genossen unsere Dinner und gelegentlichen Tänze ungemein.

Das alles war mir bekannt; erst als ich, gegen Ende des Krieges in Europa, in den Osten versetzt wurde, erkannte ich etwas anderes: dass ich Sophia liebte und dass ich sie heiraten wollte.

Wir dinierten gerade im Shepheard Hotel, als ich diese Entdeckung machte. Sie hatte nichts Überraschendes an sich, sondern fühlte sich eher an wie die Anerkennung einer Tatsache, die mir schon seit längerem vertraut war. Ich sah sie mit neuen Augen – aber ich sah, was ich schon seit langer Zeit kannte. Und alles, was ich sah, gefiel mir. Das dunkle, lockige Haar, das sich ihr stolz über der Stirn bauschte, die leuchtend blauen Augen, das kleine kantige streitbare Kinn und die gerade Nase. Mir gefielen das gutgeschnittene hellgraue Schneiderkostüm und die blütenweiße Bluse. Sie sah insgesamt erfrischend englisch aus, und das sprach mich, nachdem ich drei Jahre lang nicht in meiner Heimat gewesen war, ungemein an. Niemand, dachte ich, könnte englischer sein – und gerade, als ich genau das dachte, fragte ich mich plötzlich, ob sie tatsächlich so englisch war, ja überhaupt sein konnte, wie sie aussah. Hat das Echte jemals die Vollkommenheit einer Inszenierung?

Mir wurde bewusst, dass – so ausgiebig und so offen wir auch miteinander gesprochen hatten, über Ideen, unsere Vorlieben und Abneigungen, die Zukunft, unsere Freunde und Bekannten – Sophia nie ein Wort über ihr Zuhause oder ihre Familie verloren hatte. Von mir wusste sie alles (wie ich schon angedeutet habe, war sie eine gute Zuhörerin), ich aber wusste nichts über sie. Sie hatte, wie ich vermutete, den üblichen familiären Hintergrund, aber sie hatte nie darüber gesprochen. Und bis zu dem Moment war ich mir dieser Tatsache überhaupt nicht bewusst gewesen.

Sophia fragte mich, woran ich dachte.

Ich antwortete wahrheitsgemäß: »Sie.«

»Ich verstehe«, sagte sie. Und es klang so, als ob es wirklich stimmte.

»Kann sein, dass wir uns die nächsten paar Jahre nicht sehen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wann ich nach England zurückkommen werde. Aber wenn ich erst einmal wieder da bin, werde ich als Allererstes zu Ihnen kommen und Sie bitten, meine Frau zu werden.«

Sie nahm es hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie saß da, rauchte und sah mich nicht an.

Ein, zwei Sekunden lang befürchtete ich, sie könnte mich nicht verstanden haben.

»Hören Sie«, sagte ich. »Eines werde ich in aller Entschiedenheit nicht tun, nämlich Sie jetzt bitten, meine Frau zu werden. Das würde sowieso nicht gut gehen. Erstens könnten Sie mir einen Korb geben, und dann würde ich in einem jammervollen Zustand abreisen und wahrscheinlich mit irgendeinem unmöglichen Frauenzimmer anbändeln, nur um meiner verletzten Eitelkeit Genüge zu tun. Und wenn Sie mir keinen Korb geben würden, was bliebe uns schon übrig? Heiraten und uns gleich wieder trennen? Uns verloben und auf eine lange Wartezeit einstellen? Das könnte ich Ihnen unmöglich zumuten. Sie könnten jemand anders kennenlernen und sich verpflichtet fühlen, mir ›treu‹ zu bleiben. Wir leben in einer komischen, hektischen Ruck-zuck-aber-dalli-Atmosphäre. Wohin man auch blickt, kommen Ehen und Liebesgeschichten zustande und gehen wieder zu Bruch. Ich hätte gern das Gefühl, dass Sie in die Heimat zurückgekehrt sind, um sich, frei und unabhängig, umzuschauen und die neue Nachkriegswelt zu taxieren und zu entscheiden, was Sie von ihr erwarten. Was zwischen Ihnen und mir ist, Sophia, muss von Dauer sein. Für eine andere Art von Ehe habe ich keine Verwendung.«

»Ich ebenso wenig«, sagte Sophia.

»Andererseits«, sagte ich, »halte ich mich für berechtigt, Ihnen zu offenbaren, wie ich – also – wie ich empfinde.«

»Aber ohne ungebührliche Lyrismen?«, murmelte Sophia.

»Liebling, begreifst du nicht? Ich habe versucht, nicht zu sagen, dass ich dich liebe …«

Sie unterbrach mich.

»Ich begreife durchaus, Charles. Und ich mag deine ulkige Art, Dinge zu tun und zu sagen. Du darfst mich gern besuchen, wenn du wieder im Land bist – wenn du mich dann noch …«

Jetzt war es an mir, sie zu unterbrechen.

»Daran besteht kein Zweifel.«

»Es besteht immer an allem ein Zweifel, Charles. Es kann immer ein unkalkulierbarer Faktor eintreten, der alles über den Haufen wirft. Zunächst einmal weißt du nicht viel über mich, stimmt’s?«

»Ich weiß nicht einmal, wo du in England wohnst.«

»Ich wohne in Swinly Dean.«

Ich nickte beim Namen des wohlbekannten Londoner Vororts, der drei hervorragende Golfplätze für den Finanzmann aus der City sein Eigen nennt.

Mit verträumter Stimme fügte sie leise hinzu: »In ’nem kleinen krummen Haus.«

Ich muss ein verdutztes Gesicht gemacht haben, denn sie wirkte belustigt und zitierte zur Erklärung ein etwas längeres Stück des bekannten Kinderreims:

»›… und sie lebten allesamt in einem kleinen krummen Haus.‹ Das trifft genau auf uns zu. Obwohl das Haus so klein nun auch wieder nicht ist. Aber entschieden krumm – scheut nicht mal vor Giebeln und Fachwerk zurück!«

»Kommst du aus einer großen Familie? Hast du Geschwister?«

»Einen Bruder, eine Schwester, eine Mutter, einen Vater, einen Onkel, eine angeheiratete Tante, einen Großvater, eine Großtante und eine Stiefgroßmutter.«

»Gütiger Himmel!«, rief ich leicht erschlagen aus.

Sie lachte.

»Natürlich wohnen wir normalerweise nicht alle unter einem Dach. Der Krieg und die Luftangriffe haben dazu geführt, aber ich weiß nicht« – sie runzelte nachdenklich die Stirn –, »geistig hat die Familie vielleicht schon immer zusammengelebt – unter der Aufsicht und dem Schutz meines Großvaters. Er ist schon eine Type, mein Großvater. Er ist über achtzig, keine fünf Fuß groß, und neben ihm macht absolut jeder eine kümmerliche Figur.«

»Klingt nach einem interessanten Mann«, sagte ich.

»Er ist ein interessanter Mann. Er ist Grieche aus Smyrna. Aristide Leonides.« Mit einem Blinzeln fügte sie hinzu: »Er ist ungeheuer reich.«

»Wird überhaupt noch jemand reich sein, wenn das Ganze erst mal vorbei ist?«

»Mein Großvater schon«, sagte Sophia mit Überzeugung. »Keine bekannte Taktik zur Schröpfung von Reichen würde bei ihm verfangen. Er würde einfach die Schröpfer schröpfen.

Ich bin neugierig«, fügte sie hinzu, »ob du ihn mögen wirst.«

»Magst du ihn?«, fragte ich.

»Mehr als sonst jemanden auf der Welt«, sagte Sophia.

2

Es sollten über zwei Jahre vergehen, bevor ich nach England zurückkehrte. Es waren keine leichten Jahre. Ich schrieb Sophia und hörte von ihr ziemlich regelmäßig. Ihre Briefe waren, ebenso wie meine, keine Liebesbriefe. Es waren Briefe, wie sie sich gute Freunde schreiben – sie handelten von Einfällen und Gedanken und alltäglichen Begebenheiten. Dennoch weiß ich, dass, was mich – und, wie ich annahm, auch Sophia – betraf, unsere Gefühle füreinander stetig wuchsen und an Kraft gewannen.

Es war ein milder grauer Tag im September, als ich nach England zurückkehrte. Die Blätter an den Bäumen leuchteten golden im Abendlicht. Der Wind spielte in Böen damit. Vom Flugplatz aus schickte ich Sophia ein Telegramm:

SOEBEN GELANDET.

DINNER HEUTE MARIO’S 21 UHR? CHARLES.

Ein paar Stunden später hatte ich es mir mit der Times bequem gemacht und überflog gerade die Spalte mit den Geburten, Hochzeiten und Todesfällen, als mein Blick am Namen Leonides hängen blieb:

Am 19. Sept. in Three Gables, Swinly Dean, starb Aristide Leonides, geliebter Gatte von Brenda Leonides, in seinem 88. Lebensjahr. Schmerzlich vermisst.

Unmittelbar darunter stand eine weitere Traueranzeige:

LEONIDES – Unerwartet verstarb in seinem Domizil Three Gables, Swinly Dean, Aristide Leonides. Zutiefst betrauert von seinen liebenden Kindern und Enkeln. Blumen an die St Eldred’s Church, Swinly Dean.

Ich fand die zwei gesonderten Anzeigen ziemlich kurios. Irgendein organisatorischer Fehler musste zu dieser Überschneidung geführt haben. Aber meine Hauptsorge galt Sophia. Hastig schickte ich ihr ein zweites Telegramm:

SOEBEN VOM TOD DEINES GROSSVATERS ERFAHREN. HERZLICHES BEILEID. SCHREIB WANN ICH DICH SEHEN KANN. CHARLES.

Sophias telegraphische Antwort erreichte mich um sechs im Haus meines Vaters. Sie lautete:

BIN 21 UHR BEI MARIO. SOPHIA.

Beim Gedanken daran, Sophia wiederzusehen, war ich zugleich nervös und gespannt. Die Zeit kroch mit zermürbender Langsamkeit dahin. Ich war zwanzig Minuten zu früh bei Mario. Sophia verspätete sich lediglich um fünf Minuten.

Es ist immer ein gewisser Schock, jemandem wiederzubegegnen, den man lange nicht gesehen hat, der einem aber während dieser Zeit höchst gegenwärtig war. Als Sophia endlich durch die Schwingtür trat, kam mir unser Zusammentreffen vollkommen irreal vor. Sie trug Schwarz, und diese Tatsache überrumpelte mich kurioserweise. Zwar trugen die meisten anderen anwesenden Frauen ebenfalls Schwarz, aber ich war mir irgendwie sicher, dass es bei ihr eindeutig Trauerkleidung war – und es überraschte mich, dass Sophia die Sorte Mensch sein sollte, die tatsächlich Trauer trug, und sei es auch für einen nahen Verwandten.

Wir tranken Cocktails und gingen dann zu unserem Tisch. Wir sprachen schnell und hektisch, erkundigten uns nach alten Freunden aus unserer Zeit in Kairo. Es war eine gekünstelte Konversation, aber sie half uns über unsere anfängliche Verlegenheit hinweg. Ich sprach ihr mein Beileid wegen ihres Großvaters aus, und Sophia sagte leise, dass sein Tod »sehr plötzlich« gekommen sei. Dann stürzten wir uns wieder in Erinnerungen. Allmählich bekam ich das unangenehme Gefühl, dass da etwas war – etwas anderes, meine ich, als die ganz natürliche anfängliche Befangenheit nach einer langen Trennung. Irgendetwas stimmte nicht, mit Sophia stimmte etwas ganz eindeutig nicht. War sie möglicherweise im Begriff, mir zu sagen, dass sie einen anderen Mann kennengelernt hatte, einen, der ihr mehr bedeutete als ich? Dass ihre Gefühle für mich »ein einziger Fehler« gewesen waren?

Irgendwie glaubte ich nicht, dass es das war, aber ich wusste nicht, was es sonst sein konnte. Einstweilen setzten wir unsere gekünstelte Konversation fort.

Dann, ganz plötzlich, als der Kellner den Kaffee an den Tisch brachte und sich mit einer Verbeugung zurückzog, rückte sich alles zurecht: Da saßen Sophia und ich wie schon zahllose Male zuvor an einem kleinen Tisch in einem Restaurant. Und mit einem Schlag waren die Jahre unserer Trennung wie weggewischt.

»Sophia«, sagte ich.

Und sofort sagte sie: »Charles!«

Ich atmete erleichtert auf.

»Gott sei Dank ist das vorbei«, sagte ich. »Was war eigentlich los mit uns?«

»Wahrscheinlich mein Fehler. Es war dumm von mir.«

»Aber jetzt ist alles wieder gut?«

»Ja, jetzt ist alles wieder gut.«

Wir lächelten uns an.

»Liebling!«, sagte ich. Und dann: »Wie bald wirst du mich heiraten?«

Ihr Lächeln erstarb. Dieses Etwas, was immer es sein mochte, war wieder da.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, Charles, ob ich dich überhaupt jemals heiraten kann.«

»Aber Sophia! Warum denn nicht? Liegt es daran, dass ich dir fremd vorkomme? Brauchst du Zeit, um dich wieder an mich zu gewöhnen? Gibt es einen anderen? Nein …« Ich brach ab. »Ich bin ein Idiot. Es ist nichts von alledem.«

»Nein, du hast recht.« Sie schüttelte den Kopf und schwieg einen Moment. Dann sagte sie mit leiser Stimme:

»Es liegt am Tod meines Großvaters.«

»Am Tod deines Großvaters? Aber wieso? Was in aller Welt kann sich dadurch ändern? Du meinst doch nicht etwa – du kannst doch unmöglich – geht es ums Geld? Hat er nichts hinterlassen? Aber Liebste, du …«

»Es geht nicht um Geld.« Sie lächelte flüchtig. »Ich glaube, du wärst durchaus bereit, ›mich im Hemd zu nehmen‹, wie man früher zu sagen pflegte. Und Geld hat Großvater in seinem ganzen Leben nicht verloren.«

»Was ist es dann?«

»Es ist einfach sein Tod als solcher. Verstehst du, Charles, ich glaube, dass er nicht einfach so – gestorben ist. Ich glaube, möglicherweise wurde er – getötet …«

Ich starrte sie an.

»Aber – was für eine Schnapsidee! Wie bist du denn darauf gekommen?«

»Ich bin nicht darauf gekommen. Der Arzt war von Anfang an komisch. Er wollte keinen Totenschein ausstellen. Es wird eine Obduktion geben. Es besteht ganz eindeutig der Verdacht, dass irgendetwas nicht stimmt.«

Ich widersprach ihr nicht. Sophia hatte Grips für zwei; auf ihre Schlussfolgerungen konnte man sich getrost verlassen.

Also sagte ich ernst:

»Der Verdacht könnte sich als vollkommen unberechtigt erweisen. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, selbst wenn sich der Verdacht bestätigen sollte – inwiefern tangiert es dich und mich?«

»Das könnte es, unter bestimmten Umständen. Du bist im Auswärtigen Dienst. Die Burschen sind ziemlich eigen, was Ehefrauen anbelangt. Nein, bitte, sprich sie nicht aus, die ganzen Dinge, die du jetzt unbedingt sagen möchtest! Du fühlst dich verpflichtet, sie zu sagen, und ich glaube dir, dass du sie auch so meinst, und theoretisch bin ich völlig deiner Meinung. Aber ich bin stolz – ich bin stolz wie Luzifer! Ich will, dass unsere Heirat in jedermanns Augen etwas Gutes ist – ich will nicht die bessere Hälfte eines Opfers aus Liebe darstellen! Und, wie ich schon sagte, es könnte alles gut werden …«

»Du meinst, der Arzt könnte sich geirrt haben?«

»Selbst wenn er sich nicht geirrt hat, braucht es keine Rolle zu spielen – solange ihn die richtige Person getötet hat.«

»Was sagst du da, Sophia?«

»Ich weiß, es klang abscheulich. Aber schließlich kann man auch genauso gut ehrlich sein.«

Sie kam meiner Entgegnung zuvor.

»Nein, Charles, ich werde nichts weiter sagen. Wahrscheinlich habe ich sogar schon zu viel gesagt. Aber ich war fest entschlossen, dich heute Abend zu sehen, mit dir zu sprechen, damit du es verstehst. Wir können keine Pläne schmieden, solange diese Sache nicht aufgeklärt ist.«

»Dann erzähl mir wenigstens alles.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich will nicht.«

»Aber Sophia …«

»Nein, Charles. Ich will nicht, dass du die Sache aus meinem Blickwinkel siehst. Ich will, dass du uns unvoreingenommen, als Außenstehender betrachtest.«

»Und wie soll ich das bitte anstellen?«

Sie sah mich an, und in ihren strahlend blauen Augen lag ein seltsames Licht.

»Dein Vater wird dir dabei behilflich sein«, sagte sie.

In Kairo hatte ich Sophia erzählt, dass mein Vater Assistant Commissioner bei Scotland Yard war. Dieses Amt hatte er nach wie vor inne. Bei ihren Worten spürte ich, wie sich eine kalte Last auf mich senkte.

»So schlimm steht es also?«

»Ich fürchte, ja. Siehst du den Mann, der ganz allein an dem Tisch neben der Tür sitzt – Typ vorzeigbarer, stur korrekter Exsoldat?«

»Ja.«

»Er stand heute Abend auf dem Bahnsteig, als ich in Swinly Dean in den Zug gestiegen bin.«

»Du meinst, er ist dir hierher gefolgt?«

»Ja. Ich glaube, wir – wie sagt man das? – stehen alle unter Beobachtung. Die Beamten haben mehr oder weniger angedeutet, dass wir besser daran täten, das Haus nicht zu verlassen. Aber ich war fest entschlossen, dich zu treffen.« Sie streckte ihr kleines kantiges Kinn streitbar vor. »Ich bin durchs Badezimmerfenster gestiegen und das Fallrohr runtergeklettert.«

»Liebling!«

»Aber die Polizei ist sehr tüchtig. Und natürlich war da noch das Telegramm, das ich dir geschickt hatte. Tja, egal, wir sind hier, zusammen … Aber von nun an müssen wir beide im Alleingang weitermachen.«

Sie schwieg kurz und fügte dann hinzu:

»Unglücklicherweise besteht kein Zweifel daran, dass wir uns lieben.«

»Nicht der geringste«, sagte ich. »Und sag nicht ›unglücklicherweise‹! Du und ich haben einen Weltkrieg überlebt, wir sind etliche Male haarscharf an einem plötzlichen Tod vorbeigeschrammt – und ich sehe nicht ein, warum der plötzliche Tod eines alten Mannes … Apropos, wie alt war er eigentlich?«

»Siebenundachtzig.«

»Natürlich. Es stand ja in der Times. Wenn du mich fragst, ist er ganz einfach an Altersschwäche gestorben, und jeder Hausarzt, der was auf sich hält, würde diese Tatsache akzeptieren.«

»Wenn du meinen Großvater gekannt hättest«, sagte Sophia, »dann wärst du überrascht, dass ihn überhaupt etwas umbringen konnte!«

3

Ich hatte mich schon immer für die polizeiliche Arbeit meines Vaters interessiert, aber nichts hatte mich auf den Augenblick vorbereitet, in dem ich ein unmittelbares und persönliches Interesse daran entwickeln würde.

Ich hatte den alten Herrn noch gar nicht gesehen. Als ich angekommen war, war er außer Hauses gewesen, und nach einem Bad, einer Rasur und einem Kleiderwechsel war ich selbst aus dem Haus gegangen, um mich mit Sophia zu treffen. Als ich zurückkam, teilte mir Glover mit, dass er in seinem Arbeitszimmer war.

Er saß am Schreibtisch und brütete über einem Haufen Papiere. Als ich eintrat, sprang er auf.

»Charles! Ich muss schon sagen, lange nicht gesehen.«

Unsere erste Begegnung nach fünf Jahren Krieg hätte einen Franzosen enttäuscht. Aber in Wahrheit waren die Emotionen, die zu einem solchen Wiedersehen gehören, durchaus vollzählig vorhanden. Mein alter Herr und ich schätzen einander sehr, und wir verstehen uns ziemlich gut.

»Ich hab Whisky da«, sagte er. »Sag stopp. Tut mir leid, dass ich bei deiner Ankunft nicht da war. Ich steck bis über beide Ohren in Arbeit. Ein besonders vertrackter Fall ist gerade erst reingeschneit.«

Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und steckte mir eine Zigarette an.

»Aristide Leonides?«, fragte ich.

Seine Brauen senkten sich abrupt. Er warf mir einen kurzen taxierenden Blick zu. Seine Stimme war höflich und stählern.

»Wie kommst du darauf, Charles?«

»Ich liege also richtig?«

»Woher wusstest du davon?«

»Heißer Tipp.«

Mein alter Herr wartete.

»Mein Tipp«, sagte ich, »kam direkt aus dem fraglichen Rennstall.«

»Komm schon, Charles, raus mit der Sprache.«

»Wird dir vielleicht nicht gefallen«, sagte ich. »Ich habe Sophia Leonides in Kairo kennengelernt. Ich habe mich in sie verliebt. Ich werde sie heiraten. Ich habe sie heute Abend gesehen. Sie hat mit mir diniert.«

»Mit dir diniert? In London? Ich wüsste gern, wie sie das geschafft hat! Die Familie wurde aufgefordert – oh, in aller Höflichkeit gebeten, nicht das Haus zu verlassen.«

»Ganz recht. Sie ist vom Badezimmerfenster aus ein Fallrohr runtergeklettert.«

Die Lippen meines alten Herrn zuckten.

»Sie scheint ja eine findige junge Dame zu sein«, sagte er.

»Aber deine Truppe ist absolut auf Zack«, sagte ich. »Ein netter Militärtyp ist ihr bis zu Mario’s gefolgt. Du wirst mich in seinem Bericht wiederfinden: fünf Fuß elf, braunes Haar, braune Augen, dunkelblauer Nadelstreifenanzug et cetera pp.«

Mein alter Herr sah mich scharf an.

»Ist es dir ernst?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich. »Es ist mir ernst, Dad.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

»Stört es dich?«, fragte ich.

»Noch vor einer Woche hätte es mich nicht gestört. Die Leonides sind eine gutsituierte Familie, das Mädchen wird versorgt sein, und ich kenne dich. Du verlierst nicht leicht den Kopf. Nach Lage der Dinge …«

»Ja, Dad?«

»… könnte es durchaus in Ordnung gehen, wenn …«

»Wenn was?«

»Wenn es die richtige Person getan hat.«

Es war das zweite Mal an diesem Abend, dass ich diese Formulierung hörte. Allmählich wurde ich neugierig.

»Und wer genau ist die richtige Person?«

Er warf mir einen scharfen Blick zu.

»Wie viel weißt du von der ganzen Angelegenheit?«

»Nichts.«

»Nichts?« Er sah mich überrascht an. »Hat das Mädchen es dir denn nicht erzählt?«

»Nein. Sie sagte, es wäre ihr lieber, wenn ich die ganze Sache mit den Augen eines Außenstehenden betrachtete.«

»Da wüsste ich doch gern, warum.«

»Liegt es nicht auf der Hand?«

»Nein, Charles. Das sehe ich nicht so.«

Er ging mit gerunzelter Stirn auf und ab. Er hatte sich eine Zigarre angezündet, und sie war inzwischen ausgegangen. Daran konnte ich ermessen, wie beunruhigt der alte Knabe tatsächlich war.

»Wie viel weißt du über die Familie?«, fragte er mich abrupt.

»Ach, verflixt! Ich weiß, dass es den Alten gab, und es gibt jede Menge Söhne und Enkel und Angeheiratete. So genau kenne ich die Verhältnisse nicht.« Ich hielt inne und sagte dann: »Am besten, du setzt mich ins Bild, Dad.«

»Ja.« Er nahm Platz. »Also schön, ich werde am Anfang beginnen, mit Aristide Leonides. Er kam mit vierundzwanzig nach England.«

»Ein Grieche aus Smyrna.«

»So viel weißt du also immerhin?«

»Ja, aber das ist auch schon praktisch alles, was ich weiß.«

Die Tür öffnete sich, und Glover trat ein, um Chief-Inspector Taverner zu melden.

»Er leitet die Ermittlungen«, sagte mein Vater. »Wir sollten ihn besser dazubitten. Er hat die Familie überprüft. Weiß über sie mehr als ich.«

Ich fragte, ob die örtliche Polizei Scotland Yard hinzugezogen hatte.

»Fällt ohnehin in unsere Zuständigkeit. Swinly Dean gehört zu Greater London.«

Als Chief-Inspector Taverner hereinkam, nickte ich ihm zu. Ich kannte Taverner seit vielen Jahren. Er begrüßte mich herzlich und bekundete seine Freude über meine gesunde Heimkehr.

»Ich setze Charles gerade ins Bild«, sagte mein alter Herr. »Korrigieren Sie mich, wenn nötig, Taverner. Leonides kam 1884 nach London. Er eröffnete ein kleines Restaurant in Soho. Es machte Gewinn. Er eröffnete ein zweites. Bald besaß er sieben oder acht davon. Alle warfen satte Gewinne ab.«

»Hat nie einen Fehlgriff getan, was auch immer er anpackte«, sagte Chief-Inspector Taverner.

»Er war ein Naturtalent«, sagte mein Vater. »Am Ende steckte er hinter den meisten bekannten Restaurants Londons. Dann stieg er ganz groß ins Verpflegungsgeschäft ein.«

»Er steckte auch hinter allen möglichen anderen Unternehmen«, sagte Taverner. »Handel mit gebrauchter Kleidung, billige Schmuckgeschäfte, die verschiedensten Dinge. Natürlich«, fügte er nachdenklich hinzu, »war er bei alledem ein Gauner.«

»Sie meinen, er war kriminell?«, fragte ich.

Taverner schüttelte den Kopf.

»Nein, das meine ich nicht. Ein Gauner ja, aber nicht kriminell. Nie etwas Gesetzwidriges. Aber er war einer von der Sorte, die jeden Schleichweg um das Gesetz herum findet. Auf die Weise hat er selbst im letzten Krieg noch ein Heidengeld verdient, und das in seinem Alter! Nichts, was er tat, war jemals illegal, aber sobald er irgendwo seine Finger drin hatte, musste schleunigst ein Gesetz dafür her, wenn Sie wissen, was ich meine. Wenn’s endlich kam, war er schon beim nächsten Projekt.«

»Klingt nicht gerade wie ein besonders anziehender Mensch«, sagte ich.

»Sie werden lachen, aber genau das war er. Er hatte Persönlichkeit. Man konnte sie spüren. Äußerlich machte er nicht viel her. Ein Gnom – hässlicher kleiner Zwerg –, aber mit einer unwiderstehlichen Ausstrahlung – die Frauen sind ihm reihenweise erlegen.«

»Er ist eine ziemlich erstaunliche Heirat eingegangen«, sagte mein Vater. »Hat die Tochter eines Gutsherrn geheiratet – eines Master of the Foxhounds.«

Ich hob die Augenbrauen. »Geld?«

Mein alter Herr schüttelte den Kopf.

»Nein, es war eine Liebesheirat. Sie lernte ihn kennen, als sie für die Hochzeit einer Freundin die Verköstigung organisieren sollte, und verliebte sich in ihn. Ihre Eltern schlugen Krach, aber sie wollte ihn oder keinen. Ich sage dir, der Mann hatte Charme – er hatte etwas Exotisches und Dynamisches an sich, das sie fesselte. Ihresgleichen fand sie sterbenslangweilig.«

»Und es war eine glückliche Ehe?«

»Eine sehr glückliche, sonderbarerweise. Natürlich verkehrten ihre jeweiligen Freunde nicht miteinander, das war noch die Zeit, bevor Geld alle Klassenunterschiede über den Haufen warf, aber das schien sie nicht weiter zu kümmern. Sie kamen ohne Freunde aus. Er baute sich in Swinly Dean ein ziemlich absurdes Haus, und sie zogen dort ein und bekamen acht Kinder.«

»Das ist wahrhaftig eine Familienchronik.«

»Es war ziemlich gescheit vom alten Leonides, Swinly Dean auszuwählen. Das Dorf kam damals gerade erst in Mode. Der zweite und der dritte Golfplatz existierten da noch nicht. Es gab eine Mischung aus Alteingesessenen, die leidenschaftliche Gärtner waren und Mrs Leonides mochten, und reichen Geschäftsleuten aus der City, die daran interessiert waren, über Leonides nützliche Kontakte zu knüpfen. Sie waren absolut glücklich, glaube ich, bis Mrs Leonides 1905 an einer Lungenentzündung starb.«

»Und ihn mit acht Kindern zurückließ?«

»Eines starb schon als Säugling. Zwei Söhne sind im letzten Krieg gefallen. Eine Tochter heiratete und zog nach Australien und starb dort. Eine unverheiratete Tochter starb bei einem Verkehrsunfall. Eine weitere starb vor ein, zwei Jahren. Zwei Kinder sind noch am Leben – der älteste Sohn, Roger, der verheiratet, aber kinderlos ist, und Philip, der mit einer bekannten Schauspielerin verheiratet ist und drei Kinder hat. Deine Sophia, Eustace und Josephine.«

»Und sie alle wohnen in – wie hieß es noch mal? – Three Gables?«

»Ja. Die Roger Leonides wurden während des Krieges ausgebombt. Philip und seine Familie wohnen sogar schon seit 1937 dort. Und dann ist da noch eine ältere Tante, Miss de Haviland, Schwester der ersten Mrs Leonides. Anscheinend hat sie ihren Schwager von jeher verabscheut, aber als ihre Schwester starb, erachtete sie es für ihre Pflicht, die Einladung ihres Schwagers anzunehmen und fortan bei ihm zu wohnen und die Erziehung der Kinder zu übernehmen.«

»Mit der Pflicht hat sie es wirklich«, sagte Inspector Taverner. »Aber sie ist keine von der Sorte, die ihre Meinung über Leute ändert. Sie hat Leonides und seine Methoden schon immer missbilligt …«

»Tja«, sagte ich, »das klingt ja wirklich nach einem ganz schön vollen Haus. Was glauben Sie, wer ihn getötet hat?«

Taverner schüttelte den Kopf.

»Viel zu früh«, sagte er, »viel zu früh, um das zu sagen.«

»Kommen Sie schon, Taverner«, sagte ich. »Ich wette, Sie glauben zu wissen, wer es war. Wir sind nicht im Gerichtssaal, Mann!«

»Nein«, sagte Taverner düster. »Und es ist fraglich, ob wir da überhaupt jemals hinkommen.«

»Sie meinen, er wurde vielleicht gar nicht ermordet?«

»Oh, ermordet wurde er zweifelsfrei. Vergiftet. Aber Sie wissen ja, wie diese Giftmordfälle sind. Es ist verflucht schwierig, handfeste Beweise beizubringen. Verflucht schwierig. Es kommt vor, dass sämtliche Indizien in eine Richtung weisen …«

»Genau darauf will ich ja hinaus. Sie haben sich doch schon alles im Kopf zurechtgelegt, oder etwa nicht?«

»Es ist ein Fall von sehr hoher Wahrscheinlichkeit. Es ist einer von diesen ganz offensichtlichen Fällen. Die perfekte Konstellation. Aber ich weiß es wirklich nicht. Kitzlige Sache.«

Ich warf meinem alten Herrn einen flehentlichen Blick zu.

Er sagte langsam: »Wie du weißt, Charles, ist in Mordfällen die offensichtliche Lösung gewöhnlich auch die richtige. Der alte Leonides heiratete ein zweites Mal, vor zehn Jahren.«

»Mit siebenundsiebzig?«

»Ja, er heiratete eine junge Frau von vierundzwanzig.«

Ich stieß einen Pfiff aus.

»Was für eine Sorte junge Frau?«

»Eine junge Serviererin aus einem Tearoom. Eine absolut achtbare junge Frau – gutaussehend auf eine anämische, apathische Weise.«

»Und sie ist die ›sehr hohe Wahrscheinlichkeit‹?«

»Sagen Sie doch selbst, Sir«, warf Taverner ein. »Sie ist jetzt gerade mal vierunddreißig, und das ist ein gefährliches Alter. Sie schätzt das süße Leben. Und es gibt einen jungen Mann im Haus. Hauslehrer der Enkel. War nicht im Krieg – schwaches Herz oder sonst was. Sie sind ganz dicke Freunde.«

Ich sah ihn nachdenklich an. Es war ohne Frage ein altbekanntes Muster. Die gleiche Mischung wie schon tausendmal zuvor. Und die zweite Mrs Leonides war, wie mein Vater betont hatte, sehr achtbar. Im Namen der Achtbarkeit sind schon viele Morde verübt worden.

»Was war es?«, fragte ich. »Arsen?«

»Nein. Den Laborbericht haben wir zwar noch nicht, aber der Arzt vermutet, es ist Eserin.«

»Schon ziemlich exotisch, nicht? Bestimmt kein Problem, den Käufer zu ermitteln.«

»Nicht in diesem Fall. Es war nämlich sein eigenes. Augentropfen.«

»Leonides litt an Diabetes«, sagte mein Vater. »Er bekam regelmäßig Insulin gespritzt. Insulin wird in kleinen Fläschchen mit Gummistopfen ausgegeben. Man sticht mit einer Injektionsnadel durch den Gummistopfen und zieht das Medikament auf.«

Was als Nächstes kam, konnte ich mir denken.

»Und in dem fraglichen Fläschchen war kein Insulin, sondern Eserin?«

»Exakt.«

»Und wer hatte ihm die Spritze verabreicht?«, fragte ich.

»Seine Frau.«

Jetzt verstand ich, was Sophia mit der »richtigen Person« gemeint hatte.

Ich fragte: »Kommt die Familie gut mit der zweiten Mrs Leonides aus?«

»Nein. Soviel ich weiß, wechseln sie kaum ein Wort miteinander.«

Es schien immer klarer und klarer zu werden. Trotzdem war Inspector Taverner sichtlich nicht glücklich.

»Was passt Ihnen an der Sache nicht?«, fragte ich ihn.

»Wenn sie es war, Mr Charles, dann wäre es für sie ein Leichtes gewesen, ein echtes Insulinfläschchen liegen zu lassen. Ja, wenn sie wirklich schuldig ist, kann ich mir beim besten Willen nicht denken, warum sie es nicht ganz genau so gemacht hat.«

»Ja, das wäre wirklich empfehlenswert gewesen. Viel Insulin im Haus?«

»Oh ja, und dazu auch etliche leere Fläschchen. Und wenn sie es so gemacht hätte, dann zehn zu eins, dass der Arzt nichts gemerkt hätte. Man weiß nur sehr wenig über die postmortalen Anzeichen einer Eserinvergiftung beim Menschen. So hat der Arzt aber das Insulin kontrolliert, für den Fall, dass es die falsche Stärke hatte oder etwas in der Richtung, und so hat er natürlich schnell gemerkt, dass es gar kein Insulin war.«

»Dann sieht es also danach aus«, sagte ich nachdenklich, »als ob Mrs Leonides entweder sehr dumm war oder möglicherweise äußerst gescheit.«

»Sie meinen …«

»Dass sie gerade darauf spekuliert haben könnte, dass Sie zu dem Schluss gelangen würden, niemand könne so dumm gewesen sein, wie sie gewesen zu sein scheint. Was sind die Alternativen? Irgendwelche anderen Verdächtigen?«

Mein alter Herr sagte ruhig:

»Praktisch jeder im Haus könnte es getan haben. Es gab immer einen ausreichenden Vorrat an Insulin – wenigstens für zwei Wochen. Eines der Fläschchen könnte entsprechend präpariert und dann zurückgelegt worden sein, sodass es früher oder später mit Sicherheit gebraucht worden wäre.«

»Und mehr oder weniger jeder hätte Zugang zu den Fläschchen gehabt?«

»Sie wurden nicht unter Verschluss gehalten. Sie wurden in einem eigenen Fach des Medizinschränkchens aufbewahrt, im Bad in seinem Teil des Hauses. Jeder Hausbewohner kam und ging, wie er wollte.«

»Irgendein starkes Motiv?«

Mein Vater seufzte.

»Mein lieber Charles. Aristide Leonides war ungeheuer reich. Es stimmt zwar, dass er einen großen Teil seines Geldes auf seine Angehörigen übertragen hatte, aber es ist ja möglich, dass jemand mehr wollte.«

»Aber diejenige, die am meisten wollte, dürfte die gegenwärtige Witwe sein. Hat ihr junger Mann Geld?«

»Nein. Arm wie eine Kirchenmaus.«

Da machte es in meinem Kopf klick. Ich erinnerte mich an Sophias Zitat. Und plötzlich erinnerte ich mich an den vollständigen Text des Kinderreims:

’s war mal ein krummer Mann, der lief ’ne krumme Stund’.

Er fand ’nen krummen Pfennig, nicht eckig und nicht rund.

Er hatt’ ’ne krumme Katze, die fing ’ne krumme Maus,

Und sie lebten allesamt in einem kleinen krummen Haus.

Ich fragte Taverner:

»Was halten Sie von ihr – Mrs Leonides? Wie ist Ihre Meinung über sie?«

Er antwortete zögernd:

»Es ist schwer zu sagen, sehr schwer zu sagen. Sie ist nicht leicht zu durchschauen. Sehr still, daher weiß man nie, was sie gerade denkt. Aber sie liebt das süße Leben, darauf gehe ich jede Wette ein. Erinnert mich an eine Katze, wissen Sie, eine dicke schnurrende stinkfaule Katze … Nicht dass ich das Geringste gegen Katzen hätte. Katzen sind in Ordnung …«

Er seufzte.

»Was wir brauchen«, sagte er, »ist ein Beweis.«

Ja, dachte ich, wir alle brauchten den Beweis dafür, dass Mrs Leonides ihren Ehemann vergiftet hatte. Sophia brauchte ihn, und ich brauchte ihn, und Chief-Inspector Taverner brauchte ihn.

Dann wäre alles eitel Sonnenschein!

Aber Sophia war sich nicht sicher, und ich war mir nicht sicher, und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass Taverner sich diesbezüglich sicher war.

4

Am folgenden Tag fuhr ich mit Taverner zum »Drei-Giebel-Haus«.

Ich befand mich in einer kuriosen Position. Sie war, gelinde gesagt, recht unorthodox. Aber mein alter Herr ist noch nie der Orthodoxesten einer gewesen.

Ich besaß einen gewissen Status. Zu Beginn des Krieges hatte ich beim Special Branch, der Abteilung für innere Sicherheit, von Scotland Yard gearbeitet.

Das hier war natürlich eine vollkommen andere Sache, aber meine früheren Leistungen hatten mir sozusagen einen »halbamtlichen« Status verschafft.

Mein Vater sagte:

»Wenn wir diesen Fall je lösen wollen, brauchen wir Interna. Wir müssen alles über die Bewohner des Hauses wissen. Wir müssen sie von innen her kennen – nicht die Außenansicht. Du bist der Mann, der uns diese Informationen beschaffen kann.«

Das passte mir nicht. Ich warf den Stummel meiner Zigarette in den Kamin und sagte:

»Bin ich also ein Polizeispitzel? Ist es so? Ich soll Sophia aushorchen, die ich liebe und die mich liebt und mir vertraut, wie ich zumindest glaube?«

Mein alter Herr wurde sehr ärgerlich. Er sagte in scharfem Ton:

»Herrje, nicht diese Gemeinplätze! Zunächst einmal – du glaubst doch nicht etwa, dass deine junge Frau ihren Großvater ermordet hat, oder?«

»Natürlich nicht! Die Vorstellung ist völlig absurd.«

»Schön, wir glauben es auch nicht. Sie ist ein paar Jahre im Ausland gewesen, sie hat sich mit ihm von jeher bestens verstanden. Sie bezieht eine sehr großzügige Rente, und er wäre vermutlich äußerst entzückt gewesen, von ihrer Verlobung mit dir zu erfahren, und sie hätte von ihm wahrscheinlich eine ansehnliche Mitgift bekommen. Wir verdächtigen sie nicht. Warum sollten wir? Aber eines steht fest: Wenn diese Angelegenheit nicht aufgeklärt wird, heiratet dich dieses Mädchen nicht. Nach dem, was du mir von ihr erzählt hast, bin ich mir dessen ziemlich sicher. Und glaub mir, das ist die Sorte von Verbrechen, die ohne weiteres niemals aufgeklärt werden könnte. Wir mögen uns ziemlich sicher sein, dass die Ehefrau und ihr junger Galan die Sache ausgeheckt haben, aber das zu beweisen wird ein ganz anderes Paar Stiefel sein. Bislang gibt es noch nicht einmal genug für eine Anklageerhebung. Und außer wir finden stichhaltige Beweise gegen die Witwe, wird immer ein hässlicher Zweifel zurückbleiben. Das ist dir doch klar, oder?«

Und ob mir das klar war.

Dann sagte mein alter Herr mit ruhiger Stimme:

»Warum überlässt du es nicht ihr?«

»Du meinst, ich soll Sophia fragen, ob ich …« Ich brach ab.

Mein alter Herr nickte energisch.

»Ja, ja. Ich verlange nicht von dir, dass du dich einschleichst, ohne dem Mädchen vorab zu sagen, was du vorhast. Hör dir an, was sie dazu zu sagen hat.«

Und so kam es, dass ich am darauffolgenden Tag zusammen mit Chief-Inspector Taverner und Detective-Sergeant Lamb nach Swinly Dean fuhr.

Ein kurzes Stück hinter dem Golfplatz bogen wir in eine Toreinfahrt ein, die vor dem Krieg vermutlich noch zwei imposante schmiedeeiserne Torflügel besessen hatte. Patriotismus oder rücksichtslose Requirierungsmaßnahmen hatten sie dahingerafft. Wir fuhren eine von Rhododendren gesäumte lange, geschwungene Auffahrt entlang und hielten schließlich auf dem bekiesten Vorplatz.

Das Haus war unglaublich! Ich fragte mich, warum man es Three