Das kuriose Ostwestfalen Buch - Bernd Gieseking - E-Book

Das kuriose Ostwestfalen Buch E-Book

Bernd Gieseking

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Beschreibung

Bernd Gieseking ist nach 30 Jahren zurückgekehrt nach Ostwestfalen-Lippe und macht sich auf, seine Heimat neu zu erkunden, eine Region, aus der man nicht »herkommt«, sondern »wech«. Mit dem geschärften Blick des Satirikers sucht er das Un­ge­wöhnliche im Alltäglichen und das Besondere im Gewohnten: Wer kennt schon das Bielefelder Kennhuhn oder das Deutsche Sackmuseum in Nieheim? Wer weiß genau, wer Arminius oder Widukind waren oder hätte gedacht, dass große Werke der Weltliteratur erstmals in Minden auf Deutsch erschienen? Bernd Gieseking notiert all diese Kuriositäten, spricht mit zahlreichen Prominenten aus OWL – von Jürgen von der Lippe bis Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – und scheut nicht den Selbstversuch: Er probiert das legen­däre Anballersse, das ostwestfälische Wundermittel aus Buttermilch, und beißt in einen Extertaler Katzenkopf. Dieses Lesebuch ist eine Liebeserklärung an eine allzu oft unterschätzte Region.

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Bernd Gieseking

DAS KURIOSEOSTWESTFALEN BUCH

SATYR VERLAG

Bernd Gieseking

(geb. 1958 in Minden-Kutenhausen) ist Kabarettist, Buch- und Kinderbuchautor. Nach Stationen in Kassel, Köln und Dortmund lebt er nun wieder in Minden. Er tourt durch die gesamte Republik und ist bekannt aus Radio und TV sowie durch seine taz-Kolumnen. Seine Finnland-Bücher bei Fischer, »Finne dich selbst«, »Das kuriose Finnland-Buch« und »Finne dein Glück«, wurden alle Bestseller.

E-Book-Ausgabe Februar 2024

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2024

www.satyr-verlag.de

Cover: Martina Lorenz/etageeins.de

Korrektorat: Matthias Höhne

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-910775-07-7

Inhalt

Moin auch!

Es ist furchtbar, aber es geht

Unbekanntes Ostwestfalen

Auf ein Wort: Thomas Lienenlüke

Wo ich wech bin

Auf dem Einwohnermeldeamt

Namen sind Schall und Brauch

»Und« und »Muss«

Meine fünfzig ostwestfälischen Lieblingswörter

Auf ein Wort: Wiglaf Droste

Zurück in der alten Welt

Stippgrütze und Anballersse

Schwatten und Schwarzbrot

Auf ein Wort: Murat Kayi

I love Pickert (Eine Ergänzung von Volker Surmann)

Nippen statt kippen!

Dafür nicht!

Das Zentrum der Welt

Indien oder Bochum: Gustav Peter Wöhler

Bielefeld ist das Hannover Ostwestfalens: Dietmar Wischmeyer

Weser und Willem: Martin Sonntag

Auf ein Wort: Dietmar Wischmeyer

Rot-Grün in Detmold

Die Schlacht am Teuto: Arminius

Auf ein Wort: Erwin Grosche

Die mit dem Bauch tanzt: Ella Carina Werner

Auf ein Wort: Stephan Rürup

Ein Hamburger aus Minden: Henning Venske

Method-Acting in Warburg: Sarah Hakenberg

Ostwestfälische Bodenhaftung Burkhard Schwenker

Der oberste Lipper: Frank-Walter Steinmeier

Ein Hauptstadtbesuch: bei der Regierungspräsidentin Anna Katharina Bölling

Mutterwitz

Von Flechthecken und alten Säcken

13 Fragen an Achim Post

Auf ein Wort: Dietmar Wischmeyer

Der Extertaler Katzenkopf, die Lippische Palme und die Mindener Einlochbohne

Auf ein Wort: Mutter und Tochter

Bio in Ostwestfalen

Auf ein Wort: Michael Ringel

Velocipede

Wie heißt die Straße?

Auf ein Wort: Lisa Feller

Vom Lippenblüter: Jürgen von der Lippe

Republik Bokelfenn

Die »Judenbuche« steht in OWL: Annette von Droste-Hülshoff

Eine Flasche Popcorn: Hans Wollschläger

Neues vom Schuhu: Peter Hille

Auf ein Wort: Michael Kienecker

Die Zeitmaschine landet in Minden: J.C.C. Bruns

Mademoiselle Docteur: Elsbeth Schragmüller

13 Fragen an Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Von den Bohrmaschinen

Havarie in Rheda: Luigi Colani

Wundersames Wirtschaftswunderland

Auf ein Wort: Jörg Sundermeier

Meine »Big Five« in OWL

Die Bielefeld-Verschwörung? Gibt’s doch gar nicht!

Der Bäcker aus Bielefeld: Rüdiger Nehberg

Ein Klassentreffen: Ingolf Lück und Jürgen Rittershaus

»Dreck« aus Bielefeld

Heute hier, morgen dort: Hannes Wader

Auf ein Wort: Hans Zippert

Vom Tünsel: ein Nachruf auf Wiglaf Droste

Vom Glück

Die Quadriga auf Reisen: Martin Quilitz

Die 36 Ansichten des Kaisers: Sebastian Krämer

Die mit den Rindern spricht

Auf ein Wort: Volker Surmann

Bielefelder Kennhuhn, Westfälischer Totleger und das Monster von Minden Minden

Die Storchenhauptstadt

Auf ein Wort: Fritz Eckenga

Hennes IX.

Vom Erben

Forever Young: Alphaville

Auf ein Wort: Bernadette La Hengst

Stadt. Land. Pop. – Die Hamburger Schule

Lucky in Lahde: Curse

Glück zu!

13 Fragen an Steffen Kampeter

Ostwestfälischer Küchen-Clash

Der Nelkenstädter Paradiesblick: Dagmar Schönleber

Zwei Ostwestfalen in der Schweiz: Ingo Börchers

Auf ein Wort: Pit Knorr

13 Fragen an Britta Haßelmann

Pinsel und Pudding: Volker Surmann

Entdeckung auf den dritten, vierten, fünften Blick: Erwin Grosche

Auf ein Wort: Martin Sonntag

Macht hoch die Tür …

Eine Finnin in Ostwestfalen

Penible Ablage

Ostwestfalen gibt es gar nicht

Wir gehören zu den Guten

Identität ist ein Konstrukt: Von Westfalen, Engern und Ostfalen

Auf ein Wort: Carla Berling

Epilog: Faszinierendes Ostwestfalen

Dank

Quellen

Für Rita

Ein Ostwestfale mit einem Papagei auf der Schulter kommt in die Kneipe und stellt sich an die Theke.

Fragt der Wirt: »Kann der sprechen?«

Sagt der Papagei: »Ganz wenig.«

Moin auch!

Herzlich willkommen im »kuriosen Ostwestfalen«. Ich bin selber einer: ein waschechter Ostwestfale aus Minden. Aufgewachsen »auf dem Dorf«. So sagt man bei uns. Es gibt hier einige sprachliche Eigenheiten. Dazu gehört, nicht »im« Dorf aufzuwachsen, sondern »auf dem Dorf« zu leben. Beziehungsweise »auf’em Dorf«. Es werden nicht alle Buchstaben gesprochen, die man zur Verfügung hätte.

Typisch ist auch: Hier aus Ostwestfalen kommt man nur »wech« und nicht »her«.

»Wo kommst du her?«, sagt niemand, der dieser Region entstammt. Die korrekte Frage lautet: »Wo bist du denn wech?« An dieser Frage erkennen wir Ostwestfalen uns in der gesamten Welt, in deutschen Metropolen genauso wie an internationalen Reisezielen.

Bei den Mahlzeiten isst man den Teller »auf« und nicht »leer«. »Iss deinen Teller auf!«, das bekamen wir als Kinder immer wieder zu hören. »Du stehst nicht eher auf, als bis du den ganzen Teller ganz aufgegessen hast!« Trotzdem waren alle froh, wenn das Porzellan hinterher noch da war.

Wir in Ostwestfalen fahren »nach Omma«. Nicht »zu« ihr! Und wir sprechen bei »Omma« das »O« eher wie das »o« in »olfaktorisch« als das in »oder«. Und wir sprechen das Kosewort für die Großmutter dazu mit Doppel-»m«. Bei Ausflügen gehen wir »in’n Berch«. Nie »auf den«. Und jedes »g« am Wortende ist uns ein weiches »ch«. Berch. Zwerch. Bei »Wech« (Weg) und »Stech« (Steg) klingt es, als hätten wir zudem ein zweites »e« eingefügt. Nur beim »Cousin«, der bei uns »Koseng« heißt, da sind wir Ostwestfalen uneins. Die einen sprechen ihn mit deutlichem »k« am Ende, »Kosenk«. Die meisten aber sprechen ausnahmsweise das »g« im »Koseng« mit, zumindest fast. Wir Ostwestfalen hören es, für andere ist es nicht erkennbar artikuliert, als sei es am Gaumen kleben geblieben wie ein Stück Mamba oder ein RIESEN-Karamell.

Diese beiden Kaubonbons sind übrigens aus dem Hause Storck – wie auch Merci, Dickmann’s, Werther’s Original, nimm2, Knoppers und Toffifee. Die Firma kommt aus Ostwestfalen! In Deutschland gehört das Unternehmen zu den zwei größten Süßwarenproduzenten, weltweit zählt es zu den 15 führenden. Inzwischen ist Berlin der offizielle Firmensitz, aber das Hauptwerk steht weiter in Halle! Gegründet wurde das Werk nebenan in Werther. Ich war wie vom Donner gerührt, als mir das bei den Recherchen zu diesem Buch klar wurde. Werther’s Echte stammen aus Werther bei Bielefeld. In Werther hatte ich mal auf einer Baustelle als Zimmermann gearbeitet. Wir hatten nicht geahnt, den Sahne-Bonbons so nah gewesen zu sein. Keine Sorte mochte mein Vater Hermann lieber. Die hatte er auf jedem Weihnachtsschlickerteller liegen, von seiner Frau Ilse, »unser Mudder«, als Zeichen der Liebe gekauft, auch noch am letzten Heiligabend, den er erlebte. »Schlickern« ist übrigens eines meiner liebsten Verben aus Ostwestfalen, es bedeutet »Süßigkeiten essen« (siehe S. 37).

Natürlich habe ich mir im Rahmen meiner Recherche für dieses Buch sämtliche Storck-Produkte gekauft, habe sie verkostet und geprüft: ein Plus von 1,2 Kilo auf meiner Waage. Eine gewichtige Namensänderung der Bonbons war mir bis dahin gar nicht aufgefallen. »Werther’s Echte« sind nicht mehr am Markt, stattdessen gibt es, absolut identisch, »Werther’s Original«. Die Umbenennung ist schnell und logisch erklärt: Nur in Deutschland, der Schweiz und Österreich hießen die Bonbons Werther’s Echte. 1998 hat man Storcks weltweit erfolgreichste Marke dann »internationalisiert« in »Werther’s Original«. Jetzt schlickert man rund um den Globus unter gleichem Namen.

Mich faszinieren solche kleinen Geschichten. Das alles kann man subsumieren unter »unnützes Wissen«. Ich sehe darin ein vielleicht »nerdiges«, aber letztlich von Faszination und Begeisterung getragenes Interesse an Kultur und Kuriositäten. Ich bin Jäger und Sammler solcher Seltsamkeiten und Ostwestfalen hat jede Menge davon.

Derlei sonderbar-kuriose Dinge habe ich schon einmal zusammengetragen. Für mein »Das kuriose Finnland-Buch – Was Reiseführer verschweigen« war ich die gesamte Außengrenze Finnlands von innen abgereist und hatte alles an Wissenswertem zusammengetragen, was mir auf diesen 3.944 Kilometern begegnet ist. Inzwischen weiß ich jede Menge über Finnland: dass dieses Volk mit 5,5 Millionen Einwohnern angeblich 3,3 Millionen Saunen besitzt, dass die finnische Saunakultur inzwischen zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe zählt, dass Finnland gar nicht das sprichwörtliche »Land der tausend Seen« ist, es sind exakt 187.880. Drei Bücher habe ich über Reisen in dieses nordische Paradies geschrieben, als letztes »Finne dein Glück«, in dem ich der Frage nachging, warum die Finnen zum inzwischen sechsten Mal hintereinander Erste im »World Happiness Report« geworden sind!

Mein erstes Buch heißt »Finne dich selbst! – Mit den Eltern auf dem Rücksitz ins Land der Rentiere«. Es beschreibt eine Reise zu meinem damals in Lahti wohnenden Bruder Axel. Eine Fahrt, die uns als Familie sehr eng zusammenbrachte, nach den Jahrzehnten, in denen wir als Söhne nur selten zu Hause gewesen waren – in Minden-Kutenhausen, in Ostwestfalen.

Ich kam zu dem Fazit: Der Finne ist der Ostwestfale Europas! Darum auch hatte mein Bruder sich so leicht in eine Finnin verlieben können. Ich schrieb: »Es ist eine barrierefreie Verbindung. Es mussten keine großen kulturellen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Die Zahl der möglichen und tatsächlichen Missverständnisse ist begrenzt, denn man ist verwandt in Wesen und Sein.«

Die Finnen und wir Ostwestfalen können wunderbar zusammen schweigen und erzählen uns dabei viel und verstehen einander, ohne ein Wort zu sagen.

Wenn ich mit den drei Finnland-Büchern auf Tournee bin, erzähle ich auch von meiner Heimat und betone dabei immer wieder meine Wurzeln. Ich trage das Ostwestfälische mit Stolz vor mir her, wenn ich in Bühnenprogrammen als Kabarettist oder in Büchern als Schriftsteller Biografisches erzähle. Doch es wurde mir immer klarer, dass das wenige, was ich über Ostwestfalen weiß, inzwischen kaum mithalten kann mit meinem Wissen um die Besonderheiten und Skurrilitäten Finnlands. Dann zog ich, nie erwartet, nie gewollt und für mich selber überraschend, wieder zurück nach Minden.

In der Folge unserer Familienreise nach Lahti war der Kontakt untereinander enger geworden. Dadurch wurde auch das Wissen, das Bewusstsein um Alter und die »Malessen« meiner Eltern mehr. Ich war vor einigen Jahrzehnten selig von Minden in die Welt gezogen und hatte die vermeintliche Enge von Dorf und Kleinstadt hinter mir gelassen. Ich lebte dann mehr als zwanzig Jahre in Kassel und stürzte mich damals in das pulsierende Leben dieser erwachenden Universitäts- und Kulturstadt. Ich wurde Kabarettist und bereiste mit meinen Programmen Bühnen in der gesamten Republik. Ich zog nach Köln, dann nach Dortmund, arbeitete für den WDR- und den HR-Hörfunk im Feld Unterhaltung, schrieb Kinderhörspiele und war entweder auf Reisen oder auf Tournee, aber nur noch selten in Westfalen. Wenn ich kam, hatte ich meistens einen Auftritt in der Gegend oder anfangs noch Gelegenheitsjobs als Zimmermann zu erledigen. Ich besuchte kurz meine Eltern und die engsten Freunde, und dann war ich auch schon wieder weg. Sobald ich es mir leisten konnte, übernachtete ich im Hotel und nicht mehr »zu Hause«. Ich war eher auf Stippvisite als zu Besuch. Ich mähte keinen Rasen und half quasi bei nichts, sondern ließ mich von Mutter Ilse bekochen, während ich am Motorrad schraubte. So ging es lange Jahre.

Als dann mein Vater Hermann schwer stürzte, mit mehreren Rippenbrüchen, bekam ich, damals glücklich in Dortmund lebend, plötzlich ein schlechtes Gewissen. Ich stellte mir für drei Monate einen Wohnwagen in den Garten meiner Eltern, um die beiden nach dem Unfall zu unterstützen. Am Tag meiner Ankunft sagte meine Mutter prophetisch: »Hoffentlich müssen wir nicht in die Kur, wenn du wieder weg bist.«

Meine Eltern waren fitter als befürchtet und ich langsamer als gedacht. Am Ende dieser zwölf Wochen überredete mich meine Lektorin, die Erfahrungen dieser Zeit aufzuschreiben. Sie erschienen als Buch unter dem Titel »Früher hab ich nur mein Motorrad gepflegt«.

In diesen drei Monaten hatte ich gemerkt, wie dünn das Eis war, auf dem meine Eltern nun schon seit geraumer Zeit liefen. Ihre Zeiten mit Toeloop, Salchow und dreifachem Rittberger waren definitiv vorbei.

Plötzlich hatte ich einen komplett neuen Gedanken: Ich überlegte, ob ich von Dortmund nach Minden ziehen sollte und wollte, um meine Eltern etwas zu unterstützen. Ich würde damit auch den Weg zu meiner in Hannover wohnenden Lebensgefährtin erheblich verkürzen. Ich fragte Ute und Uli, meine Jugendfreunde in Minden, enge Vertraute und Weggefährten, ob sie mich eventuell, perspektivisch, langfristig gesehen als Mieter akzeptieren würden. Sie erzählten mir, ihr ältester Sohn Philipp plane, mit seiner Familie zu bauen, ich solle mir doch mal deren Wohnung ansehen. Die war – und ist – ein Traum: mit Blick auf die Porta und den »Willem«, das Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Und was noch besser war: Ich wurde als Mieter akzeptiert. Wir kamen überein, dass ich die Wohnung würde übernehmen können. »Nächsten Herbst«, hieß es. Was für mich, den Zimmermann, bedeutete, dass Philipp und die seinen ihr neues Haus nicht vor dem darauffolgenden Frühjahr bezugsfertig bekommen würden. Könnte auch gut Sommer werden, dachte ich. Aber auch Philipp ist Zimmermann. Im September erfuhr ich, für mich überraschend, für Philipp »normal, hatte ich doch gesacht!«, dass ich zum 1.12. würde einziehen können. Am 25.11. begann meine Wintertournee mit meinem Jahresrückblick »Ab dafür«. Ich zog mittendrin um. Fast überstürzt verließ ich Dortmund. Davon wird im Folgenden noch die Rede sein. Ich ließ all mein Hab und Gut in Kisten packen, während ich noch Texte schrieb, schon die ersten Auftritte absolvierte und die Tournee umplante, jetzt mit neuen Reiserouten. Von Minden aus war vieles weiter als vom zentral gelegenen Ruhrgebiet. Neue Hotels mussten gefunden werden.

Und der Umzug wollte geplant sein. Über zweihundert Kisten brachte das Umzugsunternehmen am Tag X nach Minden. Ich wohnte fortan zwischen ihnen. Bis heute sind nicht alle »entpackt«. Seither lebe ich wieder in Ostwestfalen-Lippe.

Eine wunderbare Gegend. Man grüßt sich. Man grüßt jeden. Wer sich nicht grüßt, gilt als Stiesel. Die meisten, und längst nicht mehr nur die mit plattdeutschem Hintergrund, sagen zumindest im nördlichen Ostwestfalen: »Moin auch.« Das »auch« ist wichtig, es geht aber auch ohne. Auf keinen Fall aber »Moin, Moin«, das gehört dem Norden, den Küsten. »Moin« sagt man bei uns ganztägig, nicht nur am Morgen. Es bedeutet eher »Hallo« als »Guten Morgen«. »Moinsen« ist selten, das gab es früher gar nicht in Ostwestfalen und wurde hier erst durch Kommissar Thiel aus dem Münster-Tatort populär. Ein eingewanderter Gruß quasi, aber schnell integriert. Ewig gültig bleibt außerdem die Variante »Tach auch!«.

Es ist furchtbar, aber es geht

Ich war eingeladen, im Rahmen der »Holztage im Mindener Wald« unter dem Motto »Klima, Umwelt, Region« zu reden. Es gab dort ein reichhaltiges Familienprogramm, aber auch Fachaussteller, Nutzfahrzeuge, Motorsägen-Skulpturen, »Speedcarving«-Wettbewerbe, Waldexkursionen und Waldbaden, Umweltaktivisten klärten auf, ein buntes Kaleidoskop von Aktivitäten rund um das Thema Holz.

Ich sollte einen kabarettistischen Beitrag machen zur offiziellen Eröffnungsveranstaltung, erwartet wurde auch die damalige NRW-Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur und Verbraucherschutz, Frau Ursula Heinen-Esser von der CDU – die übrigens, wie ich, an einem 7. Oktober geboren ist, und zwar in Köln. Da hatte ich mal gelebt. Ich nahm das zum Anlass, über das Verhältnis zwischen uns Westfalen und den Rheinländern nachzudenken:

»Nordrhein-Westfalen wurde am 23. August 1946 gegründet. In diesem Bundesland bin ich geboren und nach kurzem Aufenthalt als Entwicklungs- und Bewährungshelfer in Hessen wohne ich dort wieder! Und es ist herrlich hier! Eigentlich! Denn NRW ist ein völlig unsinniges Bundesland. NRW haben sich die Briten ausgedacht und da haben sie zusammengefügt, was nun wirklich nicht zusammengehört: Nordrhein und Westfalen. Ein größerer kultureller Unterschied ist nicht denkbar. Auf der einen Seite die bodenschweren Westfalen im Verbund mit den tiefgründigen Ostwestfalen und den vernünftigen, weil sparsamen Lippern. Auf der anderen Seite die sinnlos karnevalisierenden Rheinländer rund um Köln und Landeshauptstadt Düsseldorf bis rüber nach Aachen. Was sollen diese willkürlich in einem Bundesland verbundenen Bevölkerungsgruppen, die nur durch Zufälle der Weltgeschichte nebeneinander wohnen, miteinander anfangen?

Zum ersten Mal dachte ich: Warum sind wir, die Ostwestfalen 1949 eigentlich kein eigenes Bundesland geworden? Wir allein haben doppelt so viele Einwohner wie das Saarland! Stattdessen müssen wir uns jetzt mit allen rumärgern, die sonst noch in NRW wohnen. Das Sauerland ist ja noch ganz okay. Die sind verschwiegen wie wir. Das Ruhrgebiet geht auch noch. Lünen, Dortmund. Witten.

Aber spätestens ab Wuppertal ist es vorbei. Und dann kommen erst Köln und Bonn. Der Kölner ist quasi der Jamaikaner der Bundesrepublik, immer ein Lied auf den Lippen, nur leider kein Reggae. ›Ja, da simmer dabei.‹ Dat is aber nicht prima. Es ist schrecklich, dass die dabei sind! Selbstbesoffen von den kleinsten Bieren der Welt, fristet der Kölner sein karges Dasein jährlich, bis er am 11.11. sich entpuppt, dann ist es wieder so weit und er geht als Lappenclown auf die Straße. Das ist sein wahres Ich – Lappenclown!

Weil es sonst mit dem anderen Geschlecht nicht läuft, wird wenigstens an Karneval gebützt! Gebützt? Es wird wild geküsst. Man küsst jeden, der nicht bei drei auf dem Baum ist. Bei uns in Ostwestfalen ist ein Kuss ein Heiratsversprechen. Immer noch. Und auch schon ohne Zunge. Dieses Versprechen wird nicht unbedingt gehalten, aber versprochen ist erst mal versprochen.

Rheinland und Westfalen, das ist an und für sich ein Unding. Eine Fehlkonstruktion. Rheinländer und Westfalen sind viel zu verschieden, als dass sie eins und einig werden könnten. Aber beide Bevölkerungsgruppen sind je nachdem tolerant oder ignorant. Die einen plappern, die anderen schweigen. Und keiner hört dem anderen dabei zu, obwohl der Westfale auch im Schweigen mehr erzählt, als der Rheinländer in einer halben Stunde sagt.

1995 schon machten Jürgen Becker und Rüdiger Hoffmann darüber ein Kabarettprogramm. Ihr Titel gilt bis heute: ›Es ist furchtbar, aber es geht!‹«

Als ich diesen kleinen Text schrieb, wurde mir erneut klar: Ich weiß leider gar nicht viel über das von mir so hochgelobte und geliebte Ostwestfalen. Und über Lippe schon gar nichts. Über Finnland konnte ich inzwischen fünf Stunden referieren ohne Pause. Über OWL keine fünf Minuten. Das galt es zu ändern.

Unbekanntes Ostwestfalen

Immer wenn ich nun jemandem erzählte, dass ich in meine Heimat zurückgezogen sei, kamen erstaunliche Reaktionen. »Toll, dass du das machst wegen deiner Eltern«, hörte ich dann oft. Ich dachte eher: Ach du liebe Zeit, was habe ich denn da gemacht? Und meine Eltern sagten immer wieder: »Wegen uns hättest du das nicht machen müssen.«

Meine Hilfe war auch nicht jederzeit willkommen. Wollte ich meiner Mutter nur aus dem Mantel helfen, donnerte sie stolz: »Loat datt siern, ick bin kein old Wief!«

Dann kam irgendwann Corona. Der Gesundheitszustand meines Vaters verschlechterte sich, der meiner Mutter war auch nicht der beste. Das Hören, die Augen, Herzkrankheiten, Parkinson bei ihm, Morbus Menière, also Schwindel bei ihr, Krankenhausaufenthalte. Wenn ich alle Malessen beider aufzählen würde, wäre dieses Buch voll. Nun war es wirklich sinnvoll, vor Ort zu sein. Corona verhinderte Auftritte und ermöglichte Begleitung. Aber meine Kunst! Mein Beruf! Die blieben auf der Strecke. Das Schreiben! Ich suchte ein neues Thema. Ich wurde etwas unruhig. Ich reiste – soweit Abstandsregeln und Hygienekonzepte es zuließen – während der Pandemie hier und da zu Auftritten, mit meinem Jahresrückblick, den Finnland-Programmen, und erzählte darin immer wieder kurz von der Rückkehr nach Ostwestfalen. Das Publikum lachte und war unterhalten. Und dann wurde mir klar: Ich wusste fast gar nichts über Ostwestfalen. Über Lippe. Ich begann, mich zu interessieren. Vor zwanzig Jahren hatte ich ein Hörfunk-Feature für den WDR gemacht: »Ostwestfalien Aliens – ein Landstrich schlägt zurück«. Ich war der Frage nachgegangen, warum so viele Künstler aus dem komischen Feld aus Ostwestfalen stammen. Ich las noch einmal das Manuskript.

Langsam, aber immer klarer zeichnete sich die Idee ab: Ich muss mir Ostwestfalen erschließen, wie ich Finnland entdeckt habe. Ich besprach die Idee vor allem mit zwei Niedersachsen, mit meiner Lebensgefährtin Rita und mit Freund und Kollege Dietmar Wischmeyer, einem Ostwestfalenexperten par excellence. Beide ermutigten mich. Nur meine Mutter schüttelte den Kopf: »Wer schall dat läsen?« Mein damals noch lebender Vater sagte: »Dat well doch keiner wiarten!«

Ich machte einen Plan. Dieses Mal würde ich nicht die Außengrenzen abreisen, sondern Tagestouren machen, mich Zufällen überlassen, Begegnungen herbeiführen, Ostwestfalen-Lippe bereisen. Reden, recherchieren, lesen. Ich würde mich dabei, wie beim Glücks-Buch über Finnland, hauptsächlich den Impulsen, dem Zufall überlassen. Reagieren auf das Kippen der Dominosteine und so hoffentlich auch auf ungewöhnliche Fährten kommen. Dieses Mal war ich nicht auf einer kompakten, mehrwöchigen Reise, ich habe vielmehr monatelang kleine Expeditionen gemacht.

Geführt hat mich meine eigene Faszination, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, dazu sollte meine Reise zu subjektiv sein. Außerdem ist mein geschichtliches Interesse nicht sehr ausgeprägt. Ich bin Satiriker, kein Historiker. Ich wollte auch kein Buch schreiben, wie es schon andere gab. Keine 111 Orte oder 55 Highlights, keine fünfzig Geheimnisse.

Dies ist der Bericht einer Rückkehr und zahlreicher Entdeckungen in einer Heimat, über die ich fast nichts wusste.

Dieses Buch müsste eigentlich heißen: »Das kuriose Ostwestfalen-Lippe-Buch«. Ich habe mich entschieden, »Lippe« im Titel zu unterschlagen. Aber auf gar keinen Fall im Buch und auch nicht im Herzen. Ostwestfalen-Lippe, kurz OWL, wir gehören zusammen wie Max und Moritz, die übrigens »ganz eigentlich« auch Ostwestfalen sind! Wilhelm Busch stammt aus Wiedensahl, dem ersten Dorf hinter der ostwestfälischniedersächsischen Grenze bei Lahde, also genau genommen Ost-Ostwestfalen. Da sind die einen von hier wie die anderen von dort. Für wirkliche Wesensunterschiede müsste mindestens ein kompletter Landkreis dazwischenliegen.

Die Verkürzung auf »Das kuriose Ostwestfalen-Buch« klingt kompakter. Trotzdem wäre Ostwestfalen ohne Lippe wie ein Auto ohne Räder, wie ein Haus ohne Dach, wie eine Schippe ohne Stiel. In jeder Hinsicht, wirtschaftlich und kulturell gehören wir zusammen und gemeinsam sind wir unschlagbar!

Auf ein Wort:

»Mein Vater ist ein typischer Ostwestfale. Wenn der sagt: ›Da in der Mauer ist ein Loch‹, dann rennt er so lange gegen die Wand, bis da eins ist!«

Thomas Lienenlüke, aus Bielefeld stammend, in Köln lebend, einer der wichtigsten Autoren für Kabarett und satirische TV-Formate

Wo ich wech bin

Ich stamme aus Minden und dort aus dem nördlich gelegenen Dörfchen Kutenhausen, mit dem Nachbardorf Todtenhausen sind wir zweieiige Zwillinge. Wir teilen uns die Kirche und den Sportverein, SVKT, Spielvereinigung Kutenhausen/Todtenhausen. Aber jedes der beiden Dörfer hat einen eigenen Schützenverein und damit auch ein eigenes Schützenfest.

Ich bin Ostwestfale, aber nördlich der Gebirgszüge, des Wesergebirges rechts von der Weser und des Wiehengebirges links der Weser, geboren. Am Anfang der Norddeutschen Tiefebene. Hier endet Nordrhein-Westfalen, hier ist der nordöstliche Zipfel. Hier ist das gelobte OWL. Wir hier wohnen im Kreis Minden-Lübbecke, der sich stolz »Mühlenkreis« nennt mit 43 restaurierten und größtenteils funktionsfähigen Mühlen.

Auf das Wiehengebirge schaue ich täglich, ich sehe es von meinem Wohnzimmer aus. Der Volksmund sagt: »Wiehengebirge, weil es wie’n Gebirge aussieht.« Von der anderen, der südlichen Seite des Berges, habe ich kaum je etwas erfahren, obwohl OWL da im Grunde erst richtig beginnt. Wir fuhren samstagnachts eher noch schnell Richtung Norden zum Hamburger Fischmarkt als in die Disco nach Bielefeld. Bad Oeynhausen, Herford und der »Rest« von Ostwestfalen, Lippe sowieso, das alles liegt für uns »achtern Berge«, hinter dem Berg. Das wiederum sagen drüben die Oeynhauser über uns. Eigentlich weiß ich wenig von den Menschen dort, den Tieren und Sensationen. Bevor ich mit diesem Buch begann, wusste ich nichts vom Bielefelder Kennhuhn, vom Extertaler Katzenkopf, vom Sackmuseum in Nieheim oder dem zweifachen Besuch der Berliner Quadriga in Rietberg und vielem anderen.

Ich will aber nicht nur beschreiben, was ich fand und entdeckte. Ich möchte die Ostwestfalen, diese Menschen mit dem feinen, oft rabenschwarzen Humor auch selber sprechen lassen. Die typischsten, die ich kenne, sind meine Eltern. Schon in meinen Büchern »Finne dich selbst!« und »Früher hab ich nur mein Motorrad gepflegt« schrieb ich über sie. »Das kuriose Ostwestfalen-Buch« vollendet in gewissem Sinn auch eine Trilogie über meine Eltern. Inzwischen ist mein Vater Hermann verstorben, im Buch kommt er zusammen mit meiner Mutter Ilse immer wieder mal zu Wort, in »ostwestfälischen Dialogen«, mit Einlassungen und Zwischenrufen, mit dem so typisch trockenen Witz, als habe Loriot ihnen die Sätze geschrieben. Die Ostwestfalen wären großartige Komiker – wenn es sie auf die Bühne zöge. Und die unter ihnen, die das als Berufsfeld gewählt haben, sind es tatsächlich.

In diesem Buch kommen Prominente zu Wort und Unbekannte. Sie gaben mir Interviews oder machen Einwürfe.

Ganz besonders stellte ich mir die Frage: Warum kommen so viele Humorschaffende aus OWL? Komiker, Autoren, Satiriker, Kabarettisten, Comedians, Cartoonisten, Karikaturisten. Die Liste ist unendlich.

Ich bin verschiedenen weiteren Fragen nachgegangen. Wer sind diese sagenumwobenen Lipper? Gibt es einen Unterschied zu den legendären Ostwestfalen? Was soll das überhaupt sein, dieses Ost-West-Falen? Wiglaf Droste schrieb in seinem Text »Tünseliges Ostwestfalen«: »Von Harry Rowohlt stammt der Hinweis, dass Ostwestfalen ein Unsinnswort sei – Ost und West subtrahierten sich wechselseitig, und übrig bliebe: Falen. Falen ist aber kein anständiger Name für einen Landstrich. Außerdem spricht sich Ostwestfalen umständlicher und langsamer als Falen und passt deshalb sehr gut zu seinen Bewohnern, die schon zum Frühstück Schlachteplatte essen können und das dann leckö finden. Wenn Kinder in Ostwestfalen spielen, heißt das kalbern, da ist das Herumalbern schon mit drin. Machen sie Quatsch, dölmern sie und sind analog Dölmer; toben und lärmen sie, dann heißt es bald: Hört auf zu ramentern!«

Diese Wortwahl bedeutet für mich Heimat. Wenn man von hier stammt, also wechkommt, oder aufgewachsen ist, kennt man das und entschlüsselt auch im Tonfall die Bedeutung. Für andere grenzt das an eine Fremdsprache. Wir haben tatsächlich für einiges ganz eigene Wörter, die teils aus dem Plattdeutschen in die Umgangssprache übergegangen sind. Die Sprichwörter und Sinnsprüche sind präzis, als hätten Philosophen sie formuliert. Ist irgendwo Unordnung, sagt meine Mutter Ilse: »Doar find sierben Katten keine Mus!«

»Das kuriose Ostwestfalen-Buch« will huldigen. Und es ist auf keinen Fall vollständig! So viel mehr hätte erkundet werden, so viel mehr hätte beschrieben werden können. So viele mehr hätte ich zu Wort kommen lassen wollen. Aber die Seitenzahl eines jeden Buches ist endlich und vielleicht gibt es ja mal einen zweiten Band. In meiner Auswahl liegt keine Ablehnung. Ich bin zuvorderst einfach meinen Interessen nachgegangen, auch in der Recherche, bin dabei oft Zufällen gefolgt. Ich habe alte Freunde und Bekannte besucht und neue Gefährtinnen und Gefährten gefunden. Ich habe mir Vertrautes neu entdeckt und bin überall Neuem, Unbekanntem, Faszinierendem begegnet.

Viele waren bereit, mir ihr Wissen zu schenken, Geschichten zu teilen, oder gaben Tipps. Ich möchte ein Kaleidoskop des – für mich – kuriosen Ostwestfalen-Lippe zeigen. Dieses ursprünglich griechische Wort Kaleidoskop ist ganz wunderbar, denn es bedeutet etwa: »schöne Formen sehen«.

Manchmal – das habe ich oben angekündigt – lasse ich im Buch aus klanglichen Gründen »Lippe« weg. Bitte ergänzen Sie das still, ebenso wenn ich nicht immer die weibliche und männliche Form nenne. Der Lesefluss ist mir so lieb wie Weser, Lippe, Ems und Pader.

Wenn ich von Ostwestfalen rede, meine ich immer uns alle, diese knorrigen, widerständigen, wunderbaren, oft unterschätzten Menschen in einem faszinierenden Landstrich. Leute mit trockenstem Humor und größter Zuverlässigkeit. Menschen, die oft schweigen. Es sei denn, es gibt was zu sagen.

Über sie zu sagen gibt es jede Menge.

Also sprechen wir von ihnen, von uns, vom kuriosen Ostwestfalen-Lippe. Und über meinen Weg, meine Rückkehr dorthin.

Auf dem Einwohnermeldeamt

12. Dezember. Nun bin ich erstmals in Minden in der neuen Wohnung aufgewacht und sitze zwischen den Kartons. Mein erster Tag nach dem Umzug.

Ich fühle mich verloren in diesen schmalen Gängen, die die Möbelpacker gelassen haben, um noch ein Fenster öffnen zu können. Ich schaue an den Kartonstapeln zur Zimmerdecke hoch und fühle mich klein wie in den Straßenschluchten von New York.

Meine Eltern schauen vorbei und suchen, erschöpft vom Treppenaufstieg, nach einer Sitzgelegenheit. Ich hebe einen Karton von ganz oben herunter und setze die beiden darauf.

»Wägen us mösst du datt nich moaken!«

Meine Mutter wiederholt das wie ein Mantra. Auch jetzt noch, wo ich es längst gemacht habe und sie in meiner neuen Wohnung sitzt. Mein Vater ermahnt sie: »Nu is hei doch oll hier und ümmetoagen. Und de Woagen is ok oal wäge.« (Nu ist er doch schon hier. Und der Umzugswagen ist auch schon weg!)

»Er«, das bin ich. Mein Umzugswagen hat angeblich 240 Kisten gebracht. Jedenfalls wird diese Zahl schon in einer Woche auf meiner Rechnung stehen. Ich weiß das jetzt noch nicht, aber das wird meine erste Post in der neuen Wohnung werden.

2. Januar: Mit den 240 Kartons wohne ich nun schon seit drei Wochen in Minden. In meiner Heimatstadt. Dabei hätte ich mir nie vorstellen können, jemals wieder zurückzugehen. Meine Mutter hat ihr Mantra inzwischen in den Konjunktiv gesetzt: »Wägen us härst du datt nicht moaken mösst!«

Am ersten Werktag des neuen Jahres gehe ich morgens um halb acht durch die Stadt, um mich anzumelden. Kein Mensch ist auf den Gassen. Für jemanden, der aus Dortmund kommt, ein seltsamer Anblick. Ich gehe am alten Rathauseingang vorbei, aber hier ist um kurz vor acht die Stadt noch verrammelt und verriegelt. Einzig die Tür zum Dom steht auf. Das ist beruhigend, denn der Glaube hat ja keine Zeit, die Stadtverwaltung schon.

Ich gehe zum Seiteneingang des Rathauses. Ich bin gespannt, ob das Einwohnermeldeamt noch da ist, wo es früher mal war. Jetzt ist die Tür zum Amt überraschenderweise so offen wie das Domportal. Es ist Punkt acht. Am ersten Arbeitstag des Jahres ziehe ich die laufende Nummer zehn, die Fünf ist bereits aufgerufen. Einige waren also noch früher wach als ich. Und an allen Schaltern ist Betrieb. Ich bin beeindruckt vom frühmorgendlichen Fleiß der Ostwestfalen schon am ersten Arbeitstag des Jahres.

Ich sitze, starre auf die Anzeigetafel und weiß gar nicht, ob jetzt ein neues Paradies auf mich wartet oder ob das letzte Abendbrot in Dortmund eine Henkersmahlzeit war. Meine Gedanken jagen sich: »Last supper! Gehe direkt in das Gefängnis, gehe nicht über Los, ziehe keine 4.000 Euro ein.«

Nummer neun wird aufgerufen. Noch könnte ich die Möbelpacker anrufen und sagen, sie sollen alles wieder abholen und zurückbringen. Moment! Seit gestern gehört mir meine alte Wohnung in Dortmund nicht mehr.

Die Zehn wird angezeigt! An Schalter eins. Die Dame kennt mich, ohne auf den Ausweis zu schauen. Das ist hier so. Man kennt sich, also kennt man auch mich. Außerdem habe ich einen zu öffentlichen Beruf. Nett und routiniert werde ich angemeldet. Dann schaue ich sie an und sie mich. Wir schweigen kurz. Dann sagt sie freundlich: »Bitte?«

Ich blicke sie weiter erwartungsvoll an.

Sie sagt: »Das war es eigentlich, Herr Gieseking.«

Ich frage: »Und das Begrüßungspaket?«

Sie wird etwas rot und sagt: »Äh, so etwas haben wir nicht.«

»Da hatte ich aber fest mit gerechnet. Also, schon drauf gehofft.«

»Früher hatten wir mal so was. Ich glaube, das ist eingespart worden.«

Ich sage leise: »Nicht mal einen Stadtplan?«

Sie sieht meine Enttäuschung, überlegt kurz und sagt: »Das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist der Abfallkalender für dieses Jahr.«

Den hab ich dann auch genommen.

Na bitte! Es geht doch.

Namen sind Schall und Brauch

Unsere Mutter ist als »Südmaas Ilse« der lebende Beweis: In Ostwestfalen heißt man nicht einfach so, wie man heißt! Bei uns nördlich von Minden haben viele Familien einen »Beinamen«, der oft nichts zu tun hat mit dem eigentlichen Namen. Im Bereich Gütersloh ist es noch weit verzwickter.

Starten wir aber in meinen beiden Heimatdörfern, den zweieiigen Zwillingen Kutenhausen und Todtenhausen. Viele der alteingesessenen Familien haben hier Rufnamen, manche dienen dazu, gleichnamige auseinanderhalten zu können. Es gibt Meier eins und Meier sechs. Meier zwei bis fünf gibt es allerdings nicht. Und Meier eins wurden »Zaas« genannt und »Zaas Helga« führte die Kneipe, die auch »Zaas« hieß, und das Lebensmittelgeschäft.

Ein paar Meter war »Kohlen-Fritz Frieda« die Chefin vom Brennstoffhandel. Eine Familie Wiese heißt »Poapen Mürkers«, scheint also mindestens ursächlich was mit Maurern zu tun zu haben. Kruses heißen »Spiekemaas«, Familie Poos werden »Schmaas« genannt, »Lühms« heißen in Wirklichkeit Rohlfing, »Scheeps« bekommen Post nur, wenn Schamerloh auf dem Brief draufsteht. »Pulla« ist eine weitere Familie Wiese. Bauer Gieseking, das sind »Koarls«, eine andere Bauernfamilie Gieseking wird »Hilgemaas« gerufen. Und warum ein dritter Gieseking »Mussolini« genannt wird, weiß keiner.

Auch für »Ewerthinnok« anstelle von Röckemann, für »Damsken« anstelle von Rathert und »Lükens« für die nächsten Ratherts gibt es keine Erklärungen. Bei Tischler Rathert hingegen hat der Rufnahme »Sarglagers« eine gewisse Logik. Bei einem weiteren Rathert lässt »Dickenacken« Spekulationen zu. »Meister Scharf« bei Röckemann ist wiederum ein Rätsel. »Müsseburn«, der Bauernhof zur Linken von »Koarls«, hat Becker an der Klingel stehen. Der Bauernhof zur Rechten, »Schlingmanns« also, heißt in Wirklichkeit Hormann. Schwiers in Todtenhausen heißen »Riekeln« und der Neffe meines Freundes Kiki, Frederik, hat aus dem Bauernhof eine Mosterei mit Hofladen gemacht und den alten, traditionellen Namen zur Marke entwickelt: Riekelnhof.

Irgendwann stieß ich auf die Ostwestfalenkrimis von Thomas Krüger. Ein Protagonist mit dem schrägen Namen Erwin Düsedieker, begleitet von seiner treuen Laufente Lothar. Im Laufe der Bände steigt die Zahl der Laufenten, Lothar und Lisbeth werden in Band zwei ein Paar und bekommen in Band drei Nachwuchs. Mich überraschten die Namen der Handelnden, der Protagonisten wie der Nebenfiguren der Erwin-Düsedieker-Krimis. Ich dachte: Na, das ist aber jetzt etwas sehr angestrengt, sehr »bemüht-witzig« konstruiert. Einen Polizisten mit Vornamen Lars-Leberecht fand ich noch okay, aber Alwine Thiesbrummel? Lappenbusch? Bökenbrink? Mickenbecker?

Doch bei der Recherche stellte sich heraus: Vieles ist gar nicht erstunken und erlogen, sondern wunderbar gefunden und zitiert. Ich fand sogar einen Zahnarzt namens Mickenbecker, niedergelassen in Bielefeld. Inzwischen weiß ich es also besser! Kollege Krüger, ich bitte um Verzeihung.

Ich fand im Heimatjahrbuch Gütersloh 2020, eine im Übrigen exzellente Reihe, einen sehr informativen Artikel über Familiennamen im Kreis Gütersloh: »Schniggendiller, Beckervordersandforth und Co.« Namen, man glaubt es nicht.

Autor Matthias Borner erklärt zuerst, wie überhaupt Nachnamen sich zusammensetzen, aus Berufsnamen (zum Beispiel Müller), aus Herkunftsnamen und Wohnstätten (Brückner, an einer Brücke, und Lindner, an einer Linde wohnend). Manche bilden körperliche Eigenheiten ab, Klein, aber auch Kraushaar, Krummbein, auch das Ess- und Trinkverhalten der Ahnen lässt sich ablesen oder erahnen bei Namen wie Süper oder Schluckenbier.

Besonders diese ostwestfälische Region zwischen Rietberg, Verl, Schloß Holte-Stukenbrock und Delbrück hat im Felde der Hausnamen extreme Wortgebilde hervorgebracht. Herr oder Frau Pauleickhoff, schreibt Matthias Borner dort, habe von Versandhäuser Post an Herrn Paul Eickhoff bekommen, ebenso adressierte man an Christoph Liemke statt an Familie Christophliemke. Hier leben die Familien Hanswillemke, Maarkerstingsjost und – mein Lieblingsname – Peterottotöns. Das klingt beinah finnisch. Danach kommt Settertobulte und Füchtencordsjürgen.

Manchmal gibt es das auch woanders: In Herford fand ich das Gartencafé Düsediekerbäumer. Aber eindeutig wohnen die meisten dieser Berndfürchtenschnieders und andere rund um Gütersloh. Hier wohnen die Herr- und Frauschaften Hemkentokrax und Dreismickenbecker und die Familie mit dem längsten deutschen Familiennamen ohne Leerzeichen und Bindestriche: Ottoverdemgentschenfelde.

Über einen Dirk Ottoverdemgentschenfelde schrieb die Neue Westfälische mal, er sei immer wieder mit seinem Kumpel Gerdtommarkotten unterwegs, und die zwei sagten der Reporterin, sie würden gern mal »einen von den Beckervordersandforths und einen von den Rodenbeckerschnieders mitnehmen« auf eine kleine Reise, allein um Hotelangestellte beim Einchecken an den Rand des Wahnsinns zu treiben, zumindest aber sie gehörig »ins Schwitzen zu bringen«.

»Und« und »Muss«

Absolut typisch für unser Ostwestfalen ist die Dialogpaarung aus »Und?« und »Muss!«. Der kürzeste Dialog der Welt!

Manchmal noch mit angehängtem »Und selbst?«.

»Und?« Diese Frage ist echte Philosophie. Wenn wir das analysieren, müssen wir uns folgenden typischen Dialog vergegenwärtigen, der in Ostwestfalen jeden Tag bei vielen Tausend Begegnungen oft als Einziges zwischen jeweils zweien gesprochen wird.

Also: Treffen sich zwei Ostwestfalen, so sagt der eine: »Und?«

Darauf antwortet der andere, leicht verzögert: »Muss!«

Dieses erste fragende »Und?« ist das größtmögliche Interesse am Gegenüber, die Frage nach dessen Sein und Wollen. Das ist Philosophie und Seelsorge zugleich. »Und?« ist die Frage nach dem Urgrund.

Und dann kommt vom Gegenüber die Antwort: »Muss!«

Dieses »Muss!« ist einerseits ehrliche Erwiderung und andererseits ironisches Spiel in einem.

Dazwischen sind zahlreiche Informationen zwischen beiden, ganz ohne Worte, in einer Fantastilliarden Stundenkilometer schnellen Geschwindigkeit hin- und hergeflossen, die im Gegensatz zur äußerlichen Ruhe und der extrem niedrigen Sprechgeschwindigkeit steht. Osmotisch quasi wurden Befindlichkeiten, Freuden, Qualen oder Routinen, und zwar von beiden Seiten, ausgetauscht, auch ohne dass die Gegenfrage »Und selbst?« gestellt wurde. Diese Informationen sind in Bruchteilen von Sekunden nonverbal hin- und hergesandt, ausgetauscht und jeweils entschlüsselt worden. Aber trotz dieser Schnelligkeit im Austausch bliebt die äußere Ruhe erhalten. Und dann setzt im Grunde in beiden Akteuren eine Art stummes, gedanklich-philosophisches Wiederkäuen dessen ein, was gesendet und empfangen wurde. Gleichzeitig sagt jeder die Worte »Und?« und »Muss!« mit dieser ironischen Distanz, die ebenfalls blind verstanden wird.

Ein Blick auf die möglichen Varianten in den Subtexten: »Und?« bedeutet: »Geht es dir gut?« Oder: »Alles im Lot?« Oder auch: »Mir ist da was zu Ohren gekommen, ich kann es nicht glauben, du musst nicht darüber reden, du musst jetzt nichts sagen, aber ich mach mir jede Menge Sorgen, ob alles okay ist.«

Und das »Muss!« kann stehen für: »Riesiger Mist. Frag nicht. Aber was willst du machen? Da muss ich durch!« Manchmal aber sagt es: »Och. Geht so. Nicht so doll. Aber wenn du mich schon fragst: Muss!« Es kann aber auch bedeuten: »Mir geht es super! Fantastisch. Aber reden wir da nicht drüber. Ich will jetzt nicht angeben. Das muss man ja auch nicht laut sagen.«

Der Ostwestfale spricht dabei auch extrem langsam, obwohl man meinen könnte, dass ein Wort wie »Und?«, aus nur drei Buchstaben, gar keine unterschiedlichen Sprechgeschwindigkeiten haben könne. An manchen Tagen kommt der Sprachfluss sogar ganz zum Erliegen. Dann fragt der Ostwestfale nicht mal mehr »Und?«, sondern schaut nur scheinbar flüchtig zum Gegenüber, hebt kurz das Kinn und senkt es sofort wieder und schaut dabei etwas fragend.

Dann zuckt der andere kurz mit etwas schräg gelegtem Kopf mit den Schultern. Dann schauen beide wieder nach vorne. Eventuell nickt der Gefragte noch mehrfach leicht. Das funktioniert auch.

Meine fünfzig ostwestfälischen Lieblingswörter

Dies ist eine Liste meiner Lieblingswörter und -ausdrücke. Manche sind aus dem Plattdeutschen, manche sind Redensarten, alle sind ganz wunderbar und wenn ich sie höre, wird mir warm ums Herz. Wenn ich sie manchmal, quasi in Gedanken »annerwärts«, also »auswärts« benutze, sage oder murmele, muss ich sie fast immer erklären.

abelig (im Bielefelder Raum), ömmelig (in Nordostwestfalen) – schlecht, unwohl, flau

Ballerbraken – ein Rüpel oder Trampel

Bangeböxe/Bangeböchse – Angsthase; bange sein (Mir ist bange) heißt Angst haben

Beddegoanstiet – die Aufforderung, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen, auch lustig gemeint für Aufbruch bei Freunden; sagen auch Leute, die eigentlich kein Platt sprechen

beschickert – betrunken

betuppen – bescheißen

Blag – Kind

bollerig – als Wesenszug: rüpelhaft, als Beschreibung: weit, unförmig, das Gegenteil von spack – hauteng

dameln oder rumdameln – Unsinn machen

dölmern, Substantiv: Dölmer – ebenfalls Unsinn machen

duun – betrunken

Eichkatten – Eichhörnchen (Plattdeutsch)

Grappen – Witze, Streiche, Blödsinn (ein Wort, das wir wohl aus dem Niederländischen übernommen haben)

güst – schnell, unmittelbar, »immediately«

Husche – Regenschauer

i-Männchen, i-Dötzchen – Schulanfänger

kalbern – rumalbern, körperbetontes Spielen

Kattenvenne – Synonym für ein »Irgendwo«

Klaukschieter – Klugscheißer (Plattdeutsch)

knülle – betrunken

Kodderschnauze – jemand, der oder die immer für einen lustigen oder ironischen oder schwarzhumorigen oder anzüglichen Spruch gut ist

Kopsibolter – bei Bielefeld, im Dorf des Verlegers: Purzelbaum (unbekannt in Minden-Lübbecke)

Mallessen – Krankheiten

Mauken – Füße

Mieselregen, es mieselt – ganz leichter Regen

nöckelig sein bzw. nöselig – unzufrieden

plästern/et plästert – wenn es (stark) regnet

Pölter – Schlafanzug

Pöter – Hintern, Po

zu Potte kommen – fertig werden

ramentern – Lärm, Krach machen, aber auch nöselig sein

riewe – reichlich

röch di (rög di) – mach hin, los jetzt (Plattdeutsch)

ruhme – weit, Hosen sitzen ruhme, wenn sie zu weit sind

schenannt – Mischung aus peinlich und unsicher

schlickern – Süßigkeiten essen

Schnodder, Schnöppen – Schnupfen

Schnöppenpatt – wer seine Nase mit dem Ärmel putzt

schnu’m – schnäuzen

sobutz – sofort

stickum – leise, heimlich

Stritzebock – Melkschemel

Tacken – Geldstück

Töle – Hund

trecken – ziehen, Substantiv: Trecken – Schublade (Plattdeutsch)

Tüges – Zeug, Kram, Sachen

Tünsel – oder Döskopp, auch Dussel, wird eher Richtung Bielefeld genutzt (wird nicht in Minden benutzt, aber verstanden)

Winneworp – Maulwurf

Wo kein Schnee liegt, laufen! – Mach hin!

wullacken – so arbeiten, dass es anstrengt, dass man garantiert schwitzt

Es gibt in Ostwestfalen, wie angemerkt, immer wieder regionale Unterschiede im Gebrauch und der Bedeutung der Wörter, oft schon von Dorf zu Dorf. Manch einer aus Harsewinkel würde dem Sprecher aus Dörentrup grobe Fehler bescheinigen. Die vorliegende Liste wurde korrigiert und für gut befunden von meiner Mutter Ilse, wir legen also die »Kutenhauser Sprache« zugrunde.

Auf ein Wort:

»Der Ostwestfale sieht manchmal aus wie eine Kartoffel, und immer spricht er so. Er sagt nicht ›wirklich‹ oder ›Wurst‹, sondern ›wiarklich‹ und ›Wuarst‹. Der ›Nachmittag‹ ist ihm ein ›Nammiittach‹ und das ›Abendbrot‹ ein ›Aaahmtmbrot‹. Ich weiß das, ich komme da wech, und deshalb dürfen Reneé Zucker und Harry Rowohlt auch ›Wichlaf‹ zu mir sagen.«

Wiglaf Droste, Schriftsteller, 1961–2019, geboren in Herford (Interview in brand eins Neuland: Ostwestfalen-Lippe)

Zurück in der alten Welt

Ich bin nun schon seit einigen Wochen zurück in der alten Welt, in den Kontinenten der Erde, die den Europäern vor der Entdeckung Amerikas 1492 bekannt waren: Europa, Afrika und Asien. Vor meiner »Entdeckung Amerikas«, also meiner »neuen Welt Kassel«, kannte ich Porta Westfalica, Herford und Bad Salzuflen, das man aber »Bad Salzuffeln« ausspricht. Bad Salzuflen war mir im Grunde schon ein fernes, unbekanntes Asien, Herford eine Art Afrika, mit faszinierenden Wildtieren, denn dort gab es die Scala und da spielten englische Punkbands, 999 und andere. Meine »alte Welt« ist Minden und Umgegend, Hille, Lübbecke und Petershagen. Nach Rahden und Espelkamp bin ich schon kaum gekommen. Das alles ist Gegend, »Tucht«, wie wir sagen, und davon gibt es in Ostwestfalen und dem angrenzenden Niedersachsen bekanntlich jede Menge.

Zum ersten Mal lebe ich nun in der Stadt Minden und nicht daheim auf dem Dorf. Einige wenige meiner alten Stammkneipen und Restaurants gibt es noch, das Windlicht und Zum seriösen Fußgänger. Wenn ich da reingehe, mit Zeitung unterm Arm oder einem Buch oder Notizblock oder sogar Laptop, um dort etwas zu arbeiten, wie ich das aus anderen Städten kenne und gewohnt bin, kommt hier sofort jemand auf mich zu: »Du musst doch nicht alleine sitzen, Bernd. Komm rüber zu uns.« Ich bin seit meiner Rückkehr sofort wieder Teil dieser Gemeinschaft.

In Dortmund konnte ich auch nach elf Jahren immer noch davon ausgehen: Im Grunde kennt mich hier keiner. In Minden ist das anders. Der Grad an sozialer Kontrolle ist immens. Das war schon immer so. Meine Mutter war Milchmädchen und heißt trotz Heirat mit einem Gieseking bei allen weiter und bis heute »Südmaas Ilse«. Ich bin »Südmaas Ilse sien Ölsten«. »Sien«, »seiner«, also männlich, obwohl es »ihrer«, »ürn«, heißen müsste, aber so war das mit den besitzanzeigenden Fürwörtern damals, zumindest im Plattdeutschen.

Besuche ich nun meine Eltern, oder inzwischen meine Mutter, um mich »nützlich« zu machen – deswegen bin ich ja hergezogen – und komme gegen Mittag, dann erfahr ich genau, was ich am Vorabend – und wo – gemacht habe. Originalton meiner Mutter Ilse: »Gistern hätt di oll wier wer seien. Doar kann jo nix van wer’n, wenn du geden Dach im Windlicht sittest!«

Ich war gesehen worden? Ich war zwar nur zwischen 18 und 19 Uhr auf eine kleine Pizza da gewesen, aber das ist egal. Die Wahrnehmung ist eine andere.

Mich grüßen hier Menschen, die ich nicht kenne. Ich grüße freundlich zurück, das macht man hier so. Ganz Minden ist schließlich ein Dorf. Das ist schön, weil man fast überall alte Bekannte trifft.

Das ist Heimat: Stadt, Land, Fluss, Name, Tier, Beruf. Mich grüßen aber auch Menschen, die erwarten, dass ich sie kenne, dass ich mich an ihre Namen erinnere oder an die gemeinsame Schulzeit, Lehrzeit, Tanzvergnügen oder Sauftouren vor vierzig Jahren. Und gerade an Letztere habe ich naturgemäß wenig bis keinerlei Erinnerungen. Damals tranken wir noch Wodka-O, Wodka mit Orangensaft. Außerdem Persico, Korn und Apfelkorn. Also zwischen den Bieren. Das gehört hier zu den männlichen Initiationsriten und wird dann irgendwann zur Gewohnheit.

Vor wenigen Tagen erst hatte mich an der Tankstelle wieder jemand gegrüßt, als wäre ich sein ältester Freund, und ich stand wieder da mit dem schlechten Gewissen des Weitgereisten, der doch niemanden der alten Lieben vergessen haben wollte. An der Tankstelle nahm ich allen Mut zusammen und wollte mein Unwissen eingestehen.

Ich sagte: »Tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern. Hilf mir aufs Pferd! Woher kennen wir uns?«

Und er sagte: »Hi, ich bin Dimitri. Wir kennen uns gar nicht. Aber ich weiß, wer du bist.«

Mir schoss durch den Kopf: Das muss also einer der Spione und Informanten meiner Eltern sein. Quasi die Dorfstasi, die ihnen sagt, in welcher Kneipe ich gewesen bin. Meine Eltern wissen schon ihr Leben lang sobutz von allen meinen Sünden.

Schon als ich Kind war. Wenn wir Jungs was »angestellt hatten«, hieß es im Dorf: »Ich weit nich, wer datt e wäsen is, over Südmaas Ilse sien Ölsten, de was doarbi!« Und diese Nachricht war schneller als ich. Die hatten meine Eltern, bevor ich zu Hause war. Und dort folgte die Strafe auf dem Fuße.

Stippgrütze und Anballersse

Nun, da ich wieder zu Hause wohne, bringt mir das Leben auch die schönsten beiden Mahlzeiten zurück, die ich kenne. Die zwei Höhepunkte der Kulinarik in OWL, fußend auf tief verwurzelten Traditionen.

Die beiden größten kulinarischen Ereignisse in Ostwestfalen sind ohne Zweifel Stippgrütze und Anballersse. Wurstebrei und Buttermilcheintopf. An beiden scheiden sich die Geister. Hier gibt es nur Ja oder Nein, nur Schwarz oder Weiß, nur »Göttlich! Könnte ich mich reinsetzen!« oder »Ekelhaft! Geh mir bloß wech mit dem Zeuch!«. Bei Stippgrütze und Anballersse gibt es kein »je nachdem« oder »kommt drauf an« oder ähnliche Unentschiedenheiten. Man liebt es oder man hasst es.

Anballersse

Anballersse oder Bottermelk-Anballersse. ButtermilcheEintopf. Jahrzehntelang habe ich den nicht gemocht und verstehe mich heute selber nicht. Wenn meine Mutter Ilse jetzt Anballersse kocht, bekommt sie von mir sämtliche Mützen und Sterne, die für Kochkunst im Spitzenbereich vergeben werden können.

Im »Kutenhuser Kelenner düa dat Joahr 2014« steht auf Plattdeutsch eine ganze Seite über Bottermelk-Anballersse. Auch ein Rezept ist abgedruckt, aber jede Frau, Mutter oder Oma hat ihre eigenen Zutaten und Maße.

Und use Mudder koaket datt wie keine annere. »Toerst mösst du Ketuffeln schälen«, sächt ütt. Also schälen und in kleine Würfel schneiden, in den Topf, salzen, kochen, circa zehn Minuten, dann abgießen. Während die Kartoffeln kochen, die Zwiebeln klein würfeln, durchwachsenen Speck würfeln oder in der Küchenmaschine zerkleinern.

»Oder im Fleischwolf?«, frage ich.

Ilse streng: »Datt bierten moaket man nich in dän Fleichwulf, datt lohnt datt ganze Upwasken nich.«

Dann also den Speck in der Pfanne auslassen, mit den Zwiebeln.

Jetzt die abgegossenen Kartoffeln unter Rühren mit Buttermilch auffüllen und aufkochen lassen. Einen Esslöffel Mehl in einer Tasse mit Wasser anrühren und mit reinrühren, damit es »dickt«. Und immer wieder die Kartoffeln mit dem Stampfer »etwas zerdrücken«.

Mit größter Bestimmtheit sagt Ilse die wichtigste Regel: »Gümmer ümmerühr’n!«

Damit es eben nicht »anballert«, damit es nicht anbrennt. Und: »Das Wichtigste sind Speck und Zwiebeln, sonst hat das keinen Geschmack.« Also jetzt den ausgelassenen Speck hinein, umrühren und dann ist das Essen eigentlich schon fertig.

Für mich ist es »pur«, als Suppe oder Eintopf eine grandiose Mahlzeit. Viele bei uns auf den Dörfern schwören darauf, es mit einem Stück Blutwurst zu essen oder auch mit Zungenwurst, einige mit »Mettwurst« beziehungsweise Salami. Bei uns gab es immer Mehl- oder Eierpfannkuchen dazu, das war schon Tradition bei beiden Großelternpaaren.

Ilse sagt: »Ick kann di kein Rezept giermen, ick moake datt gümmer ute Lameng.« Darum hier das Rezept aus dem Heimatkalender noch mal zum Abschreiben:

Anballersse

1 Liter Bottermelk

ca. 1 kg Ketuffeln

2 Ätliäpel Mähl

1 – 1 ½ Tassen Melk

200 Gramm düawossenen Speck oder Schinkenspeck

2 Zwiebeln

Sölt un Piäper

Über die Delikatesse »Anballersse« und die Anballersse-Esser heißt es abschließend im »Kutenhuser Kelenner: »Däne loppt schon dat Woater in ’n Muule tehope, wenn se dat Wuad nur höät.« Und zwar, »ganz egoal, ob et nu Kauhmelk oder Ziägenmelk was.« Letztere allerdings gab es bei uns nie. In unserem Haushalt gab es nie etwas »mit Ziege«. Keinen Lammbraten und keinen Ziegenkäse. Und niemals Fisch. Ilse sagte, als sie den Kalendertext las: »Ziärgenmelk? Boah! Goa mi wech! No schlimmer als de Fiske!«

Stippgrütze

Stippgrütze war der Höhepunkt einer jeden Hausschlachtung. Man kann sie mit Kartoffeln essen oder auf Brot. Auf Grau- oder Schwarzbrot. Und es wurde dick aufgetragen, das Fett suppte durch, die Finger waren schmierig, die Fetttropfen rannen entlang der Mundwinkel und es war ganz wunderbar. Und viele genießen das in den Wintermonaten unverändert, bis heute. Stippgrütze ist kein Sommeressen.

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