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Finnland. Da denkt jeder an Seen, Sauna, Mücken und Elche. Und eine verteufelt schwere Sprache. Aber wer sind die Menschen dort? Verschrobene Einzelgänger? Trinkfest und sangestüchtig? Bernd Gieseking bekommt einen Crashkurs. Weil sein Bruder sich in eine Finnin verliebt hat und seine Eltern ihn in seiner neuen Heimat besuchen wollen, bricht er zu einer Familienreise mit alten Eltern auf und fährt von Kutenhausen nach Lahti. Und das ist so skurril wie alltäglich, das ist aberwitzig und melancholisch schön. Die Geschichte auch eines Findens und sich Wiederfindens, wunderbar humorig und witzig erzählt von einem Routinier des Komischen, der aber eben auch durch alles durch muss: Karaoke und Sauna, Eltern und Elch, Wodka und Wald. Eine authentische Geschichte vom Reisen zu Rentieren – 3.800 km purer Lesespaß. »Ich mache in meinem langen Leben zunehmend die Erfahrung, dass man von Bernd Gieseking unbesehen alles lesen kann.« Harry Rowohlt
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Seitenzahl: 352
Bernd Gieseking
Finne dich selbst!
Mit den Eltern auf dem Rücksitz ins Land der Rentiere
FISCHER E-Books
Rentier, Elche, Sauna, See Dunkle Winter voller Schnee Wenig Menschen und kein Wein Da wirst du wohl in Finnland sein
Für Ilse und Hermann
Es war ein Sonntag im März. Nicht wichtig eigentlich, aber trotzdem im Nachhinein entscheidend. Meine Eltern standen vor mir und sagten: »Wi führt düssen Sommer noh Finnland.« Wir fahren diesen Sommer nach Finnland. Die beiden reden meistens plattdeutsch, »Platt«, wie wir in Ostwestfalen sagen. Nach Finnland also. »Wi wellt Axel beseuken.« Wir wollen Axel besuchen. Axel. Mein kleiner Bruder, aber längst erwachsen. Ausgewandert nach Finnland. Natürlich wegen einer Frau. Nun lebt er in Lahti. Mit ihr. Mit Viivi. Das kann man machen.
Ich sehe meine Eltern nicht oft. Sie leben in Minden, ich inzwischen in Dortmund. Näher dran als vorher, aber doch weit genug weg. Ich mag meine Eltern – solange die Distanz stimmt. Seit vielen Jahren besuche ich sie immer nur für ein paar Stunden, und diese Zeit schaffen wir in der Regel problemlos miteinander. Ich übernachte auch nicht mehr bei ihnen, sondern nehme mir lieber ein Hotelzimmer, damit die Distanz stimmt, um genügend, aber nicht zu viel Nähe haben zu können. Sonst erstreiten wir uns schnell den nötigen Abstand. Inzwischen haben wir viel Spaß miteinander, aber wir können uns ohne Probleme, von einer seit Kindheit und Pubertät antrainierten, spontanen Konfliktfähigkeit getragen, innerhalb von Sekunden »in die Wolle kriegen«. Nach den frühen »Kriegsjahren« bin ich heute mit beiden eng befreundet. Sie sind witzig-herzliche Ostwestfalen, die aus meinem Bruder und mir die Menschen machten, die wir heute sind. Alles ist gut. Es sei denn, wir treffen zu lang aufeinander, Eltern und Söhne, Mutter, Vater, Bruder und ich.
Jetzt wollten meine Eltern also nach Finnland fahren. Hermann und Ilse. Ich war überrascht von dieser Reise-Ankündigung. Wie wollten sie das denn bewerkstelligen? Meine Eltern sind körperlich durchaus gehandicapt. Hermann war dem Teufel, »dän Düvel«, wie man bei uns in Ostwestfalen sagt, in seinem Leben bereits mehrfach von der Schippe gesprungen, nun hatte man ihm geraten, nur noch im deutschsprachigen Ausland Urlaub zu machen. Mit »unser« Mutter, mit Ilse, ist es auch nicht viel besser. Regelmäßig unregelmäßig überkommen sie Schwindel, Übelkeiten und Hörstürze. Die führen zu Fahrradstürzen oder von Treppen herunter, aber all das hindert sie nicht, mit alter Heftigkeit, Hektik und Unnachgiebigkeit die Chefin der Kompanie zu geben. Meine Mutter erzieht gerne und bis heute. Ihr größter Fall ist übrigens mein Vater.
Meine Eltern standen also vor mir, im Garten in Minden-Kutenhausen, meinem Heimatdorf, vom kahlen Apfelbaum überschattet. Raureif lag auf dem Feld. Wir beobachteten ein Fasanenpaar, das sich über den Acker langsam zu uns herüber pickte.
Die Fasane pickten, meine Eltern stritten. Das waren sonst normale, schöne, gleichförmige Tage im Jahresrund. Aber nun diese Ankündigung: »Wir fahren diesen Sommer nach Finnland.«
Ich fragte: »Wie wollt ihr das denn machen? Ihr könnt doch nicht fliegen mit euren Malessen.«
Malessen sind Krankheiten, die von kleinen Blessuren bis hin zu schweren Infarkten reichen können. Der Ostwestfale erträgt das stoisch und redet nicht lang darüber. Er redet ohnehin nicht sehr viel.
Beide im Chor: »Wir fahren mit dem Auto.«
Ich starrte sie an. »Aber ihr könnt doch, so kaputt wie ihr seid, nicht mit dem Auto alleine bis nach Finnland fahren!«
Beide: »Worümme? Hier führ wi doch ok!« Wieso? Hier fahren wir doch auch!
Ich hatte einen Sommerurlaub geplant und mich noch nicht endgültig zwischen Bali und Neuseeland entschieden. Ich wollte in die Fremde. Am liebsten zu den exotischen Reisfeldern, den unerklärlichen, aber poetischen Opferritualen an die Götter, wenn wunderschön gekleidete Balinesinnen Reis, Blüten und Räucherstäbchen verteilen, mit Wasser besprenkeln und heilige Verse hauchen. Ich wollte in diese Fülle von Vegetation, wollte zu Palmen, die sich unter dem Gewicht der Kokosnüsse bogen, zu Kaffeepflanzen und Kakaobäumen.
Das letzte Mal mit meinen Eltern gemeinsam verreist war ich mit 15 Jahren. An die Nordsee. Neuharlingersiel. In meinem Kopf liefen seltsam zusammengestellte Diaprojektionen über- und ineinander. Windumtoste Nordseedeiche. Klack. Balinesischer Strand. Klack. Grüne Reisfelder. Klack. Die Nordsee bei Ebbe. Klack. Grauer Schlick. Klack. Finnland. Klack. Endlose Kiefernwälder. Klack. Farbenfrohe Hindu-Tempel. Klack. Ich sah von oben auf mich selber herab beim Schnorcheln. Klack. Finnland, grell überstrahlt von einer nicht untergehenden Sonne. Klack. Schemenhafte Waldstücke. Klack. Birken im Wind. Klack. Menschen in Sarongs. Klack. Ich meinte die Klänge eines Gamelanorchesters zu hören. Klack. Farbenprächtige Sonnenuntergänge am Strand von Kuta. Klack. Meeresrauschen. Klack. Ich, unter einem Schirm, fröstelnd, in Finnland an einem trüben Regentag. Klack. Klack. Klack. Ein leerer Diarahmen. Blendendes, gleißendes Licht.
Ich sah meine Eltern an, schaute zu den Fasanen, dann wieder zu meinen Eltern, und ohne dass ich während meiner inneren Diaschau einen oder mehrere Gedanken bewusst gedacht hätte (jedenfalls kann ich mich an keinen erinnern), sagte ich mit Blick über die Kutenhauser Felder: »Dann fahre ich euch eben.«
Moment. Was waren das für Worte? Hatte ich die gesprochen?
»So?«, stutzte Hermann, durchaus beeindruckt und letztlich genauso überrascht wie ich selber.
Die Fasane pickten und verschwanden. Stunden schienen zu vergehen. Dann sagte meine Mutter Ilse: »Das klappt doch nie. Du hast doch nie Zeit.«
Schweigen.
»Ich hab drei Wochen Zeit. Im Juli.«
»Wolltest du nicht nach Bali?«, fragte meine Mutter.
»Was ist Bali gegen Finnland?«, sagte ich.
»Im Leben klappt das nicht!«, murmelte mein Vater.
Ich bin Junggeselle, erfolgreich unverheiratet, nicht ohne Partnerschaften, aber auch nicht fest gebunden. In diesem Sommer war ich lose versprochen. Und lose mit ihr auf eine gemeinsame Reise verabredet. Mit Isabel. Vielleicht sogar nach Bali.
»Was? Mit deinen Eltern? Zu deinem Bruder?«, rief sie entzückt aus, als ich ihr von meiner neuen Urlaubsplanung erzählte. »Das ist doch supersüß, dass du mit deinen Eltern fährst.«
Ich bin zu alt, um »süß« zu sein. Niemand in unserer Familie ist süß.
»Mit meinen Eltern kann es auch ganz schön anstrengend sein. Auf einmal sehe ich die täglich. Tagelang.«
»Aber es sind doch deine Eltern.«
»Eben!«
»Also, meine Eltern und ich …«
»Ja, ihr! Aber wir sind nun mal Ostwestfalen! Da kann man sich nur nah kommen, wenn alles distanziert genug ist.«
»Ach, Quatsch! Ihr nehmt euch in die Arme und dann …«
»Was? Wir nehmen uns nicht in die Arme.«
»Wie begrüßt ihr euch denn?«
»Na, ordentlich, mit Handschlag.«
»Deine Eltern?«
»Gehört sich ja wohl so.«
»Bernd, wenn du und ich Kinder hätten, die würdest du mit Handschlag begrüßen?«
Wenn sie und ich Kinder hätten? Hatte ich was überhört? Ich kannte diese Frau doch kaum! Erst ganz kurz. Noch keine zwei Jahre.
»Weißt du was? Ich könnte doch mit euch …«
»Oh. Äh. Nein, das, also, tolle Idee. Natürlich. Aber, ich, äh, ich glaube, eher nicht. Meine Eltern, die würden das nicht …«
Ich würde nicht drei Wochen gemeinsam mit drei Fremden verbringen. Zwei Fremde reichten entschieden aus. Hoffentlich hörte sie nicht, was ich dachte.
»Schreibst du mir von unterwegs?«, fragte Isabel.
»’ne Karte? Na klar schreib ich dir ’ne Karte.«
»Nee, Bernd. Schon etwas ausführlicher. Mails. Eine Art Reisebericht. Ich hätte dann wenigstens das Gefühl, mit dir unterwegs zu sein.«
Ich starrte sie an. Ihre Augen schimmerten feucht.
»Ich soll nicht mit. Und du willst mir nicht einmal schreiben. Dein Bruder ist wegen dieser Frau sogar nach Finnland gezogen, und du schreibst nicht mal ’ne Mail. Du bist ja echt ein ganz toller Mann. Nicht mal eine SMS!«
»Ich bin doch überhaupt noch nicht weg.«
»Von mir aus bleib doch ganz in Finnland!«
»Isabel!«
Es ist an einem Samstag im Juli. Ich frühstücke im Hotel Holiday Inn in Minden. Last supper. Das letzte Abendmahl zum Frühstück. Drei Wochen mit meinen Eltern nach Finnland. Ich bin mehr als besorgt. Wie habe ich nur zusagen können? Mir geht das alles noch einmal durch den Kopf. Klar. Finnland. Ich freue mich auf Finnland. Auf das Land. Die Leute. Meinen Bruder. Viivi. Ihre Familie. Aber Urlaub mit meinen Eltern? Drei Reisetage im Auto liegen vor uns. Auf der Fähre Kopenhagen–Turku werden wir sogar die Kabine teilen. Ich rechne nach und komme auf über 30 Jahre, die ich quasi »elternfrei« verbracht habe, drei Jahrzehnte, in denen ich meine Eltern nicht länger als ein paar Stunden am Stück erlebt habe.
Ich frühstücke und blättere gedankenverloren im »Mindener Tageblatt«. Ich lese von Schützenvereinen und Sportergebnissen, vom Handballverein Grün-Weiß Dankersen/Minden, vom A-Jugend-Turnier des SVKT 07, ich lese von spektakulären Spielerwechseln in der Kreisliga A und den Erfolgen der Kleintierzuchtvereine. Ich bin ein ganzes Frühstück lang wieder zu Hause, ein Kind der Stadt und der Region. Minden. Kreis Minden-Lübbecke, wo die Melitta-Filtertüte der größte Exportschlager ist und Barre Bräu und Herforder Pils zu den kulturellen Säulen der Region gehören. Ich hänge an all dem, was der »Mühlenkreis« zu bieten hat: an Fachwerk und Feldhamster und früher noch der Feldschlösschenbrauerei, an Meyer-Korn und Stippgrütze, Kohlrabi-Eintopf und Hausschlachtungen. »Am Barre Bräu dein Herz erfreu«, so dichteten die Werbestrategen. Der Volksmund reimte: »Willst du Schwangerschaft verhüten, nimm Melitta-Filtertüten.« Ich hatte zwei Jahre zuvor die kanadische Zentralarktis besucht. Das Erste, was ich in einem kleinen Ort namens Pangnirtung, der nur mit Flugzeug oder im wenige Wochen eisfreien Sommer per Schiff zu erreichen ist, im Supermarkt fand, waren Melitta-Filtertüten. Meine Heimat. Eine Weltstadt. Auf der Packung prangte der Druck: Made in Minden/Westfalen, Germany.
Ich bezahle mein Zimmer und steige in meinen Volvo. Ich fahre ihn erst seit drei Tagen, habe mich aber erkundigt: Mit anderen Fahrzeugen darf man gar nicht nach Skandinavien einreisen. Außerdem muss man Nokia-Handys benutzen und für die Zeitmessung ausschließlich Uhren von Polar. Ich habe Bücher im Gepäck von Arto Paasilinna, Bücher mit Titeln wie »Der wunderbare Massenselbstmord«, »Der liebe Gott macht blau« und »Der Sommer der lachenden Kühe«. Ich bin vorbereitet, an der Grenze das große Aki-Kaurismäki-Quiz zu bestehen. Für den finnischen Tango sind meine Eltern zuständig. Wie die beiden auf ihrer goldenen Hochzeit zu »Mein schwarzer Zigeuner« über die Tanzfläche schoben, hätte in jedem Senioren-Tanzwettbewerb den Sieg gebracht.
Ich parke auf dem Rasen, der von allerlei Maulwurfshügeln durchsetzt ist, klingele, und mir wird aufgetan.
»Moin.«
»Tach, Großer«, grinst mein Vater. Wir geben uns die Hand. Wir sind beide locker unter einssiebzig. Und er wird jährlich kleiner.
»Moin, Ilse. Und?«
»Ach, gaht so. Mött.«
Und? Ach, geht so. Muss. Typisch ostwestfälische Dialoge, in denen wir aber jetzt bereits mehrere versteckte Liebeserklärungen ausgetauscht hatten, die für den mit Region und Mentalität nicht Vertrauten natürlich überhaupt nicht herauszulesen sind.
Sie haben Koffer, Kartons und Tüten im Hausflur gestapelt. Nun muss das alles im Auto verstaut werden. Jahrzehntelang die absolute Domäne meines Vaters.
»Ick packe over!« Ich packe aber, sage ich energisch von meinen 1,66 zu ihm herab.
»So? Könnst du datt denn?«, grinst er mich an.
»Ick sitte vorne«, sagt Ilse. Das ist von beiden die nicht so schnell erwartete, unausgesprochene Zustimmung.
Ich besehe mir den Stapel im Flur: eine kleine Gebirgslandschaft aus Reisegepäck, mütterlichem Versorgungstrieb und ostwestfälischen Devotionalien. Koffer, gefüllt mit der Reisekleidung, Taschen mit Schuhen, Tüten mit Geschenken. Kartons mit selbstgekochter Marmelade: Erdbeere, Stachelbeer-Kiwi, Erdbeere-Stachelbeere, Brombeeren. Schwarze und rote Johannisbeere gemischt als Gelee. Sensationell lecker übrigens. Apfelmus natürlich auch. Alles frisch gekocht in den letzten Tagen vor der Abreise. Auf unserer Marmelade ist übrigens nie Schimmel. Hermann und Ilse kochen gemeinsam. Sie füllen die Marmelade bis zum Rand am liebsten in kleine Gläser. Das eigentliche Geheimnis aber liegt im Deckel, und zwar fast wortwörtlich. Die Deckel werden direkt vor dem Zudrehen mit Cognac oder Korn kurz ausgespült, quasi desinfiziert, und dann auf das heiße Glas geschraubt. »Wenn dann davon noch was ins Glas tropft, ist das nur gut für die Marmelade«, sagt Ilse.
Seit wir im Garten nicht mehr selber pflanzen, fahren meine Eltern jährlich zu diversen Erntezeiten auf die Großfelder der ostwestfälischen und niedersächsischen Bauern, ernten und füllen alles in Gefrierbeutel. Es steht mittlerweile sogar extra eine zweite Kühltruhe im Keller. Uns würde nichts, weder ein neuer Krieg noch eine dräuende Naturkatastrophe, weder Vulkanausbrüche im Weserbergland noch Weser-Überflutungen oder Mittellandkanal-Sprengungen, an den Rand einer Hungersnot bringen können. Beide Kühltruhen sind gefüllt. Immer und jederzeit. Die Marmelade wird dann jeweils frisch gekocht, wenn die Kinder kommen. Mit diesen Gedanken packe ich eingemachte Gurken und Rote Bete ins Auto.
In den Tüten finden sich außerdem alle Skandinavienkarten des ADAC, Europa-Karten, Notizzettel, Spielkarten, Kreuzworträtsel, Knobelbecher, Würfel und Sudoku-Hefte. Meine Eltern sind auf alles vorbereitet. Wir könnten mit dieser Wagenladung auch auswandern.
Eine Tasche steht offen. Ich sehe Bettwäsche. Wieso Bettwäsche?
»Ilse, was soll das denn?«
»Das ist Bettwäsche.«
»Wofür? Was willst du mit Bettwäsche in Finnland?«, frage ich. »Wir sind doch bei Viivis Eltern zu Gast.«
Wir werden die Stadtwohnung von Viivis Eltern, also den Schwiegereltern meines Bruders, in Lahti bewohnen. Wir sind eingeladen. Von Juni bis September ist die Wohnung fast ungenutzt, denn die Eltern selber wohnen den gesamten Sommer über in ihrem Ferienhaus 50 Kilometer nördlich der Stadt. Wir sollen sie auch dort besuchen kommen. Meine Mutter hatte für beide Wohnungen für jeweils drei Leute die Bettwäsche eingepackt: Laken, Bettbezug, Kopfkissenbezug, in Summe sechs Laken, sechs Bettbezüge und acht Kopfkissenbezüge. Zwei Bezüge extra für zwei eigene Kissen, die auch noch ins Auto müssen, weil meine Mutter immer »hoch« schläft, eigentlich fast im Sitzen.
»Ilse. Die haben doch Bettwäsche für uns.«
Sie sieht mich an. Dann platzt es aus ihr heraus, laut, vorwurfsvoll und pragmatisch zugleich. »Wir können doch nicht deren Bettwäsche benutzen!«
Meine Eltern sind wunderbare Gastgeber, aber miserable Gäste.
»Ilse, du kannst doch nicht deine Bezüge auf deren Betten ziehen. Wie sieht das denn aus?«
»Worümme datt woll nich?« Warum denn nicht?
»Mama! Wenn zu dir Besuch kommt, bringt der auch nicht seine eigenen Laken mit und zieht die auf deine Betten. Was würdest du denn dazu sagen?«
Treffer! Versenkt? Nein! Sie schaut mies gelaunt zur Seite. »Das kann man doch nicht einfach annehmen von denen! Die haben doch so schon genug Arbeit mit uns.«
»Mutter, du machst doch hier auch alles für deine Gäste. Außerdem freuen die sich. Und das kann man ruhig annehmen.«
Kurze Pause. Dann: »Das ist was anderes.«
»Die glauben doch, du denkst, die kriegen ihre Wäsche nicht sauber.«
»So? Das denken die dann?«
»Ja, das denken die.«
Sie schweigt.
»In mein Auto kommt das nicht!«
»Ich kann auch mit meinem fahren«, sagt sie.
»Ilse, bitte!« Sie lässt mich zappeln.
»Na gut. Dann eben nicht.« Resigniert stellt sie die Bettwäsche zur Seite.
Ich bringe die ersten Taschen zum Wagen. Zu den aufgezählten Expeditionswaren kommen von mir noch eine Sporttasche (sehr optimistisch), die Büchertasche mit Laptop (unbedingt nötig), ein kleiner Rollkoffer mit Klamotten, die Lederjacke obendrauf, und eine Tüte mit Schuhen, also Clogs, Motorradstiefel und Wanderschuhe.
Das ist aber noch nicht alles. Axel selber war vor zwei Jahren mit nur zwei Koffern abgereist in das Land der tausend Seen. Nun gibt es außer unserem Gepäck noch einiges für ihn zu transportieren. Der ehemalige Musiker und Inhaber eines Mini-Alternativ-Independent-Plattenlabels sehnt sich nach seinen LPs und Singles, Technik wie PC, Plattenspieler und seinen beiden Lieblingsgitarren. Mein Kombi wird zum Lieferwagen.
Irgendwann ist alles verladen, Hermann sitzt hinten, mit »dän Korff«, dem Korb, vorne Ilse mit dem Eimer, »dän Emmer«. Das muss ich erklären: Meine Mutter leidet chronisch an Tinnitus und Morbus-Menière, Hörstürzen mit akuten Übelkeitsattacken und Drehschwindel. Auf die bereitet sie sich vor, indem immer ein kleiner 5-Liter-Eimer mitfährt. Neben Hermann auf der Rückbank steht »de Korff« mit dem Wichtigsten für die gesamte Reise: Speisen und Getränke. Ilse hat geschmiert, gekocht und gebrutzelt. Und das Allerwichtigste ist auch verpackt: Die Gastgeschenke.
»Watt nierme wi denn miehe?« Was nehmen wir denn mit? Das war bei allen Reisevorbereitungen die wichtigste Frage für meine Eltern. Über Monate. Die Gastgeschenke für Finnland wurden zum Problem. Was schenken wir unseren Finnen? Was nehmen wir für Axel und Viivi, was für ihre Eltern Kati und Matti mit? Wir hatten uns mit Axel telefonisch beratschlagt.
»Die mögen Weizenbier. Und das gibt es nicht hier in Finnland.«
Darauf Ilse: »Aber wir können doch nicht eine Kiste Bier mitbringen. Wie sieht das denn aus? Also nee, wirklich nicht. Und nachher werden wir noch verhaftet, weil wir schmuggeln.«
Ich schwieg diplomatisch. Wir entschieden uns am Ende für einen Bildband über Minden und einen über die »Straße der Weserrenaissance«. Dazu hatte ich eine Kiste Schöfferhofer Weizen eingepackt, für Axels Schwiegereltern. Und eine Kiste Barre Bräu für Axel. Das ist inzwischen erlaubt, EU-Recht. Für den Eigenbedarf darf man Alkohol mitnehmen, und die Menge ist ja bekanntlich Auslegungssache.
»Watt is datt denn?«, fragt Ilse beim Einpacken, als sie das Weizenbier sieht.
»Gastgeschenk«, sage ich.
»Ich hatte doch gesagt: kein Bier!« Meine Mutter schüttelt den Kopf, starrt auf die Kiste und wird dann sofort wieder die praktische, ostwestfälische Hausfrau, von der ich jederzeit lernen kann: »De bruket dovo no de Gläser. Hässt du keine?« Die brauchen dafür noch die richtigen Gläser. Hast du keine?
»Weizenbiergläser? Nee, bin ich nicht drauf gekommen.«
»Ick bin gliecks wier dor.« Und schon steigt sie aufs Fahrrad, radelt zum dorfeigenen Getränkemarkt, kauft bei »Getränke-Weber« die letzten vier Weizengläser und packt sie zu Hause sorgfältig ein, gibt sie mir und reicht noch eine Flasche an, original »Kutenhauser Sekt«.
Ich schlage die Heckklappe zu und sage: »So, denn!« Und das heißt: Wir sind fertig und können los. 9 Uhr 30. Und ab geht die Luzie. Ab jetzt drei Wochen Urlaub mit Eltern!
Anderthalb Stunden später bekomme ich einen Anruf. Isabel.
»Ich wär so gern dabei.«
»Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren.«
»Ich vermisse dich, als wären es drei Wochen.«
»Wir sind erst anderthalb Stunden unterwegs.«
»Grüß deine Eltern. Und schreib mir.«
»Ich kann jetzt nicht reden. Tschüs, Isabel.«
Drei Minuten Schweigen. Dann fragt mein Vater: »Isabel?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Kaum unterwegs, musst du schon wieder telefonieren!«, sagt meine Mutter.
Verflucht seien Handys, Funkmasten und Netzanbieter. Wie schön, dass wir bald nach Finnland kommen. Denn Finnen sind bekannt als große Schweiger. Die Dialoge in finnischen Filmen haben in etwa den Textumfang eines Pixi-Buchs. Ich bin sicher, ich werde mich wohl fühlen, Finnland scheint ein Land ganz nach meinem Geschmack zu sein.
Irgendwie habe ich mich seit den frühen Achtzigern unbewusst auf diese Reise vorbereitet. Ich hatte in Kassel im »Filmladen« jeden neuen Kaurismäki-Film gesehen. Filme von Mika, besonders aber von Aki Kaurismäki. Wunderbare, lakonische Roadmovies, Sozialdramen und Komödien. Der Stummfilm »Juha«, »Das Mädchen aus der Streichholzfabrik«, »Der Mann ohne Vergangenheit« und natürlich »Leningrad Cowboys go America«. Ich war Fan von »Marko Haavisto & Poutahaukat«, der mit seiner Band in »Der Mann ohne Vergangenheit« mitspielt.
Einer der großartigsten Dialoge im »Mann ohne Vergangenheit« lautet: »Wenn Sie nicht zahlen, beißt der Hund Ihnen die Nase ab!« »Die verstellt mir ohnehin nur die Aussicht aufs Meer!« »Ja. Aber dann können Sie unter der Dusche nicht mehr rauchen.«
Ich bin Fan der Schauspieler Kati Outinen und Matti Pellonpää. Ich war dreimal in der grandiosen Berlin-Komödie »Helsinki – Napoli all night long« von Mika Kaurismäki, der Geschichte um den finnischen Taxifahrer Alex in Berlin, gespielt von Kari Väänänen, der mit einer temperamentvollen Italienerin Kinder hat, die von einem amerikanischen Gangsterboss, gespielt von Sam Fuller, entführt werden. Natürlich hilft Alex’ bester Freund, ein Russe, der einen Abschleppwagen fährt und in eine Berliner Prostituierte verliebt ist, helfen Katharina Thalbach in der Taxizentrale und Wim Wenders als Tankwart.
Ich habe das Gefühl, in mein »gelobtes Land« zu fahren. Finnland, Land der Verheißung, wo man schweigt, »schwer mütet« und trinkt. Wunderbar! Und dort lebt jetzt mein Bruder. Alles ist Bestimmung!
»Wollten wir nicht was essen?« Mein Vater reißt mich aus meinen Gedanken. Ich halte auf einem Rastplatz, wir steigen aus, und ich öffne die Heckklappe. Hermann greift den »Korff«. Meine Eltern sind wahre Verpackungskünstler. Hermann und Ilse sind der Christo und die Jeanne-Claude des Haushalts. In alten Margarine-Dosen liegen Schnitten – nicht Schnittchen! – sauber gestapelt. Es gibt hartgekochte Eier in leeren Heringssalat-Dosen und Frikadellen in Eis-Dosen (Familienpackung, 1000 Gramm). Dazu Senf. Von Thomy. Für die Reise aus der Tube. Sonst kaufen meine Eltern diesen Senf seit Jahrzehnten aus Gläsern, und wenn die, leer und gespült, als Wassergläser auf den Abendbrottisch gestellt werden, sagt meine Mutter in nie endendem Ritual: »Und hier ist das Thomas-Kristall!«
In leeren Lätta-Dosen stecken kleine Tomaten, Bananen und Äpfel. Es gibt Thermoskannen mit koffeinfreiem Kaffee (Eltern) und normalem (Sohn), Wasser und Apfelsaft. Und – Nudelsalat. Wenn es irgendwas gibt, was in seiner Wirkung für Axel und mich alle anderen Drogen überstrahlt, sogar Haribo Goldbären, dann ist das Ilses Nudelsalat. Den wollen Hermann und ich uns aufheben.
»Den gibt es frühestens in Dänemark«, sage ich mit vollen Backen.
Ich stehe an der geöffneten Heckklappe und futtere. Meine Mutter trinkt Kaffee. Sie schaut missbilligend auf meinen Bauch und sagt kopfschüttelnd: »Kerl, dien Lief.« Kerl, dein Leib. Der Ostwestfale braucht nur wenige Worte, mit denen er aber oft sehr viel meint. Wirklich sauber übersetzt heißen diese drei Worte: »Sohn, du bist viel zu dick! Viel, viel zu dick! Kerl, was hast du für einen Bauch!« Dann nimmt sie einen Schluck Kaffee, sieht auf die Unmenge an Schnitten und ostwestfälischen »Tapas« und sagt fast schon etwas streng zu mir: »Ett no watt!!« Iss noch was!
Um Viertel vor drei erreichen wir den Fährhafen in Puttgarden auf Fehmarn. Die Fahrzeuge warten in mehreren Reihen. Wir werden als letztes Auto an Bord gewunken. Wir fahren durch Dänemark, an Kopenhagen vorbei. Wir erreichen die Fähre in Helsingör und setzen über nach Helsingborg, Schweden. Nun also weiter Richtung Stockholm, wo wir morgen Abend die Nachtfähre nach Finnland gebucht haben. Mittlerweile ist es etwa 20 Uhr. Ich muss ein Wigwam bauen für meine alten Herrschaften, ihnen ein Lagerfeuer entzünden und sie sicher durch die Nacht bringen.
Konfusion, der große ostwestfälische Weise, sagt: »Jede Reise beginnt damit, dass du dein Haus verlässt.« Nun muss ich eines für uns drei finden. Ich überlasse mich dem Prinzip Zufall und der Intuition. Ich fahre von der Europastraße 4 ab und überquere einen Fluss mit Namen Lagan und komme an das Vandrarhem Kylhultsgarden in Strömsnäsbruk. Romantisch gelegen auf einer leicht ansteigenden Wiese, mit altem Baumbestand, umringt von schnuckeligen Holzhäusern. Unter mächtigen Eichen stehen Holzbänke und ein Tisch. Ein regelrechter kleiner Park inmitten von Herbergsgebäuden.
»Ist ja ganz schön hier«, sagt meine Mutter.
Eine Jugend- und Wandererherberge, mit Zimmern mit Doppelstockbetten und Gemeinschaftsräumen, funktional und nüchtern, aber von der Veranda mit einer wirklich pittoresken Aussicht auf den unten liegenden Fluss. Kann ich meinen Eltern das zumuten?
»Ich könnte ein Viererzimmer nehmen«, sage ich, »dann schlaft ihr beide unten. Ist ja nur für eine Nacht.«
»Wenn du wüsstest, wo ich schon alles übernachtet habe«, murmelt mein Vater, der als Zimmermann auf Wanderschaft gewesen war. »Kein Problem für mich. Absolut nicht.«
Ich sage vorsichtig: »Wir müssen Bettwäsche leihen!«
Ilses Kopf ruckt herum. Meine Mutter sieht mich nur an. Sie sagt kein Wort, aber ihre Blicke sprechen Bände.
Ich sage: »Ja, is klar!«
Mein Vater eilt mir zur Hilfe: »Was machen wir denn mit Abendbrot?«
»Ich dachte, ich hol Pizza. Dann setzen wir uns unter den Baum. Und machen einen Wein auf. Ist doch total schön hier. Oder?«
»Okay. Bis gleich.«
Dann fahre ich los. In diesem Moment brummt mein Handy. Mein Bruder. Er schickt eine SMS aus dem noch fernen Finnland: »Gib mal Zwischenbericht. Was machen deine Nerven?«
Ich antworte: »Sind in Schweden. Alles besser als erwartet. Hole grade Pizza.«
Prompt kommt seine Antwort: »Hermann isst Pizza???«
Ich kehre zurück an unseren heimischen Herd, pardon, Tisch, stellte die Kartons ab, hole eine Flasche Wein aus dem Wagen (natürlich reise ich immer mit Korkenzieher), Ilse bringt die Plastikbecher, nicht ganz stilecht für den Syrah, aber das tut dem Geschmack und der romantischen Stimmung keinen Abbruch. Eher schon die Mücken, die sich augenblicklich auf uns stürzen. Ich hatte Mückenspray besorgt. Es wirkt nur begrenzt. Wir stoßen an. Mein Vater kaut. Vorsichtig.
»Ganz gut«, sagt er dann.
»Axel hat geschrieben und hat sich gewundert, dass du Pizza isst, Hermann.«
»Hab ich auch noch nie.«
»Was?« Mir fällt fast das Essen aus dem Mund.
»Ich auch nicht«, ergänzt Ilse.
»Und trotzdem überlebt bis heute«, sagt Hermann und nimmt noch ein Stück.
Langsam setzt die Dämmerung ein.
»Dass das immer noch hell ist«, wundert sich Ilse.
»Ich geh noch mal runter zum Fluss, kommt ihr mit?«
»Nee, ich lege mich hin«, sagt Hermann.
»Ich möchte mir wohl noch die Beine vertreten«, meint Ilse.
Wir schlüren – ostwestfälisch für schlendern – runter Richtung Wasser. Es ist jetzt ziemlich dämmerig, fast dunkel, manches nur noch schemenhaft zu erkennen, aber ich bin ein alter Trapper, durch Karl May geschult, bin bei Edgar Rice Burroughs in die Lehre gegangen, habe bei Jack London studiert und bei Henry Rider Haggard meine Meisterprüfung gemacht.
»Sühst du datt? Den Schatten da hinten, Mama?«
»Ich sehe nur dunkel«, sagt sie.
Ich verfalle langsam immer mehr in diesen Wechsel zwischen Platt- und Hochdeutsch, den auch meine Eltern oft praktizieren. »Ilse, kiek doch eis genau.« Ich zeige ihr die Stelle am anderen, mit dichtem Wald bestandenen Ufer: »Da steht was im Wasser. Und bewegt sich ab und zu. Ziemlich riesig. Na?«
»Ich seh nichts!«, sagt sie energisch
»Ich aber.«
»Du häst di oll gümmer watt inne bilget.« Du hast dir schon immer was eingebildet. »Rege Phantasie«, setzt sie noch nach. »Van wähne du datt woll hässt. Van mi jedenfalls nich!«
»Ein Elch, Ilse. Da drüben steht ein Elch.«
»Im Leben nicht!«
Wir wandern Richtung Herberge zurück. »Geht ja ganz gut mit Hermann«, sagt Ilse und macht damit ihren Sorgen etwas Luft.
Ich nicke.
»Geht hoffentlich auch weiter alles gut mit ihm unterwegs«, sagt sie weiter, »manchmal hab ich ja Bedenken, ob wir ihn nur noch waagerecht wieder mit nach Hause kriegen.«
Hermann hatte in den letzten 30 Jahren drei Infarkte gehabt, zwei Herzoperationen überstanden und fünf Bypässe bekommen. Da ist das Sterben jederzeit möglich. Ich versuche, sie zu trösten. Das muss man bei Ostwestfalen allerdings sehr rustikal machen: »Ich hab ja ’n Kombi. Wenn es ihn wirklich umhaut, klappen wir einfach hinten die Bank um, legen ihn rein und fahren ihn nach Hause.«
Zurück in unserem Zimmer mit den Etagenbetten, geht Ilse in den Waschraum, die Zähne putzen. Plötzlich steht Hermann neben mir. Wir schweigen. Irgendwas scheint ihn zu bedrücken.
»Und?«, frage ich. »So nachdenklich?«
Er räuspert sich. »Och.«
Lange Pause.
»Sag ruhig.«
Lange Pause.
»Nicht so wichtig.«
Noch längere Pause.
»Wenn es nicht so wichtig ist, kannst du es ja ruhig sagen.«
Irgendwann dann: »Diese Reise. Ich weiß ja auch nicht, ob ich womöglich nur in einer Kiste wieder nach Hause zurückkomme.«
»Wird schon schiefgehen«, sage ich. Ein größerer Trost ist unter Männern bei uns nicht denkbar.
Lange Pause.
»Jau«, sagt er noch mal.
Ich schweige. Beide Eltern machen sich die gleichen Sorgen, würden aber nie miteinander darüber reden. Dass sie mir das sagen mochten, erstaunt mich. Ich fühle mich plötzlich beinah aufgenommen in den Ältestenrat der Familie. »Geht doch ganz gut bis jetzt«, sage ich dann.
Pause.
»Jau!« Und dann leise und grinsend: »Aber du hast ja ’n Kombi. Wenn’s wirklich schiefgeht, klappt ihr für mich einfach hinten die Bank um.«
Das Wichtigste für den Ostwestfalen ist und bleibt die Verpflegung. Nach ihrer ersten Nacht in einer »Jugendherberge« ist die Generation 70 plus am nächsten Morgen hungrig. »Und was ist jetzt mit Frühstück?« Das ist der erste Satz, den ich an diesem sonnigen Sonntag von Hermann höre.
»Wir kaufen ein und suchen uns einen schönen Platz am Fluss.«
Wir finden neben einer kleinen Brücke eine Bank unter jungen Birken. Eine Entenfamilie schwimmt vorbei. Schwedische Vollidylle. Kauend sagt Ilse: »Im Leben war das kein Elch!«
Diese Familie ist nicht nachtragend, aber sie vergisst nichts. Mein Handy blinkt. Eine SMS von Isabel: »Hast du schon was erlebt?«
»Ja. Elch gesichtet!«, schreibe ich zurück.
Keine 10 Sekunden später kommt die Antwort: »Nie im Leben! Das erfindest du!«
Vielleicht sollten Ilse und Isabel sich einfach mal kennenlernen. Ich habe das Gefühl, sie würden sich verstehen.
Wir fahren durch Schweden, am Vätternsee entlang, und plaudern. Die schwedische Landschaft zieht vorüber, Birken, Tannen, Fichten. Lichtungen, Wiesen, Felder. Das Korn halmt sich der Sonne entgegen. An einem See nahe bei der Autobahn machen wir eine lange Mittagspause, und Ilse und ich lassen von einem kleinen Steg die Beine ins Wasser baumeln. Ilse beklagt, dass ihr Mann kaum je zu bewegen ist, ins Wasser zu steigen. In den Nordseeurlauben sei er höchstens mal bis zum Bauch reingegangen. »Ein Wunder, dass der sich wäscht!« Hermann macht Reisenotizen und hört grinsend zu. Dann schlafe ich ein, im Gras, im Schatten eines Baumes. Herrlich! Urlaub.
Wir fahren weiter, und Ilse rückt vorsichtshalber »dän Emmer torechte«. Hermann lehnt am Korb. Finnland kommt näher. Und scheinbar werden damit auch ein paar Sorgen größer. Jedenfalls bei Hermann.
»Ob das alles gutgeht?«
»Was soll denn schiefgehen?«
»Na, wie soll das denn klappen mit dem Reden? Die sprechen kein Deutsch, wir sprechen kein Finnisch.«
»Hättest du eben Finnisch lernen müssen«, meint Ilse pragmatisch.
Axel und Viivi würden schon übersetzen, sage ich.
Wir fassen auf den nächsten 200 Kilometern alles zusammen, was wir von Finnland und unseren Finnen wissen. Viivi, Mitte 20, hat Modedesign studiert. Ihre Familie lebt in Lahti, einer kleinen Stadt etwa 100 Kilometer nördlich von Helsinki. Ihre Eltern heißen Kati und Matti. Sie hatten in Lahti zwei Läden gehabt, einen kleineren Jeans-Laden und einen mit Mode überwiegend für junge Frauen und Mädchen. Kati und Matti waren vor einigen Jahren in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. Der älteste Sohn, Toni, hatte erst beide Läden übernommen, und seit Viivi im Frühjahr ihr Studium abgeschlossen hat, führt sie den Jeans-Laden. Matti und Kati leben mittlerweile überwiegend im mökki. Das ist das vielzitierte »Haus am See«, von dem in Deutschland Peter Fox nur singt, das aber in Finnland eigentlich jeder Finne besitzt. Meist mit Seezugang und Steg. In ihrer Stadtwohnung in Lahti sind die beiden mittlerweile eher selten anzutreffen.
Die Winter verbringen Kati und Matti inzwischen in einer kleinen Mietwohnung an der Costa Brava in Spanien. Dort, hatte Axel erzählt, steht auch ihre Harley-Davidson. Mit anderen finnischen Freunden kurven sie die Küste entlang und nennen sich »Costal Riders«. Als Motorradfahrer finde ich das beeindruckend. Aber noch schöner als das Motorrad, das absolute Sahnehäubchen, musste dieses mökki sein, wie Axel erzählte.
Geplant ist, dass wir zuerst Axel und Viivi in Lahti besuchen und während dieser Zeit bei »Schwiegerelterns« in deren Stadtwohnung leben. Und am nächsten Wochenende werden wir dann alle zu denen ins mökki fahren.
»Wo sollen wir da denn schlafen?«, fragt Herman nervös.
»Ich denke, du hast als Zimmermann schon sonst wo übernachtet? Wenn da kein Platz wäre, hätten sie es uns nicht angeboten«, sage ich. »Die wollen eben mal sehen, welcher Familie sie ihre Tochter anvertrauen.«
»Kann man auch verstehen«, sagt Hermann. »Aber ich esse da nichts, was mir nicht schmeckt!«
»Ist noch nicht da und denkt schon wieder ans Essen«, grinst Ilse.
Wir warten in Stockholm auf die Fähre. Ich denke mir im Stillen, dass Gefahren vielleicht geringer werden, wenn man über sie spricht. Hermann scheint meine Gedanken gehört zu haben. »Hoffentlich regnet es nicht dauernd«, sagt er.
»Weitere Sorgen?«, frage ich.
»Die Mücken.«
»Ich hab doch Spray dabei.«
»Ja«, meint Hermann grinsend, »aber ob die Mücken in Finnland auf dein deutsches Spray überhaupt reagieren? In Schweden jedenfalls hat es so gut wie nichts genutzt.« Er kratzt sich wieder. Die Mücken hatten ihm quasi das Sternbild des »Großen Wagens« auf den Oberarm gestochen.
Auf der Fähre beziehen wir unsere gemeinsame Kabine, vier Schlafplätze, ich oben, die beiden mal wieder in den Etagenbetten unten. Ich klettere die Leiter hoch.
»Fällst du auch nicht runter?«, fragt Hermann nur scheinbar besorgt.
Wir sehen aus einem riesigen Bullauge die schwedische Schärenlandschaft vorbeigleiten. Felsgruppen, kleine Inseln, manche karg, andere bewachsen mit Büschen und Bäumen. Und an fast allen führt ein kleiner Steg vom Land ins Wasser. Wenn in den schwedischen oder finnischen Schären oder Seen ein Fels die Größe eines Autostellplatzes nur leicht überschreitet, dann bauen der Schwede oder der Finne sofort ein Haus drauf und eine Toilette daneben. Fast alle dieser kleinsten, kleinen und großen Schäreninseln sind bewohnt. Wenn man vorüberfährt, ist das ein ungewohnt romantischer Anblick. Hier könnten Romane geschrieben werden. Aber was ist mit Schulpflicht? Nachbarschaftlichen Treffen? Wie weit liegt der nächste Supermarkt entfernt? Ein Wunder, dass es zwischen diesen sommersprossig ins Wasser gesprenkelten Felsen eine Fahrrinne für eine ausgewachsene Autofähre gibt.
Ich liege gedankenversunken in meiner Koje. Meine Eltern richten sich ein. Unter mir quasi. Eine weitere gemeinsame Übernachtung mit meinen Eltern. Ganz dicht beieinander. Nicht wie bei einem kurzen Besuch, wenn man auf dem Sofa ein Nickerchen hält. Wir werden uns atmen hören, uns im gleichen Raum aus- und umziehen. Ich höre sie ihre Tabletten aus den Packungen drücken. Das ist schon ein kleines Hörspiel. Es knistert wie drei trockene Holzscheite im offenen Kaminfeuer. Mir ist das alles viel zu nah. Ich habe ganz andere Rhythmen. Ich bin ein Nachtvogel, die beiden sind mehr Tagaktive. Das mag was geben! In diesem Moment überraschen sie mich mit dem Satz: »Und? Gehen wir noch mal hoch? Bisschen aufs Wasser schauen? Wir würden dir auch ein Bier spendieren.«
»Alkohol? Für mich? Von meinen Eltern? Donnerwetter! Dann los!«
Wir stehen in der Schlange vor der Restaurantkasse. Hier kann man die Währung wählen, in der man bezahlen möchte: schwedische Kronen oder »finnischen« Euro. Wir zahlen mit der »Reiseerleichterung« Euro. Der Finne an der Kasse spricht uns an: »Sie sind aus Deutschland?« Wir strahlen. Der kann Deutsch! Wo wir hinwollen? Lahti. Nun strahlt er. Lahti – seine Geburtsstadt. Warum gerade nach Lahti? Der Sohn und Bruder wohne nun dort. Als Deutscher? In Lahti? In Finnland? Er strahlt noch mehr.
In seiner nächsten Pause setzt sich Arto zu uns. Er fährt seit 2002 bei Tallink Silja Line. Auf der Fähre arbeiten ausschließlich Finnen, erzählt er. Seine Schicht dauert sieben Tage, mit 70 Arbeitsstunden, dann hat er jeweils eine Woche frei, die er bei seiner Familie verbringt. Ursprünglich hatten seine Frau und er beide auf dem Fährschiff gearbeitet, bis dann die Kinder kamen. Nun arbeitet seine Frau als Krankenschwester, er weiter im Schichtdienst.
»Meine Frau ist eine typische Finnin.«
»Was heißt das?«, frage ich.
»Sie ist schön, mit hellen Haaren, und lustig.«
Eine großartige Liebeserklärung an den weiblichen Teil seines Volkes, finde ich.
Dann schwärmt er von seinem mökki, wo es ganz anders sei als im Stadtleben. Dort könne man zum Beispiel einfach ein Feuer anmachen. Ilse fragt, wohin er denn im Urlaub fahren würde. Er schüttelt den Kopf. Die Sommer im mökki seien so schön. Er würde höchstens alle vier oder fünf Jahre mal im Ausland Ferien machen. Bei einer Tante in »Switzerland«.
Ob es schön sei in Lahti, fragt Hermann. Natürlich sei es schön in Lahti, vielleicht nicht ganz so schön wie in Vääksy, wo Arto auch zehn Jahre lang gewohnt habe. Aber beide Städte lägen am wunderschönen Vesijärvi-See.
»Seid ihr schon mal Eisangeln gewesen?«
»Noch nie! Keiner aus unserer gesamten Familie hat je eine Angelrute in der Hand gehabt, zu keiner Jahreszeit.«
Ungläubig schüttelt Arto den Kopf und schwärmt vom Eislochangeln in Jääkaira. Später suche ich diesen Ort auf der Landkarte und stelle fest, dass er versucht hatte, uns die Technik des Eislochangelns zu erklären. Er hatte nicht in Jääkaira geangelt, sondern mit dem jääkaira, dem Eislochbohrer, die Löcher zum Angeln in das Eis geschnitten. Lost in translation.
Meine Eltern erzählen von einer Busreise, die sie vor 15 Jahren unternommen hatten, zum Nordkap, und von der Rückfahrt über Rovaniemi.
»Rovaniemi?« Jetzt kommt Arto noch einmal so richtig ins Schwärmen über Lappland, die Sommer, wenn es dort 24 Stunden hell ist, den Inari-See, den Ivalojoki, den Fluss, an dem er immer wieder angeln geht, den viel zu vielen Moskitos dort oben, der dunklen Zeit im Winter, wenn es zwei Monate lang keine Sonne gibt. »Nur vier helle Stunden am Tag!« Die Tage seien sehr dunkel, aber auch sehr schön. »Melancholik«, sagt er. Melancholisch.
»Und der Alkohol im dunklen Winter?«, fragt Ilse. »Ich denke, dann trinkt ihr so viel.«
Die Kollegen rufen, Arto lacht, steht auf und sagt: »Wodka hilft nicht nur Katzen!«
Ich muss auch lachen und merke dann, dass ich diesen Satz trotz seiner offensichtlichen Komik nicht richtig verstanden habe. Was meint er? Ist das ein finnisches Sprichwort? Was bedeutet es genau? So etwas wie: »Milch ist nicht nur für in den Kaffee?«
»Das verstehe ich jetzt nicht«, sage ich.
»Katzen«, sagt Arto. »Katzen im Hals.« Und fasst sich an die Gurgel.
Ilse schaltet als Erste: »Gegen das Kratzen im Hals. Er meint kratzen.«
Arto nickt und wiederholt: »Ja. Wodka hilft nicht nur Katzen im Hals!«
Er hat auf den finnischen Wodka »Koskenkorva« angespielt, für manche Finnen zumindest im Winter eine Art Grundnahrungsmittel, und dieser Wodka hilft, so Volkes Meinung und der Durstigen Trost, gegen Grippeviren genauso wie gegen Schnupfen, Husten, Heiserkeit. Nun sind wir endgültig vorbereitet. Wir haben unser Einführungsseminar für Finnland bei Arto bekommen.
Die Nacht zu dritt in der Fährschiffkabine schlafen wir ohne Komplikationen durch. Der nächste Morgen. Eine frühe Sonne weckt uns. Ich schaue auf meinem Handy nach der Uhrzeit. Eine SMS ist eingegangen. Von Isabel! »Ich wäre jetzt so gerne bei dir. Kuss!«
Ich tippe: »Bin sehr froh, dass du nicht da gewesen bist, denn ich wohne in einer Kabine mit meinen Eltern.« Ich speichere die SMS unter »Entwürfe«.
Dann gehen wir hoch an die Reling. Wir fahren durch die finnischen Schären. Und natürlich steht auf jedem Felsen ein mökki.
Kurz vor Ankunft gehe ich in den »Supermarkt« an Bord. Ich will noch ein Extra-Geschenk für meinen Bruder kaufen. Der Supermarkt auf der Fähre ist hauptsächlich ein Alkoholverkaufsstand, eine Art Riesenkiosk mit sechs Kassen. Neben den Regalen mit Wein, Schnäpsen und Likör, mit Brandy und Baileys und Whisky und Wodka stehen hier vor allem Paletten mit Dosenbier. Etliche Quadratmeter sind ausschließlich dem in Finnland und Schweden immer noch sehr teuren Gerstensaft reserviert. Mannshohe Türme erwarten die Durstigen, je 24 Dosen im Pappkarton, für Fachleute: im Tray! Auf jeder Palette 9 Lagen mit je 11 Trays. Demnach 99 Trays auf jeder Palette. 2376 Dosen. Ich zähle 8 Paletten. Dosen im Umfang der griechischen Staatsverschuldung!
Um mich herum heftige Betriebsamkeit. Es ist, als würde man einen Ameisenhaufen in seiner unüberschaubaren Emsigkeit beobachten. Die Stapel werden von den Fährgästen mit größter Zielstrebigkeit entstapelt. Viele marschieren mit je einem Tray in jeder Hand hinaus. »Das musst du erst mal von hier über die Treppen bis zum Auto schaffen! Ich parke am anderen Schiffsende«, zischt mir ein schmalgebauter Mittdreißiger zu. Manche Finnen bedauern, dass der Mensch nur zwei Hände habe. Aber denen kann geholfen werden. Die »Krönung der Hafenrundfahrt«: Als Sonderangebot gibt es vier Trays, die bereits übereinander auf einem kleinen Einkaufstrolley gestapelt und mit einem Gummizug gesichert sind. Also Bier auf Rollen. Dosen to go, Trolley inklusive. Das ist witzig, geschäftstüchtig und erschreckend zugleich. Und Hunderte Väter, Söhne, Onkel und Großväter schieben sich mit diesen betürmten Vehikeln in die Aufzüge, kämpfen sich die Treppen hinab zum Autodeck, schrammen zwischen den geparkten Autos entlang und wuchten sie dort ihren Kleinkindern auf den Schoß oder ihren Frauen unter den Hintern, weil es in diesen kompetent gepackten Autos keinen anderen Stauraum mehr gibt. Einige wenige sogar lassen ihre Angehörigen wortlos auf dem Parkdeck zurück.
Ich will nicht sagen, dass das alles typisch finnisch ist, aber typisch skandinavisch ist es auf alle Fälle. Ich wechsle auf das wissenschaftliche Prinzip der sogenannten »teilnehmenden Beobachtung« und kaufe ebenfalls 24 Dosen im Pack und denke, während ich mit meinem lächerlichen einen Tray hinter den Biertransportern auf den Treppen zu den Autodecks laufe: »So geht es also zu in Axels neuer Heimat.«
Montag. Turku, Fähranleger. Wir fahren von Bord und werden von strahlendem Sonnenschein empfangen. Das ist also das Land meines Bruders. Es regnet nicht. So früh morgens ist auch keine einzige Mücke zu sehen. Der Finne meint es gut mit uns. Mein Navigationsgerät zeigt uns den Weg, Hermann blättert wie immer im Autoatlas.
Die Schlangen vor den Speisetheken im Schiff mit dem schwedisch-finnischen Essensangebot hatten wir links liegenlassen. An der ersten großen Kreuzung außerhalb Turkus lockt eine Tankstelle. In Finnland sind die Tanken fast allesamt kleine Restaurants und Treffpunkte. Aber was verbirgt hier der Bäcker im Gebäck? Meine Eltern stehen konsterniert vor der Theke, und Hermann schaut hilfesuchend nach aufgeklappten Broten, bei denen man wenigstens würde erkennen können, womit sie belegt sind.
Ich spreche mit der Kassiererin. Sie hält mich wohl für einen Finnen, denn was sie sagt, verstehe ich nicht. Wir versuchen es beide auf Englisch. Das hilft bei den Süßwaren nicht wirklich weiter, denn entweder weiß sie nicht zu sagen, was im Gebäck ist, oder ich kenne das englische Wort nicht. Wir werden also Lose ziehen mit halbwegs einer Aussicht auf Gewinn. Aber die Dame ist zauberhaft, und wir lernen vor allem das: In Finnland zahlt man nur den ersten Kaffee und darf danach oft mindestens einmal nachschenken. Refill! Mit Nachfüllen! Dazu kaufen wir drei Experimente in Teig. Hermann beißt, das Gesicht in einer Erwartungshaltung wie sonst nur C-Prominente bei der nächsten Aufgabe im Dschungelcamp, in das unbekannte Gebäck. Wir kauen. Unsere Mienen entspannen sich. Lecker. Ich hole Kaffee nach. Dann schalte ich wieder das Navigationsgerät ein. Unser erstes Zwischenziel ist Riihimäki. Wir müssen quasi einmal »quer rüber«, um nach Lahti zu gelangen.
Wir fahren durch baumbestandene Landschaft. Fremd wirkt das nicht. Erinnert alles irgendwie an Ostwestfalen. Bäume. Birken, Tannen. Kiefern. Nur weniger Orte. Landstraßen. Geschwindigkeitsbegrenzungen. Aber kaum Ortsdurchfahrten. Mehr Gegend. Und dabei sind wir hier im am stärksten bewohnten Teil, im Süden Finnlands. Immer wieder sind Baumstämme gestapelt. Ab und an eine Parkbucht. Wenig Verkehr. Ich schaue unwillkürlich zur Tankanzeige. Hätte ich etwa eben tanken sollen? Meine digitale Anzeige sagt, das Benzin reicht noch 640 Kilometer. Bis dahin sollte eine Tankstelle gekommen sein. Bis Lahti sind es etwa 250 Kilometer.
Es ist merkwürdig still im Auto. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Ich bewundere meinen Bruder. Der hat plötzlich seinen Platz gefunden. Da kommt diese Frau, und schon stellt er sein Leben auf den Kopf, verlässt Deutschland und zieht in ein fremdes Land, mit komplett anderer Sprache, anderer Mentalität – wie ich da noch denke – und vor allem einem komplett anderen Klima. Eltern, Bruder und Freunde zurücklassend. Sogar seine Plattensammlung. Seine Gitarren. Abgeflogen mit kleinem Gepäck.
»Dass der einfach so nach Finnland gezogen ist«, sage ich mitten in die Stille unserer Fahrt.
»Versteh ich aber«, sagt Ilse.
»Wie bitte?«
»Ja, ich wollte auch immer weg.«
»Du? Wohin denn?«
»Ich wollte immer nach Kanada auswandern.«
»Ist nicht wahr!«
»Doch.«