Das Lächeln der Anderen - Thomas Koepcke - E-Book

Das Lächeln der Anderen E-Book

Thomas Koepcke

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Beschreibung

Ein junger Mann, der fassungslos vor dem Scherbenhaufen seiner eigenen Vergangenheit steht, und dessen Leben eine unerwartete Wendung erfährt. Ein Journalistenehepaar, das für Gerechtigkeit kämpft und plötzlich vor dem Abgrund steht. Ein Verleger, der versucht, zu retten, was zu retten ist und dabei einen hohen Preis bezahlt. Zwei Mitarbeiter eines Großkonzerns namens Henleene, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Ihr Kalkül ist tödlich. Ihr Profit riesig. Der einzige Zeuge beseitigt. Und mit ihm die Beweise. Keiner kann ihnen mehr etwas anhaben. Was den jungen Agenten Thibeau und sein Team dennoch antreibt, ist die Hoffnung, das Leben tausender unschuldiger Menschen zu retten. Doch nicht nur die Zeit ist gegen sie.

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Seitenzahl: 592

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Thomas Koepcke

Das Lächeln der Anderen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1 Montmartre, Paris

2 Die orangefarbene Mappe

3 Banque de France,

4 Auf der Suche nach der Wahrheit

5 L ´Opale Noire

6 Kokwut

7 Manhattan, New York

8 Five Points, Atlanta

9 Atlanta, Georgia

10 Bathou, Südafrika

11 Manhattan, New York

12 Kapstadt, Südafrika

13 Lagos, Nigeria

14 Bathou, Südafrika

15 Five Points, Atlanta

16 Manhattan, New York

17 Springbanks Arch, Northwood

18 Baseballfeld 5, Northwood

19 Springfield, QC, Kanada

20 Am Bahndamm, Franks Laufstrecke

21 Burnes Valley, QC, Kanada

22 Am Bahndamm, Springfield

23 Burnes Valley

24 Carter

25 Böses erwachen

26 Holly

27 Auf dem Weg nach Ottawa

28 Raritan Bay, National Park

29 Hauptquartier von L´Opale Noire

30 Die Nacht davor

31 Flughafen Charles-de-Gaulle

32 Clamart, Frankreich

33 Der Anruf

34 Alles auf Anfang

35 Glaube und Hoffnung

36 Silent Dreams

37 Der Verdacht

38 Unvalid Username

39 Philibert

40 Der Account

41 Ein Freund

42 Kinshasa

43 Der Flug

44 Lagos, Nigeria

45 Die Zentrale

46 Die Erkenntnis

47 Dr. Jean Bertrout

48 Atlanta Yachtclub AYC

49 B.H.

50 Nicolai´s Roof

51 Marie Antoinette Rancé

52 Der kleine Vogel

53 Zwischen dem Nichts und der Unendlichkeit

Impressum neobooks

1 Montmartre, Paris

Thomas Koepcke

Das Lächeln der Anderen

Der Autor

Thomas Koepcke ist Ingenieur, arbeitet als Lehrer an einem Berufskolleg und schreibt nebenbei Kurzgeschichten. ´Das Lächeln der Anderen´ ist sein erster Roman. Mit seiner Familie lebt er im Münsterland.

Weitere Informationen finden Sie im Internet auf

www.kurzerzaehlt.de oder bei Instagram unter

kurzerzaehlt.de.

Thomas Koepcke

Das Lächeln

der

Anderen

Ein Fall für Thibeau

Thriller

Die Handlung des hier vorliegenden Romans ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten wären rein zufällig.

Sollte diese Publikation Hinweise oder Links auf Quellen Dritter enthalten, so übernimmt der Autor für deren Inhalte keine Haftung, da er sich diese nicht zu eigen macht, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung verweist.

Die erste Ausgabe ist im August 2023 als E-Book bei

Neobooks.com erschienen.

Zweite überarbeitete Ausgabe, März 2024

Impressum

Texte: © 2024 Thomas Koepcke

Coverdesign: © 2024 Mattias Koepcke

Verantwortlich

für den Inhalt: © Thomas Koepcke

[email protected]

www.kurzerzaehlt.de

E-Book veröffentlicht über: Neobooks.com

Alle Rechte vorbehalten.

Zitat

New York, USA

Dienstag, 21.September 2021

„Ich bin hier, um Alarm zu schlagen: Die Welt muss aufwachen. Wir stehen am Rande eines Abgrundes und bewegen uns in die falsche Richtung. Unsere Welt war noch nie in größerer Gefahr und noch nie gespaltener. Wir stehen vor der größten Kaskade von Krise unserer Lebenszeit…

…Eine Mehrheit der reicheren Welt ist geimpft. Aber mehr als 90 Prozent der Afrikaner warten immer noch auf ihre erste Dosis. Das ist eine moralische Anklage des Zustandes unserer Welt. Wir haben Wissenschaftstests bestanden. Aber in der Ethik sind wir durchgefallen.“

[António Guterres, UN-Generalsekretär;

76. UN-Vollversammlung, New York; 21.09.2021]

Intro

Die Welt ist klein und sollte ohne Unterschiede sein,

wenn es um das Recht der Menschen

auf ein angemessenes, friedliches und freies Leben geht.

So ist es aber nicht…

Prolog

Ein kalter, kupferartiger Geschmack - wie von Blut - benetzte ihren Gaumen. Sie schluckte und ahnte, dass das, was sie vorhatte, ihr Leben für immer verändern würde. Sie hatte Vorkehrungen getroffen, für ihn. Er würde verstehen, dass sie nicht länger zusehen konnte, was hier geschah, millionenfach, jeden Tag, aus reiner Profitsucht. Sie musste zu Ende bringen, was sie begonnen hatte. Für sie gab es kein zurück.

Sie sah auf die Uhr. Die Zeit schien rückwärts zu laufen. Es war der Anfang vom Ende einer Operation, so hoffte sie zumindest, deren Ausmaß noch keiner so genau ermessen konnte, auch sie nicht.

Ein letztes Mal fiel ihr Blick durch das Fenster nach draußen. Dass der Himmel über Hamburg tiefschwarz und von einem bedrohlich schimmernden Gelb durchzogen war, prallte an ihr ab. Es war um die Mittagszeit, als das Gewitter heraufzog. Übergangslos hatten Blitze alle Konturen um sie herum auf einen Schlag verwischt. Für den Moment existierte nur noch das grelle Weiß. Beinahe unmittelbar folgten das Knistern und das Krachen des Donners. Zwei-, vielleicht dreimal hintereinander. Jeder andere wäre zusammengefahren. Sie hatte einfach nur dagestanden, obwohl es innerhalb von Sekunden alles hätte zu Nichte machen können. Jetzt war es um sie herum beinahe dunkel und still. Selbst die kleine Schreibtischlampe und das bläuliche Licht des tonlosen Monitors konnten daran nichts ändern. Dann kam der Regen.

Hatte sie eine Wahl gehabt? Sie musste nach deren Regeln spielen. Und das war immer riskant. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Lächeln der Anderen, doch das würde ihnen bald vergehen.

Sie schüttelte ihre langen dunklen Haare nach hinten, drehte sie – den Blick fest auf das Display gerichtet – mit routinierten Handgriffen zu einem Knoten und fixierte ihn mit dem Stift, den sie zwischen ihren Lippen geparkt hatte. In Gedanken ging sie noch einmal alles Schritt für Schritt durch. Eine zweite Chance würde es nicht geben. Das hatte ihr der Informant auf eindrucksvolle Weise klar gemacht. Zu viel hing davon ab.

Intuitiv legte sie ihre linke Hand an das Headset und setzte sich an den Schreibtisch. Sie rückte Tastatur, Maus und Trackpad zurecht. Ihre mokkabraunen Augen scannten den hochauflösenden Bildschirm. Dann spürte sie das Pochen in ihrer Brust, erst langsam und heftig, dann wurde es schneller und flacher.

Mehrere Fenster am Bildschirm waren geöffnet. Rechts oben: Die Weltkarte mit den Zeitzonen. Die aktuelle Uhrzeit: 12:13:05 Uhr. Dahinter stand UTC+1, United Time Coordinated, plus eine Stunde. Die zweite Uhr, darunter, zeigte die westindonesische Zeitzone WIT an, UTC+7. Dort war es 18:13:05 Uhr. Die dritte Uhr zeigte die britische Zeitzone an, UTC. Die Zeitzone am Nullmeridian, früher Greenwich Mean Time: 11:13:05 Uhr. Ihre Augen fixierten den unerbittlichen Wechsel der Sekundenanzeige, der bei allen drei Zeitzonen synchron erfolgte, während ihr Herz mindestens doppelt so schnell schlug.

Sie wählte die erste Nummer. Freizeichen. Ungewollt zählte sie die Wiederholungen. Zweimal, dreimal, viermal. Eine Computerstimme nahm ab.

„CF-H-Consulting, please enter your code.“

Sie gab den Code ein und drückte ENTER.

Kurze Pause, ein Knacken, dann wieder Freizeichen. Diesmal war es ein anderer Ton. Erneut spürte sie ihr Herz, wie es zwischen den Freizeichen hämmerte, immer einen Schlag mehr.

Bevor sie den Gedanken aufnehmen konnte, der ihr plötzlich durch den Kopf schoss, meldete sich eine weitere Stimme.

„Ja?“

Der Informant hatte ihr genaue Anweisungen gegeben.

Nennen Sie den Code und fragen Sie nach Bolton Harper. Nur dieser eine Name. Ein Fehler, und Sie sind raus.

Sie atmete lautlos durch die gespitzten Lippen aus und konzentrierte sich.

„Zb-1743.y. Bolton Harper, bitte.“

Sie wusste, dass ihr Anruf angekündigt war. Der Mann auf der anderen Seite des Erdballs war emotionslos. Die Stimme der Anruferin kannte er nicht.

„Was kann ich für Sie tun, Ma´am?“

Sie sah auf die eingeblendeten Zeitzonen. Die indonesische Uhr wurde grün angezeigt. Das bedeutete: Der Empfänger saß tatsächlich auf der anderen Seite des Erdballs. Doch wenn ihre Vermutung stimmte, müsste sich genau das bald ändern. Die linke Seite des Monitors zeigte eine weitere Weltkarte, bei der Lichtpunkte und Linien verschiedener Farben ein- und ausgeblendet wurden. Der Anruf wurde getrackt. Die Nummer, die sie gewählt hatte, gehörte zu einem Anschluss in Jakarta, Indonesien.

Es ging um einen lukrativen Auftrag. Der Deal hatte sie fünf Monate Arbeit und einhundertzwanzigtausend Euro alleine für die Telefonnummer gekostet. Das Gespräch lief zäh, die andere Seite war zurückhaltend, schien jedoch interessiert. Schließlich hatte sie etwas zu bieten. Wenn sich ihr Verdacht bestätigte, betrügen ihre Investitionen weniger als nullkommaeins Prozent des Auftragsvolumens: Dreihundert Millionen Euro, auch in dieser Branche nicht alltäglich. Der Auftrag war fingiert, die Risiken groß. Sie nahm sie in Kauf. Ihr blieb keine Wahl.

Nach etwa drei Minuten war alles Wichtige gesagt. Sie legte auf. Derartige Telefonate, wenn es sich um Erstkontakte handelte, waren immer kurz. Auch das hatte ihr der Informant gesagt. Sie basierten auf einer Referenz, die es zu prüfen galt. Wenn alles glatt ging, und sie die Bestätigung für einen zweiten Code erhalten hätte, würde ein weiteres Gespräch folgen. Nach noch nicht einmal zehn Sekunden poppte eine Nachricht auf. Der Code. Die Zeit lief.

Als sie die zweite Nummer wählte, fiel ihr das Handy aus der Hand. Erst auf den Tisch, dann auf den Boden. Für einen kurzen Moment hörte sie auf, zu existieren. Ihr Herz schien auszusetzten. Blut stieg ihr in den Kopf. Der Countdown blinkte. Noch fünfundzwanzig Sekunden. Aus der Ferne hörte sie eine Stimme, die ihr bekannt vorkam.

… kein zurück!

Es war ihr Unterbewusstsein, ihre eigene Stimme.

…Atme und konzentrier dich! Los!

Sie hob das Handy auf und versuchte es erneut.

…keine Fehler mehr!

Sie hatte weitere einhundertachtzigtausend Euro für die zweite Nummer bezahlt. Alles auf diese eine Karte gesetzt! Als Gegenleistung hatte sie neben der Telefonnummer die Bedingungen für die Kontaktaufnahme erhalten: Zum einen betrug das Zeitfenster achtundvierzig Stunden ab Erhalt der Kontaktdaten. Zum anderen blieb ihr weniger als diese eine Minute zwischen den beiden Anrufen. Danach verfiel der Code. Eine zweite Chance würde es nicht geben. Sie sah erneut auf den Countdown.

Freizeichen. Noch zwölf Sekunden. Ihre Hände schwitzten. Elf, zehn, neun, acht. Sie sah abwechselnd auf die Uhrzeiten, dann wieder auf den Countdown. Die westindonesische Zeit leuchtete immer noch grün. Sieben, sechs, fünf. Sie hielt die Luft an. Vier, drei, zwei …Dann knackte es ind er Leitung.

„CF-P Harper-Manaham. Ihr Codewort?“

Es war eine Frauenstimme, kalt, berechnend, unnahbar, die nach dem Code fragte. Sie gab ihn durch.

„Ihr Name?“

Sie stutzte.

… Nur dieser eine Name….Und den hatte sie bereits…

„Kein Name!“

„Ich verbinde.“

Erneut Freizeichen. Sie sah auf die Uhr, dann auf den Countup. Die Uhr zählte jetzt vorwärts. Ein gutes Zeichen. Sie beobachtete jede Sekunde. Ihre Nerven lagen blank. Plötzlich passierte es. Die Zeitzone wechselte. Das Trackingfenster sprang von Asien zurück nach Europa. Sollte sie tatsächlich richtig liegen mit ihrer Vermutung? Der Beweis dafür war zum Greifen nahe und doch konnte immer noch alles schief gehen.

…Fünf Monate…

Sie brauchte die Bestätigung für die Übereinstimmung, den entscheidenden Beweis, und den Auftrag.

Der Ton des Freizeichens hatte sich geändert. Die Anspannung war unerträglich. Ein weiteres Mal schob sie Tastatur, Maus und Trackpad gerade, alles musste winkelig liegen. Eine Marotte. Dann sah sie den Stift, der dem unsinnigen Muster nicht gefolgt war. Sie legte auch ihn in die richtige Position. Es musste sein. Sie konnte nicht anders.

Eine Minute und dreiunddreißig Sekunden. Plötzlich knackte es erneut in der Leitung, während sie gerade dabei war, einen Schluck Wasser zu trinken. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Ihre Hände zitterten, als ihre rechte Hand zwischen Maus und Trackpad hin- und herpendelte, um den nächsten Schritt einzuleiten. Zweizehn, zweielf, zweizwölf. Die Leitung war offen, der Trackmode pendelte über Europa. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Noch einen Schluck Wasser. Es dauerte unendlich lange, bis sie ihn heruntergewürgt hatte. Sie schnappte nach Luft. Dreidreizehn, dreivierzehn. Ein Fenster poppte auf. Die Schrift blinkte:

Matching Number!

Koordinaten:49.45518897906507, -2.531968340287735Victoria Port, Guernsey

…Komm schon, …

Sie puschte sich. Beinahe hätte sie es laut ausgesprochen. Ihre Finger trommelten über der Maus ohne sie zu berühren, die Leitung war immer noch offen. Doch die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Dann endlich hörte sie seine Stimme: Gelassen, tief und von unerschütterlicher Überlegenheit.

Yes!

Das war der entscheidende Moment. Sie ballte beide Fäuste und sah zur Decke. Am liebsten hätte sie geschrien.

Sollte es tatsächlich funktioniert haben?

Hatte sie ihn überführt?

…fünf Monate Arbeit…

Tausend Gedanken rasten ihr durch den Kopf, während ihre linke Hand intuitiv zum Headset wanderte. Sie las den Namen des Empfängers im linken Fenster ihres Monitors, als sie plötzlich einen Warnton vernahm: Schrill und gnadenlos.

„Scheiße, verdammt!“

Der Countup war exakt bei vier Minuten und zwölf Sekunden stehengeblieben. Er blinkte rot. Der Trackmode zeigte ´End of time´ und die Daten für die aufgezeichnete Kommunikation. War die Verbindung gekappt worden?

Sollte sie doch scheitern? Fieberhaft ging sie noch einmal alle Optionen durch. Es konnte alles bedeuten. Doch die Verbindung war eindeutig unterbrochen. Auch das stimmte mit den Möglichkeiten überein, die ihr der Informant genannt hatte. Doch sie hatte keine Ahnung, wie sie das einschätzen sollte. Es war nicht mehr als eine Call-Option.

Wie konnte sie in diesem Moment an die Börse denken?

Konzentrier dich.

Angespannt versuchte sie, Tastatur, Maus und Trackpad in die richtige Flucht zu legen, schloss kurz die Augen, weil es ihr nicht gelang, und hielt die Luft an. Dann war sie wieder da.

„Was hatte der Informant ihr gesagt?“

In einem derartigen Fall sollte sie auf einen Rückruf warten. Er würde frühestens in zwei oder drei Tagen erfolgen. Jetzt konnte sie nur noch abwarten. Doch das passte nicht zu ihr. Sie wollte keine Zeit verlieren.

Was…, wenn…

Sie wusste, was zu tun war. Schließlich sicherte sie die Daten und verstaute ihren Laptop. Nachdem sie noch einmal kontrolliert hatte, ob alles so aussah wie immer, nahm sie den kleinen Koffer, den sie heute morgen gepackt hatte, schloss die Wohnungstür hinter sich zu und fuhr nach Paris.

Drei Tage später war sie wieder zurück in Hamburg. Der Himmel war grau, der Wind kam von Nordwest und es regnete seit einer Stunde ununterbrochen. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Bisher war der erwartete Rückruf ausgeblieben. Drohte das Geschäft doch noch zu scheitern?

Am darauffolgenden Tag war sie tot.

Teil I:

L´Opale Noire

Du denkst, es ist alles normal.

Eines Tages wachst du auf,

machst einen kleinen Schritt,

den du nicht geplant hast,

und

nichts ist mehr wie vorher.

Du fühlst dich nackt,

als hätte man dir deine Hülle gestohlen,

deinen Kokon,

der dir bis jetzt Schutz und Sicherheit geboten hatte.

Dann ist es wie die Häutung einer Schlange.

Plötzlich bist du ein anderer…

Frankreich

Mittwoch, 22. September 2021, 9.00 Uhr

Ein leichter Windstoß wehte die ersten herunterfallenden goldbraunen Blätter des Jahres durch die Stühle hindurch über den kleinen noch leeren Platz vor dem Café, dort wo die Rue des Trois Frère in die Rue Garreau übergeht und sich mit der Rue Ravignan kreuzt. Für Thibeau ein ganz besonderer Ort. Hier und um diese Zeit war Paris noch wie eine Kleinstadt in der Provinz. Es war der Blick die Rue Ravignan hinunter, den er so liebte, und die morgendliche Ruhe, von der er wusste, dass sie bald vorbei sein würde. In einer Stadt wie Paris gab es das nur an speziellen Orten. Dies war einer davon. Von seinem Tisch aus sah er die steil abfallende schmale Straße hinunter in Richtung des Théâtre des Abbesses. So klar und hellblau, wie der Himmel heute morgen war, gab er einem das Gefühl, als hielte er die Hände über die Stadt, um den Hügel von Montmartre noch einen Augenblick vor der Hektik zu beschützen, die jeden Moment über ihn hereinbrach, wenn die Touristen kamen. Die beste Voraussetzung für einen entspannten Tag.

Thibeau saß draußen vor der Auberge de la Butte, die auf eine mehr als dreihundertjährige Geschichte zurückblickte, mitten im Herzen von Montmartre. Er genoss mittlerweile seinen dritten Kaffee. Ricard hatte ihn gerade erst wortlos und unaufgefordert auf den kleinen runden Bistrotisch gestellt, denn er wusste, was seine Stammgäste bevorzugten. Thibeau würde sich selbst noch lange nicht als solchen bezeichnen, denn er kam erst seit einigen Wochen hierher, allerdings fast täglich, oft sogar mehrmals am Tag. Im Hintergrund raschelten die Blätter der Platanen, die den etwas höher gelegenen Place Emile Goudeau schmückten und den Menschen auf den Bänken darunter tagsüber reichlich Schatten spendeten. Es war eine kleine grüne Oase zwischen den alten Häusern des Viertels ´sûr la butte´, wie die Pariser den Hügel von Montmartre im 18. Arrondissement früher zuweilen nannten. Er las die Zeitung und vermied es tunlichst, bereits jetzt an den heutigen Tag zu denken. Niemals vor dem Ende der Morgenzeitung über die Arbeit nachdenken, ein fester Grundsatz.

Thibeau, dessen vollständiger Name Jean Bernhard Stevens Thibeau war, hatte sich innerhalb kürzester Zeit mit allem vertraut gemacht, was er für seinen neuen Job wissen musste.

Am Schluss war alles sehr schnell gegangen, im Sommer, in Norwegen, nördlich des Polarkreises. Er konnte kaum glauben, dass es erst ein paar Wochen her sein sollte, seit er nach Paris gekommen war. Die beiden so verschiedenen Männer – der eine – Thoralf Ansgar Lund – hatte die Siebzig deutlich überschritten, und Thibeau selbst, der noch nicht einmal halb so alt war – hatten sich auf Umwegen miteinander bekannt gemacht, und innerhalb kürzester Zeit eine Art freundschaftlich, väterliche Bande geknüpft, als ihnen letztlich bewusst geworden war, wie bedeutsam das kleine Stückchen Leben war, dass sie verband.

Es war ein herrlicher Spätsommermorgen in Paris, angenehm warm und es zog die Menschen wieder nach draußen. Noch verdrängten sie den Ernst der Lage, nachdem die Inzidenzen über den Sommer niedrig waren und alle dachten, die Pandemie wäre überstanden. Dabei stand nach Meinung der Experten die vierte Infektionswelle kurz bevor, wenn es nicht gelang, die Impfquoten auf mindestens zwei Drittel oder mehr zu erhöhen. Im Moment sprachen alle von der Delta-Variante, die erheblich infektiöser war, als die bisherigen. Doch nicht jeder nahm das ernst. Die Menschen wollten einfach ihre Freiheit zurück. Und: Sie hatten keine Lust, nachzudenken. Mittlerweile lagen die Impfquoten für die Zweitimpfung in Europa zwischen fünfzig und mehr als siebzig Prozent, doch nach Meinung der Experten reiche dies nicht aus, um sicher durch den Winter zu kommen.

Thibeau las die Fortsetzung des Leitartikels. Gestern hatte die 76. UN-Vollversammlung in New York getagt, auf der der UN-Generalsekretär António Guterres die internationale Gemeinschaft aufgefordert hatte, mehr gegen den Klimawandel und die Pandemie zu unternehmen.

„Ich bin hier, um Alarm zu schlagen: Die Welt muss aufwachen. Wir stehen am Rande eines Abgrundes und bewegen uns in die falsche Richtung. Unsere Welt war noch nie in größerer Gefahr und noch nie gespaltener. Wir stehen vor der größten Kaskade von Krise unserer Lebenszeit.“

Thibeau war nicht überrascht über die Deutlichkeit, mit der Guterres die Lage einordnete. Es war dringend nötig, dass sich mehr bewegte. Was er dann las, machte ihn nachdenklich:

„Eine Mehrheit der reicheren Welt ist geimpft. Aber mehr als 90 Prozent der Afrikaner warten immer noch auf ihre erste Dosis. Das ist eine moralische Anklage des Zustandes unserer Welt. Wir haben Wissenschaftstests bestanden. Aber in der Ethik sind wir durchgefallen.“

Das Gefälle zwischen armen und reichen Staaten ist bedrückend. Weltweit seien bisher fast sechs Milliarden Impfdosen verabreicht worden, eine enorme Zahl. Aber würde das ausreichen? Offensichtlich war es immer noch ein Privileg, die Chance auf eine Impfung zu bekommen.

Er erinnerte sich an letztes Jahr, als alles begann. Es war im März, als sich die Welt auch im Westen veränderte. Das Licht hatte sich geändert, der Himmel war heller, blauer, die Luft eine andere. Paris roch nach Frühling, nachdem der Februar nichts als Regen gebracht hatte.

In der Welt bahnte sich damals ein Drama an, das die Menschen hier anfangs noch nicht so richtig verstanden. Le Parisien, Le Figaro, selbst L´Equipe, die französische Sportzeitung, berichteten über eine drohende Pandemie. Was das war, musste man den Menschen erst erklären. Aus den Geschichtsbüchern kannte man Pest, Typhus und Cholera, aber so etwas gab es „bei uns“ längst nicht mehr. Die Gesellschaft war darauf einfach nicht vorbereitet. Währenddessen herrschten in Wuhan, das nicht aus den Schlagzeilen kam, bereits seit Wochen extreme Zustände. Dort hatte alles begonnen, so die Medien. Ausgangssperren, überall leere Straßen. Menschen in Schutzkleidung, die aussahen, wie von einem anderen Planeten, desinfizierten alles, wo Menschen mit Menschen in Berührung kamen. Für französische Verhältnisse undenkbar. So dachten zumindest zu diesem Zeitpunkt die meisten. Das Leben hier pulsierte wie eh und je, Bisou zur Begrüßung, Handschlag, oder Umarmungen, an Masken dachte hier zu Lande noch niemand. Wuhan war auf der anderen Seite des Erdballs. Und das war weit weg.

Wenig später rief Präsident Emmanuel Macron einen Lockdown für ganz Frankreich aus. In Europa nahm man plötzlich offiziell das Wort Pandemie in den Mund. Niemand rechnete damals damit, dass es in den folgenden zwölf Monaten zwei weitere Male einen Lockdown geben würde. Schon gar nicht damit, dass von Staats wegen Industrie und Handel, Schulen und Kindergärten zum Teil lahmgelegt würden, zigtausend Menschen in Kurzarbeit versetzt, Existenzen vor dem Ruin stehen und zu allem Übel nächtliche Ausgangssperren verhängt würden. Thibeau hatte ebenfalls nicht damit gerechnet, obwohl er die Lage kritisch beobachtet hatte. Anfangs waren es hunderte, hinterher tausende von Menschen, die täglich in Europa und anderswo in der Welt im Zusammenhang mit der Pandemie starben. Unvorstellbar. Er schüttelte sich innerlich, um den Gedanken wieder loszuwerden. Dass die Lebenserwartung einer Oxford-Studie zufolge durch die Pandemie 2020 in einigen Ländern messbar sinken würde, ähnlich wie durch den zweiten Weltkrieg, das konnte sich zu diesem Zeitpunkt kaum jemand vorstellen.

Das unerwartete Vibrieren seines Handys, das auf dem kleinen Bistrotisch lag, riss Thibeau aus seinen Gedanken, als er gerade dabei war, den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse zu trinken.

Er sah auf das Display: Es war Henry, sein Assistent.

„Salut Henry, was gibt´s?”

„Bist du bei Ricard?“

„Ja, genau.“

„Ok, gut. Ich hab etwas, das solltest du dir mal ansehen.“

Es war 9.00 Uhr. Früh am Morgen, zumindest für Thibeau. Er hatte zwar bereits seinen dritten Kaffee getrunken, doch er war noch ziemlich wortkarg, auch wenn sich seine Gedanken bereits mit wichtigen Themen der Welt beschäftigt hatten. Henry kannte das. Er fuhr fort.

„Zwei Journalisten, auf der Flucht.“

„Vor wem?“

„Schon mal etwas von einem Konzern namens Henleene gehört?“

„Nein.“

„Ein internationaler Handelskonzern, mit Hauptstandorten in Atlanta und New York, Dependancen in der ganzen Welt. Angeblich steckt er dahinter.“

„Wo sind die beiden jetzt?“

„Wir fliegen sie gerade aus. Sie sind auf dem Weg von Ottawa hierher. Sie sind um 2.30 Uhr Ortszeit losgeflogen. Von Westen aus dürfte es schneller gehen. Ich schätze, sie brauchen etwa sieben Stunden.“

„Die Zeitverschiebung beträgt sechs Stunden, also werden sie heute Nachmittag zwischen 15 und 16.30 Uhr hier eintreffen. Charles-de-Gaulle nehme ich an, oder?“

„Ich denke ja. In Le Bourget werden sie keine Landeerlaubnis bekommen. Ich werde mich gleich mit dem Piloten in Verbindung setzen, dann weiß ich Genaueres.“

„Wie ist der Kontakt zustande gekommen?“

„Über Lund. Ein Amerikaner namens Carter hat den Rettungsschirm ausgelöst.“

„Hm, ok, worum gehts?“

„Das wissen wir noch nicht. Aber es klingt nach einer größeren Sache.“

„Dann hat es offensichtlich jemandem nicht gepasst, dass etwas an die Öffentlichkeit kommt, wenn es um Journalisten geht.“

Thibeau dachte an seine Mutter Anna, die ebenfalls Journalistin gewesen war. Auch er hatte Journalismus studiert.

„Sieht so aus. Vielleicht ist es besser, du kommst her und siehst dir die Details an.“

Henry wusste genau, dass er jetzt Thibeaus volle Aufmerksamkeit hatte. Er konnte blitzschnell umschalten. Man musste ihm nie Dinge zweimal sagen oder erklären, egal wie komplex die Zusammenhänge waren.

„Ich schicke dir die Sachen.“

„Bis gleich.“

Thibeau hatte eigentlich andere Pläne gehabt. Er war seit Tagen damit beschäftigt, das Material auf dem Stick seiner Mutter zu durchforsten, den sie ihm hinterlassen hatte. Er nahm noch einen kleinen Kaffee und ein Croissant und ging hinüber in die Rue Garreau. Dort war das Hauptquartier von L Ópale Noire. Es war nur wenige Minuten entfernt.

Das Hauptquartier lag in einem von drei Straßen eingefassten dreieckigen Wohnblock mit kleinen, getrennten Innenhöfen, äußerlich nicht zu unterscheiden von den anderen in der Umgebung, von innen ausgebaut wie eine Festung. Es gab zwei Immobilienagenturen, eine Kunstgalerie, eine Patisserie, ein Café Tabac, ein Restaurant und ein kleines Bekleidungsgeschäft, das Mimi gehörte. Was im Verborgenen blieb, war, dass der gesamte Wohnblock der Organisation gehörte und dementsprechend ausgestattet war. Auch die Galerie und die verschiedenen Geschäfte, das Restaurant, alles war Teil der Organisation. Der Innenbereich des Blocks war überdacht und nicht einsehbar.

Thibeau nahm den Hintereingang von der Rue Durantin aus zu seiner Wohnung. Er bestand aus einer etwa zwei Meter hohen Hoftür, die man von außen nur vom Rest der Mauer unterscheiden konnte, wenn man genau hinsah. Die Kamera erfasste automatisch seinen Irisabdruck. Kombiniert mit seinem Handabdruck auf einem unsichtbaren Tableau konnte er das Tor sowie die Haustür öffnen. Auch bei geöffnetem Tor war der sich dahinter befindende Bereich nicht einsehbar. Das System arbeitete intern mit einer mehrfach gesicherten Software und ermöglichte ihm unabhängig von der zentralen Stromversorgung zu jeder Tages- und Nachtzeit schlüssellos Zugang zu seiner Wohnung. Die Tür öffnete fast geräuschlos. Spätestens hier spürte man, dass es sich um einen gesicherten Ort handelte. Thibeau war der Einzige, der diesen Eingang benutzte.

Jede Bewegung wurde aufgezeichnet. Die Kameras überwachten nicht nur das Tor, sondern auch den Straßenzug auf- und abwärts. Auf Montmartre waren fast alle Straßen schräg. Entweder ging es bergauf oder bergab. Ungewöhnlich für diese Gegend war das etwa drei Meter breite Garagentor, in dem seine Fahrzeuge standen, eines der wenigen Hobbys, das er sich leistete.

Thibeau zog seine Jacke aus und legte die rechte Handfläche auf den unsichtbaren Scanner. Eine unscheinbare Wand fuhr zur Seite. Als er den Raum betrat, wurde er vom System aufgefordert, sich zu authentifizieren. Mehrere Kameras übernahmen dies in Sekundenschnelle. Dann hatte er Zugang zum System. Er betrat einen Raum, der die neueste Medientechnik enthielt, die man für Geld kaufen konnte. Großformatige Glasmonitore, Kamerasysteme, eigene Server, separate Stromversorgung, strahlungsdicht und abhörsicher. Sein persönliches Lagezentrum. Er musste an Thoralf Lund denken, der selbst auf den Lofoten, quasi im norwegischen Nirgendwo über die gleiche Technik verfügte wie Thibeau hier in Paris. Ein Standard, der keinen Vergleich zu scheuen brauchte. Für Thibeau war das alles zum Alltag geworden, seitdem er sich der Organisation verschrieben hatte.

Er setzte sich in seinen Lieblingssessel, einen fünfzig Jahre alten original Eames, den er von einem Oldtimerhändler in Deutschland erworben hatte. Das einzige Möbelstück, das er in sein neues Leben mitgenommen hatte, das erst vor drei Monaten begonnen hatte. Bei aller Liebe zu High-Tech-Systemen, er liebte diese Kontraste, diese Momente der Nostalgie.

Die Informationen, die Henry ihm geschickt hatte, erschienen auf dem Monitor. Das war der Moment, in dem er innerhalb kürzester Zeit in einen weiteren Fall eintauchte, dessen Bedeutung er noch nicht einmal im Ansatz ermessen konnte.

Etwa drei Monate zuvor.

2 Die orangefarbene Mappe

Hamburg, Deutschland,

Donnerstag, 24. Juni 2021

Kaffee. Er atmete tief ein. Es roch eindeutig nach frischem, würzigem Kaffee. Momente wie dieser waren selten geworden. Es waren nur Sekunden, in denen er sich frei und unbelastet fühlte. Bräsig und benebelt von der Nacht und den Folgen des Vorabends, lauschte Jean dem blubbernden Geräusch, von dem er nicht genau wusste, wo es herkam. Doch es passte eindeutig zu dem Duft, der ihn umgab. Langsam und unaufhaltsam kam die Realität zurück.

Er stand in der ungewöhnlich hell wirkenden Küche und starrte mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster, ohne zu erkennen, was er sah. Sein Hirn versuchte, aus Licht und Schatten ein Bild zusammen zu setzen und dem Ganzen einen Sinn zu verleihen, Ordnung in das zu bringen, was seine vom Schlaf verklebten Augen zu sehen schienen. Vor ihm gurgelte die kleine, etwas in die Jahre gekommene italienische Kaffeemaschine vor sich hin, sichtlich bemüht, den ersten, tiefschwarzen Kaffee des Tages in die Espressotasse zu träufeln.

Schleppend registrierte er, wer er war und wo er war. Es war fast Mittag. Der Duft von frischem Kaffee schlich ihm erneut in die Nase und setzte dort eine Flut von Aromen frei. Intuitiv und etwas ungläubig sah er zu der kleinen schwarzen Maschine. Sie hatte Marit gehört. Ihr gemeinsamer Freund Pedro, der gegenüber von Marits Geschäft in der Speicherstadt eine Kaffeerösterei betrieb, hatte sie ihr empfohlen. Und was Pedro in puncto Kaffee empfahl, war Gesetz. Jean hatte sie Marit zum Geburtstag geschenkt. Er sah kurz zu dem Bild an der Wand. Eine Collage aus Selfies, die sie einmal von ihnen beiden gemacht hatte, als sie abends auf der Wiese am Alstercliff gesessen und den Sonnenuntergang über der Außenalster genossen hatten. Er erinnerte sich, dass sie damals gerade erst von der Outdoor-Retailer-Messe in Salt Lake City, Utah, zurückgekehrt war, eine der bedeutendsten internationalen Messen für Betreiber von Outdoor- und Sportbekleidungsgeschäften. Sie war voller neuer Ideen gewesen, die sie von dort mitgebracht hatte. Mit ihrer Begeisterung hätte sie die ganze Welt mitreißen können. Jean legte einen Finger auf das Bild, das ihm ein bittersüßes Lächeln aufs Gesicht zauberte, dass ihn gleichermaßen schmerzte und sein Herz erfüllte.

Marit war damals eher überraschend in sein Leben getreten, das zu der Zeit ziemlich chaotisch war. Er war an der Universität eingeschrieben. Lebenslustig und an allem interessiert, betrieb er allerdings nie mehr Aufwand, als notwendig war, um geradeso mitzuschwimmen. Es lief gut und den Rest nahm er nicht so genau.

Doch mit Marit bekam alles einen neuen Sinn, eine neue Ordnung. Sie sprudelte vor Energie und Lebenslust, ähnlich wie er, doch im Gegensatz zu ihm hatte sie konkrete Ziele, wusste genau, was sie wollte, und das übertrug sich auch auf ihn. Schnell war klar, dass es mehr war, als nur eine Freundschaft. Es war die große Liebe.

Jean imponierte ihre Entschlossenheit und das führte dazu, dass er instinktiv auch seine eigenen Ziele stärker verfolgte. Er wollte Journalist werden. Die Neigung dazu hatte er von seiner Mutter geerbt. Recherchieren und Schreiben, immer am Puls der Zeit, frei und unabhängig. Für einen Nine-to-five-Job war er nicht gemacht. Er brauchte Abwechslung. Aber da war auch die andere Seite in ihm. Sesshaftigkeit, Bodenständigkeit und Familie. Diese Vielseitigkeit liebte Marit sehr an ihm und sie spürte, dass es sie jeden Tag aufs Neue inspirierte. Ihr großer Traum war damals, ein eigenes Outdoorgeschäft zu eröffnen. Sie liebte die Natur. Ein wesentlicher Punkt, der beide verband. Für sie wäre es beinahe so, als würde sie ihr Hobby zum Beruf machen.

Es dauerte nicht lange, dann war es soweit. Er erinnerte sich noch genau. Es war ein Montag, Jean war im vierten Semester. Ein Tag, von dem später noch so manches Mal nicht nur an den Stammtischen der Studierenden gesprochen wurde. Jeans Telefon hatte geklingelt, mitten in der Vorlesung. Ein absolutes No-Go bei Professor Heinz-Herbert Neubarth. Ein klassischer Klingelton, der an Kommissar Maigret und die Büros der Kriminalpolizei am Quai des Orvèfres 36 im Paris der Fünfziger und Sechziger Jahre erinnerte. Er unterbrach lautschrillend den Vortrag von Neubarth, der gerade dabei war, über die Geschichte moderner Investigationsmethoden berühmter Journalisten zu referieren. Selbstverständlich Berufskollegen von ihm. Er war es nicht gewohnt, auf diese Weise unterbrochen zu werden und das wussten und respektierten alle, bis auf einen. Jean sah regungslos in die Runde. Leugnen schien zwecklos. Halb entschuldigend fummelte er sein Handy aus der Hosentasche und sah auf den Bildschirm. Es war Marit. Alle Blicke im Hörsaal waren auf ihn gerichtet. Nur das schrille Klingeln eines alten Telefons wollte nicht verstummen. Neubarth - selbst nicht mehr der Jüngste - war wegen seines altbackenen und eher konservativen Stils, insbesondere aber wegen seiner hohen Durchfallquoten, nicht nur unbeliebt, er war bei den meisten sogar gefürchtet. Widerwillig unterbrach er seinen Vortrag. Jeder rechnete damit, dass der Übeltäter den Anruf unterdrückte. Jean jedoch nahm ab. Ein Drama lag in der Luft. Die einen hielten ihn für wahnsinnig, für die anderen hatte er schlicht Eier in der Hose und sie wünschten sich, selbst so cool zu sein wie er. Jean hatte etwas von beidem, im Augenblick jedoch schien ihn sein Umfeld wenig zu interessieren. Euphorisches und ungehemmtes Gekreische drang blechern aus dem Lautsprecher, als er den Anruf annahm, als hätte jemand im Lotto gewonnen. Die Vorlesung war endgültig gesprengt. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Freundin Jean gerade unbewusst in die Annalen der Universitätsstammtische katapultierte, sprudelte sie ungehemmt los.

„Jean, ich habe den Zuschlag. Ist das nicht irre?“

Sie jubelte und tanzte vor Freude. Es war ein Videoanruf.

„Schhhht!“

Jean hatte den Finger auf den Mund gelegt und versuchte, Schlimmeres zu verhindern. Er sah sich um. Es war zu spät.

Als er sich aus der Sitzplatzreihe herausgeschält hatte, um den Hörsaal zu verlassen, konnte Marit im Hintergrund sehen, wo Jean sich gerade befand.

„Oh, shit! Sag nicht, du hast dein Handy auf laut und alle hö…?“

Für einen kurzen Moment mussten alle lachen. Sie verstummten aber sofort wieder, als sie zu Neubarth sahen, der keine Miene verzog. Dann war dessen überlegene Stimme aus den Hörsaallautsprechern zu hören.

„Herzlichen Glückwunsch, Herr Stevens. Richten Sie das bitte auch Ihrer Partnerin aus. Sehr nett, dass Sie uns an Ihrem überaus erquicklichen Privatleben teilhaben lassen. … Aber könnten Sie vielleicht … jetzt bitte, nur wenn es Ihnen recht ist, ….“

Während Neubarth redete, sah er in die Gesichter des Auditoriums, das immer noch nicht genau wusste, wie es ihn einschätzen sollte. Entgegen den Erwartungen fing er an zu grinsen und der ganze Hörsaal begann wie auf Knopfdruck zu grölen. So etwas wie „…später… in mein Büro…“ war zu vernehmen, der Rest ging unter.

Die Veranstaltung war nicht mehr zu retten. Es war ohnehin kurz vor Schluss. Neubarth nahm seine Sachen und verließ den Hörsaal, sichtlich bemüht, sein Lachen zu unterdrücken. Die Nummer war noch Wochen danach Thema an den Stammtischen. Von da an hatten manche sogar Sympathien für den grummeligen und bis dahin eher unbeliebten Professor, außer, wenn die Klausur anstand.

Marit hatte die einmalige Gelegenheit bekommen, Geschäftsräume in der Speicherstadt anzumieten und hatte zugeschlagen. Es war eine ganz besondere Zeit. Gemeinsam renovierten sie das Ladenlokal und richteten es ein. Aus der Not begrenzter finanzieller Mittel heraus kreierten sie eine puristisch industriell wirkende Atmosphäre aus Mauerstein, Holz und Metall, bei der sie den alten Baustil freilegten, den die Ursprünge der Speicherstadt einst verkörpert hatten. Ein befreundeter Metallbauer schweißte Rahmen, Gestelle und Regale. Ins richtige Licht gestellt, ein weiterer Bekannter von Marit war professioneller Beleuchter, passte alles hervorragend zum Outdoorimage. Der Kredit war hoch, doch das störte Marit nicht. Das Konzept ging auf. Unbedarft und voller Ideen begann für sie beide die schönste Zeit ihres Lebens.

Jeans Augen wurden glasig, als er erneut auf die Fotos in der Küche sah und seine Gedanken dunkel wurden.

Irgendwann, morgens, vor etwas mehr als einem Jahr, hatte er einen Anruf bekommen, von Pedro.

„Mi amigo, es tut mir so leid.“

„Pedro, was ist los?“

„Marit, eh, …sie eh….“

Pedro war außer sich. Er suchte nach Worten, sprach abwechselnd deutsch und spanisch. Es war ein Chaos. Schließlich hatte Jean verstanden, dass es eine Explosion gegeben hatte. Er hatte alles stehen und liegen gelassen und war sofort in die Universitätsklinik nach Eppendorf gefahren. Die hatte Pedro ihm immerhin nennen können. Auf dem Weg dorthin hatte er mehrere Beinaheunfälle. Doch das war ihm egal gewesen. Er hatte Glück. Etwa zwanzig Minuten später traf er dort ein und ging direkt zum Empfang.

„Ja?“

Der Mann hinter der Scheibe klang nicht gerade motiviert.

„Meine Freundin ist vorhin eingeliefert worden. Sie hatte einen Unfall.“

Der Mann sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen.

„Wie heißt Ihre Freundin?“

„Marit, Marit Timmerscheidt.“

Er hörte das Klappern der Tastatur.

„Chirurgische…, dritte Etage. Den Gang entlang, zweite links, dort finden Sie die Aufzüge….“

„Oh, ich sehe gerade, sie ist noch … im OP. Da können Sie ohnehin ….“

Als er aufsah, während er das sagte, war Jean bereits losgerannt.

Der Mann zuckte mit den Schultern und griff zum Telefon.

Oben angekommen hielt ihn eine Schwester mit forscher Stimme zurück. Sie hatte bereits einen Anruf bekommen.

„Langsam, junger Mann, wo wollen Sie denn hin?“

„Ich…eh, meine Freundin…ist eingeliefert worden. Ich muss sofort….“

„Sie können da jetzt nicht rein. Sie wird noch operiert.“

Während sie sprach, ging sie auf ihn zu.

„Setzen Sie sich erst einmal da vorne hin, atmen tief durch und dann alles der Reihe nach.“

Nachdem sie ein paar Worte gewechselt hatten, gab er nach. Die Stimme der Schwester war jetzt sanfter, verständnisvoller.

„Sie können im Moment nichts tun, außer zu warten und Ruhe zu bewahren. Ich weiß, dass das schwer ist, aber ihre Freundin ist in den besten Händen.“

Jean wusste nicht, wo ihm der Kopf stand.

„Ruhe bewahren! Wie denn?“

Er hatte Angst, auch wenn die Schwester recht hatte. Marit im OP, eine furchtbare Vorstellung. Horrorbilder, Blut, lauter wirres Zeug gingen ihm durch den Kopf. Er sah Menschen in blaugrüner OP-Bekleidung eng um einen bewegungslosen Körper stehen, im grellen Licht einer riesigen Lampe, ohne zu wissen, ob es in Wirklichkeit so war. Er musste sich zusammenreißen. Er konnte tatsächlich nichts tun.

Nach etwa anderthalb Stunden kam ein Mann in weißer Hose und kurzärmeligem weißen T-Shirt durch die Glastür des OP-Flures und sah zu der diensthabenden Schwester. Sie deutete mit dem Kopf zu Jean, der sofort aufsprang. Der behandelnde Arzt ging auf ihn zu.

"Mein Name ist Dr. Wendner.“

„Wie geht es ihr?“

„Sind Sie Jean…?"

Der Arzt wollte sicher gehen. Seine Miene sah ernst aus.

„Ja. Marit, wir…. sie ist meine …. Was ist mit ihr?“

Er war etwas älter als Jean, vielleicht Mitte dreißig und einen halben Kopf kleiner. Er schien seine Worte sorgfältig abzuwägen.

„Waren Sie dabei?“

„Nein, Pedro Gomez, ein gemeinsamer Freund, hat mich angerufen. Er hat sie … gefunden.“

Jean sah seinem Gegenüber in die Augen. Eine fatalistische Ruhe überkam ihn. Er ahnte, dass es nicht gut aussah. Dieser Augenblick sollte sich für immer in sein Gedächtnis einbrennen.

"Sie hat mehrmals ihren Namen gesagt.“

Jean bekam feuchte Augen.

„Was…?“

Er breitete die Arme aus.

„Dann hat sie das Bewusstsein verloren. Sie hatte starke innere Verletzungen, vor allem im Kopf. Ein Splitter hatte ein Gefäß zerschlagen. Wir haben versucht, die inneren Blutungen zu stoppen, aber die Chancen waren gering….“

Jean traf es wie ein Hammerschlag.

„Das kann nicht …?“

Der Arzt legte ihm eine Hand auf den Arm und nickte.

„Es tut mir aufrichtig leid.“

Marit war tot.

Zum ersten Mal in seinem Leben bekam er die Härte der Endgültigkeit zu spüren.

**

Die Sonne gaukelte ihm eine heile Welt vor, als er durch das kleine runde Fenster dieses kahlen, nichtssagenden Raumes einen letzten Blick nach draußen riskierte. Sie schärte sich einen Dreck um das, was hier drinnen passierte, warum auch. Seine letzte Minute war angebrochen. Der Anfang des bitteren Endes eines lebensfrohen, rechtschaffenen aufrichtigen Menschen, zumindest hatte er sich immer dafür gehalten. Er saß auf einem kalten Stuhl vor einem kleinen Tisch und konnte nicht mehr unterscheiden, was schlimmer war: Die Angst, die Verzweiflung oder der Fatalismus, der ihn einlullte, wie eine zähe klebrige Masse.

Er musste tun, was er getan hatte. Er hätte es nicht mit ansehen können. Der Versuch, ihnen das Handwerk zu legen, war ein Höllenrisiko gewesen. Doch was bedeutete schon ein Menschenleben im Vergleich zu Tausenden, denen ein qualvoller Tod drohte.

Er hatte sich abgesichert. Alles lief nach Plan. Es fehlte nur noch der letzte Schritt. Dann waren sie wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten ihn mit voller Wucht gegen eine unsichtbare Wand prallen lassen. So war es ihm vorgekommen. Er hatte keine Ahnung, wie sie ihm auf die Schliche gekommen waren, doch mit einem Schlag war alles vorbei.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er wirklich Angst. Vor dem, was sie ihm gleich antun würden, viel mehr aber davor, dass er nichts mehr tun konnte. Familien werden zerrissen. Eltern werden ihre Kinder verlieren, Kinder ihre Eltern, Frauen ihre Männer, und umgekehrt. Sie ließen die Kranken unter dem Deckmantel der ersehnten Hilfe einen grausamen, schleichenden Tod sterben. Sahen noch nicht einmal hin. Die Opfer erstickten oder ihre Organe versagten, oder beides. Die Vorstellung war grauenhaft. Er wollte sie stoppen. Doch jetzt saß er hier. Sie würden ihm wehtun. Egal, was er tat oder nicht tat, sagte oder verschwieg, er konnte daran nichts mehr ändern.

Sie waren zu zweit. Den Mann, der das Sagen hatte, kannte er nur allzu gut. Diese Erbarmungslosigkeit hätte er ihm niemals zugetraut. Den Anderen hatte er noch nie gesehen. Ein grobschlächtiger Hüne mit dem Gesicht eines Elfjährigen, der in diesem kleinen Raum besonders wuchtig wirkte, Julio.

„Sagen Sie uns einfach, Malcolm, was wir wissen wollen. Damit ersparen Sie uns viel Arbeit und sie können gehen, wohin Sie wollen.“

Sie würden ihn nirgendwohin gehen lassen, das war ihm klar.

„Ich weiß nichts.“

Es waren nur Bruchteile von Sekunden. Er sah es kommen, suchte nach einem Ausweg. Es gab keinen. Er riss die Augen weit auf. Alles verkrampfte sich. Aus Angst wurde Panik. Dann traf ihn die Faust des Hünen mit voller Wucht mitten ins Gesicht.

*

Die Erinnerung kam immer wieder hoch. Dagegen war Jean machtlos, auch wenn bereits anderthalb Jahre vergangen waren. Die Ursache hätte in einem Defekt in der Gastherme gelegen, der beim Zünden zu einer verheerenden Explosion geführt habe und letztlich für Marits Tod verantwortlich war. Ein Unglück, so die Aussage des Gutachters der Versicherung. Und so kam es zu den Akten. Er warf einen letzten Blick auf das Foto an der Wand, legte erneut einen Finger auf das Bild und wendete sich der kleinen Kaffeemaschine zu, die ihr letztes Gurgeln von sich gab. Jean stutzte. Hatte er sie eingeschaltet? Er sah sich um. Außer ihm war hier niemand, oder? Nein, er war alleine, soviel wusste er noch. Wie auch immer, Kaffee war jetzt nicht die schlechteste Idee. Er versuchte, sich abzulenken.

Der Abend gestern war hart gewesen. Jean war seit längerem mal wieder mit ein paar Jungs durch die Stadt gezogen. Der zweite Lockdown hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert. Hamburg hatte Zug um Zug wieder Lockerungen zugelassen und alle hatten Nachholbedarf. Mike, ein enger Freund aus der Schulzeit, hatte gestern spontan angerufen und ihn überredet, mitzukommen. Jean war zunächst wenig begeistert.

„Geht ihr mal, viel Spaß, mein Lieber. Ich hab keinen Bock“, hatte er zu Mike gesagt, „ich bin nicht in Stimmung. Lass mich einfach in Ruhe. Grüß die anderen von mir.“

Er war schlecht drauf und das konnte er beim besten Willen nicht verbergen. Mike kannte das. Und er war hartnäckig.

„Mensch Jean, du musst unbedingt mal wieder unter Leute. Die Jungs sind alle dabei, komm schon.“

Er hatte sich noch eine Weile geziert. Doch dann hatte Mike ihn überredet.

„Ok, du Nervensäge, in Gottes Namen, ich bin dabei. Aber nur für ein oder zwei Stündchen, klar?“

„Klar, Mann! Das ist mein Jean. Wird bestimmt ein ruhiger Abend, keine Angst. Du wirst sehen. Punk“, so nannten sie Simon Roth, er hatte sich früher ständig die Haare bunt gefärbt, „Punk hat einen ganz neuen Laden aufgetan. Er war total aus dem Häuschen. Eh, ich meine, bestimmt ganz gediegen, so wie ich ihn kenne.“

„Klar, Punk und gediegen. Also, um Neun bei Malte. Bis nachher.“

„Vergiss den Test nicht, ok? Du weißt schon 3G, geimpft, genesen, und getestet.“

Das hätte er tatsächlich vergessen.

Er wusste nicht mehr, wo sie überall eingekehrt waren. Seine Ohren rauschten und klangen nach. Sie hatten es so richtig krachen gelassen. In dem letzten Laden muss es ziemlich laut gewesen sein. Er musste eine gefühlte Ewigkeit ausharren, das wusste er noch, bis ihn die dunkelblonde, für seinen Geschmack etwas zu offenherzige junge Dame vom Typ ´Ich heiße Jaqueline, aber alle nennen mich nur Jackie. Und du?´ endlich in Ruhe ließ. Er kannte sie nicht, und er legte auch keinen Wert darauf, das zu ändern.Sie war schwer angeheitert und für seinen Geschmack zu forsch. Vielleicht tat er ihr Unrecht. Seine Kumpels jedenfalls hatten Spaß mit Jackie und ihren Freundinnen, und das reichte ihm. Die Vergangenheit hatte ihn trotz des Alkohols nicht losgelassen.

Dem kurzweiligen Genuss des Kaffeeduftes folgend schloss er die Augen und atmete tief durch. Trotz allem war er froh, zumindest im Nachhinein, mal wieder mit den Jungs unterwegs gewesen zu sein. Als er sie wieder öffnete und erneut aus dem Fenster sah, registrierte er, dass das viele Licht, das ihn blendete, von dem freundlichen, weißblauen Himmel herrührte, der endlich wieder Sonne ins kühle Hamburg brachte. Ungewohnt, nach so vielen grauen, typisch norddeutschen Tagen oder vielmehr Wochen, die hinter ihnen lagen und allen aufs Gemüt geschlagen waren.

Jean Bernard Stevens war letzten Monat dreißig Jahre alt geworden. Er war groß und sportlich, eine stattliche Erscheinung. Selbst wenn er verkatert und verschlafen und nur mit einer Unterhose und einem T-Shirt bekleidet in seiner Küche stand, ohne genau zu wissen, was der Tag bringen würde.

Er wollte sich heute um ein paar wichtige Angelegenheiten kümmern, die liegengeblieben waren, bis er sein Studium beendet hatte. Jetzt war es Zeit. Sie betrafen seine Mutter und ihren Nachlass. Doch sein Kater sprach im Moment noch eine andere Sprache.

Anna Stevens Thibeau, Jeans Mutter, war eine waschechte Hamburgerin. Sie hatte hauptsächlich für eine große Hamburger Zeitung gearbeitet, hin und wieder für verschiedene Magazine, die in der Stadt ansässig waren, so dass Jean ab der vierten Klasse überwiegend in Hamburg aufwuchs. Sie hatte ihm das Talent zum Schreiben vererbt.

An seinen Vater, Antoine Loïc Thibeau, hatte Jean keinerlei persönliche Erinnerungen. Er war Franzose, genauer gesagt Bretone, was aus der Sicht so mancher Bretonen einen entscheidenden Unterschied darstellte. Jean kannte ihn hauptsächlich von den Fotos, die er in seiner Kindheit und Jugend etliche Male angesehen hatte, sowie von Erzählungen seiner Mutter. Antoine starb sehr früh bei einem Autounfall. Jeans Mutter hatte nie wieder geheiratet. Als freie Journalistin war sie anfangs viel unterwegs, vor allem im Ausland, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Jean war von klein auf dabei gewesen, so oft es möglich war. Anders als bei den meisten seiner Freunde waren ihre gemeinsamen Urlaube für ihn eher Abenteuer. In seiner Erinnerung hatte er eine sehr schöne, allerdings eher kurze und nicht gerade klassische Kindheit. Die wichtigsten Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen lernte er früh und eher nebenbei, denn das konnten die meisten Erwachsenen um ihn herum und er sah, wozu es nützlich war. Manchmal glichen die Reisen eher kleinen Expeditionen, die seine Mutter dokumentierte und über die sie schrieb. Er bediente früh Computer und manchmal sogar verschiedene Messgeräte. Auch diese Dinge hatten einen Zweck. Jean hatte das Gefühl, immer Teil des Ganzen zu sein. Er lernte, mit dem Messer und anderen Werkzeugen umzugehen, sich in der Natur zurecht zu finden und mit Gefahren fertig zu werden. Er lernte andere Sitten und Gebräuche kennen und die einfachen Dinge im Leben zu schätzen. Was er erst später verstand, war, dass sie alles taten, was nötig war, um bestimmte Ziele zu erreichen, jedoch nie Überflüssiges. Sie flogen mit Hubschraubern, wenn es nötig war, lebten aber in der Natur in sehr einfachen Camps. Sie nahmen ein Hotel, weil man in der Stadt nicht im Zelt schlief. Luxus im eigentlichen Sinne kannte er nicht. Was sie taten, war für ihn normal. Erst später verstand er, dass der wahre Luxus genau diese Art von Normalität war, die ihm seine Mutter beigebracht hatte. Freiheit und Eigenständigkeit, oft jenseits von gesellschaftlichen Konventionen, immer aber respektvoll gegenüber Mensch und Natur. Irgendwie hatte alles einen Zweck, nicht mehr und nicht weniger.

Der Beruf seiner Mutter und das Reisen mit ihr verlangte ihm früh ein hohes Maß an Selbständigkeit ab. Oft reisten sie mit Kolleginnen und Kollegen seiner Mutter zusammen oder sie trafen unterwegs Menschen, die offensichtlich ebenfalls viel unterwegs waren. Für ihn war das normal. Vielleicht war das auch der Grund, warum er nur selten das Gefühl hatte, einen Vater zu vermissen.

Einen Hamburger Kindergarten hatte er nie kennengelernt. Auch die ersten drei Schuljahre wurde er von seiner Mutter und den anderen Erwachsenen unterrichtet, meist Wissenschaftler oder ebenfalls Journalisten, mit denen sie zusammen unterwegs waren. Zu Beginn des vierten Schuljahres betrat er zum ersten Mal eine klassische Grundschule. Das änderte fast alles. Er lernte das Leben eines Hamburger Stadtkindes kennen. Wieder war alles eine Art Abenteuer für ihn. Er war neugierig und wusste eine Menge Dinge, die Gleichaltrige in ihrem bisherigen Leben höchstens aus dem Fernsehen kannten. Jeans Mutter arbeitete von da an überwiegend von zu Hause aus und er hatte das Gefühl, dass sie immer für ihn da war. Berufliche Reisen kamen immer wieder vor, allerdings nie sehr lange und in seinen Augen nicht sehr häufig, meist nur noch innerhalb Europas. Ihre gemeinsamen Reisen beschränkten sich auf die Ferien. Seine wohl wertvollste Eigenschaft war, dass er sich schnell und leicht auf neue Situationen einstellen konnte und sich schnell zurechtfand. In seiner Jugend absolvierte er Auslandsjahre mit sechzehn in Paris und mit neunzehn nach dem Abitur in New York, hatte Erfolge im Segeln, Schwimmen und beim Taekwondo. Bis dahin war er bereits um den halben Erdball gereist.

Dann starb seine Mutter, völlig unerwartet.

**

Es war, als würde sein Kopf explodieren. Seine Sinne drehten durch. Es schmeckte metallisch, nach Blut. Er verlor die Orientierung. Es blitzte. So hell, dass er glaubte, seine Augen würden von innen verglühen. Alles schmerzte. Er wollte, dass es aufhört, aber das tat es nicht. Als bliebe die Zeit stehen, damit der Schmerz seine volle Wirkung entfalten konnte. Dann, mit einem Mal, war er nicht mehr er selbst. Ein Teil von ihm kam zurück, der andere war erschlafft, wie gelähmt. Was er spürte, fühlte sich fremd an, taub, dumpf. Mit jedem Schlag entfernte er sich ein Stückchen mehr von der Welt. Und dennoch hielt ihn irgendetwas am Leben.

Er war zäh. Speichel und Blut tropften ihm aus dem Mund, sein Gesicht war schweißnass. Schmerzverzerrt riss er sich zusammen, um gleich darauf erneut die Kontrolle zu verlieren. Irgendwann hatte er ihnen Informationen gegeben, das sollte sie zufrieden stellen. Wenn sie ihm nur glauben würden. Schließlich bäumte er sich auf, obwohl es sinnlos war.

„Dafür … werden … Sie … bezahlen.“

Ein fatalistisches Lachen überkam ihn. Er konnte kaum noch sprechen. Doch das Feuer in seinen Augen war noch nicht erloschen. Dafür ging es um zu viel. Niemals würde er aufgeben.

Julio sah zu dem Mann, der das Sagen hatte, und wartete auf ein Zeichen.

Folter ist nichts Neues. Wir glauben, es sei Geschichte. Sie geht mit Gewalt einher, egal ob physisch oder psychisch, vordergründig oder subtil. Für diejenigen, die sie einsetzen, ist sie nach wie vor ein probates Mittel, um Informationen aus Menschen herauszupressen. Ihr Wertesystem ist ein anderes, ihre Ziele dubios, ihr Handeln verwerflich. Es ist eine Frage der Sichtweise, der Maßstäbe, der Zeit, der Interessen. Die anderen seien schwach. Sie hätten es so gewollt. Sagen sie. Geld ist Macht. Und Macht bedeutet mehr Geld. Zweihundert Milliarden US-Dollar, pro Jahr. Doch dafür mussten viele Menschen sterben. Wie viele, das wusste niemand so genau. Und er war Teil ihrer Machenschaften, ohne zu wissen, was vor sich ging, er war Teil ihrer schmutzigen Geschäfte, bis es ihm aufgefallen war.

Sie lieben ihre Familien. Wir auch. Sie lieben ihre Kinder. Wir auch. Doch die Frage nach der Moral beantworten sie anders. Sie atmen dieselbe Luft, sie trinken dasselbe Wasser und doch nehmen sie die Welt anders wahr. Wir reden über Fälschung, Diebstahl, Betrug und Cyberangriffe, und das sind nur ihre Werkzeuge. Doch wer sind SIE und wer sind WIR? Sind wir Sie oder sind sie Wir?

Er war Teil des größten Betrugsskandals der Gegenwart geworden. Sie hatten ihn dazu gemacht. Sie hatten ihn benutzt, ohne dass er es gemerkt hatte. Trotzdem fühlte er sich schuldig. Aber damit war jetzt Schluss. Er wollte es wiedergutmachen, nein er musste. Das war seine Pflicht, gegenüber den tausenden Unschuldigen.

Sie halten die Wahrheit für eine Tatsache. Wir auch. Aber was ist, wenn sie eine andere Wahrheit haben oder sie nicht mehr der Maßstab ist?

Sie sind unter uns, neben uns, mit uns. Wir mit ihnen. Wir können sie sehen. Sie uns auch. Sie treffen uns dort, wo es weh tut. Dann, wenn wir nicht damit rechnen. Und diejenigen, die am wenigsten dafürkönnen. Und das war das Schlimmste für ihn. Das hatte ihm die Luft abgeschnürt, als er es entdeckt hatte. Wie krank muss man sein, um so etwas … Sie können doch nicht einfach … Doch. Sie können, und sie tun es. Es ist ihnen scheißegal.

Ihre Gier, ihre Skrupellosigkeit kotzte ihn an. Es gab keine Grenzen, und kein Erbarmen, weder Ethik, noch Moral. Erst zögerte er, wollte sichergehen, dass er sich nicht geirrt hatte. Dann war klar. Er musste handeln, bevor es zu spät war, auch wenn es das letzte war, was er tat. Doch ihre Wahrheit war nicht seine Wahrheit. Grenzen verschwammen, Tabus fielen. Unschuldige Menschen würden sterben. Das Leben war ein Anderes. Ein Stöhnen war zu hören. Dann hob er den Kopf und stammelte.

„… niemals ….“

Der Mann, der das Sagen hatte, zuckte mit den Wimpern. Julio schlug erneut zu. Diesmal härter. Es knackte. Speichel, Schweiß und Blut spritzten umher. Sein Oberkörper schnellte willenlos nach hinten gegen die Lehne, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Julio holte ein weiteres Mal aus.

„Das reicht.“

Er stoppte, abrupt. Es dauerte einen Moment, bis er in der Lage war, die Faust herunter zu nehmen, als bliebe auch für ihn die Zeit einfach stehen. Dann setzte sie wie in Zeitlupe wieder ein.

Der Mann auf dem Stuhl konnte kaum noch aufrecht sitzen.

„Wir brauchen ihn noch.“

Julio ließ ihn mit dem Gesicht nach vorne auf den Tisch fallen, als ginge er ihn nichts mehr an.

Der Mann, der das Sagen hatte, zeigte keinerlei Reaktion.

„Lassen wir die Zeit für uns arbeiten.“

Er deutete auf die Tür. Julio nickte, wusch sich die Hände und ignorierte, dass sich das Wasser blutrot färbte. Er sah kurz in den Spiegel, ohne eine Regung zu zeigen, und griff zum Handtuch. Sie verließen den kleinen Raum. Der Mann, der das Sagen hatte, drehte sich noch einmal um.

„Ich komme wieder.“

Emotionslos quittierte Julio die unausgesprochene Anweisung, die sich hinter diesen drei Worten verbarg. Er verschloss die schmale Kajütentür, die in seinem Schatten winzig wirkte, und setzte sich auf den viel zu kleinen Stuhl, der in einer Nische neben der Tür stand. Sein Gesicht war zu klein für diesen massigen Körper, beinahe niedlich. Hätte man nicht erlebt, wozu er fähig war, würde man ihn für ein harmloses, viel zu groß geratenes Kind halten, das niemandem etwas zuleide tun konnte.

Das Licht in dem fensterlosen Vorraum war gedeckt, alles war schlicht, funktionell, fast schon beklemmend. Für Julio spielte das keine Rolle. Wenn es sein musste, würde er seine Position für Stunden nicht verlassen, solange, bis er neue Anweisungen erhielt.

Von dem Körper des Mannes, der in der Kabine dahinter vornübergebeugt reglos auf dem Tisch lag, war nicht mehr viel übrig. Das trügerische Vorhaben, das sich in dessen Kopf zusammengebraut hatte und das zu einer ernstzunehmenden Gefahr hätte werden können, hatten sie aus ihm herausgeprügelt. Der Mann, der das Sagen hatte, hatte die Bestätigung für das erhalten, was er befürchtet hatte, doch eines wusste er noch nicht. Und das könnte entscheidend sein. Er würde sich später darum kümmern.

*

Es war auf den Tag genau vor einem Jahr. Todesursache: Plötzlicher Hirntod. Der eigentliche Tod tritt zeitversetzt durch Atemstillstand ein, so hatte es ihm der Arzt erklärt und so stand es in dessen Bericht. Jean hatte seine Mutter in der Wohnung, auf dem Fußboden liegend, gefunden. Fremdeinwirkung wurde ausgeschlossen, für die Polizei wurde nie ein Fall daraus. Nichts sprach dafür. Allein in Deutschland sterben Jahr für Jahr mehr als sechzigtausend Menschen daran, versuchte ihn der Arzt zu trösten.

Für ihn brach die Welt zusammen. Es war das zweite Mal in seinem kurzen Leben, und innerhalb so kurzer Zeit, dass ihn der Verlust eines geliebten Menschen so hautnah und persönlich traf.

Höhen und Tiefen wechselten sich ab. Wie in Trance hatte er damals nur das Nötigste geregelt. Er erinnerte sich an ein Testament in einem Schließfach ihrer Bank, an die Wohnung, die er geerbt hatte und an einen für seine damaligen Vorstellungen nicht gerade kleinen Geldbetrag: Etwa achtzigtausend Euro. Und an einen Brief, der bei den Unterlagen im Schließfach oben drauf gelegen hatte, mit dem er damals aber nicht viel anfangen konnte. Dr. Keppler, der Notar seiner Mutter, hatte das Wesentliche geregelt, ohne dass Jean sich an Details erinnerte. Wahrscheinlich hatte er in seiner Trauer alles verdrängt.

Jean hatte lange gebraucht, um die beiden Todesfälle zu verkraften. Genaugenommen hat er sie bis heute nicht überwunden. Noch nie in seinem Leben war er so einsam gewesen. Eine schreckliche Zeit, bei der es kein oben und kein unten gegeben hatte.

Die Erlebnisse der Vergangenheit hatten Jean Bernard Stevens verändert. Sie hatten ihn seine Unbeschwertheit gekostet. Er passte in kein Schema. Vielleicht war es der Zuversicht seiner Mutter zu verdanken gewesen, die er geerbt zu haben schien, dass er nicht in dunkle Kanäle abgerutscht war. Weit davon entfernt war er nicht. Einem inneren Drang folgend hatte er sich in die Arbeit gestürzt und schneller als erwartet sein Studium beendet. Er hatte Journalismus, Politikwissenschaften und Sport studiert. Allen Unkenrufen zum Trotz schrieb er seine Abschlussarbeit bei Professor Neubarth. Der schätzte Jean, nicht nur wegen seiner herausragenden Fähigkeiten, sondern vor allem wegen seiner Andersartigkeit. Vielleicht sah er sich selbst ein wenig in ihm. Neubarth hatte ihm ein hochaktuelles und gleichermaßen brisantes Thema angeboten und ihm vielleicht sogar unbewusst auf den richtigen Weg geführt. Es ging um die geänderten Anforderungen an forensische Linguisten und Phonetiker sowie IT-Forensiker bei der Aufklärung von Schwerverbrechen im Zusammenhang mit Cyberkriminalität. Ein weites und in seiner Bedeutung aktuell und zukünftig unverzichtbares Feld, das Jean fesselte. Sein Plan war, sich in Zukunft dem investigativen Journalismus zuzuwenden. Anders als es seine Mutter zuletzt getan hatte. Zumindest glaubte er das bis dahin. Dass sie in Wahrheit ein ganz anderes Leben geführt hatte, sollte er bald auf eine ganz andere Art erfahren.

Jean war niemand, der sich einfach so unterordnete. Den ganzen Tag in der Redaktion zu sitzen und auf ein Ereignis oder die Gelegenheit zu einer Adhoc-Berichterstattung zu warten, war nicht sein Ding. Er hatte ein paar Artikel geschrieben, die durchaus vielversprechend waren, sich allerdings eher mit alltäglicher Kleinkriminalität, der Unfähigkeit von Behörden und ein paar Delikten in Zusammenhang mit Grenzverletzungen an der Grenze zu Polen und den baltischen Staaten befassten. Nichts, was für ihn einen tieferen Sinn ergab. Er brauchte eine Herausforderung, etwas, das keinem Standard entsprach.

Sein müder Blick fiel erneut auf die Espressotasse, die leicht dampfend in der Maschine stand. Das Gurgeln war verstummt.

Mit der ersten Tasse kam langsam Leben in seinen Körper. Er schloss das Fenster, nahm sein iPad und setzte sich in seinen Lieblingssessel. Eher willkürlich blätterte er verschiedene Nachrichtenplattformen durch und blieb bei einem Artikel über die jüngsten Cyberangriffe in den USA hängen. Bei den Ermittlungen zum Cyberangriff auf den US-IT-Dienstleister Kaseya hatte man festgestellt, dass die Erpressungssoftware bei Kunden von Kaseya in 17 Ländern aufgetaucht war. Auch deutsche Unternehmen waren betroffen. Laut Expertenmeinung handelte es sich um eine der umfangreichsten Ransomware-Attacken überhaupt. Das hieß, es ging um Lösegeldforderungen in großem Stil. Offensichtlich schoben sich Biden und Putin gegenseitig den schwarzen Peter zu, vereinbarten aber auch, gemeinsam an der Cybersicherheit zu arbeiten. Jean beeindruckte das angesichts der Tatsache, wie misstrauisch beide Länder einander insbesondere in dieser Frage gegenüberstanden, eher wenig.

Er scrollte weiter und stieß auf eine Meldung von ´Forbidden Stories´, einem Netzwerk, das 2017 von Laurent Richard in Paris anlässlich des Attentates auf Charlie Hebdo 2015 ins Leben gerufen wurde. Er klickte auf den Link und fand einen Artikel über ´Censored stories on Covid-19: A worldwide media blackout threat´. Es ging um die Gefahr der Unterdrückung von Informationen zum Pandemieverlauf von Covid-19. Wie krank war so etwas. Jean schüttelte sich. Er musste unweigerlich an seine Mutter denken, die ebenfalls einige solcher Artikel verfasst hatte. Bilder gingen ihm durch den Kopf, wie sie am Schreibtisch vor ihrem Laptop saß und schrieb. Übergangslos sah er sie auf dem Boden liegen, so, wie er sie damals gefunden hatte. Es kam immer wieder hoch.

Er musste sich ablenken, stand auf und machte sich einen weiteren Kaffee. Was hätte wohl sein Vater damals gemacht, wenn er noch gelebt hätte? Er wusste es nicht. Was wusste er überhaupt über ihn? Wenn er ehrlich war, nicht viel. Er ging nach nebenan und sah ein paar Fotoalben durch. Viel gab es nicht. Aber, es tat gut. Wie jung sie beide waren, seine Mutter und sein Vater. Dann suchte er nach Unterlagen über ihn, fand aber nur Belangloses. Er spürte, wie ihn eine innere Unzufriedenheit befiel. Die Sache mit dem Nachlass fiel ihm wieder ein, die er noch zu regeln hatte. Er sah einige Unterlagen, Artikel und Berichte seiner Mutter durch. Ihr Schreibtisch war immer noch so, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Es wurde Zeit, sich auch darum zu kümmern. Doch auch dort fand er nichts, was ihn weiterbrachte. Dann fiel ihm das Schließfach seiner Mutter ein, dass nach ihrem Tod auf ihn übertragen wurde. Dort hatte er ihr Testament gefunden.

Das Bild eines DIN-A4-Umschlags, der eine Mappe enthielt, die er nie geöffnet hatte, kam ihm in den Sinn. Was hatte es damit auf sich? Warum fiel ihm das gerade jetzt ein? Vielleicht würde er dort die fehlenden Unterlagen finden. Er entschloss sich, nachzusehen.

Der Schlüssel… Er brauchte den Schlüssel. Wo hatte er ihn zuletzt gesehen?