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In diesem Sammelband nimmt uns der Autor mit auf eine Reise durch die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, durch die Geschehnisse in Politik und Kultur. Gesellschaftskritisch beschreibt er die menschenverachtende Brutalität während des Krieges sowie die Weigerung der Menschen, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Hinterfragt wird der Sinn einer Demokratie und die Bedeutung von Freiheit. Zudem wird das Vermögen "Nein!" zu sagen thematisiert, während das einleitende Gedicht "Das Lächeln der Mona Lisa" zum Nachdenken und Schmunzeln anregt.-
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Seitenzahl: 425
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Kurt Tucholsky
Saga
Das Lächeln der Mona Lisa
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1929, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728015476
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
1929
FÜR GEORGES COURTELINE
VON
PETER PANTER
THEOBALD TIGER
IGNAZ WROBEL
KASPAR HAUSER
Il ne faut pas rire tant qu’on n’est qu’à l’extérieur des choses, mais il faut d’abord y entrer. Il faut rire du milieu des choses. Plus clairement, je ne ris pas de toute politique, car il peut en être de belle que j’ignore, mais je ris des hommes politiques que je connais, et de la politique qu’ils font sous mes yeux. Que le rire soit, non pas frivole, mais sérieux et intérieur, et d’une philosophie consciente! On n’a le droit de rire des larmes que si l’on a pleuré.
Avant que de rire des grands hommes, il faut savoir les aimer de toute son âme.
L’ironie est la pudeur de l’humanité.
Jule Renard (Journal 1896)
Ich kann den Blick nicht von dir wenden.
Denn über deinem Mann vom Dienst
hängst du mit sanft verschränkten Händen
und grienst.
Du bist berühmt wie jener Turm von Pisa,
dein Lächeln gilt für Ironie.
Ja … warum lacht die Mona Lisa?
Lacht sie über uns, wegen uns, trotz uns, mit uns, gegen uns –
oder wie –?
Du lehrst uns still, was zu geschehn hat.
Weil uns dein Bildnis, Lieschen, zeigt:
Wer viel von dieser Welt gesehn hat –
der lächelt,
legt die Hände auf den Bauch
und schweigt.
WARUM LÄCHELT DIE MONA LISA?
WEIL SIE
HITKINSONS VERDAUUNGSPASTILLEN
EINGENOMMEN HAT
UND SO
VON IHRER LÄSTIGEN VERSTOPFUNG
FÜR IMMER BEFREIT IST!
WOLLEN SIE
AUCH LÄCHELN?
DANN ...
Amerikanisches Inserat
M wie:
MITROPA, SCHLAFWAGEN
„In einem richtigen Schlafwagen haben nicht nur die Schaffner Dienst, sondern auch die Fahrgäste.“
Deutscher Verwaltungsgrundsatz
Neulich habe ich einen Hund gesehen – der ging ins Geschäft. Es war eine Art gestopfter Sofarolle, mit langen Felltroddeln als Behang, und er wackelte die Leipziger Straße zu Berlin herunter; ganz ernsthaft ging er da und sah nicht links noch rechts und beroch nichts, und etwas anderes tat er schon gar nicht. Er ging ganz zweifellos ins Geschäft.
Und wie hätte er das auch nicht tun sollen? Alle um ihn taten es.
Da rauschte der Strom der Insgeschäftgeher durch die Stadt. Morgen für Morgen taten sie so. Sie trotteten dahin, sie gingen zum Heiligsten, wo der Deutsche hat: zur Arbeit. Der Hund hatte da eigentlich nichts zu suchen – aber wenn auch er zur Arbeit ging, so sei er willkommen!
Es saßen zwei ernste Männer in der Bahn und sahen, rauchend, satt, rasiert und durchaus zufrieden, durch die Glasscheiben. Man wünscht sich in solchen Augenblicken ein Wunder herbei, etwa, daß dem Polizeisoldaten an der Ecke Luftballons aus dem Helm steigen, nur damit jene ein Mal Maul und Nase aufsperrten! Da fuhr die Bahn an einem Tennisplatz vorüber. Die güldene Sonne spielte auf den hellgelben Flächen – es war strahlendes Wetter, viel zu schön für Berlin. Und einer der ernsten Männer murrte: „Haben auch nichts zu tun, sehen Sie mal! Morgens um acht Uhr Tennis spielen! Sollten auch lieber ins Geschäft gehen –!“
Ja, das sollten sie. Denn für die Arbeit ist der Mensch auf der Welt, für die ernste Arbeit, die wo den ganzen Mann ausfüllt. Ob sie einen Sinn hat, ob sie schadet oder nützt, ob sie Vergnügen macht („Arbeet soll Vajniejen machen? Ihnen piekt er woll?“) –: das ist alles ganz gleich. Es muß eine Arbeit sein. Und man muß morgens hingehen können. Sonst hat das Leben keinen Zweck.
Und stockt einmal der ganze Betrieb, streiken die Eisenbahner oder ist gar Feiertag: dann sitzen sie herum und wissen nicht recht, was sie mit sich anfangen sollen. Drin ist nichts in ihnen, und draußen ist auch nichts: also was soll es? Es soll wohl gar nichts …
Und dann laufen sie umher wie Schüler, denen versehentlich eine Stunde ausgefallen ist – nach Hause gehen kann man nicht, und zum Spaßen ist man nicht aufgelegt … Sie dösen und warten. Auf den nächsten Arbeitstag. Daran, unter anderm, ist die deutsche Revolution gescheitert: sie hatten keine Zeit, Revolution zu machen, denn sie gingen ins Geschäft.
Wobei betont sein mag, daß man auch im Sport dösen kann, der augenblicklich wie das Kartenspiel betrieben wird: fein nach Regeln und hervorragend stumpfsinnig. Aber schließlich ist es immer noch besser, zu trainieren, als im schwarzen Talar Unfug zu treiben …
Ja, sie gehen ins Geschäft. „Was für ein Geschäft treibt ihr?“ – „Wir treiben keins, Herr. Es treibt uns.“
Der Hund sprang nicht. Man hüpft nicht auf den Straßen. Die Straße dient – wir wissen schon. Und das verlockende, niedrig hängende patriotische Plakat … der Hund ließ es außer acht.
Er ging ins Geschäft.
„Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt;
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt.
Was von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.“
Unbekannter Dichter
Abends nach sechs Uhr gehen im Berliner Tiergarten lauter Leute spazieren, untergefaßt und mit den Händen nochmal vorn eingeklammert – die haben alle recht. Das ist so:
Er holt sie vom Geschäft ab oder sie ihn. Das Paar vertritt sich noch ein bißchen die Beine, nach dem langen Sitzen im Bureau tut die Abendluft gut. Die grauen Straßen entlang, durch das Brandenburger Tor zum Beispiel – und dann durch den Tiergarten. Was tut man unterwegs? Man erzählt sich, was es tagsüber gegeben hat. Und was hat es gegeben? Ärger.
Nun behauptet zwar die Sprache, man „schlucke den Ärger herunter“ – aber das ist nicht wahr. Man schluckt nichts herunter. Im Augenblick darf man ja nicht antworten – dem Chef nicht, der Kollegin nicht, dem Portier nicht; es ist nicht ratsam, der andere bekommt mehr Gehalt, hat also recht. Aber alles kommt wieder – und zwar abends nach sechs.
Das Liebespaar durchwandelt die grünen Laubgänge des Tiergartens, und er erzählt ihr, wie es im Geschäft zugegangen ist. Zunächst der Bericht. Man hat vielleicht schon bemerkt, wie Schlachtberichte solcher Zusammenstöße erstattet werden: der Berichtende ist ein Muster an Ruhe und Güte, und nur der böse Feind ist ein tobsüchtig gewordener Indianer.
Das klingt ungefähr folgendermaßen: „Ich sage, Herr Winkler, sage ich - das wird mit dem Ablegen so nicht gehn!“ (Dies im ruhigsten Ton von der Welt, mild, abgeklärt und weise.) „Er sagt, erlauben Sie mal! sagt er - ich lege ab, wies mir paßt!“ (Dies schnell, abgerissen und wild cholerisch.) Nun wieder die Oberste Heeresleitung: „Ich sage ganz ruhig, ich sage, Herr Winkler, sage ich – wir können aber nicht so ablegen, weil uns sonst die C-Post mit der D-Post durcheinanderkommt! Fängt er doch an zu brüllen! Ich hätte ihm gar nichts zu befehlen, und er täte überhaupt nicht, was ihm andere Leute sagten – finnste das –?“ Dabei haben natürlich beide spektakelt wie die Marktschreier. Aber manchmal wars der Chef, und dem konnte man doch nicht antworten. Man hat also „heruntergeschluckt“ – und jetzt entlädt es sich. „Finnste das?“
Lottchen findet es skandalös. „Hach! Na, weißt du!“ Das tut wohl, es ist Balsam fürs leidende Herz – endlich darf man es alles heraussagen! – „Am liebsten hätte ich ihm gesagt: Machen Sie sich Ihren Kram allein, wenns Ihnen nicht paßt! Aber ich werde mich doch mit so einem ungebildeten Menschen nicht hinstellen! Der Kerl versteht überhaupt nichts, sage ich dir! Hat keine Ahnung! So, wie ers jetzt macht, kommt ihm natürlich die C-Post in die D-Post – das ist mal bombensicher! Na, mir kanns ja egal sein. Ich weiß jedenfalls, was ich zu tun habe: ich laß ihn ruhig machen – er wird ja sehen, wie weit er damit kommt …!“ – Ein scheu bewundernder Blick streift den reisigen Helden. Er hat recht.
Aber auch sie hat zu berichten. „Was die Elli intrigiert, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Fräulein Friedland hat vorgestern eine neue Bluse angehabt, da hat sie am Telephon gesagt, wir habens abgehört -: Man weiß ja, wo manche Kolleginnen das Geld für neue Blusen her haben! Wie findest du das? Dabei hat die Elli gar keinen Bräutigam mehr! Ihrer ist doch längst weg – nach Bromberg!“ Krach, Kampf mit dem zweiten Stock auf der ganzen Linie - Schlachtgetümmel. „Ich hab ja nichts gesagt … aber ich dachte so bei mir: Na – dacht ich, wo du deine seidenen Strümpfe her hast, das wissen wir ja auch! Weißt du, sie wird nämlich jeden zweiten Abend abgeholt, sie läßt immer das Auto eine Ecke weiter warten … aber wir haben das gleich rausgekriegt! Eine ganz unverschämte Person ist das!“ Da drückt er ihren Arm und sagt: „Na sowas!“ Und nun hat sie recht.
So wandeln sie. So gehen sie dahin, die vielen, vielen Liebespaare im Tiergarten, erzählen sich gegenseitig, klagen sich ihr kleines Leid, und haben alle recht. Sie stellen das Gleichgewicht des Lebens wieder her. Es wäre einfach unhygienisch, so nach Hause zu gehen: mit dem gesamten aufgespeicherten Oppositionsärger der letzten neun Stunden. Es muß heraus. Falsche Abrechnungen, dumme Telephongespräche, verpaßte Antworten, verkniffene Grobheiten – es findet alles seinen Weg ins Freie. Es ist der Treppenwitz der Geschäftsgeschichte, der da seine Orgien feiert. Die blauen Schleier der Dämmerung senken sich auf Bäume und Sträucher, und auf den Wegen gehen die eingeklammerten Liebespaare und töten die Chefs, vernichten den Konkurrenten, treffen die Feindin mitten ins falsche Herz. Das Auditorium ist dankbar, aufmerksam und grenzenlos gutgläubig. Es applaudiert unaufhörlich. Es ruft: „Nochmal!“ an den schönen Stellen. Es tötet, vernichtet und trifft mit. Es ist Bundesgenosse, Freund, Bruder und Publikum zu gleicher Zeit. Es ist schön, vor ihm aufzutreten.
Abends nach sechs werden Geschäfte umorganisiert, Angestellte befördert, Chefs abgesetzt und, vor allem, die Gehälter fixiert. Wer würde die Tarife anders regeln? Wer die Gehaltszulagen gerecht bemessen? Wer Urlaub mit Gratifikation erteilen? Die Liebespaare, abends nach sechs.
Am nächsten Morgen geht alles von frischem an. Schön ausgeglichen geht man an die Arbeit, die Erregung von gestern ist verzittert und dahin, Hut und Mantel hängen im Schrank, die Bücher werden zurechtgerückt – wohlan! der Krach kann beginnen. Pünktlich um drei Uhr ist er da – dieselbe Geschichte wie gestern: Herr Winkler will die Post nicht ablegen, Fräulein Friedland zieht eine krause Nase, die Urlaubsliste hat ein Loch, und die Gehaltszulage will nicht kommen. Ärger, dicker Kopf, spitze Unterhaltung am Telephon, dumpfes Schweigen im Bureau. Es wetterleuchtet gelb. Der Donner grollt. Der erfrischende Regen aber setzt erst abends ein – mit ihr, mit ihm, untergefaßt im Tiergarten.
Da ist Friede auf Erden und den Paaren ein Wohlgefallen, der Angeklagte hat das letzte Wort – und da haben sie alle, alle recht.
Daß der Berliner, an welchem Ort auch immer allein gelassen, nachdenklich dasitzt, den Boden fixiert und plötzlich, wie von der Tarantella gestochen, aufspringt: „Wo kann man denn hier mal telephonieren?“ – das ist bekannt. Wenn es keine Berliner gäbe: das Telephon hätte sie erfunden. Es ist ihnen über, und sie sind seine Geschöpfe.
Man stelle sich einen kühnen jungen Mann vor, der einen ernsten Geschäftsmann während einer wichtigen Verhandlung stören will. Es wird ihm nicht gelingen. Hellebarden versperren den Weg, Privatsekretärinnen werfen sich vor die Schwelle, nur über ihre Weichteile geht der Weg, und jeder Angriff des noch so kühnen jungen Mannes muß mißlingen. Wenn er nicht antelephoniert.
Wenn er nämlich antelephoniert, dann kann er den Präsidenten bei der Regierung, den Chefredakteur bei den Druckfehlern, die gnädige Frau bei der Anprobe stören. Denn das Berliner Telephon ist keine maschinelle Einrichtung: es ist eine Zwangsvorstellung.
Klopft das Volk drohend an die Türen, macht der Berliner noch lange nicht auf. Klingelt aber ein kleiner Apparat, so winkt er noch dem adligsten Besucher ab, murmelt mit jener Unterwürfigkeitsmiene, wie man sie sonst nur bei gläubigen Sektierern findet: „’n Augenblick mal –!“ und wirft sich voll wilden Interesses in den schwarzen Trichter. Vergessen Geschäft, Hebamme, Börse und Vergleichsverhandlung. „Hallo? Ja, bitte? Hier da – wer dort –?“
Einen Berliner fünfzehn Minuten lang, ungestört von einem Telephon, zu sprechen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wieviel Pointen verpuffen da! Wieviel angesammelte Energie raucht zum Fenster hinaus! Wie umsonst sind Verhandlungslist, Tücke und herrlich ausgeknobelte Hinterhältigkeit! Das Telephon ist keine Erfindung der Herren Bell und Reiß – der V-Vischer hat die ganze Tücke des Objekts in diesen Kasten gelegt. Es klingelt nur, wenn man das gar nicht haben will.
Wie oft habe ich nun schon erlebt, daß die kräftige Rede eines Besuchers den ganzen Raum überzeugt, gleich ist er auf der Höhe, der Sieg ist nahe, hurra, noch einen Schritt … da klingelt das Telephon, und alles ist aus. Der dicke Mann am Schreibtisch, der eben noch, dreiviertel hypnotisiert, schon das Doppelkinn auf die Krawatte hat sinken lassen und friedlich die Unterlippe vorgeschoben hat, läßt eine eisige Maske über das gleiten, was er als Gesicht ausgibt. Die nervigte Hand am Telephonhörer, vergißt er Partner, Geschäft und sich selbst. „Hier Dinkelsbühler – wer dort –?“ Emsig strudelt er im fremden Gewässer, völlig gefangen vom andern, untreu dem Partner der letzten Minute, ganz hingegeben in Betrug und Verrat.
Der andre ist der Dumme. Hohl und leer sitzt er dabei, das eben noch ausgesprochene pathetische Wort ragt ihm sinnlos aus dem Mund wie eine alte Fahne im Zeughaus, Flagge einer Truppe, die längst gestorben ist. Beschämt sitzt er da, haltlos und nackt, und in ihm kocht dumpf der unerfüllte Wille. Was nun –?
Nun redet der dicke Mann am Schreibtisch so lange, wie man eben in Berlin am Telephon spricht, und es gibt nur noch einen, der mehr redet: das ist der am andern Ende. Der muß wohl rauschen mit ein mittelgroßer Wasserfall: die Augen des Schreibtischmannes schauen gedankenvoll auf ein Löschpapier, wandern über das Tintenfaß, blicken irr und leer dem betrogenen Partner auf die Glatze, nun beginnt er gar Männerchen aufs Papier zu malen und Quadrate, und der andre scheint, wie die Membrane quakend verkündet, ganze Wörterbücher ins Telephon brausen zu lassen.
Schon ruckelt der Gast ungeduldig auf seinem Stühlchen, da nahen sich im unendlichen Gespräch die ersten Anzeichen des Schlusses. „Na denn …!“ – „Also dann verbleiben wir so …“ Dem Gast wirds freudig zumute: so eilt die Seele des Konzertbesuchers in die Garderobe vorauf, wenn es im Orchester bedrohlich laut wird, wenn das Flügelschlagen des Dirigenten Blech und immer mehr Blech ins Getöse wirft … aber es ist noch nicht so weit. Sie verbleiben noch eine ganze Weile so, setzen immer wieder zu Schlußwendungen an, der Schluß kommt nicht. Langsam steigt in dem Wartenden der Wunsch auf, dem Telephonierenden das Handelsgesetzbuch auf den Kopf zu schlagen … „Na dann – auf Wiedersehn!“ sagt der endlich. Und legt den Hörer hin.
Und das ist der schlimmste Augenblick von allen. In den Augen des Schreibtischmannes wechselt die Beleuchtung, man hört es förmlich knacken, wie er sich umstellt; mit etwas schwachsinnigem Ausdruck wendet er sich zwinkernd dem alten, verratenen Partner wieder zu. „Ja, also – wo waren wir stehengeblieben …?“
Nun fang du wieder von vorne an. Nun klaube die zerbrochenen Stücke deiner Rede wieder vom Boden zusammen, nun hole tief Atem, bemühe dich, wieder in Zug zu kommen … Gute Nacht. Der Schwung ist dahin, der Witz ist dahin, der Wille ist dahin. Lahm geht die Unterredung zu Ende. Nichts hast du erreicht. Das hat mit ihrem Singen die Lorelei getan.
*
Nun legt der Leser das Buch still und freundlich aus der Hand und denkt einen Augenblick nach. Dann springt er wie ein gejagter Hirsch auf, die „Mona Lisa“ lächelt am Boden … Er eilt zum Telephon.
Schlagzeile der B.Z. Kommt die Prügelstrafe –? Wie wir erfahren, ist soeben im Reichsjustizministerium ein Referentenentwurf fertiggestellt worden, der sich mit der Einführung der Prügelstrafe befaßt.
Alle Morgenblätter. Die von einer hiesigen Mittagszeitung verbreitete Meldung von der Wiedereinführung der Prügelstrafe ist falsch. Im Reichsjustizministerium haben allerdings Erwägungen geschwebt über eine gewisse, natürlich partielle und nur für ganz bestimmte wenige Rückfallsdelikte zu verhängende körperliche Züchtigung; doch haben sich diese Erwägungen zu einem Referentenentwurf, wie das betreffende Mittagsblatt behauptet, noch nicht verdichtet.
Die Nachtausgaben. Die Prügelstrafe ist da! – Der hauende Minister! - Schlagen Sie Ihre Kinder, Herr Minister? Endlich eine kräftige Maßnahme! – Immer feste druff! – Pfui! – Die Rohrstockregierung! - Rückkehr zur Ordnung!
Sozialdemokratischer Leitartikel. … sich tatsächlich bewahrheitet. Wir finden keine parlamentarischen Ausdrücke, um unsrer flammenden Entrüstung über diese neue Schandtat der Reaktion Ausdruck zu geben. Nicht genug damit, daß dieses Ministerium das Volk mit Steuern überlastet - nein, der deutsche Arbeiter soll nun auch noch, wie es unter dem Regime des Zaren üblich war, mit der Knute abgestraft werden. Die Reichstagsfraktion hat bereits schon jetzt zu verstehen gegeben, daß sie gegen diesen neuen Plan schärfsten Protest …
Zentrums-Leitartikel. … Jes. Sir. 12, 18. Diese bisher angeführten Bibelstellen scheinen allerdings dafür zu sprechen, und so wird man dem Plan des Ministeriums christliche Gesinnung nicht ganz absprechen können … um so mehr, als es den kirchlichen Interessen nicht in allen Punkten zuwiderlaufend ist.
Kreuz-Zeitung. … immerhin nicht vergessen, daß auf dem Lande schon lange nach guter altpreußischer Art bei Ungehorsam und offener Widersetzlichkeit der Stock manches Gute getan hat. Wir vermögen nicht einzusehen, warum grade diese Strafe nun so besonders entehrend sein soll. Es ist selbstverständlich, daß ihre Anwendung auf solche Kreise beschränkt bleiben muß, die die Prügelstrafe gewissermaßen von Haus aus gewöhnt sind. Für eine Reinigung unsrer politisch verhetzten Atmosphäre …
Münchner Neueste Nachrichten. … wir sagen müssen: der erste vernünftige Gedanke, der aus Berlin kommt.
Volksversammlung. „Eine Schmach und eine Schande! Ich könnte es keinem der Geschlagenen verdenken, wenn sie nachher hingingen und ihren Quälern ihrerseits in die Fresse …“ (Ungeheure Aufregung im Saal. Die Leute stehen auf, schreien, werfen die Hüte in die Luft und winken mit Taschentüchern. Es werden 34 Portemonnaies geklaut. Redner steht in einer Pfütze von Schweiß.)
Demokratischer Leitartikel. … natürlich absolute Gegner der Prügelstrafe sind und bleiben. Es ist allerdings bei der gegenwärtigen Konstellation zu erwägen, ob diese in der großen Politik doch immerhin nebensächliche Frage für die Deutsche Demokratische Partei ein Anlaß sein kann, die unbedingte Unterstützung, die sie der gegenwärtigen Regierungskoalition zugesagt hat, abzublasen - besonders wenn man bedenkt, das ihr durch die Zusicherung der Straflosigkeit des Tragens von republikanischen Abzeichen doch ein ganz gewaltiges Vorstoßen des republikanischen Gedankens gelungen ist. Andrerseits ...
Protestversammlung der Kommunisten. (Verboten.)
Tagung des Reichsverbandes der mittleren Unterrichtsbeamten für die obere Leerlaufbahn der Vollgymnasien. „… οὒ παιδεύετει. Schon die alten Griechen, meine Herren …“
Telephonzelle im Reichstag. „… Halloo! Hallo, Saarbrücken? Allô, Allô – Je cause, mais oui, Mademoiselle – aber bitte! Ne coupez-pas! Ja, deutsch! Sind Sie da? Also … Zusatzantrag der Frau Gertrud Bäumer beraten, haben Sie? dem zufolge das Gesäß der Geprügelten vorher mit einem Lederschurz verhüllt – – hallo! Saarbrücken …!“
Telegramme an den Reichspräsidenten. … flammenden Protest! Nordwestdeutsche Arbeitsgemeinschaft höherer Volksschullehrer … in zwölfter Stunde inständigst bitten. Reichsverband freidenkerischer Rohköstler. … Ansehen Deutschlands im Auslande. Verein der linksgerichteten ziemlich entschiedenen Republikaner … aber auch die nationalen Belange der deutschen Wirtschaft nicht zu vergessen! Verband der Rohrstock-Fabrikanten.
Überschrift eines demokratischen Leitartikels. „Jein –!“
Reichstagsbericht. Gestern wurde unter atemloser Spannung der Tribünen die I. Lesung des neuen „Gesetzes zur Einführung der körperlichen Zwangserzüchtigung“, wie sein amtlicher Titel lautet, durchberaten. Das Haus war bei der vorhergehenden Beratung der Schleusen-Gebühr-Reform für den Bezirk Havelland-Ost sehr gut gefüllt, weil diese Vorlage von allen Parteien als ein Angelpunkt für die drohende Belastung der jetzigen Koalition angesehen wird; ihre Annahme wurde rechts mit Händeklatschen, links mit Zischen begrüßt. Bei der Lesung des Erzüchtigungsgesetzes leerte sich das Haus langsam, aber zusehends. Als erster sprach der Senior der deutschen Kriminalistik, Professor Dr. D. Dr. Dr. hon. Kahl. Er führte aus, daß die Wiedereinführung der Prügelstrafe ihn mit schwerer Besorgnis erfülle, er aber andrerseits eine gewisse Befriedigung nicht zu unterdrücken vermocht habe. Sein alter Kollege Cramer habe ihm schon im Jahre 1684 gesagt …
Der sozialdemokratische Abgeordnete Breitscheid verkündigte nach einer ausführlichen Ehrung des Abgeordneten Kahl in außerordentlich glänzender und ironischer Rede das klare Nein seiner Partei. (Siehe jedoch weiter unten: „Letzte Nachrichten“.) Unter dem Beifall der Linken bewies Abgeordneter Breitscheid …
Es sprach dann, nach entsprechenden Ausführungen des Kommunisten Rothahn, für die Demokraten der Abgeordnete Fischbeck. Seine Partei, so führte er aus, stehe dem Gesetz sympathisch gegenüber. Allerdings hätten wir ja alle schon einmal als Kinder die Hosen stramm gezogen bekommen. (Stürmische, minutenlang anhaltende Heiterkeit.)
Inserat.
… von weitern Meldungen abzusehen, da die in Aussicht genommenen Stellen für Zuchtbeamte bereits heute achtundneunzigmal überzeichnet sind.
J. A.
Heindl, Ober-Regierungsrat.
Sozialdemokratische Parteikorrespondenz. … Wasser auf die Mühle der Kommunisten. Der klassenbewußte Arbeiter ist eben so diszipliniert, daß er weiß, wann es Opfer zu bringen gilt. Hier ist eine solche Gelegenheit! Schweren Herzens hat sich der Parteivorstand dem Gebot der Stunde gebeugt. Es ist eben leichter, vom Schreibtisch her gute Ratschläge zu erteilen, als selber, in hartem realpolitischen Kampf, die Verantwortung …
Interview mit dem Reichskanzler. … Dem Vertreter der „World“' fast feierlich zugesagt, daß natürlich die Ausführungsbestimmungen der Humanität voll Genüge tun werden. Es wird, wie regierungsseitlicherseits bestimmt zugesagt werden kann, dafür gesorgt werden …
Kleine Nachrichten. Gestern ist im Reichstag das Gesetz für die Einführung der körperlichen Erzüchtigung mit den Stimmen der drei Rechtsparteien gegen die Stimmen der Kommunisten angenommen worden. Sozialdemokraten und Demokraten enthielten sich der Abstimmung.
Demokratischer Nachrichtendienst. … Erwartungen, die sich an den Erlaß der Ausführungsbestimmungen knüpften, leider nicht erfüllt. Es ist zu hoffen, daß die den Ländern gegebene Ermächtigung doch noch zu humanitären Verbesserungen … unbeugsame Forderung, als Reichserzüchtigungs-Kommissar wenigstens einen Demokraten zu ernennen.
W.T.B. Gestern ist in Celle die erste Prügelstrafe vollstreckt worden. Es handelte sich um einen Arbeiter, Ernst A., der der versuchten Tierquälerei an jungen Maikäfern bezichtigt war. Dem Verurteilten wurden 35 Hiebe verabfolgt. Das Züchtigungspersonal arbeitete einwandfrei; Oberpräsident Noske wohnte der Prozedur persönlich bei. A. ist Mitglied der K.P.D.
Pressekonferenz. … Zahl der Schläge war ursprünglich auf 80 angesetzt. Dem Verurteilten sind indessen auf Grund der Amnestie, die zum 90. Geburtstag des Reichspräsidenten ergangen ist, zwei Hiebe geschenkt worden. Der Verurteilte weinte nach der Exekution, vor Rührung.
Pommerscher Frauenbrief. „… Dir nicht denken, wie wir gelacht haben! Es war zu reizend! Das Wetter war herrlich, und mit fuhren im Wagen vier Stunden nach Messenthien, wo wir alle kräftig zu Mittag aßen. Otto war auch da – er ist jetzt Oberzuchtmeister geworden und sieht in seiner neuen Uniform famos aus. Ich bin direkt stolz auf ihn, und der Dienst bekommt ihm auch sehr gut. Wir haben gleich eine Photographie von ihm gemacht, die ich Dir beiliegend …
Ärztliche Mitteilungen. … geradezu auffallende Steigerung der unter das Erzüchtigungsgesetz fallenden, meist politischen Delikte, wie Sinsheimer mitteilt, eine eigenartige Aufklärung gefunden. Ein Teil dieser Verurteilten wälzte sich nach Empfangnahme der Prügel verzückt am Boden, schrie: „Weiter! Mehr! Noch!“ und konnte nur mit Mühe daran gehindert werden, Stock, Peitschen und Züchtigungsbeamte zu umarmen. Es handelt sich um notorische Masochisten, die auf diese Weise billig ihrer Libido gefrönt haben und denen nun wahrscheinlich der Prozeß wegen rechtswidriger Aneignung von Vermögensvorteilen gemacht werden wird.
*
8. März 1956. „… auf die arbeitsreiche Zeit von 25 Jahren zurückblicken. Wenn das Reichserzüchtigungsamt bis heute nur Erfolge gehabt hat, so dankt es das in erster Linie seinem treuen Stab der im Dienst erhauten Beamten, der vollen Unterstützung aller Reichsbehörden sowie dem Reichsverband der Reichserzüchtigungsbeamten. Die bewährte Strafe ist heute nicht mehr wegzudenken. Sie ist eine politische Realität; ihre Einführung beruhte auf dem freien Willen des ganzen deutschen Volkes, dessen Vollstrecker wir sind. Das Gegebene, meine Herren, ist immer vernünftig, und niederreißen ist leichter als aufbauen. In hoc signo vinces! So daß wir also heute voller Stolz ausrufen können:
Das deutsche Volk und seine Prügelstrafe - sie sind untrennbar und ohne einander nicht zu denken!
Das walte Gott!“
„Meningen hat ganz recht. Wir kommen schon von selbst in unsre Positionen, die ein für allemal für uns da sind. Wir übernehmen dazu einfach die bewährten Grundsätze, die Verwaltungsmaximen unsrer Väter. Wir wollen von gar nichts anderm wissen. Wozu –?“
… Der junge Reisleben begann jetzt zu kotzen.
Leben und Treiben der Saxo-Borussen, aus Harry Domela „Der falsche Prinz“
Im fröhlichen Herbst, als ich mit unserm Carl von Ossietzky in Würzburg bei schwerem Steinwein saß, fiel mein Blick auf eine kleine Broschüre „Briefe an einen Fuchsmajor, von einem alten Herrn“. (Verlag Franz Scheiner, Graphische Kunstanstalt, Würzburg.) Ich habe das Heftchen erstanden und muß dem anonymen Verfasser danken: außer dem „Untertan“ und den gar nicht genug zu empfehlenden Memoiren Domelas ist mir nichts bekannt, was so dicht, so klar herausgearbeitet, so sauber präpariert die studentische Erziehung der jungen Generation aufzeigt. Selbst für einen gelernten Weltbühnenleser muß ich hinzufügen, daß alle nun folgenden Zitate echt sind, und daß ich, leider, keines erfunden habe.
*
Unter den Milieuromanen der letzten Jahrzehnte gibt es zwei, die besonders großen Erfolg gehabt haben, wenn ich von dem seligen Stilgebauer absehe, der butterweichen Liberalismus mit angenehm erregender Pornographie zu vereinigen gewußt hat. Das sind Walter Bloems „Krasser Fuchs“ und Poperts „Hellmuth Harringa“. Beide Bücher taugen nichts. Sie sind aber als sittengeschichtliche Dokumente nicht unbrauchbar. Bloem, ein überzeugungstreuer Mann, außer Walter Flex einer der ganz wenigen nationalen Literaten, die für ihre Idee im Kriege geradegestanden haben, gibt sanft Kritisches, das er für scharf hält. Popert, ein hamburgischer Richter, dessen sicherlich gute antialkoholische Absichten die Hamburger Arbeiter damit karikierten, daß sie in der Kneipe sagten: „Nu nehm wi noch ’n lütten Popert!“ (statt Köhm) – ist im politischen Leben eine feine Nummer und als Schriftsteller ein dicker Dilettant. Der Erfolg seines Buches basierte auf dem angenehmen Lustgefühl, das es in dem nicht inkorporierten Wandervogel wachrief, der nach solchen Schilderungen studentischen Lebens getrost sagen durfte: „Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen!“ Er hat mit seiner Sittenfibel so recht, daß man ihm nur wünschen möchte, er hätte es nicht: einer der nicht seltenen Fälle, in denen ein unsympathischer Anwalt eine sympathische Sache vertritt.
Die „Briefe an einen Fuchsmajor“ sind nun kein Roman, sondern eine durchaus ernstgemeinte Anweisung, junge Füchse zu brauchbaren Burschen und damit zu Mitgliedern der herrschenden Kaste zu machen. Es ist wohl das Schlimmste, das jemals gegen die deutschen Korpsstudenten geschrieben worden ist.
Daß das Heft die Mensur verteidigt und damit das Duell, braucht nicht gesagt zu werden. Nun halte ich das zwar für wenig schön, jedoch kann ich mir kluge, gebildete und anständige Männer denken, die in der Billigung dieser Einrichtung aufgezogen sind. Der „Alte Herr“ begründet seinen Standpunkt folgendermaßen:
Wo Hunderte, gar Tausende von jungen, lebensfrohen, heißblütigen Männern eng und dicht nebeneinander leben, wie auf Universitäten, da kann es nie und nimmer stets und jederzeit friedlich zugehen; wollte da jeder wegen jedes kleinen und großen Wehwehchens zum Richter laufen, so gäb’s eine Atmosphäre der Angeberei, des Denunziantentums und aller ekelhaften Nebenerscheinungen, die nicht zum Aushalten wäre. Die üblichen Verbitterungen und Feindschaften brächten letzten Endes den Knüppelkomment, das Recht des rein körperlich Stärkeren, der zahlenmäßig Mächtigeren mit sich.
Wem wäre das noch nicht in Paris, in Oxford and in deutschen Fabriken aufgefallen!
Was es wirklich mit dem Waffenstudententum auf sich hat, das sagt uns der „Alte Herr“ besser, boshafter, radikaler, als ich es jemals zu tun vermöchte. Das hier ist zum Beispiel ein Argument für, nicht gegen das Duell:
Mit verhimmelnder Begeisterung werden lange Feuilletonspalten, geduldige Broschüren und gar dickleibige Bücher gefüllt, wenn irgendein deutscher Intellektueller bei irgendeinem fernen Volksstamm, seien es Ostasiaten, Südseeinsulaner oder Buschmänner, irgendwelche Überreste alter Gebräuche, alter Traditionen entdeckt. Aber daß bei uns noch mitten im Alltagsleben eine derartige Tradition voll hoher und idealer Ziele lebendig ist –
das zeigt allerdings, aus welcher Zeit sie stammt: aus der Steinzeit. Nur sehen die Schmucknarben der Maori hübscher aus als die zerhackten Fressen der deutschen Juristen und Mediziner.
Es ist selten, daß man so tief in das Wesen dieser Kaste hineinblicken kann, wie hier. In den Korpszeitungen geben sie sich offiziell; manchmal rutscht zwar das Bekenntnis einer schönen Seele heraus, aber es ist doch sehr viel Vereinsmeierei dabei, sehr viel nationale und völkische Politik, Wut gegen die Republik, die die Krippen bedrohen könnte und es leider nicht tut – kurz: jener Unfug, mit dem sich die jungen Herren an Stelle ihres Studiums beschäftigen. Hier aber liegt der Nerv klar zutage.
Man bedenke, was diese Knaben einmal werden, und ermesse daran die Theorie von der Gruppenehre:
Wenn Herr Wilhelm Müller schlaksig mit den Händen in der Hosentasche, Zigarette im Mund, mit einer Dame spricht, interessiert das keinen, wenn aber ein Fuchs von Guestphaliae dasselbe tut, so ist für alle, die das sehen, Guestphalia eine Horde ungezogner Rüpel.
Wie da das Motiv zum anständigen Betragen in die Gruppe verlegt wird; wie das Einzelwesen verschwindet, überhaupt nicht mehr da ist; wie da eine Fahne hochgehalten wird – wie unsicher muß so ein Einzelorganismus sein! Das sind noch genau die Vorstellungen von „Ritterehre“, über die sich schon der alte, ewig junge Schopenhauer lustig gemacht hat. Noch heute liegt diese Ehre immer bei den andern.
Wenn ohne Widerspruch erzählt werden kann, daß ein Waffenstudent oder gar einige Vertreter des Korporationslebens beschimpft oder verprügelt worden sind, so bleibt damit ein Fleck auf der Ehre des einzelnen und des Bundes.
Nach diesem Aberglauben kann also die Gruppe ihre Ehre nicht nur verlieren, indem sie schimpfliche Handlungen begeht, sondern vor allem einmal durch das Handeln andrer Leute. Diese Ehre hats nicht leicht.
Die Ehre des Bundes steht bei jedem Gang der Mensur auf dem Spiel.
Dahin gehört sie auch. Der Kulturdichter Binding hat in seinen wenig lesenswerten Memoiren über die Korporationen mit jenem gutmütigen Spott des Liberalen geschmunzelt, der älteren Herren so wohl ansteht: billigend, mit einer leichten Rückversicherung der Ironie fürs Geistige, und überhaupt fein heraus. Gefochten muß sein.
Gesoffen aber auch. Dieser Satz ist nicht von Heinrich Mann:
Ich schrieb einmal früher: Das Kommando „Rest weg“ muß über der Kneipe schweben wie das „Knie beugt“ über dem Kasernenhof.
In der Praxis sieht das dann so aus:
Unser gemeinsamer Freund R., der schon mehrere Semester herzkrank und schwer nervös studierte, wurde, eine unscheinbare, wenig repräsentative Erscheinung, nur auf Grund sehr dringlicher Empfehlungen aufgenommen, er fand Freunde und Kameraden im Bund, die ihn richtig leiteten, so daß er körperlich und geistig gesundend aufblühte, seine Mensuren focht, rezipiert und später sogar Chargierter werden konnte. Er hatte auf seiner Rezeptionskneipe, obwohl er sonst vom regulären Trinken wegen seiner schwächlichen Gesundheit dispensiert war, sehr kräftig seinen Mann gestanden. Bis in tiefster Nachtstunde hielt er sich in jeder Hinsicht so tadellos aufrecht, daß niemand ihm den schweren Grad seiner bereits herrschenden Trunkenheit anmerkte. Ich sehe noch den gespannten Blick, als gegen Morgen der letzte fremde Gast die Kneipe verließ. Im Augenblick, als die Tür zuging und mithin nur wir unter uns waren, brach er bewußtlos zusammen … In ihm müssen wir das Musterbeispiel eines Menschen verehren, der in jeder Hinsicht den Sinn der waffenstudentischen Erziehung verstanden hatte.
Stets habe ich mich gewundert, warum die Engländer keine Erfolge in ihrer Politik aufzuweisen haben; warum es mit Briand nichts ist; was an Goethe und Wilhelm Raabe und Tolstoi und Liebknecht eigentlich fehlt. Jetzt weiß ich es.
Die Luft, in der sich diese Erziehung abspielt, ist schwerer Gerüche voll. Man erfinde so etwas: Füchse haben, entgegen einem Verbot, nach der Kneipe noch ein Lokal aufgesucht. Da können sie von einem Angehörigen andrer Korporationen gesehen werden. Was wird der nun denken –?
Wie leicht wird er bei einer gelegentlichen Frage über den Bund einmal äußern: „Fuchserziehung scheint nicht sehr straff zu sein.“
Hört ihr den Tonfall dieser Stimme –?
Die Sexualfrage wird unauffällig gelöst:
Soweit er es mit seinen früher schon besprochenen Pflichten als Aktiver unauffällig vereinbaren kann, ist dies letzten Endes Privatangelegenheit jedes einzelnen. Wenn wir auch den Grundsatz festhalten, daß ein ausschweifend vergnügtes Leben in sexueller Hinsicht, eben was wir burschikos als „Weiberbetrieb“ zu bezeichnen pflegen, mit der Aktivität unvereinbar ist, so haben wir andrerseits keinesfalls mit unsrer Rezeption ein Keuschheitsgelübde abgelegt.
Wie recht er hat, das lese man in dem ausgezeichneten Aufsatz Friedrich Kuntzes nach, den die „Deutsche Rundschau“ jüngst veröffentlicht hat: „Über den Werdegang des jungen Mannes aus guter Familie einst und jetzt.“ Sehr bezeichnend übrigens, wie auch an dieser Stelle, nach ungewollt vernichtenden Schilderungen der herrschenden Klasse der Vorkriegszeit, die Bilanz gezogen wird: „Seine äußerste Probe hat dieses System im Kriege bestanden. Er ist verloren gegangen, gewiß; aber wenn ein Chauffeur sein Automobil gegen einen Baum fährt - muß dann die Schuld am Konstrukteur liegen?“
Wofür, ihr Männer in den Kalkgruben Nordfrankreichs … wofür –?
Zurück zum Alten Herrn, der ein feingebildeter Mann ist, besonders wenn es sich um die Frauen handelt, deren diese Gattung nur zwei Sorten kennt: Heilige und Huren.
Denn Heinrich Heines „berühmtes“ Verschen: „Blamier mich nicht, mein schönes Kind …“ ist nicht nur zierliche Spötterei, es ist zynische Gemeinheit.
Und nun wollen wir uns in die Politik begeben. Oder ist das am Ende gar nicht möglich? Sind denn diese Bünde überhaupt politisch? Die Korpszeitungen, die Akademikerzeitungen, die Broschüren brüllen: Ja! Der „Alte Herr“ weiß zunächst von nichts. „Die waffenstudentischen Korporationen sind fast ausnahmslos im Prinzip unpolitisch.“ In welchem Prinzip?
Seid verträglich, sagt er, denn:
Du weißt ja auch nicht, wie bald ihr in Ausschüssen und Ehrengerichten, vielleicht auch bei der Technischen Nothilfe oder gar unter Waffen mit ihnen allen zusammen am gleichen Strang zieht.
O ahnungsvoller Engel du –!
Es ist der Strang des Galgens: der Strang von Mechterstädt, wo unpolitische Studenten Arbeiter ermordet haben und nicht dafür bestraft worden sind – wahrscheinlich studieren sie noch fröhlich oder sind schon Referendare und Medizinalpraktikanten und Studienassessoren und werden nächstens auf die deutsche Menschheit losgelassen.
Die Protektionswirtschaft der Korporationen wird verklausuliert zugegeben. Im übrigen ist der „Alte Herr“ liberal und das, was man so in seinen Kreisen „aufgeklärt“ und „modern“ nennt. Man stelle sich so etwas unter gebildeten Menschen vor:
Geh auch ruhig einmal mit den Füchsen „offiziell“ ins Theater, ein gutes Konzert oder gar in ein Museum. Erschrick nicht über diese Ketzerei, probiere es einmal.
Wenn das nur gut ausgeht – diese stürmischen und überstürzten Reformen sind doch immerhin nicht unbedenklich: wie leicht können sie im Museum so einen gleich dabehalten!
Auch sollte man nicht Leute beschimpfen, spricht jener, wenn sie einer bürgerlichen Partei angehören – ja, dieser Revolutionär geht noch weiter. Füchse, geht mal raus – das ist noch nichts für euch. Nur Domela darf drin bleiben.
Jeder einzelne von uns kann an der innern Gesundung der Sozialdemokratie mithelfen und mitwirken, wenn er auch nur einen einzigen ihrer Angehörigen von der fixen Idee internationaler Einstellung heilt. Mag er …
Parteivorstand, hör zu!
Mag er Sozialdemokrat sein und bleiben, wenn er nur in seiner Partei als ein Fünkchen mit daran wirkt und arbeitet, daß der Völkerverbrüderungsrummel, die Klassenkampfidee, die international gerichtete, zum großen Teil sogar landfremde Führerschaft an Boden verliert.
Dann mag er. „Alter Herr“, du bist viel, viel näher an der Wahrheit, als du es wissen kannst. Und du bist doch nicht etwa Pazifist? Du scheinst so weich …
Stelle beispielsweise einmal zur Überlegung anheim, daß noch vor wenigen Jahrhunderten die Möglichkeit für den einzelnen, unbewaffnet und ohne Schutz von Stadt zu Stadt, von Land zu Land zu ziehen, eine Unmöglichkeit war, und daß ein Prophet, der damals die persönliche Abrüstung vorausgesagt hätte, als Phantast und Narr verlacht, bei praktischer Ausübung seiner Ideale und Utopien verprügelt, ausgeraubt oder totgeschlagen worden wäre, sowie er die schützenden Mauern seiner Stadt, die Grenzpfähle seines Ländchens überschritt. Und doch reisen wir heute unbehelligt durch den größten Teil der Welt, gesichert und geschützt durch selbstverständlich gewordene Gesetze aller zivilisierten Völker. Wenn jemand also heute pazifistische Ideale vertritt, so ist er deswegen kein Schuft, Lump und ehrloser Vaterlandsverräter, sondern seine hohen Ideale allgemeiner Völkerversöhnung werden hoffentlich in ferner Zukunft auch einmal Wahrheit werden.
Ich denke: Nanu? Nanu? denk ich …
Aber er ist heute sicher ein Schädling, gegen den energisch-sachlich Front gemacht werden muß und dessen Anschauungen im Keime zu ersticken, Notwendigkeit der Selbsterhaltung für unser gesundes, noch nicht degeneriertes Volk ist. Als Schwärmer und Phantasten müssen wir ihn und die praktischen Folgen seiner Ideen bekämpfen und seine Anschauungen unschädlich machen, als Person können wir ihn trotzdem hochschätzen und ehren.
Alles in Ordnung. Früh übt sich, was ein Reichsgerichtsrat werden will.
Hält man dergleichen für möglich? Ein Blick in die Gerichtssäle, in die Kliniken, in die Ministerien – und man hält es für möglich.
Und das hat Zuzug, stärker als vor dem Kriege - das blüht und gedeiht, nie waren die Korps zahlenmäßig so stark wie heute. Und muß das nicht so sein?
Hier ist nun die klarste Formulierung dessen, was seit dem Versailler Friedensvertrag in Deutschland vor sich gegangen ist. Hier ist sie:
Denkt … auch etwas daran, daß jeder junge Deutsche nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht sein eigner Unteroffizier sein, daß die Folge der Verödung der Kasernenhöfe das Entstehen von Hunderttausenden neuer, kleiner und kleinster idealster Kasernenhöfe sein muß, wenn das deutsche Volk noch nicht verfault ist bis ins Mark hinein.
Und nun will ich euch einmal etwas sagen:
Wenn man bedenkt, daß Zehntausende junger Leute so, sagen wir immerhin: denken wie das hier (und man sehe sich die Photographie an, die dem Buch voranprangt) – wenn man bedenkt, daß das unsre Richter von 1940, unsre Lehrer von 1940, unsre Verwaltungsbeamten, Polizeiräte, Studienräte, Diplomaten von 1940 sind, dann darf man wohl diesen Haufen von verhetzten, irregeleiteten, mäßig gebildeten, versoffnen und farbentragenden jungen Deutschen als das bezeichnen, was er ist: als einen Schandfleck der Nation, dessen sie sich zu schämen hat bis ins dritte und vierte Glied.
Die Professoren sind nicht schuld. Sie sind nicht so dumm, wie sie sich größtenteils stellen – sie sind feige. Denn der wüsteste Terror schwebt über ihnen; wehe, wenn sie sich auch nur für diese Republik betätigen! Was ihnen geschehen kann? Aber die gefährliche Vorschrift, daß ihre Einkünfte von den Kolleggeldern abhängen, besteht noch heute - und wenn selbst ein freiheitlicher akademischer Lehrer Mitglied einer Prüfungskommission ist: die Studenten boykottieren sein Kolleg, sie kaufen seine Bücher nicht, gehen an eine andre Universität, und das riskiert ein verheirateter, mäßig besoldeter Mann nicht gern. Die Professoren sind nicht allein schuld.
Die Ministerien sinds schon mehr. Der preußische Kultusminister tut allerhand, mitunter sogar sehr viel. Aber in wie vielen Fällen läßt man diejenigen, die für ihre Republik eingetreten sind, glatt fallen - so daß sich also so ein armer Ausgelieferter mit Recht sagt: „Dann nicht!“ und den Kampf aufgibt.
Der Formalsieg, den der Staat mit der Auflöung der Deutschen Studentenschaft errungen hat, ist noch gar nichts. Was es auszurotten gilt, ist nicht ein Verband oder dessen offizielle Rechte –: es ist eine Gesinnung und eine Geisteshaltung. Ich glaube, daß diese Studentenkämpfe das Wesen des Studierenden völlig verkennen; sie machen aus einem Lernenden einen Stand; tatsächlich ist etwa drei Viertel der Energie, mit der diese läppischen Vereinskämpfe geführt werden, vertan. Ihr sollt nicht verwalten – ihr sollt studieren.
Diese Melodie ist nicht aktuell. Sie war es im Jahre 1920, und sie wird es im Jahre 1940 wieder sein – wenns so lange dauert. Es ist ein hohler Raum entstanden, in dem die Klagerufe einer Teiresias überlaut widerhallen; billig zu sagen: „Es wird halb so schlimm sein!“ Es ist achtfach so schlimm.
Denn das Schauerliche an dieser Geistesformung ist doch, daß sie den Deutschen bei seinen schlechtesten Eigenschaften packt, nicht bei seinen guten; daß sie das anständige, humane Deutschland niedertrampelt; daß sie sich an das Niedrige im Menschen wendet, also immer Erfolg haben wird; daß sie mit Schmalz arbeitet und einem Zwerchfell, das sich atembeklemmend hebt, wenn das Massengefühl geweckt ist. Und daß sie kopiert wird.
Diese Studenten sind Vorbild für alle jungen Leute, die keinen sehnlicheren Wunsch haben, als an möglichst universitätsähnlichen Gebilden zu studieren und es denen da gleichzutun, mit hochgeröteten Köpfen den Korpsier zu markieren und einer im tiefsten Grunde feigen Roheit durch das Gruppenventil Luft zu schaffen. Der Abort als Vorbild der Nation.
Und der da soll im Jahre 1940 Arbeiter richten dürfen? Ein solches Biergehirn, in dem auch nicht ein Gedanke über den sauren Muff seiner Kneipe reicht, entscheidet über Leben und Tod? Über Jahre von Gefängnis und Zuchthaus? Das will Provinzen verwalten? Ein solch minderwertiges Gewächs vertritt Deutschland im Ausland? verhandelt mit fremden Staaten? wird gefragt, wenns ernst wird? hat zu bestimmen, wenns ernst wird?
Das ist der Boden, auf dem die Blüten des deutschen Richterstandes gedeihen, welche Blumenlese! Man wundert sich bei Gerichtsverhandlungen und bei der Lektüre von Urteilsbegründungen oft, woher nur diese abgestandenen Vorurteile, die unhonorige Art der Verhandlungsführung, die überholten Anschauungen einer kleinbürgerlichen Beamtenschaft stammen mögen. Hier, auf den Universitäten, ist der Boden, in dem eine Wurzel dieser Produkte steckt. Niemand reißt sie aus.
Denn diese setzen sich durch. Die herrschen. Die kommen dran. Ich kann beim besten Willen nicht sehen, wo die aufhebende Wirkung der vielgerühmten Jugendbewegung ist, die Ignorieren für Kampf hält; wo das Gegengewicht steckt, wo die andre Hälfte der Nation bleibt, jenes andre Deutschland, das es ja immerhin auch noch gibt. Wenns zum Klappen kommt, ist es nicht vorhanden. Ungleichmäßig sind bei uns Gehirn und Wille verteilt: der eine hat den Kopf, und der andre den Stiernacken. Es gibt kaum eine intelligente Energie. Sie haben nicht nur das größere Maul, die dickern Magenwände, die bessern Muskeln, die niedrigere und frechere Stirn: sie haben mehr Lebenskraft.
Kein Gegenzug hält sie in Schach. Keine deutsche Jugend steht auf und schüttelt diese ab. Keine Arbeiterschaft hat zur Zeit die Möglichkeit, die Herren dahin zu befördern, wohin Rußland sie befördert hat. Sie herrschen, und sie werden unsre Kinder und Kindeskinder quälen, daß es nur so knackt. Diesem Land ist immer nur ein Heil widerfahren, und was nicht von innen kommt, mag getrost von außen kommen. Niederlage auf Niederlage, Klammer auf Klammer – Napoleon hat mehr für die deutsche Freiheit getan als alle deutschen Saalrevolutionen zusammen. Aber manchmal tuns auch die Niederschläge nicht, kein fremder Imperialismus hilft gegen den eignen. So tief ist das Laster eingefressen, daß der begreifliche Wunsch derer, die ihre Heimat lieben und ihren Staat hassen, umsonst getan ist.
Deutschland ist im Aufstieg begriffen. Welches Deutschland? Das alte, formal gewandelte; eins, das mit Recht nach seinen bösen Handlungen und nicht nach seinen guten Büchern beurteilt wird, und das bis ins republikanische Herz hinein frisch angestrichen ist, umgewandelt und ungewandelt: die wahrste Lüge unsrer Zeit. Das Deutschland jener jungen Leute, die schon so früh „Alte Herren“ sind, und die für ihr Land einen Fluch darstellen, einen Alpdruck und die Spirochäten der deutschen Krankheit.
Wenn einer einen Mord begeht, so halte er sich stehts vor Augen, daß er später einmal nicht nur wegen Mordes abgeurteilt werden kann, sondern vor allem und hauptsächlich wegen seines Vorlebens sowie wegen der Begleitumstände, die seine Tat umgeben. Vor Gott wird er sich für das vergossene Blut rechtfertigen müssen – der Vorsitzende einer deutschen Strafkammer aber mißt mit strengerem Maß. Soweit man das einem Mörder zumuten kann, wird derselbe also guttun, sich in die Seele eines Landgerichtsdirektors zu versetzen, damit es nachher keine strafverschärfenden Momente gibt.
Der dicke Chesterton hat entdeckt, daß man einem Mörder alles verzeiht, nur nicht, daß er nach der Tat eine Zigarre raucht – Mörder haben keine Zigarren zu rauchen, weil dies ein Zeichen übelster Seelenroheit darstellt. Chesterton kennt die deutschen Gerichte nicht, sonst hätte er schon längst vor Schreck dreißig Pfund abgenommen – mit der Zigarre allein ist die Sache nicht getan.
Der Mord ist, wie jedem gebildeten Staatsanwalt bekannt, eine Tat, die in der äußersten Ekstase und mit der kältesten Roheit begangen wird. Dabei hat der Mond durch das Gewölk zu brechen; auch haben Mörder bereits vor der Tat finster entschlossen herumzulaufen, deutliche Zeichen von innerer Unruhe von sich zu geben und mit den Augen zu funkeln. Unehelicher Geschlechtsverkehr vor dem Mord ist tunlichst zu meiden, da dies ein schlechtes Licht auf den Charakter des Mörders wirft und jeder Akt eine rhetorische Pointe im Plädoyer des Staatsanwalts oder, was dasselbe ist, in der Urteilsbegründung des Vorsitzenden abgibt. Mit seinem Leben kann man überhaupt nicht vorsichtig genug umgehen, weil es eines Tages ein Vorleben werden kann, und dann erst wird man, vor den unerbittlichen Fischaugen des Gerichts, entdecken, was man da alles zusammengelebt hat.
Nach dem Mord meide der Mörder vor allem öffentliche Gaststätten, Sechs-Tage-Rennen, Dirnen, Spaziergänge auf der Straße sowie die eigene Wohnung, die er keinesfalls ruhig, als ob nichts geschehen sei, aufsuchen darf. Wie sich ein Mörder nach der Tat eigentlich benehmen soll, damit er vor Gericht keinen Anstoß erregt, ist schwer zu sagen: jedenfalls so nicht. Um bei einem Doppelmord eine der verwirkten Todesstrafen im Gnadenwege zu ersparen, stellt sich der Mörder dem nächsten Polizeirevier unter genauer Angabe der Einzelheiten seiner Tat, der Motive und der nötigen Indizien. Nach dem Geständnis bricht er am besten völlig zusammen, wie er sich überhaupt mit Vorteil nach der Literatur, die in den Kreisen der Juristen gelesen wird, richtet: sein Verhalten sei also psychologisch leicht anormal, wirr, aber dem Verständnis eines Zwei-Bänder-Mannes gerade noch angepaßt. Verstiegenheiten sind, wenn irgend angängig, zu meiden. Sehr günstig ist es, wenn den Mörder nach der Tat die vorgeschriebenen Gewissensbisse foltern; sollte sich eine mahnende Traumerscheinung des Opfers einlegen lassen, so ist dieselbe unbedingt zu empfehlen.
Auf diese Weise kann jeder, der in die traurige Lage versetzt ist, einen Zivilmord begehen zu müssen, damit also ein Monopol des Staates schwer verletzend, getrost vor einem deutschen Gericht erscheinen: er wird, wenn er sich nur vor, während und nach der Tat den Vorstellungen seiner Richter gemäß verhalten hat, auf die Milde und das Verständnis derselben rechnen können, und er wird dann, mit allen Tröstungen einer Reichsgerichtsentscheidung sowie seines seelsorgerischen Beistandes versehen, dem Nachrichter als ein guter Christ und Untertan übergeben werden.
Für die Herren Ordnungsstifter, Straßenkämpfer und Kinder vom Feldwebel aufwärts gelten diese Bestimmungen nicht. Der deutsche Mörder aber lasse sich gesagt sein, daß seine Tat ihn verpflichtet, durch und durch Mörder zu sein, und nichts als das. Er richte sich darin nach seinen Richtern, die Richter sind und nichts als das.
Neulich hat ein Reichswehrsoldat, der in Altdamm bei Stettin Posten schob, einen Arbeiter erschossen, den er in der Dunkelheit für einen Einbrecher gehalten hat. Die Waffen gehen immer noch reichlich schnell los in Deutschland – die niederträchtigen Schießerlasse aus den Jahren schlimmster Verkommenheit der Sozialdemokratie sind noch nicht alle beseitigt, und ein Menschenleben ist noch genau so billig zu haben wie im Kriege. Während im Reichstag beschämend niveaulose Debatten über die Todesstrafe geführt werden, kann diese Todesstrafe leicht und gefahrlos von einem Kriminalbeamten, von einem Schutzpolizisten, von einem Reichswehrsoldaten verhängt werden, unter Umständen, die seine vorgesetzte Behörde prüft, was sehr objektiv vor sich geht. Also: jener Posten, der da Traindepots bewachte, mußte schießen. Auf wen –? Der Bericht sagts.
Auf einen „Zivilisten“.
Diese geistesschwache Terminologie stammt noch aus der Zeit Wilhelms von Abfundien; ein „Zivilist“ ist einer, der merkwürdigerweise keine Uniform trägt – was es nicht alles gibt auf der Welt! Die Vokabel geht von der richtigen Vorstellung aus, daß der Mensch zunächst einmal eine Uniform zu tragen habe – und erst, wenn er diese primäre Voraussetzung nicht erfüllt, dann ist er ein „Zivilist“. Wobei zu bemerken ist, daß auf diesem Gebiet Übergänge vorkommen: so war zum Beispiel der Kriegsminister Geßler ein militärischer Zivilist. Der Fall ist äußerst selten.
In die gleiche Kategorie dieser Kasernenwelt gehört die ständige Beflegelung von Zeugen und Angeklagten durch die deutschen Richter. Bei diesen Juristen gibt es das Prädikat „Herr“ und „Frau“ nicht. Beispiel:
Ein Hypnotiseur wird verurteilt, weil er sich an einem Stubenmädchen vergangen haben soll. Der Prozeß wird von der Staatsanwaltschaft geführt, um das Rechtsgut einer Verletzten zu schützen – also für die Hauptzeugin. Was aber die gesamte Besatzung nicht hindert, diese zu schützende Zeugin dauernd „die Heinrich“ zu nennen.
„Gegen einen vollendeten Beischlaf spricht die vorhandene Intaktheit der Heinrich.“
Nun sagt man wohl „die Justitia“, und das mit Recht – aber man muß sich doch fragen, ob denn keine Aufsichtsbehörde da ist, die diesen Richtern, diesen Staatsanwälten und Untersuchungsrichtern die einfachsten Formen des Anstands beibringt. Für den Herrn Landgerichtsdirektor ist die Zeugin allemal Fräulein Heinrich – und weiter nichts. Kein Talar berechtigt zu Umgangsformen, die einfach eine Ungezogenheit sind und eine Nichtachtung derer, die durch ihren Lohnabzug zum Gehalt der beamteten Juristen beitragen.
Eine der unangenehmsten Peinlichkeiten in deutschen Gerichtssälen ist die Überheblichkeit der Vorsitzenden im Ton den Angeklagten gegenüber. Diese Sechser-Ironie, verübt an Wehrlosen, diese banalen Belehrungen, diese Flut von provozierenden, beleidigenden und höhnischen Trivialitäten sind unerträglich.
Da haben sie neulich einige Fürsorgezöglinge am Kanthaken gehabt, weil die ihren Vorsteher verdroschen hatten, und es ist natürlich ohne genaue Kenntnis der Vorgänge nicht möglich, über das Materiell-Rechtliche etwas auszusagen; wir wissen nicht, ob die Erziehungsanstalt Berlinchen anständig und sauber geleitet worden ist oder nicht. Was wir aber wissen, ist, wie sich deutsche Richter und besonders die Vorsitzenden im Gerichtssaal betragen. Dieser – ein Herr Barsch aus Landsberg an der Warthe – zum Beispiel so:
„Das Essen“, so ungefähr sagt der Hauptangeklagte, „war unzureichend. Es gab zwar genug zu essen, aber es wurde sehr schlecht gekocht.“ Mit diesem Satz will sich der junge Mensch verteidigen, und das ist sein Recht. Darauf der Vorsitzende:
„Es gab wohl nicht genügend Delikatessen?“
Dieser Satz ist eine Ungehörigkeit. Was soll das? Soll diese Bemerkung ein Witz sein? Für wen wird der gemacht? Für den beifällig lächelnden Beisitzer? Für die Presse? Für den Zuschauerraum? Nein, das charakterisiert nur die Dienstauffassung dieser Juristen, die einen unheilbaren Größenwahn in sich tragen. Sie sind das Maß aller Dinge, sie wissen alles, sie haben für alles Verständnis, und sie belehren und erziehen mit solch ungezogenen Bemerkungen, die ihnen nicht zustehen, ein ganzes Volk, das sich zu viel gefallen läßt.
Ein Zeuge, der unmittelbar beteiligte Anstaltsleiter Hoffmann, der das größte Interesse daran hat, mit einer guten Nummer aus diesem für ihn peinlichen Prozeß herauszukommen, zählt auf, was es alles zu essen gegeben habe. Wir kennen diese offiziellen Küchenberichte vom Militär her, wo kein Diebstahl, begangen durch die Offizierskasinos, jemals ans Tageslicht gekommen ist. Der Zeuge verliest die Liste der Gerichte, die er angeblich hat kochen lassen.
Der Vorsitzende: „Nun hören Sie aber auf, sonst erlebt die Fürsorge noch einen Ansturm!“
Was soll das? Wozu auf den Angeklagten, die die Richter ja sowieso in ihrer Macht haben, herumtrommeln? Um sie zu ducken? Zweifellos.
Keine Verteidigung kann dagegen remonstrieren – es ist als sicher anzunehmen, daß sich eine Zurechtweisung des Richters wegen solcher Ungehörigkeiten bestimmt in einem Strafzuschlag bemerkbar machte. Also hält der Angeklagte den Kopf gesenkt und schweigt. Nur der einzige Max Hölz und ein paar andre tapfre Proletarier haben den Juristen die Meinung gegeigt.