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Der Mitarbeiter einer Bank wird entführt. Nach der Lösegeldübergabe taucht der Entführte unter. Seine Familie wartet ungeduldig auf seine Rückkehr. Steckt er mit den Kidnappern unter einer Decke oder ist er ermordet worden? Die Wahrheit kommt erst durch einen Zufall ans Licht.
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Seitenzahl: 287
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Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Vierter Teil
Fünfter Teil
Sechster Teil
Siebenter Teil
Auf das Klingelzeichen öffnete niemand. Das war ungewöhnlich, denn vor dem Haus stand das Auto der Ehefrau und vor der Garage der Wagen ihres Mannes. Da die Tochter keinen Schlüssel zum Hause ihrer Eltern besaß, ließ die herbeigerufene Polizei die Haustür öffnen. Ihnen bot sich folgendes Bild: Im Wohnzimmer lag die Ehefrau leblos in einem Sessel, auf ihrer Stirn klaffte eine große Wunde. Der Ehemann lag einige Meter entfernt auf dem Parkettfußboden neben dem Couchtisch, ein Jagdgewehr neben sich. Auch sein Gesicht war blutüberströmt. Die Vermutung lag nahe, dass der Mann erst seine Frau und dann sich selbst erschossen hatte. Sein Motiv? Verzweiflung des Mannes über den Entschluss seiner Frau, ihn zu verlassen. Das jedenfalls gab die gemeinsame Tochter an. Was erst später ans Licht kam: Hinter der Verzweiflungstat verbargen sich weit mehr Gründe.
Drei Jahre zuvor kamen an einem Abend im Sommer des Jahres 2005 der Bürgermeister der Stadt Hasserodt, Udo Mardhorst, und seine Ehefrau Inge, ebenfalls Kommunalpolitikerin und Mitglied des Stadtrats, von einer Veranstaltung ihrer Partei nach Hause.
Nachdem sie im Flur des Einfamilienhauses ihre Mäntel abgelegt hatten, verharrte Inge einen Moment vor dem schmeichelnden Licht des Spiegels und betastete behutsam ihre dunkelbraune schulterlange Frisur. Während sich ihr Mann im Bad wusch, streifte sie rasch die eleganten spitzen Schuhe mit den Bleistiftabsätzen von den Füßen, huschte in die bequemen Hausschuhe und tauschte im Schlafzimmer, in dem schon die Rollläden heruntergelassen waren, das weinrote Kostüm gegen den weichen hellgrauen Hausanzug.
Das Ehepaar beschloss, den Tag mit einem Glas Wein zu beschließen. Beide liebten es, den Tag besinnlich ausklingen zu lassen. Inge, das halbvolle Glas in der Hand, lehnte sich auf der Couch zurück, Udo zündete sich eine späte Zigarre an, setzte sich zu seiner Frau und legte den Arm um ihre Schulter. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, dann sagte Inge: „In unserer Stadt ist doch eigentlich überhaupt nichts los. Ein Hotel, zwei Cafés, ein Kino, ein Museum, zwei Schulen, ein Kindergarten, ein Freibad, ein Krankenhaus, ein kleiner Tennisverein, ein Fußballclub und ringsum Acker, dörfliche Idylle und Wald, Wald, soweit das Auge reicht. Wir sind ein unbedeutendes, farbloses Provinznest, wie es tausende im Lande gibt. Nichts Besonderes. Udo, das muss sich ändern! Hier muss ein Publikumsmagnet her! Irgendetwas Großartiges, damit endlich Leben in die Bude kommt! Weißt du, was hier fehlt? Ein Erlebnisbad, ein Wellnessbad! Das schönste und größte im Lande, eins mit karibischem Flair, so richtig exotisch, das ganz viele Badegäste von weither anlockt.“
„Das wäre schon was“, pflichtete Udo ihr nach einigen Überlegungen bei.
Seine Frau schien schon ganz in dieser Idee aufzugehen. „Wir holen die Südsee in unsere Stadt.“
Udo küsste seine Frau auf die Wange. „Eine kühne Idee, aber sie passt zu dir. Du hattest ja schon immer einen Hang zum Extravaganten. Deshalb habe ich dich geheiratet und es bis heute nicht bereut.“
Inge richtete einen prüfenden Blick auf ihn. „Du nimmst mich wohl nicht ernst?“
Udo wiegte bedenklich den Kopf hin und her. „Und wo soll das Geld dafür herkommen? Du kennst doch unseren Etat und unseren Finanzminister.“
„Glaser ist Stadtkämmerer und nicht Finanzminister, wenn er das auch gerne wäre, der kleine Angeber“, entgegnete Inge.
„Du solltest mal deine Verführungskünste bei ihm spielen lassen. Vielleicht macht er was locker“, witzelte Udo.
„Der wird doch gar nicht gefragt. Auf uns Stadträte kommt es an. Ich bin überzeugt, dass die meisten in unserer Fraktion für den Vorschlag stimmen würden. Und du musst gleich morgen den Ministerpräsidenten kontaktieren. Ihr wart ja Studienfreunde. Das kann uns jetzt nützlich sein. Der soll uns die fehlenden Mittel besorgen.“
Udo küsste seiner Frau galant die Hand. „Ich finde deine Idee famos, mein Schatz.“
So war die Idee eines Wellnessbades geboren. Von da an wurde das Projekt „Wellnessbad“ zum Lebensinhalt von Inge und Udo Mardhorst, ja geradezu zur fixen Idee der beiden. Sie reisten herum im In- und Ausland und besichtigten unzählige Vorbilder, brachten Tüten und Koffer von ihren Reisen mit, alle vollgepackt mit Prospekten, Grundrissen und Fotos, saßen jeden Abend und jedes Wochenende gemeinsam über dicken Ordnern, unter dem Tisch zärtlich Händchen haltend, und berieten sich. Es war ganz so, wie in der Anfangszeit ihrer politischen Karriere, in der sie sich in alle Themen, die sie für wichtig hielten, regelrecht verbissen. Sie lebten nur noch für das Bad wie begeisterte Eltern für ihr einziges Kind. Das reichte aus, um eine knappe Mehrheit im Stadtrat für das Projekt zu gewinnen. Die Landesregierung übernahm dank Udos Beziehungen den Hauptanteil der Kosten und bewilligte Mittel in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrages. Ein Architektenwettbewerb wurde ausgeschrieben, ein Stardesigner für die Inneneinrichtung gefunden, und alles lief seinen vorgeschriebenen Gang. Der Stadtkämmerer bekam Wutausbrüche wegen der Kosten. Auch das gehörte dazu, brachte die einmal getroffene Entscheidung für das Projekt aber nicht ins Wanken.
Das Ehepaar Mardhorst konnte den ersten Spatenstich kaum erwarten. Doch kaum schien alles in trockenen Tüchern, gab es eine böse Überraschung. Das Landesamt für Archäologie hatte auch ein Wörtchen mitzureden und entdeckte unter der zukünftigen Baustelle Erstaunliches.
„Ein Dinosaurierskelett?“, fragte Inge.
„Reste einer mittelalterlichen Stadtmauer.“
„Das wird den Baubeginn um Jahre verzögern. Schade!“, meinte Inge resigniert.
„Das Land hat schon den ersten Teilbetrag vom Zuschuss überwiesen. Was macht man mit zehn Millionen, die man hat, aber gerade nicht ausgeben kann? Hast du einen Vorschlag, Inge? Eine Stadtmauer kann sehr lang sein.“
Nach einem Weilchen riet Inge ihrem Mann, den Betrag nicht etwa an das Land zurückzugeben, sondern ihn bis zum Baubeginn bei einer Bank anzulegen. „Sonst sehen wir das Geld vielleicht nie wieder.“
An einem der folgenden Abende erhielt das Ehepaar Besuch von seiner Tochter Ilona. Bei ihrem Erscheinen verdüsterte sich das Gesicht des Bürgermeisters. „Ich sehe schon von weitem, was los ist. Fristlos oder diesmal mit Kündigungsfrist gefeuert?“, fragte er mit drohender Stimme.
Ilona zog langsam den Mantel aus und setzte sich ihm gegenüber. „Ich bin von alleine gegangen“, antwortete sie leise.
Ihr Vater warf die Zeitung beiseite, in der er bis jetzt gelesen hatte. „Aha! Bist dem Rausschmiss zuvorgekommen!“ Ilona schwieg trotzig. „Mein liebes Kind! Die wievielte Stelle war das? Wenn ich nicht irre, die dritte in anderthalb Jahren. Das ist rekordverdächtig. Hast du etwa vor, in diesem Stil so weiterzumachen?“
„Mir hat der Job keinen Spaß gemacht“, murmelte Ilona.
„Dir wird nie ein Job Spaß machen“, schrie ihr Vater.
„Ich konnte das Schimpfen der Leute dort nicht mehr ertragen. In diesem Büro hatten alle immer schlechte Laune, und alle zogen übereinander her.“
„An jeder Stelle, die du anfängst, hast du etwas auszusetzen.“
„Papa, um die Wahrheit zu sagen: Ich bin für Bürojobs nicht geschaffen. Ich kann nun mal nicht den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen und als Ersatzbefriedigung paffen wie ein Schlot, so wie du.“ Sie starrte eine Zeitlang mit trauriger Miene vor sich hin. „Ich möchte lieber einen Beruf, in dem ich mit Menschen zu tun habe und nicht mit blutleeren Akten. Büroberufe sind nichts für mich.“
Ihre Mutter ersparte sich diesmal ihre Schimpftiraden. Sie hatte eine Idee. „Etwas mit Menschen machen? In dem geplanten Bad könntest du etwa als Physiotherapeutin arbeiten. Würde dir das Spaß machen? Müsstest halt noch mal für einige Zeit die Schulbank drücken.“
Ilonas Miene hellte sich augenblicklich auf. Je mehr sie über den Vorschlag nachdachte, desto mehr gefiel er ihr. Sie umarmte ihre Mutter und küsste sie dankbar auf die Wange. Hatte die etwa doch Interesse an ihrer Tochter? Das wäre in der Tat etwas ganz Neues. Ihre Mutter kümmerte sich seit jeher nicht sehr um sie. Es schien ihr gleichgültig, was ihre Tochter über sie dachte. Ilona beschwerte sich als Kind vor Freunden immer, dass ihre Mutter kaum Zeit für sie habe und nur mit ihrem Beruf verheiratet sei. „Sie ist meine biologische Mutter, führt eine Doppelehe, eine mit meinem Vater und die andere mit der Politik, ansonsten ist sie unsichtbar.“ Ihre Mutter war ihr fremd. Was hatte die bloß dazu bewogen, in eine politische Partei einzutreten und sich um Dinge zu kümmern, die sie nichts angingen? Ihr eigenes Kind dagegen übersah sie. Als Ilona anlässlich eines Schüleraustausches auf einem Fragebogen nach ihren Eltern gefragt wurde, antwortete sie ohne Zögern: „Keine.“
Ihre Mutter hingegen hatte schon mit vierzehn jeden Nachmittag nach der Schule vor dem Spiegel im elterlichen Schlafzimmer posiert, in den knallroten hochhackigen Schuhen ihrer Mutter, an denen ihr hinten die Hacken abstanden, in betont selbstbewusster Pose, und lernte dabei die Reden von prominenten Politikern auswendig. Der Spiegel war ihr begeistertes Publikum. Schon in der Schule bewunderten alle ihr Rednertalent. Und Inge liebte ihre Stimme. Sie schaffte es durch unermüdlichen Fleiß, ihrer viel zu hohen, schwachen Stimme ein wohltönend dunkel gefärbtes, tiefes Timbre zu verleihen. Ihre Eltern machten sich anfangs über sie und ihren grotesken Ehrgeiz lustig. Sie hielten es für die Laune einer gelangweilten, exzentrischen Jugendlichen. Ihrem Vater war nicht recht, dass sie bei Diskussionen immer das letzte Wort haben musste. Ihr Eifer und ihre Hartnäckigkeit zahlten sich hingegen bald aus. Ein Klassenkamerad nahm sie einmal mit zu einer Parteiveranstaltung. Daran fand sie Gefallen und trat in die Partei ein. Sie meinte herausgefunden zu haben, dass Politik viel mit Psychologie zu tun habe, studierte dieses Fach und wurde Psychologin in einer Nervenklinik. Nachdem ein verwirrter Patient sie mit einem Messer angegriffen hatte, entschloss sie sich, ganz in die Politik zu gehen.
Inges Vorschlag veränderte auf der Stelle alles. Das Wellnessbad als Rettungsanker und Hoffnungsschimmer! Ein lohnenswertes Ziel! Sogar Ilonas Vater schien bei dem Gedanken einigermaßen versöhnt. Er erhob sich von seinem Schreibtischsessel, warf die Zigarre in den Aschenbecher, zog seine Lederstiefel an, setzte den Hut auf und ergriff sein Fernglas: „Ich fahre mit Dirk in den Forst. Wartet nicht mit dem Essen auf mich.“
„Dass du keine Stelle länger halten kannst als ein halbes Jahr, Ilona“, sagte Inge bekümmert, nachdem Udo gegangen war. „Lebenstüchtigkeit und Durchhaltevermögen scheinen nicht gerade deine Stärke zu sein. Was macht eigentlich der junge Mann, mit dem du befreundet bist? Der müsste doch längst mit seinem Studium fertig sein! Was hat der noch mal studiert?“
„Jura.“
„Wann ist er denn endlich fertig?“
„Er will ganz sicher gehen, dass er das Examen besteht. In letzter Zeit ist er allerdings viel unterwegs, arbeitet mal als Reiseleiter und Fremdenführer oder am Wochenende auch mal als Türsteher. Zurzeit ist er Sargträger bei einem Bestatter. Er muss Geld verdienen. Sein Vater schickt ihm kein Geld mehr.“
„Recht hat er! Das würde ich genauso machen!“ Inge richtete einen vernichtenden Blick auf ihre Tochter. „Wenn du dich so billig zurechtmachst, dann kommen auch nur billige Typen! Dein Äußeres macht einen verdammt ungepflegten Eindruck, meine Liebe! Diese Frisur! Zum Weggucken! Gefällt dir das so? Und die schlampigen Klamotten, in denen du rumläufst! Männer achten nun mal bei einer Frau auf das Äußere. Gib diesem verkrachten Studenten den Laufpass! Der hat keinen guten Einfluss auf dich.“
„Ich finde ihn interessant“, gab Ilona ablehnend zur Antwort. „Alles, was ich weiß, weiß ich von ihm.“
„Ach, was!“, wetterte ihre Mutter. „Such dir einen, der etwas taugt!“
Revierförster Dirk Mardhorst hielt den Geländewagen an. Er und sein Bruder Udo stiegen aus und begutachteten die gefällten Baumstämme beiderseits des Waldweges.
„Dein Revier liegt doch wirklich in einer herrlichen Gegend. Du bist zu beneiden“, sagte Udo.
Auf ihrem Weg zum Hochsitz streiften sie dicht herabhängende Äste. Einsam und unwegsam wurde das Gelände und immer schwerer zu passieren.
„Im letzten Jahr sind mehrere Rothirsche mit ihrem Harem hierher übergesiedelt“, berichtete Dirk gut gelaunt. „Sie haben sich hierher zurückgezogen, weil es in diesem Forstabschnitt ganz ruhig ist. Schön, dass du die neue Umgehungsstraße im Stadtrat durchgesetzt hast.“ Er ging voran, sein Bruder folgte. „Zerkratz dir nicht deine Brillengläser an den Sträuchern. Es wird hier in diesem Waldstück gleich noch dichter.“
Schweigend stapften sie eine Zeitlang durchs Unterholz.
Ganz plötzlich, versteckt im Dickicht, tauchte eine kleine, einsame Jagdhütte auf mit verschlossenen Fensterläden, malerisch verkommen, der Anstrich verblichen, eine halb eingestürzte Veranda davor.
Dirk bog wild wuchernde Äste beiseite und schloss die Tür und die Fensterläden auf. „Hier trinken wir Jäger hin und wieder einen nach der Jagd, in letzter Zeit allerdings eher selten.“
„Sehr spartanisch, aber irgendwie gemütlich“, bemerkte Udo und ließ seinen Blick über die einfache Einrichtung wandern, bestehend aus einer Eckbank, vier Stühlen und einem großen viereckigen Tisch, alle aus rustikal derbem, schmucklosem dunklen Holz. Eine nackte Glühbirne hing lang von der niedrigen Decke herab. In einer Ecke stand ein kleiner Schrank mit Türen aus altmodisch verziertem, gelbem Glas.
Dirk stieß die Fenster auf. Ein frischer Windhauch strömte in den dunklen Raum.
Udo öffnete eine Seitentür: ein Plumpsklo und ein winziges Waschbecken wurden sichtbar.
„Komm, setz dich her“, sagte Dirk, holte aus dem Schränkchen eine Flasche Kognak und füllte zwei Gläser. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber.
„Ich habe nicht vor, hier in diesem Revier alt zu werden“, sagte Dirk unvermittelt.
„Tatsächlich? Hier ist es doch so schön!“, antwortete Udo verwundert.
„Nur auf den ersten Blick“, meinte Dirk. „Für einen Außenstehenden. Mein Chef will sich bei den Vorgesetzten im Ministerium lieb Kind machen und hat zugestimmt, dass eine der Försterstellen gestrichen wird. Also müssen ich und mein Kollege diese Stelle in Zukunft mitvertreten, ohne dass wir einen Cent mehr kriegen. Ich bewerbe mich schon die ganze Zeit woandershin – ohne Erfolg.“
„Mit welcher Begründung weisen sie dich ab?“
„Das sagen sie dir doch nicht. Aber trink aus, wir müssen uns auf den Weg machen. Gott sei Dank ist endlich wieder Vollmond.“
Nach kurzem Weg erreichten sie den Hochsitz, auf dem sie die halbe Nacht schweigend nebeneinandersaßen und das äsende Wild beobachteten.
„Wenn du etwas Geduld hast und bis dahin keine andere Stelle in Aussicht, könnte ich dir ein Angebot machen“, sagte Udo auf dem Heimweg. „Ich würde dir die Stelle des Geschäftsführers in unserem zukünftigen Wellnessbad geben.“
„Würde ich dankend annehmen.“ Sie hatten den Geländewagen erreicht und fuhren zum Forsthaus. „Du solltest auch den Jagdschein machen, Udo“, meinte Dirk.
„Und zu meinem Geburtstag lade ich dich zu einem Rundflug über unseren Wald ein. Du musst dir mal das ganze Gebiet von oben angucken. Da fühlst du dich nicht mehr als Ameise, sondern als Falke.“
Der erste Spatenstich! Endlich! Im Rathaus wurde dieses Ereignis gebührend gefeiert. Bürgermeister Mardhorst und Ehefrau Inge luden aus diesem Anlass zu einem festlichen Umtrunk ein. Politische Freunde und Gegner aus allen Fraktionen kamen, Stimmengewirr und Gläserklingen erfüllten den Saal und die Flure. Udo demonstrierte die Grundrisse des zukünftigen Bauprojekts und berichtete unter Lachen von der vorangegangenen Bürgeranhörung und den seiner Ansicht nach skurrilen, durchweg undurchführbaren Änderungsvorschlägen einiger Anwohner.
Der heiteren Gruppe näherte sich ein kleiner, schmächtiger Mann in einem unscheinbaren grauen Anzug und einer ebenso unspektakulären Seitenscheitelfrisur: der Stadtkämmerer Glaser. Wie immer, wenn er mit Personen sprach, die ihn an Körperlänge weit überragten, stellte er sich auch jetzt besonders aufrecht vor dem hochgewachsenen Bürgermeister auf, blickte ihn mit bleicher, versteinerter Miene von unten ins Gesicht und bat ihn auf ein Gespräch unter vier Augen. Mardhorst entschuldigte sich mit kurzen Worten bei den umstehenden Gästen und folgte seinem Stadtkämmerer in dessen Büro. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl, als Glaser die Tür hinter ihm schloss.
„Verfolgst du die Börsennachrichten?“, fragte Glaser mit stechendem Blick.
Udo runzelte die Stirn. „Wieso?“
„Ist dir nichts aufgefallen?“
„Nein!“
„Es raschelt im Blätterwald.“
„Was willst du damit sagen?“
„Ich hab dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören.“
„Wovon redest du überhaupt?“
Glaser stieg auf ein Wandpodest, um mit Mardhorst auf gleicher Augenhöhe zu sein. „Die Wertpapiere, die wir von der Davesta-Bank gekauft haben, befinden sich seit einer Woche im freien Fall.“
„Was sagst du da?“, flüsterte Udo verschreckt und wurde ganz bleich.
„Das heißt, dass das Finanzprodukt, das wir erworben haben, wahrscheinlich bald nichts mehr wert sein wird.“
„Dann müssen wir die Papiere sofort abstoßen.“
Glaser lachte verächtlich. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sich die Banker auf eine Rückabwicklung einlassen. Die werden natürlich auf die Einhaltung der geschlossenen Verträge pochen, knallhart. Und wenn doch, dann nur gegen horrende Ausgleichszahlungen.“
Udo rang nach Atem. „Aber wir haben uns doch beraten lassen!“, schnaufte er.
Glaser wurde hitzig. „Ich habe dir damals gesagt, dass wir nicht zu schnell in das Geschäft einsteigen sollten. Es ist wichtig, beim Geldanlegen die verschiedenen Risiken sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Wir hätten uns mehr Zeit lassen sollen und noch weitere Auskünfte von unabhängigen Finanzberatern einholen müssen. Du aber hast mich zur Eile gedrängt und ich habe dir nachgegeben. Wir haben überstürzt abgeschlossen, noch bevor wir dieses Finanzprodukt wirklich verstanden haben. Das Anlagepaket hat sich aus faulen Hypotheken zusammengesetzt. Das weiß ich erst jetzt. Beim Kauf konnte ich nicht gleich alles richtig einschätzen. Wir beide waren für solche komplizierten Geschäfte nicht erfahren genug, hätten mehr Zeit gebraucht für eine tiefergehende Analyse dieses Produkts. Aber schnell, schnell musste es ja bei dir gehen!“ Böse funkelten Glasers Augen, die unaufhörlich auf Udos bleiches Gesicht gerichtet waren.
„Dann hat uns der Anlageberater falsch beraten“, schrie Udo. „Den werde ich haftbar machen. Den zerre ich vor Gericht.“ Es entstand eine Pause, dann frage Udo: „Aber wie lange wird es dauern, bis so ein Urteil ergangen ist? Bis dahin heißt es doch für uns: Baustopp! Eine weitere Verzögerung will ich auf keinen Fall.“ Er richtete einen ratlosen Blick auf den Stadtkämmerer. „Der Anlageberater hat uns von diesem Fonds ja geradezu vorgeschwärmt.
Daran erinnere ich mich noch genau. Jedenfalls steht für mich fest, dass er uns bei dem Vertragsabschluss falsch informiert hat.“
„Am Ende gewinnt nur die Bank, die kassiert Provision. Wir dagegen sind die Gelackmeierten“, bemerkte Glaser voller Zorn. „Wir hätten einfach mehr Zeit gebraucht, um alle Risiken abzuwägen und uns dabei von anderer Seite ausführlich und sachkundig beraten lassen müssen.“
„Wir gehen gleich morgen zu der Bank und verlangen, dass der Vertrag rückabgewickelt wird“, bekräftigte Mardhorst entschlossen.
Inge steckte den Kopf durch die Tür und fragte ironisch nach dem Grund dieser Geheimniskrämerei. Sie merkte gleich, dass irgendwas im Busche war.
Glaser verließ den Raum und Udo berichtete ihr hastig von dem Gespräch mit ihm. Er war sehr aufgeregt. „Dass mir so was passiert! Ich bin womöglich auf Schrottpapiere reingefallen! In den Zeitungen wird bald stehen: ´Bürgermeister verzockt Millionen Steuergelder!` Diese Blamage überlebe ich nicht!“
„Glaser hat genauso einen Anteil daran, dass ihr diese Wertpapiere gekauft habt, und ihr habt euch ja, wie es jeder macht, von einem Fachmann beraten lassen“, sagte Inge beschwichtigend.
„Darauf kannst du nichts geben“, sagte Udo. „Glaser sieht die Schuld natürlich nur bei mir, wirft mir vor, ich hätte ihn zur Eile gedrängt und ihm nicht genügend Zeit zur Prüfung gelassen. So wird er es auch vor dem Stadtrat und der Presse darstellen und sich damit reinwaschen wollen.“
„Jetzt warte erst mal ab! Eure Wertpapiere können sich auch ganz schnell wieder erholen. Das geht immer rauf und runter.“
„Lass uns wieder zu den anderen gehen, wenn mir auch in diesem Moment nicht gerade zum Feiern zumute ist.“
Der donnernde Motor des Helikopters dröhnte Udo schmerzhaft in den Ohren. Er wollte seinen Bruder nicht enttäuschen, gab seinem Wunsch nach und stieg in den Hubschrauber, der dem Forstamt gehörte, in dem sein Bruder tätig war.
Dirk wollte ihm aus der Luft die Schäden zeigen, die auf das Konto von Kyrill gingen, der anderthalb Jahre zuvor durch den Forst gefegt war. „Sieh mal da hinten, die riesige Schneise quer durch den Wald! Eine einzige Schneise der Verwüstung! Kyrill hat die Stämme kreuz und quer durcheinandergewirbelt wie Streichhölzer.“ Dirk, der das Flugzeug steuerte, wies mit dem Kinn auf die Waldgebiete, die besonders schwer in Mitleidenschaft gezogen waren.
„Da drüben, ein Wald aus lauter Baumskeletten“, bemerkte sein Bruder kopfschüttelnd.
„Dieser Wald war in den letzten Jahren vom Borkenkäfer befallen, da hatte der Sturm leichtes Spiel“, erklärte Dirk. „Das alles aufzuräumen, wird das Land eine schöne Stange Geld kosten.“
Bei diesen Worten seufzte Udo auf. Sein Gespräch bei der Davesta-Bank am Vormittag fiel ihm ein.
Dirk wandte den Kopf nach links. „Da drüben auf der Wiese haben sich vor einer Woche zwei Hirsche ein Duell geliefert, von dem man noch in hundert Jahren reden wird. Es ist ja Brunftzeit. Überlebt hat keiner von ihnen den Zweikampf. Ihre Geweihe haben sich dermaßen unglücklich ineinander verhakt, dass sie am Ende nicht mehr voneinander loskamen“, erzählte Dirk. „Als wir am nächsten Morgen in den Forst kamen, lagen beide unrettbar zusammen verknotet mit heraushängenden Zungen und verkeilten Geweihen hier auf der Wiese, sie waren an Erschöpfung eingegangen.“
„Das sind schon Abenteuer“, antwortete Udo abwesend. „Ich beneide dich darum. Meine Abenteuer sind weniger romantisch. Ich habe eine Mordswut, kann ich dir sagen. Ich erzähle dir alles, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben.“
Nachdem der Helikopter gelandet und im Hangar untergebracht war, stiegen die Brüder die knarrende Holztreppe zu Dirks Arbeitszimmer im Forstamt hinauf, das mit Geweihen aller Größen geschmückt war.
Dirk öffnete den Kleiderschrank, um seine Försterjacke hineinzuhängen. Sein Bruder bemerkte dabei das Jagdgewehr, das Dirk in einer Schrankecke aufbewahrte.
Der Förster braute einen schnellen starken Kaffee, goss in die zwei nicht zusammenpassenden Kaffeetassen ein und setzte sich seinem Bruder gegenüber. Er wartete darauf, was Udo ihm an Neuigkeiten mitzuteilen hatte.
Udo hatte scheinbar Mühe, seine Gedanken zu ordnen, dann stürzten die Worte aus ihm heraus. „Dirk, das Wasser steht mir bis zum Halse. Du weißt doch, dass ich die erste Überweisung vom Land für den Bau des Bades bei der Davesta-Bank angelegt habe, wegen der Verzögerung des Baubeginns.“ Es tat ihm gut, sich vor seinem Bruder alles von der Seele zu reden. Dirk nickte und nahm einen Schluck Kaffee. „Der Stadtkämmerer hat mich vor ein paar Tagen darauf aufmerksam gemacht, dass der Wert des Finanzpakets, das wir von der Davesta gekauft haben, in der Hoffnung auf eine ordentliche Rendite, zurzeit fahrstuhlartig in den Keller gehen würde.“ Udo strich sich ratlos mit der Hand über das glattrasierte Kinn. „Die Davesta hat uns diese Wertpapiere vorbehaltlos als risikoarme Geldanlage empfohlen. Aber jetzt: ein horrender Abwärtstrend.“
Dirk riet ihm, die Papiere sofort abzustoßen.
„Sie sind nichts mehr wert, wir würden nur noch einen lächerlichen Preis dafür kriegen und diese Papiere will auch niemand mehr kaufen. Ein rapider Verfall! Der Wert tendiert gegen Null. Unser eingezahltes Geld ist futsch. Vielleicht sind diese Papiere inzwischen schon ganz vom Markt verschwunden.“ Udo wurde grau im Gesicht vor Kummer und rang die Hände. „Ich habe mich bei einer anderen Bank nach diesen Papieren erkundigt. Die haben mir gesagt, dass diese Papiere von Anfang an aus faulen Krediten bestanden haben. In Finanzkreisen sei das bekannt gewesen und auch die Davesta habe genau Bescheid gewusst. Es sieht ganz danach aus, dass die Davesta sie so schnell wie möglich abstoßen wollte. Das hat man mir in der anderen Bank hinter vorgehaltener Hand gesagt. Ich bin überzeugt, dass die Davesta-Banker wussten, dass sich das Geschäft für uns als Fiasko entpuppen würde, weil der rasche Wertverlust für Insider voraussehbar war. Das hatte der Anlageberater der Davesta vor uns verheimlicht.“ Er richtete einen flehenden Blick auf seinen Bruder. „Dirk, ein Riesenverlust ist eingetreten und eine Riesenblamage.“ Sein Kinn begann zu zittern, er schluchzte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich für einen Zorn auf diesen Kerl habe. Der hat uns einfach so übern Tisch gezogen.“
„Zeige die Bank vor Gericht an, mach sie haftbar für den Betrug, verlange Schadensersatz in Höhe der eingetretenen Verluste“, riet Dirk aufgebracht. „Wie hat er sich denn überhaupt vor euch herausgeredet?“
„Er hat alle Schuld von sich gewiesen und uns, den Vertretern der Stadt, die Schuld für das Desaster in die Schuhe geschoben, hat uns vorgeworfen, wir wären geldgierig, hätten mit den Papieren jede Menge Cash verdienen wollen. Aber er hat uns vorher nicht ausdrücklich darüber aufgeklärt, dass mit dem Kauf ein hohes Risiko verbunden sei. Blieb dabei, dass wir selbst Schuld hätten. Ich sage dir, diese Papiere waren von Anfang an so konstruiert, dass die Davesta gewinnen sollte, die Risiken tragen sollten die Steuerzahler. Dass die Bank einen Dummen suchte, der ihr diese faulen Hypothekenpapiere gutgläubig abnahm, bestritt er vehement. Die Papiere seien solide finanziert gewesen. Für einen drohenden Wertverlust habe es beim Abschluss des Geschäfts keinerlei Anzeichen gegeben. Glaser und ich sind überzeugt, dass der Mann lügt. Eine Rückabwicklung der Verträge lehnte er kategorisch ab.“
„Udo, steck den Kopf nicht in den Sand. Nehmt euch einen Rechtsanwalt, der sich mit Bankgeschäften auskennt, und verklagt die Bank.“
„Der Stadtkämmerer Glaser wäscht natürlich seine Hände in Unschuld, der Feigling. Er hält mir vor, ich hätte darauf gedrängt, das Geschäft möglichst schnell abzuschließen. Aber ich bin nach der Gemeindeordnung verpflichtet, öffentliche Gelder, die nicht gleich verbraucht werden können, mit passablen Renditen anzulegen.“ Er starrte eine Zeitlang düster vor sich hin. „Weißt du, der Glaser wird aus diesem Desaster für sich politisches Kapital schlagen. Ich bin mir sicher, dass er schon lange auf den Bürgermeisterposten spekuliert. Und die Opposition wird das sofort an die große Glocke hängen und meinen Rücktritt fordern. Bei den knallen dann die Sektkorken, wenn die das erfahren.“
„Dieser Kerl hat euch doch absichtlich falsch beraten“, warf Dirk dazwischen. „Das willst du auf dir sitzen lassen? Dem würde ich es heimzahlen.“
„Angebrüllt habe ich den Kerl. Glaube mir, der hatte Angst, der hat gezittert vor Angst, als ich ihm mit einer Schadensersatzklage gedroht habe. Er beteuerte immer wieder, die Verluste seien nicht abzusehen gewesen, der Heuchler. Die Bank wollte diese Papiere aber bestimmt ganz schnell abstoßen, um nicht selber damit Verluste zu machen. Du kannst dir vorstellen, wie entsetzlich das alles für mich ist.“
Dirk dachte eine Weile nach. „Dass der Stadtkämmerer dich als Schuldigen hinstellen wird, glaube ich eher nicht“, sagte er darauf. „Der sitzt ja selber mit im Boot. Der kann sich nicht damit rausreden, dass ihm keine Zeit geblieben sei zur genauen Überprüfung. Diese Zeit hätte er sich nehmen müssen, wenn er Zweifel hatte.“
Wieder trat eine längere Pause ein. Dann sagte Udo: „Wie lange es aber dauern wird, bis uns ein Gericht Schadensersatz zuspricht, wenn überhaupt. So sicher ist das vielleicht gar nicht. Wenn du mich fragst: Das Geld ist futsch, das schöne Geld, und mein Ruf als angesehener Bürgermeister der Stadt Hasserodt verspielt.“ Er senkte den Kopf und vergrub das Gesicht in seinen massigen Händen. „Am liebsten würde ich mir `n Strick nehmen.“
„Du bist zu beneiden, Onkel Dirk. Was hast du für einen romantischen Arbeitsplatz!“, rief Ilona schwärmerisch. Dirk hatte sie und ihren Freund Tobias zu einem Rundflug über sein Revier eingeladen. „Wie hübsch, da hinten der See mit der kleinen grünen Insel drin. Fehlen nur noch die Palmen drauf.“
„Von außen sieht es vielleicht sehr romantisch aus“, erwiderte Dirk Mardhorst trocken. „Das Einzige, was daran beneidenswert wäre, ist meine relative Freiheit gegenüber anderen Berufsgruppen. Ich kann auch mal vom Schreibtisch aufstehen und in den Wald fahren, aber sonst? Massig Stress mit dem Chef.“
„Mensch, Herr Mardhorst, Sie dürfen über die Wipfel schweben und kriegen sogar noch Geld dafür“, rief Ilonas Begleiter begeistert aus. „Traumhaft, der Blick von oben! Bäume, Bäume, Bäume. Wie ein dichter grüner Teppichboden! Sagenhaft! Dürfen wir mit Ihnen heute Nacht mit auf den Hochsitz?“
„Heute Nacht könnt ihr nichts sehen“, erklärte Dirk. „Wenn Vollmond ist, lade ich euch ein, mitzukommen.“
Dirk brachte den Helikopter zur Landung und schloss ihn im Hangar auf dem Gelände des Forstamts ein.
Eine Woche später fuhren Ilona, Tobias und der Förster in dem forsteigenen Geländewagen zu einem der zahlreichen Hochsitze.
„Ihr müsst euch aber mucksmäuschenstill verhalten, sonst verjagt ihr mir das Wild, und dann nehme ich euch nicht mehr mit“, schärfte Dirk ihnen ein.
Er stapfte los, die beiden anderen folgten im Gänsemarsch durchs Unterholz. Lange arbeiteten sie sich durch das unwegsame Waldgelände. Wie im Märchen tauchte aus dem Nichts zwischen wucherndem Gestrüpp die versteckte Jagdhütte auf.
Dirk entriegelte das Vorhängeschloss und die Fensterläden, trat in den Raum und öffnete die Fenster. Das Pärchen folgte ihm ins Dämmerlicht der Hütte. Ein frischer würziger Tannengeruch wehte von draußen herein.
Ilona blickte sich um: „Einfach himmlisch!“ Sie flehte ihren Onkel an, ihr und ihrem Liebsten zu erlauben, die Hütte zu benutzen und ihr einen Schlüssel dafür zu geben.
„Der ist nur für die Forstleute“, sagte Dirk mit listigem Lächeln. „Fremde dürfen da nicht rein! Wilde Partys und Sexorgien werden hier drinnen nicht gefeiert!“
„Schade“, sagte Ilona übermäßig enttäuscht. „Ein so verschwiegener romantischer Ort.“
Dirk lachte. „Genau richtig für kuschelige Stunden zu zweit. Stimmt`s oder habe ich recht?“
Er schloss die Tür und die beiden winzigen Fenster und führte seine Begleiter zum wenige Meter entfernt stehenden Hochsitz.
Trotz der hellen Nachmittagssonne drang nur spärliches Licht in die Jagdhütte und beleuchtete matt das Luftmatratzenlager des Pärchens, das sich eine Woche später dort einfand, um sich unbeobachtet in der Abgeschiedenheit des dichten Waldes zu lieben.
Ilona warf die Decke beiseite und zündete sich eine Zigarette an.
Tobias verlangte, dass sie die Zigarette ausmachen solle. „Sonst lässt uns dein Onkel nicht mehr in die Hütte.“
„Ich lüfte gut, bevor wir gehen“, antwortete Ilona abwesend und fragte nach einer Weile: „Wann machst du endlich dein Examen? Du studierst doch schon so lange!“
„Habe das Studium aufgegeben“, entgegnete Tobias gleichgültig.
Ein Ruck ging durch Ilona. „Ist das dein Ernst?“ Tobias nickte. Darauf wurde sie sehr energisch. „Man macht zu Ende, was man mal angefangen hat, egal, wie!“
„Ilona, es hat mir keinen Spaß gemacht. Ehrlich gesagt, es hat mir fürchterlich gestunken. Das war fremder Ballast in meinem Hirn. Ich sollte immer nur nachbeten, was mir andere vorbeteten.“
Ilona wurde immer zorniger. „Und das hast du erst nach zehn Jahren gemerkt?“
„Es kam nie auf meine eigene Meinung an. Die war immer völlig unwichtig. Naseweises anonymes Gequatsche war das alles. Ich konnte nichts damit anfangen.“
„Und was willst du jetzt machen?“, fragte Ilona aufgebracht.
„Weiß noch nicht“, antwortete Tobias einsilbig. „Irgendwas. Irgendwas Technisches! Das liegt mir mehr.“
„Irgendwas, irgendwas!“, schimpfte Ilona. „Was soll bloß mal aus dir werden?“ Sie rauchte schweigend und gedankenvoll vor sich hin. „Wenn es wenigstens mit dem Bad voranginge. Ich bin mir sicher, dass mein Vater dir über seine Beziehungen einen Job in dem Bad verschaffen könnte. Als Hausmeister, Haustechniker. Sie überlegte eine Zeitlang und sagte: „Du müsstest noch eine Ausbildung machen zum Elektriker oder Elektroniker.“ Sie seufzte bitter. „So was Blödes! Ob das Bad jemals gebaut wird, ist allerdings höchst fraglich.“
„Techniker in einem großen Wellnessbad, das wäre schon interessanter als immer nur fremde Texte von irgendwelchen Klugscheißern nachzubeten!“, sagte Tobias. „Warum gibt es denn mit dem Bau Schwierigkeiten?“
„Mein Vater hat sich verzockt. Die Bank, bei der er den Zuschuss vom Land bis zum Baubeginn angelegt hat, hat ihm Schrottpapiere dafür angedreht. Ein paar Millionen futsch, wie ich gehört habe. Das Geld war für den ersten Bauabschnitt vorgesehen.“
Tobias richtete sich auf. „Und wo ist das Geld geblieben?“
„Weiß der Geier. Jedenfalls weg! Die Wertpapiere, die er von der Bank gekauft hat, um das Geld zwischenzeitlich anzulegen, sind nicht mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Ein Riesenschaden für die Stadt! Die Papiere bestanden aus wackeligen Hypotheken. Der Anlageberater der Bank hat ihnen Traumrenditen vorgegaukelt, obwohl die Papiere nach Insiderwissen von Anfang an faul waren. Davon ist jedenfalls mein Vater überzeugt. Die Bank hat gewusst, dass mein Vater und der Stadtkämmerer diese Geschäfte nicht auf Anhieb richtig durchschauen konnten, weil sie nicht genug Erfahrung hatten in diesen Dingen, die wohl auch ziemlich kompliziert waren. Das hat die Bank für ihre Zwecke schamlos ausgenutzt, um sich eigenen Schaden vom Halse zu halten. Die hat meinen Vater und den Stadtkämmerer hinters Licht geführt. Der Bankberater hat sie auch nicht informiert, als die Kurse stetig in den Keller gingen. Mein Vater hat eine Wut im Bauch, sag ich dir.“
„Das ist Betrug. Dieser Anlageberater ist ein Betrüger! Mensch, da kann man doch was machen!“, polterte Tobias. „Dein Vater und der Stadtkämmerer sollen sich einen cleveren Anwalt nehmen und die Bank auf Schadensersatz verklagen.“
„Das hat mein Vater auch vor: Sie verklagen wegen vorsätzlich falscher Beratung zum Vorteil der Bank und zum Nachteil der Stadt. Aber man weiß ja, wie lange es dauert, bis es zu einer Gerichtsentscheidung kommt. Das kann Jahre dauern und in manchen Fällen haben die Gerichte auch gegen die Bürgermeister oder Stadtkämmerer entschieden. Das jedenfalls hat mein Vater berichtet. So lange bleibt alles beim Alten, nichts geht voran.“ Ilona starrte gedankenvoll vor sich hin. „Du kannst dir vorstellen, wie verzweifelt mein Vater ist, dass ausgerechnet ihm das passieren muss. Er sieht das als persönliche Niederlage an. Meine Mutter macht sich große Sorgen um ihn. Er fürchtet, wegen des verpatzten Millionendeals aus dem Amt gejagt zu werden. Das Wellnessbad war das Lieblingskind meiner Eltern. Sie hatten auch schon einen klangvollen Namen dafür: „Lagunen-Bad“. Der Bankberater ist fein raus. Der wird sich vor seinen Vorgesetzten und Kollegen brüsten, was für einen guten Job er für die Bank gemacht habe. Der wird sich am Jahresende über eine hübsche Bonuszahlung freuen.“
Tobias wurde zornig. „Na, dem würde ich ja die Bonuszahlung versalzen. Das würde ich mir nicht gefallen lassen.“
„Die Banker lachen höchstens über meinen Vater.“ Sie zog wieder gierig an ihrer Zigarette. „Den Anlageberater würde er am liebsten umbringen.“
„Weißt du“, sagte Tobias nach einer Weile, „mir fällt dazu was Nettes ein: Vielleicht sollte man den Kerl kidnappen und seine Bank erpressen, damit sie das verzockte Geld ausspuckt.“
„Sie würden sofort auf meinen Vater kommen.“
„Du glaubst doch nicht, dass dein Vater und der Stadtkämmerer die Einzigen sind, die von der Bank über den Tisch gezogen wurden. Derartige Verluste werden Hunderte, wenn nicht Tausende erlitten haben. Dein Vater ist kein Einzelfall. Jeder von ihnen hätte einen Grund, es dem Mann heimzuzahlen und erst recht seinem Brötchengeber.“
„Aber eine Entführung?“ Ilona zog bei dem Gedanken fröstelnd die Schultern hoch.
„Man muss es nur geschickt machen und gut vorbereiten.“ Er ließ seinen Blick in der Jagdhütte umherschweifen. „Die Hütte hier, die ist so schön abgelegen. Die würde keiner entdecken. Die eignet sich doch prima für eine Entführung. Man könnte den Entführten hier ganz versteckt unterbringen, bis das Lösegeld gezahlt wird.“
Ilona schüttelte den Kopf. „Du hast doch gehört, was mein Onkel uns eingeschärft hat. Die Hütte gehört den Jägern und wir dürfen uns hier nur zeitweilig mit seiner ausdrücklichen Genehmigung aufhalten.“
„Und alles immer schön sauber und ordentlich hinterlassen“, spottete Tobias. Er strich abwesend über ihren goldbraunen Arm und dachte nach. „Wir müssen deinen Onkel mit ins Boot holen.“
„Er wird das nicht mitmachen“, sagte Ilona. „Warum sollte er sich in eine Sache einlassen, die gefährlich ist und von der er nichts hat. Dieser Ort ist nicht sicher vor den Jägern.“