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Der Roman schildert die Beziehungen zwischen einer deutschen und einer muslimischen Familie.
Das E-Book Das Geschenk des Kopftuchmädchens wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Moschee, Kopftuchmädchen, Muslimin, Emanzipation, Gleichberechtigung
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Seitenzahl: 649
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Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Zweiter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Dritter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Vierter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Fünfter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Sechster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Die Frau am Steuer wies auf ein unbebautes Gelände am Rande eines Gewerbegebietes. „Da drüben, da ist es. Ausgerechnet hier bei uns, wo es doch so viele geeignete freie Flächen am Stadtrand gibt.“ Sie starrte eine Weile stumm durchs Autofenster auf die bezeichnete Stelle und fügte anschließend hinzu: „Auch noch möglichst auffällig, direkt hinterm Ortseingang, damit jeder, der hierher kommt, gleich weiß, wer hier im Ort das Sagen hat.“
Ihre Tochter, die auf dem Beifahrersitz saß, wunderte sich über die Aufregung ihrer Mutter. Sie nahm die Sache mit der Gelassenheit der Jugend. „Vielleicht überlegen sie sich`s noch mal und suchen sich einen anderen Platz. Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht. Seit wann ist denn das spruchreif?“
„Frau Bertram hat mich heute Vormittag angerufen. Sie hat es im Radio gehört, in den Regionalnachrichten. Das hat uns beide erst mal vom Hocker gehauen.“ Sie umspannte das Lenkrad so fest mit den Händen, dass die Knöchel weiß aufleuchteten. „Wenn wir nichts dagegen unternehmen, dann kommt`s tatsächlich so, wie sie`s vorhaben. Das müssen wir auf jeden Fall verhindern! Das geht nicht! Nicht hier bei uns!“
„Hier im Ort gibt`s doch gar keine Muslime. Ich habe noch nie welche hier gesehen“, wandte ihre Tochter ein.
Ihre Mutter startete den Motor. Während der Wagen anfuhr, warf das junge Mädchen noch einen flüchtigen Blick auf das einsame, mit Wildwuchs besprenkelte Gelände, das bislang noch niemandem aufgefallen war. Nur wenige Minuten dauerte die Fahrt bis zu dem Reihenhaus mit dem ovalen Türschild, in das der Name „Torval“ eingraviert war.
Mit dem frisch hereingeschneiten Thema schien in Domstadt-Rosenbach eine neue Zeitrechnung anzubrechen. Früher nahm man eine Nachricht dieses Inhalts so gelassen zur Kenntnis wie die Meldung über einen tragischen Verkehrsunfall, der sich irgendwo weit entfernt ereignet hatte, oder über einen Regierungswechsel in einem anderen Land. Aber jetzt waren alle alarmiert, denn es war nicht mehr weit weg, sondern hier direkt vor der Haustür. Nach außen ging alles seinen gewohnten Gang, aber unter der Oberfläche brodelte es. Es schien, als habe man den Einwohnern von Rosenbach den Krieg erklärt, und die müssten jetzt eilig mobilmachen. Zum Schreckgespenst erhoben, drang die Neuigkeit durch alle Mauerritzen, wurde erörtert, wo man ging und stand. Sie klebte an den Zungen der Einwohner wie aufgeplatztes Altbrot.
„So was passt nicht in unseren Ort! Wer wohnt denn hier? Vorwiegend junge Familien, die sich den Traum vom Häuschen im Grünen verwirklicht haben, und im alten Ortskern die alteingesessenen Bürger, die schon seit Generationen hier ansässig sind. Unsere kleine alte Dorfkirche! In ihr wurden schon meine Großeltern und meine Eltern getraut!“, berichtete Frau Torval ihrer Freundin Sabine Bertram. „Ihren Glockenton höre ich so gern. Ich finde, ihr Klang hat so etwas Beruhigendes an sich. Sie ist ein Teil unserer Heimat. Hier gehört nichts Fremdes her.“
Im Domstädter Tagesanzeiger und im Schaukasten vor der Bäckerei Scholten an der Hauptstraße war zu lesen, dass die islamische Gemeinde zu einer Informationsveranstaltung am ersten Samstag des Juni 2016 um 14 Uhr dreißig in der Sporthalle in Rosenbach zum Thema „Moscheebau in Domstadt-Rosenbach“ einlade.
Eine Gluthitze an diesem Samstag, ganz ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Gleich nach dem Mittagessen strömten schon etliche Rosenbacher in Richtung Sporthalle, denn das Thema erregte seit Wochen die Gemüter. In den Straßen und vor dem Eingang der Sporthalle summte es wie in einem aufgeregten Bienenschwarm. Selten waren in diesem eher ländlich geprägten, stillen Ortsteil von Domstadt so viele Menschen unterwegs. Einige Hundert mochten es sein. Ansteckende Gereiztheit schwelte über den Köpfen, zusätzlich angestachelt von frühsommerlicher Gewitterschwüle. Ein schlechtes Vorzeichen!
„Angst vorm Minarettchen?“, säuselte ironisch eine brüchige männliche Stimme in der Menge. Als Reaktion ein stimmgewaltiger Posaunenstoß vom Nachbarn: „Wann schneidest du endlich mal deine Rosenhecke an der Einfahrt?“
Die geräumige Sporthalle füllte sich in kürzester Zeit. Spät Eintreffende fanden nur noch einen Stehplatz. Gespanntes Knistern wisperte erhitzt in der Luft wie vor einem heranziehenden Sturmtief. Aus der Mitte des Saales erklang auf einmal, ohne Aufblitzen eines Taktstockes, erst verhalten, dann immer breiter anschwellend, männlich dumpfer Gesang in der Eintönigkeit von endlos bis zum Horizont schnurgerade dahinfließenden Bahngleisen, ein einziger langgezogener Ton, ergebenes Brummen aus halb geöffneten Mündern, das in den ganzen Saal floss über alle Köpfe hinweg. Nirgendwo in den Reihen verwirrtes Köpfeheben oder nervöses Schulterrucken aus peinlicher Berührtheit. Jeder schien auf Anhieb zu begreifen, was damit gemeint war. Als Reaktion vereinzeltes einvernehmliches Gelächter, Prusten, Kichern. In der zweiten Reihe reichte jemand seiner Nachbarin ein Smartphone. Darauf zu sehen, auf stumm geschaltet, die Bundeskanzlerin während einer ihrer öffentlichen Reden. „Sie ruft zum Freitagsgebet, so, wie bald der Muezzin hier bei uns im Ort!“, raunte er der Nachbarin zu und hob ironisch ehrfürchtig die Brauen. Vorne, bei den aneinandergereihten Tischen, entstand jetzt Bewegung. Bürgermeister Meissner kam als Erster in den Saal. Bei seinem Erscheinen brach ein unerwartet turbulenter Orkan aus schrillem Pfeifen und Buhrufen los, der minutenlang nicht verebbte. Dem Bürgermeister folgten zwei Männer. Der eine hager, hochgewachsen, mitteleuropäische Gesichtszüge, hinter ihm ein kleinerer Mann, rundes Gesicht, dunkelhäutig, gestutzter schwarzer Vollbart, eine weiße Gebetsmütze auf dem Kopf, bekleidet mit einem weißen muslimischen Kaftan und weißer langer Hose. Allmählich verebbten die Pfiffe und Buhrufe. Es wurde ruhiger in der Halle. Ohne auf die wütende Reaktion bei seinem Erscheinen einzugehen, so, als sei nichts gewesen, ergriff Bürgermeister Meissner das Wort. Er sah dies wohl nur als Protest Einzelner an, begrüßte die Anwesenden und stellte die beiden Männer neben ihm als Sprecher der islamischen Gemeinde vor. Darauf nahm er am mittleren Tisch Platz. Seine beiden Begleiter befestigten gemeinsam eine große Zeichnung an der Wand, die der größere der beiden anschließend mit einem Zeigestock näher erläuterte. „Das ist der Grundriss für unsere geplante Moschee. Sie ist eingeschossig geplant, soll eine Kuppel mit dreieinhalb Metern Durchmessern haben und ein Minarett, zwei Gebetsräume und eine Wohnung für den Imam.“
„Wie hoch soll denn das Minarett werden?“, fragte jemand aus der Zuhörerschaft.
„Das Minarett soll eine Höhe von elf Metern haben.“
Unruhiges Gemurmel erhob sich. „Das klingt bescheiden!“, lachte jemand böse.
„Der Muezzin ist dann wenigstens nicht zu überhören“, antwortete ihm ein anderer. „Damit wir auch ja alle pünktlich zum Freitagsgebet erscheinen.“
„Es wird keine Gebetsaufrufe geben. Es gibt keinen Lautsprecher“, meldete sich der Dunkelhäutige zu Wort. „Das Minarett ist nur zur Zierde da und nicht begehbar. Der Muezzin ist nur im Inneren der Moschee zu hören.“
„Wir nehmen Sie beim Wort“, rief eine ausgelassene jungenhafte Stimme aus den hinteren Reihen.
Währenddessen ballte sich die stumpfe Schwüle in der Halle und lastete auf den aufmerksam nach vorne gerichteten Köpfen. Misstrauisch und wachsam, mit undurchdringlich versteinerten Mienen, folgten die Zuhörer dem Vortrag. „Warum wollen Sie eine Moschee hier bei uns bauen, warum nicht in Ihrem Heimatland?“, fragte eine Frau geradeheraus.
„Wir werden in unserem Land, in Pakistan, verfolgt und mit dem Tode bedroht. Warum? Weil sich unsere Gemeinde als Reformbewegung innerhalb des Islam versteht. Unser liberaler Islam wird dort abgelehnt. Deshalb werden wir in Pakistan verfolgt und mussten von dort fliehen, um unser Leben zu retten. Deshalb sind wir hier. Deutschland hat uns Asyl gewährt.“
Jemand flüsterte seinem Nachbarn zu: „Die sind in den Augen der Fundamentalisten wohl so was wie Ketzer?“
„Sie praktizieren also nach Ihren eigenen Worten einen liberalen Islam“, ergriff ein Mann mittleren Alters das Wort. „Liberale Muslime gegen Fundamentalisten? Dann ist also hier bei uns nach dem Bau Ihrer Moschee mit dauerhaften Glaubenskriegen zu rechnen. Man weiß aus den Medien, dass sich die Muslime je nach religiöser Ausrichtung gegenseitig die Köpfe einschlagen. Reformislamisten gegen Fundamentalisten und umgekehrt. Na, bravo! Das ist genau das, was wir hier im Ort brauchen: Dauerhaften Unfrieden und Zwietracht.“
„Wir brauchen keinen islamischen Glaubenskrieg auf deutschem Boden“, schrie eine sich überschlagende Greisenstimme.
„Es stimmt, dass wir von den radikalen Islamvertretern angefeindet werden und, wie ich schon berichtet habe, mit dem Tod bedroht. Aber unser Islam will Frieden, nicht den Krieg. Wir vertreten den wahren Islam, den Islam der Liebe und Barmherzigkeit. Nur so ist der Islam nach der richtigen Koranauslegung.“
„Die Moscheen sind Brutstätten des Terrorismus. Dort wird der Kampf gegen die westliche Zivilisation gepredigt“, schrie ein anderer bissig.
„Wir haben keine Geheimnisse!“, gab der Dunkelhäutige zur Antwort, erkennbar bemüht um eine beschwichtigende Note. „In deutschen Moscheen predigt der Imam in deutscher Sprache.“
Beide Muslime badeten die ganze Zeit über in einem balsamischen Lächeln. Es war aber das falsche Zeichen. Das Misstrauen vieler Zuhörer wurde damit nur noch mehr angefacht.
„Wir haben unseren Gottesdienst bislang immer in einem Hinterhofgebäude abgehalten oder in einem Wohnungsflur. Das waren unsere Gebetsräume“, warf der Muslim mit den europäischen Gesichtszügen dazwischen, „keine würdigen Orte für den Gottesdienst. Es erweckt viel größeres Misstrauen, wenn wir ihn im Geheimen abhalten müssen, als wenn wir in einer Moschee beten würden, die jedem zugänglich ist.“
Die Worte flogen hin und her, lebhafte Meinungsstrudel, eingeflochten zielgerichtete Pfeilspitzen.
Eine tiefe Frauenstimme: „Wenn in unserem Land Synagogen stehen, dann müssen wir auch Moscheen dulden!“
„Das ist etwas ganz anderes!“, antwortete jemand mit fester, ruhiger Stimme. „Die jüdische Kultur hat in Deutschland Tradition. Der Islam gehört nicht zu Deutschland!“
Mit heiserer Stimme schrie nun auch der Dunkelhäutige über die erregten Köpfe hinweg: „Wir alle sind Deutschland! Die Moschee soll ein Raum für alle Bürgerinnen und Bürger werden.“
Einer sagte hörbar: „Der tut so, als wär sie schon gebaut.“
Eine Frau mit roten, gesunden Wangen und blondem Oberkopfdutt rief in die Reihen: „Ich finde, dass unser Ort dadurch die Chance erhält, weltoffener zu werden, einfach bunter.“
Viele drehten die Köpfe nach ihr um. Manche lachten mit den Schultern oder winkten geringschätzig ab.
Eine energische Frauenstimme in Richtung der Frau mit dem blonden Dutt. „Ihre Partei will ja sowieso den Rest der Welt hier hochwinken, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob die vielen Zuwanderer bei uns überhaupt alle Platz haben.“
Ihre Nachbarin mit zustimmendem Vorwurf: „Deutschlands Grenzen sind nicht aus Gummiband.“
„Bunter! Weltoffener! Solange, wie die im Parlament sitzt, hat die noch nie was für unseren Ort getan“, zischte jemand aus dem Mundwinkel seinem Nachbarn zu.
Ein anderer rief ihr zu: „Bunt? Sie sind wohl farbenblind? Wir tragen Verantwortung nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kinder. Der Islam will uns ins finsterste Mittelalter zurückversetzen! Wenn wir jetzt nicht den Anfängen wehren - noch ist Zeit -, werden unsere Töchter und Enkeltöchter uns später mal schwere Vorwürfe machen, wenn sie in bodenlange schwarze Ganzkörperumhänge gezwängt werden mit Augengitter und ihnen eine finanziell eigenständige, vom Mann unabhängige Lebensführung versagt wird, sie also wieder zu Unmündigen gemacht werden, schlimmer noch, zu Dienstobjekten, zu nützlichen Haustieren.“
Beifälliges Klatschen ertönte aus allen Richtungen.
Eine Frau prophezeite knurrend: „Erst wird es bunt, dann geht es rund!“
Eine jüngere männliche Stimme: „Ich werde einen Volksentscheid über den Moscheebau beantragen. Dann wird die Bevölkerung unseres Ortes kundtun, was sie wirklich haben will. Der Wille des Volkes soll entscheiden.“
Jetzt meldete sich auch Bürgermeister Meissner zu Wort. „Ein Volksentscheid über die Ausübung eines Grundrechts, nämlich der Religionsfreiheit, ist rechtlich nicht möglich.“
Schrille empörte Pfiffe folgten seinen Worten.
„Die schlagen sich in ihren Heimatländern gegenseitig die Schädel ein. Bekanntestes Beispiel: Schiiten gegen Sunniten. Heute die Moschee und morgen der Glaubenskrieg! Und das alles hier bei uns vor der Haustür! Bei denen hat ein Menschenleben überhaupt keinen Wert. Über unsere freiheitliche Rechtsordnung machen die sich nur lustig. Demokratische Werte sind ihnen fremd. Und immer Gewalt! Überall, auf den Straßen, in ihren Häusern. Da zählt nur das Recht des Stärkeren! Gewalt und Verrohung! Das sind genau die Importe, die wir hier brauchen.“
„Wir wollen auch wie Sie nur in Frieden leben“, rief der Hochgewachsene hitzig.
„Der sieht so westlich aus“, flüsterte eine Frauenstimme.
„Wahrscheinlich einer, der zum Islam konvertiert ist“, antwortete ihre Nachbarin.
Ungläubiges Staunen. „Warum konvertiert man zum Islam?“
Ratloses Schweigen bei den Nachbarinnen in der Reihe.
„In unserem Land ist die Religionsfreiheit garantiert, Artikel vier des Grundgesetzes. Sakrale Bauten zur Ausübung der Religion gehören meines Erachtens dazu“, äußerte Bürgermeister Meissner. „Ich unterstütze daher die Pläne für den Bau der Moschee.“
Eine dumpfe Stimme voller Entrüstung aus tiefster Überzeugung pfeilsicher in seine Richtung: „Volksverräter!“
Eine zum Abschluss vor die Füße geworfene, drohende, hintergründige Prophezeiung: „Die Quittung wird man Ihnen bei der nächsten Wahl präsentieren, warten Sie nur ab.“
Noch lange kochte die aufgewühlte Debatte in den Straßen weiter. Da hatte sich etwas aufgestaut. Ein mühsam unter der Decke gehaltener Zorn entlud sich schnaufend. Wie drohendes Wetterleuchten flackerte die Ankündigung einer endlosen Diskussion über den aufgeheizten Dächern. Zu gegensätzlich, zu unversöhnlich die Ansichten, um einen Konsens zu finden, mit dem alle einverstanden sein konnten, zu gering der Spielraum für Kompromisse. Es gab im Großen und Ganzen nur zwei Möglichkeiten: Entweder ganz dafür oder ganz dagegen sein, keine Brauen hebende Zwischenstufe denkbar. Der Ort: gespalten. Einige dafür, die meisten dagegen. Entschlossenheit, Ratlosigkeit, Zorn standen in den Mienen vieler.
Die Ehepaare Torval und Bertram gingen gemeinsam nach der Veranstaltung zum Hotel Prinzenhof, das dem Hotelier Gero Bertram gehörte, und das sich nur hundert Meter hinter dem Ortseingang befand, auf einem der Nachbargrundstücke neben dem Platz, auf dem die Moschee geplant war.
Claudia Torval und ihr Mann Oskar setzten sich neben Sabine Bertram an die Bar. Gero mischte in Minutenschnelle einen spritzigen Cocktail, den alle dankbar annahmen. Er stellte sich hinter die Theke und stützte die Ellbogen auf. „Wenn das Ding tatsächlich hier neben mein Hotel gepflanzt wird, muss ich mit Sicherheit mit einem Rückgang der Gästezahlen rechnen“, bemerkte er mit grimmigem Lächeln.
„In Sonnbrück sind so viele freie Flächen“, klagte Claudia. „Dort würde so ein Bau niemanden stören.“
„Wir sehen schon viel zu lange dabei zu, wie der politische Islam sich die größte Mühe gibt, unsere demokratische Gesellschaftsordnung vom Tisch zu fegen. Das hat er sich zum Ziel gesetzt. Solche Bauten sollen ihn zügig legitimieren und manifestieren. Anstatt ihm Einhalt zu gebieten, geben wir ihm allerorts immer eine noch breitere Plattform. Jetzt also auch hier bei uns im Ort“, ergänzte Sabine trocken.
Oskar nickte. „Du hast vollkommen recht. Diese Leute wollen den Machtwechsel, den politischen Umsturz. Davon bin ich auch überzeugt.“ Er nippte an seinem Glas. „Liberaler Islam! Augenwischerei! Ich glaube nicht an solche Beschwichtigungsformeln. Ich sage euch: Islam ist Islam! Keiner Form des Islam darf man hier trauen.“
„Der Ansicht bin ich auch“, stimmte ihm Gero zu. „Das ist keinesfalls nur eine persönliche Glaubenssache. Gewollt ist letztendlich der Austausch der politischen Systeme. Der Bau von so vielen Moscheen wie möglich dient der Vorbereitung und der Untermauerung dieses Ziels.“
Frau Bertram strich sich über die Hände. „Habt ihr gesehen, dass der Pakistaner sich geweigert hat, der Frau des Bürgermeisters die Hand zu reichen? Er hat sie ganz schnell weggezogen und sich umgedreht, damit er ihr bloß nicht die Hand geben musste.“
Gero zapfte ein Bier und stellte es vor Herrn Torval. „Der angeblich liberale Muslim kann es halt mit seiner Mannesehre nicht vereinbaren, einem so subalternen Wesen wie einer Frau die Hand zu geben. Das entspricht genau seiner Vorstellung von männlichem Machtgefüge. Oder hat er sich nur ganz einfach vor Frau Meissners Hand geekelt?“
Claudia lächelte verächtlich. „Die verprügeln ihre Weiber, verheiraten ihre Töchter mit irgendwelchen Cousins oder Onkeln, ohne danach zu fragen, ob die die überhaupt wollen. Und wehe, sie weigern sich. Dann wird nicht lange gefackelt und sie werden mit dem Tode bedroht oder gleich hingerichtet, denn sie haben ja damit gegen die Familienehre verstoßen.“
Sabine nickte. „Ihre Frauen sind Eigentum der Männer, Sacheigentum, versteht sich, wandelnde Gebärapparate, Leibeigene. Den Frauen soll jede Form von Eigenständigkeit genommen werden. In Abhängigkeit sollen sie bleiben. Das ist genau das, wofür wir hier jahrzehntelang gekämpft haben. Das passt so recht zu meiner Einstellung: gern für dumm verkauft werden, behandelt wie eine ewige Vierjährige.“
„Na, und wir sind die Ungläubigen“, schnaubte Claudia und bat Herrn Bertram um einen starken Kaffee. „Die wollen uns unterwerfen und bei uns eine islamische Diktatur einführen. Wir sind es uns und unseren Kindern schuldig, zu verhindern, dass dieses religiös verbrämte Monstrum hierherkommt, überhaupt, dass diese ganze islamische Unterwanderung gestoppt wird.“
Oskar hob sein Bierglas an die Lippen, trank einen Schluck und starrte eine Zeitlang schweigend vor sich hin. Dann sagte er: „In Rosenbach wohnen ja auch überhaupt keine Muslime.“
Sabines Augen zogen sich zu Ritzen zusammen: „Wir dürfen es nicht so weit kommen lassen, dass die uns eines Tages sagen, wo`s langgeht!“
Schweigen trat ein, jeder hing seinen Gedanken nach. Herr Bertram ging den Kaffee für Claudia holen, stellte ihn behutsam vor sie hin und schenkte sich nun selber eine Tasse ein.
„Wie die Zukunft unserer Kinder wohl mal aussehen wird?“, bemerkte Claudia und allen entging nicht die Besorgnis, die in ihrer Stimme mitschwang.
„Heiratet und vermehrt euch! Das ist die einzige Botschaft der Muslime an ihre Töchter. Stellt euch unsere Mädchen auf den Straßen vor, von Kopf bis Fuß in schwarze ausdruckslose Gewänder gehüllt, vermummt bis zur Unkenntlichkeit, finstere sterile Geister ohne individuelle Erkennungsmerkmale, eine wie die andere ohne Gesicht und ohne das Spezielle des weiblichen Körpers, höchstens mit Neun-Monats-Bauch: eine einzige homogene schwarze Masse ohne Persönlichkeitsrechte der Einzelnen. Das heißt doch nichts anderes, als dass Frauen ihre Individualität aufgeben sollen bis zur letzten Faser. Alles, was bei uns im Land in den letzten Jahrzehnten an Frauengleichstellung mühsam erreicht worden ist, wäre damit über Bord geworfen, alles umsonst gewesen, alles für die Katz. Rückfall in die Steinzeit. Eine reine Horrorvision! Die wirklichen Verlierer wären die Frauen, sag ich euch.“ Sie starrte eine Zeit lang blicklos ins Leere. „Da kommt mir mein Vater in den Sinn, dieser fürchterliche Macho. Meine Mutter war ja finanziell von ihm total abhängig, seinen Wutausbrüchen und Schlägen hilflos ausgeliefert wie auch wir Kinder. Sie ließ sich immer weiter welche von ihm andrehen und bettelte dabei noch um ihr Leben, steckte ihm mit vor Angst verzerrtem Gesicht Küsschen und Zuckerchen zu, damit er bloß nicht noch schlimmer wurde und uns am Ende noch alle totschlug, sie und uns Kinder. Und er genoss es, der Sadist, weidete sich an unseren kindlichen, schreckhaften Unterwerfungsmienen. Dazu kam noch, dass sie katholisch war, also keine Abtreibung möglich. Wir haben die ganzen Jahre nur in Angst gelebt, in Angst und Schrecken, sie und wir fünf Kinder. Ich sage euch: Ich muss mich zurückhalten, wenn ich an den Machos aus diesen islamischen Ländern vorbeigehe mit ihrer großen Klappe, um sie nicht anzuschreien: Verpisst euch! Geht dahin, wo ihr hergekommen seid!“
„Elf Meter hohes Minarett! Ganz schön selbstbewusst“, murmelte Gero.
„Man muss schließlich Präsenz zeigen“, antwortete Oskar.
Die Debatte ging noch bis in den späten Abend und immer mehr Anwohner strömten in die Gaststube und beteiligten sich daran. Herr Bertram hatte alle Hände voll zu tun.
Ein Beschluss wurde gefasst: Man verabredete einen Demonstrationsmarsch, um auf die Stimmung in der Bevölkerung Rosenbachs hinzuweisen und damit vors Rathaus in Domstadt zu ziehen.
Frau Torval streckte ihre Arme vor der Brust aus, als wollte sie einen Angreifer abwehren. „So müsst ihr in die Kamera blicken! Entsetzte Gesichter! Augen aufgerissen! Beide Hände und eure Mienen sagen eindeutig: Nein! Nein! Nein! Die Moschee wollen wir nicht!“ Sie begutachtete streng die Gesichter der Mädchen vor ihrer Kamera. „Achtung! Nicht bewegen!“ Es machte „Klick“. Das Foto war im Kasten.
Eine Woche später warfen sich drei Mädchen im Haus der Torvals blickdichte Umhänge aus glattem Leinenstoff über die Köpfe, eine schwarz fließende Ganzkörperbedeckung, die bis zu den Knöcheln reichte. Nur ein Sehschlitz ließ bei jeder die Augen frei. Das einzig Lebendige. Eine gewollt makabre Verkleidung. Anschließend begutachteten sie einander lachend.
„Zünftig seht ihr aus“, sagte Lucie Torval verschmitzt. „Von echten Musliminnen sind wir nicht mehr zu unterscheiden. Total authentisch.“
„Das ist ja auch kein Kunststück in diesem Aufzug“, sagte Ina, ein Mädchen mit schmalem, blassem Gesicht und großen, dunklen Augen, die hinter dem Sehschlitz noch dramatischer hervortraten.
Dorit, die größte von ihnen, fragte: „Wie heißen diese Gewänder eigentlich offiziell?“
„Ich glaube, Niqab heißen die“, antwortete Lucie.
„Nein, die heißen Burka oder Tschador“, widersprach Ina. „So genau kenne ich die Unterschiede aber auch nicht.“
„Wie ein Gespenst fühle ich mich in dieser Kluft, nur statt eines weißen Umhangs jetzt einen friedhofsschwarzen, wie gerade in eine Gruft geworfen“, befand Ina.
„Niemand könnte einen damit identifizieren, selbst die nächsten Bekannten nicht. Ein schwarzer Vorhang, der nichts über uns als Individuum aussagt, nur etwas über unseren Glauben“, entgegnete Lucie und rollte hinter dem Sehschlitz mit dem senkrechten Faden in der Mitte betont bedeutungsvoll mit den Augen. „Dorit, der schwarze Umhang hat dir glatt ein paar Kilos auf die Schnelle weggezaubert. Halt! Wir haben was vergessen. Ihr müsst euch noch die Handschuhe anziehen! Die Hände müssen doch auch bedeckt sein! Nichts darf sichtbar sein, was die Begierde der Männer wecken könnte. Alles muss abweisend wirken, steril, kalt wie eine Kirchhofsmauer.“
Um siebzehn Uhr versammelten sich mehrere hundert Personen auf dem Marktplatz in Domstadt zum Protest. Ein warmer Wind wehte. Das Wetter war schon hochsommerlich gestimmt.
Ein Redner trat ans aufgestellte Mikrofon und berichtete in wenigen Sätzen über Ziel und Zweck der Veranstaltung. Daraufhin setzte sich ein langer Zug von Menschen in Bewegung, gesäumt von behelmten, schwarz gekleideten Polizeikräften.
Ein dumpfes Murmeln wie bei einer Beerdigung begleitete den Zug, der in der Mitte der breiten Fußgängerpassage ohne Stopp in Richtung Rathaus zog und nur den heranrollenden Straßenbahnen nach rechts und links auswich und danach wieder zusammenfloss. Zufällige Passanten am Rande der Straße verfolgten die Demonstration ohne besondere Reaktion und ließen sie schweigend vorbeiziehen ohne innezuhalten. Angeführt wurde sie von Herrn Arnholz, Schulrektor und Vater von Ina. Hinter ihm drei vermummte Gestalten, von oben bis unten schwarz verhüllt. Dahinter lief das Ehepaar Torval mit ihrem Sohn Edgar und neben ihnen Sabine und Gero Bertram mit Sandro, ihrem Sohn. Große Plakate wedelten über den Köpfen. Sie alle warnten mit ihren Aufschriften vor dem Schreckensbild abendländischer Islamisierung. Das aufrührerischste hielt an einem langen Stiel Frau Torval hoch über ihrem Kopf. Es zeigte eine große Fotografie, die sich über das gesamte Plakat dehnte, mit ihrer Tochter Lucie und deren Freundinnen, alle gespenstisch lakenbleich, die Münder schrecksekundenhaft weit aufgerissen, die Hände vor sich in Abwehrhaltung ausgestreckt. Darunter in schwarzen, fettgedruckten Buchstaben „Nee, nee, nee! Wir wollen keine Moschee!“
Die meisten Teilnehmer stammten aus Rosenbach, alteingesessene Rosenbacher aus dem historischen Ortskern und Zugezogene aus den umliegenden Neubaugebieten. Aber auch etliche fremde Gesichter sah man.
Am Rathaus kam der Zug zum Stehen. Herr Arnholz stellte sich vor die Menge und erklärte, dass gegen den ausdrücklichen Willen der meisten Einwohner in Rosenbach geplant sei, dort eine Moschee zu errichten. Man sei nicht gewillt dies hinzunehmen. Das Ziel der Demonstration sei die Verhinderung kirchlicher Bauten in einem Gebiet, das Handwerksbetrieben und anderen Gewerbetreibenden vorbehalten werden müsse. Als Erstes werde man ein Bürgerbegehren auf den Weg bringen. Zwei Landtagsabgeordnete der Partei für unser Land würden dies bei der Stadtverwaltung in Domstadt einreichen. Sein Schlusswort war ein nochmals entschiedenes Nein zum Moscheebau. Beifall, Klatschen. Der Zug löste sich langsam auf, seine Teilnehmer stellten sich abschließend zu kleineren privaten Gruppen in der Nähe zusammen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Jetzt schlug die Stunde der drei verschleierten Niqab-Girls. Unter ihren schwarzen Gewändern breiteten sie flügelartig die Arme aus und schwebten elfengleich auf dem Rathausplatz im Kreis, ein wenig improvisiert, etwas linkisch übertrieben die Bewegungen, amateurhaft wie Tänzerinnen auf einer Jahrmarktsbühne. Jugendliche Provokateure? Das wenigstens erregte einiges Aufsehen unter den Passanten. Manche starrten, in einfältiges Staunen versunken, als tanzten dort die Nordlichter ihren Schleiertanz am Nachthimmel. Das war schon etwas sehr Bizarres, etwas, was man in keiner Tanzschule lernte. Andere aber lachten nur abfällig und gingen weiter. Das Ganze dauerte etwa fünfzehn Minuten, dann verließen die geheimnisvollen Niqab-Tänzerinnen die Bühne ihres Spektakels, entschlüpften unauffällig ins verschwiegene Mohrengässchen gleich nebenan, wo sie hinter einem Mauervorsprung ihre textilen Anspielungen diskret abstreiften und wieder in die alltägliche Rolle der fleißigen Schulmädchen aus Rosenbach glitten.
„Das war eine gelungene Performance! Die Leute haben vielleicht geguckt! Das werden sie bestimmt so schnell nicht vergessen“, schwärmte Dorit, die Tochter des Bürgermeisters Meissner. Es passte ihr gar nicht, dass ihr Vater das Vorhaben der islamischen Gemeinde ohne Vorbehalte unterstützte und sich damit demonstrativ gegen den aktuellen Trend in Rosenbach stellte. Sie hoffte, ihn mal so richtig in Harnisch zu versetzen, wenn sie ihm beim Abendbrot mitteilte, dass sie bei der Demonstration als eine der Hauptdarstellerinnen mitgewirkt hatte. Niqabs dancing in the street war sicherlich geeignet, ihn aus dem bequemen Fernsehsessel zu heben.
Die Ehepaare Torval und Bertram, die bislang nur lockeren freundschaftlichen Kontakt pflegten, saßen nun häufig abends beisammen und diskutierten lebhaft über das Thema Moschee. Der neue Streitpunkt brachte sie einander näher. Man hatte einen gemeinsamen Gegner und ein gemeinsames Ziel. Das schweißte zusammen.
Herr Torval und Frau Bertram kündigten nach ein paar Wochen an, in die Partei für unser Land eintreten zu wollen, um das Bürgerbegehren schneller voranzutreiben. „Hoffentlich zieht das Rechtsamt mit“, bemerkte Herr Torval. „Zu dumm, dass ich da keinen kenne. Es würde alles erleichtern.“
Sabine Bertram, von Beruf Lehrerin, änderte ihren Lehrplan. Statt „Die Physiker“ in ihrer Klasse durchzunehmen, ließ sie ihre Schüler „Biedermann und die Brandstifter“ lesen und diskutierte mit ihnen darüber. „Es passt besser in die heutige Zeit“, meinte sie Kolleginnen gegenüber. „Wir stehen da und gucken zu, wie die Zuwanderer ihre Benzinfässer in unser Haus tragen, unters Dach, lange, sehr lange, viele Jahre lang immer mehr Benzinfässer an uns vorbei die Treppe hoch. Harmlose Menschen, sehr hilfsbereit, allem Anschein nach gut integriert, die auch immer freundlich grüßen. Was soll man gegen die haben? Wir stehen unten und gucken zu und denken uns nichts dabei, aber dann, auf einmal ohne Vorwarnung, von einem Tag auf den anderen brennt erst der Dachstuhl und bald das ganze Haus und wir rennen um unser Leben. Raus aus dem eigenen Haus. Bloß wohin?“
Oft besuchte sie ihre Freundin Claudia Torval in ihrem Reihenhaus. So auch an diesem Nachmittag. „Die Haupttreppe zum Eingang unserer Schule ist nicht mehr verkehrssicher. Die Stufen wackeln gefährlich, sie bröckeln schon auf allen Ebenen. Der Direktor hat verfügt, dass die Treppe bis auf weiteres keiner mehr benutzen darf. Sie ist abgesperrt mit Flatterband. Alle, Lehrer und Schüler, müssen den Eingang zum Keller benutzen, um ins Schulgebäude zu kommen. Es ist insgesamt sanierungsbedürftig. Ich warte nur darauf, dass auch noch die Kellertreppe unter dem Ansturm der vielen Füße zusammenkracht und sich der Erste das Genick bricht. Geld für die dringend erforderlichen Reparaturen? Fehlanzeige! ´Dafür ist kein Geld da!`, heißt es lapidar.“
„Das brauchen sie für die Migranten“, mutmaßte Claudia.
„Meine Kollegin unterrichtet Französisch. Keines der Kinder mit Migrationshintergrund interessiert sich für dieses Fach. Es muss eine Tortur für sie sein, die zu unterrichten. Sie sagt, ihr Unterricht bestehe zum großen Teil aus Ordnungsrufen und Disziplinierungsmaßnahmen. Es mache keinen Spaß mehr. Sie versprach sich Hilfe vom Direktor. Der hat sie geduldig angehört und ihr anschließend eine interessante Empfehlung gegeben.“ Sie vollführte die Geste des Trinkens. „Das soll sie machen. Saufen! Ihren Kummer im Alkohol ertränken. Gute Idee, was?“
Claudia lachte wegwerfend. „Das muss ja ein schöner Direktor sein! Sehr hilfreich, dieser Rat!“
„Sie ist völlig verzweifelt. Will ihren Job an den Nagel hängen und was anderes machen.“
„Kann ich verstehen. Wir dürfen immer mehr Steuern zahlen. Die Abgaben und Steuern waren noch nie so hoch wie jetzt. Wer zahlt? Deutschland zahlt! An wen? An die Zuwanderer. Und wenn immer mehr und mehr von ihnen kommen? ´Deutschlands Grenzen sind nicht aus Gummiband`, hat jemand auf der Veranstaltung der islamischen Gemeinde gesagt. Er hat Recht. Eines Tages haben wir hier die ersten Slums in unserer Stadt.“
„Für die nächste Demo habe ich ein Plakat gemalt: ´Erst wir, dann die anderen!`“, fügte Frau Bertram schmallippig hinzu.
„So soll es sein!“, bekräftigte ihre Freundin. „Die lachen sich tot über uns. Die ganze Welt lacht über uns. Ha, ha, die Deutschen, denen kann man das Fell über die Ohren ziehen. Sie sagen auch noch ´Danke` dafür. So was wurmt mich.“
Frau Torval horchte nach draußen. „Lucie?“
„Hallo, bin wieder da.“ Lucie schaute kurz herein und verschwand oben in ihrem Zimmer. Sie hörte noch, wie Frau Bertram unten sagte, dass viele der abgelehnten Asylbewerber nicht abgeschoben werden könnten, weil sie vorher untertauchen würden. Das versetzte ihr einen großen Schrecken. Der Weg zur Musikschule führte sie immer durch einen Park. Sie stellte sich vor, dass sich dort enttäuschte, gejagte Asylbewerber auf der Flucht hinter den Büschen verstecken und ihr auflauern könnten. Um dort nicht mehr entlanggehen zu müssen, beschloss sie, den Gitarrenunterricht von heute auf morgen aufzugeben.
Mit Beginn des neuen Schuljahres erschien eine neue Schülerin in der Klasse. Sie stellte sich als Yasmin vor, hatte eine bronzefarbene Haut und trug ein helles Kopftuch aus beigefarbener Seide, das sie auch im Unterricht nicht ablegte, und das die Haare, den Hals und die Brust bedeckte.
Lucie fiel auf, dass Ina an diesem Morgen stumme Grimassen schnitt, die ganz ungewöhnlich an ihr waren, als litte sie unter krampfartigen Gesichtsschmerzen, vielleicht einer plötzlich aufgetretenen Neuralgie. Sie betrachtete sie eine Zeitlang aufmerksam von der Seite. „Alles okay, Ina?“
Ina kniff die Augen zusammen und zog ein schiefes Gesicht. Lucie vermutete, dass es Ina nicht passte, dass die Neue ein Kopftuch trug und ihre Abneigung gegen sie nur auf diese Weise ausdrücken konnte.
Sie erfuhren, dass Yasmin mit ihren Eltern aus Pakistan gekommen sei. Dort habe man ihre Familie aus religiösen Gründen mit dem Tode bedroht, der Grund für ihre Flucht.
Dorit betrachtete Yasmin eine Zeitlang und fragte dann unvermittelt: „Wie fühlt man sich in so einem Kopftuch bei diesen Temperaturen, Yasmin?“
„Ich habe kein Problem damit. Das Kopftuch hält sogar die Hitze ab. Es ist ja aus Seide. Sehr angenehm“, gab Yasmin ohne Scheu zur Antwort.
„Also, ich würde ja damit ersticken“, sagte Dorit.
Einige Tage später versammelten sich nach dem Unterricht mehrere Mädchen aus der Klasse hinter dem Schulgebäude, banden sich von zu Hause mitgebrachte Kopftücher und Schals um, die sie so tief wie möglich ins Gesicht zogen, dass nur noch die Nasen zu sehen waren, und umringten, einstimmig wie selten, als sie ahnungslos auftauchte, Yasmin unter dumpfem Gejohle: „Huhuhuhu“. In die Enge getrieben, fuhr sie erschrocken zurück, wollte sich eingeschüchtert an ihnen vorbeidrücken, aber sie versperrten ihr den Weg, weigerten sich, den lachenden Menschenring zu lockern. „Du bist hier in Deutschland und nicht in deinem Land. Hier brauchst du das Kopftuch nicht!“, klärte Ina sie auf.
„Aber ohne mein Kopftuch fühle ich mich nicht angezogen. Ich mag ohne mein Kopftuch nicht auf die Straße gehen“, antwortete Yasmin mit flehender Stimme.
„Du musst dich hier anpassen“, zischte Dorit ihr zu.
„Ich bin Muslimin. Das Kopftuch gehört zu meinem Glauben. Lasst mich vorbei.“
„Warum nimmst du nicht am Sportunterricht teil, Yasmin?“, fragte Lucie mit schiefem Blick. „Wir müssen uns abrackern und du erscheinst nicht mal.“
„Ich bin vom Sportunterricht befreit“, antwortete Yasmin finster.
„Warum?“, fragte Ina grob.
„Aus religiösen Gründen!“
„Das finde ich aber sehr ungerecht“, rief Dorit gekränkt. „Wir schwitzen und du kannst gemütlich nach Hause gehen und dich darüber lustig machen, wie wir uns abquälen müssen.“ Sie ließ ihren Blick aufrührerisch in der Runde umherwandern. „Kinder, ich trete zum Islam über. Dann kann ich mich auch vorm Sportunterricht drücken.“
Yasmin erklärte, dass sie aber von ihren Eltern die Erlaubnis hätte, am Schwimmunterricht teilzunehmen. „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue.“
„Aber zum Kopftuchtragen zwingen sie dich“, knurrte Dorit.
„Ich trage das Kopftuch, weil ich es tragen will. Ohne Kopftuch würde mir etwas Wichtiges fehlen. Und bitte, sprüht nicht mehr Parfum drauf.“
„Das haben wir gar nicht getan“, widersprach Ina.
„Doch, ich habe es gemerkt. Warum hasst ihr mich? Bloß, weil ich mich anders kleide als ihr? Ich will nur selbst entscheiden, was ich anderen von mir zeige.“
„Bist du auf beiden Augen blind? Hast du wirklich noch nicht begriffen, wie frauenfeindlich der Islam ist?“, fragte Dorit.
„Nicht der Islam ist frauenfeindlich, sondern die Männer sind frauenfeindlich.“
„Hast du gar keine Angst, dass deine Eltern dich mit einem Mann verheiraten, den du nicht liebst? Etwa mit deinem Cousin oder deinem Onkel?“, fragte Ina kalt.
Yasmin wurde rot unter ihrer Bronzehaut und entgegnete mit einem schießenden Blick: „Nein! Überhaupt nicht!“
„Warte nur ab!“, warf Lucie kinnhebend dazwischen.
„Ich darf heiraten, wen ich will“, fügte Yasmin mit patzig verzogenen Lippen hinzu.
Ina wollte sie auf die Probe stellen. „Komm doch am Freitagabend mit uns in die Disco, Yasmin.“
Yasmin ließ einen langen Blick auf ihr ruhen. „Das erlauben meine Eltern nicht. Ich darf nachts nicht alleine durch die Straßen laufen. Es ist zu gefährlich.“
Lucie lachte überlegen. „Siehst du, du musst nämlich doch machen, was deine Eltern sagen. Wir haben es längst gewusst.“
Die Mädchen lockerten ihre Mauer um Yasmin. Das Gespräch fing an, sie zu langweilen. „Yasmin, vergiss nicht, morgen zum Schwimmunterricht zu kommen!“
Die Mädchen kamen aus den Umkleidekabinen in ihren eng anliegenden Lycra-Badeanzügen, in modisch schwarzem Glanz die meisten.
„Umziehen, Yasmin!“, rief Lucie ihr zu, als Yasmin in der Halle erschien.
„Ich schwimme mit meinem Burkini“, antwortete Yasmin. „Der ist genauso schick wie eure Badeanzüge und aus genau dem gleichen Stoff.“
Lucie ließ stirnrunzelnd einen verdutzten Blick an ihr hoch- und runtergleiten. „Das ist doch kein Badeanzug! Das ist eher ein Hausanzug, würde ich sagen, ein ganz normaler Zweiteiler für zu Hause. Wie heißt das Ding noch mal?“
„Burkini. Zusammengesetzt aus Burka und Bikini. Die Badebekleidung für muslimische Frauen. Die Frauen, die beim Schwimmen den Burkini tragen, folgen einfach nur ihrer Religion.“
„Damit willst du schwimmen lernen? Mit so einem Ding gehst du glatt unter, sage ich dir.“ Sie warf einen kurzen Blick auf Yasmins Kopf. „Willst du im Wasser etwa auch noch die Kapuze auflassen?“
Yasmin schien sehr erstaunt. „Ja, natürlich! Die gehört ja dazu. Mein Haar muss auch im Schwimmbad vollständig bedeckt sein. Ich bin doch auch im Schwimmbad Muslimin und nicht nur auf dem Schulhof oder auf der Straße. Im Alltag trage ich das Kopftuch, beim Schwimmen den Burkini.“
„Du wirst absaufen mit dem ganzen Stoff drum herum. Der saugt sich voll und zieht dich runter, das prophezeie ich dir“, beharrte Lucie aufgeregt.
Dorit trat zu ihnen. „In einem Freizeitanzug und aufgesetzter Kapuze darf man nicht ins Schwimmbecken, egal, ob Muslimin oder nicht“, erklärte sie mit scharfem Blick. „Du wirst schon sehen, sie lassen dich nicht ins Wasser.“
Lucie, Dorit und einige andere Mädchen steckten die Köpfe zusammen. Frau Weigemüller, die Sportlehrerin, erschien in der Halle. Lucie, gefolgt von einigen Mädchen, eilte ihr entgegen. „Yasmin will in diesem Straßenanzug ins Schwimmbecken. Jemand hat erzählt, ihr Vater soll zu Hause einen Hammel geschlachtet haben. Und wenn sie in der Nähe war, in genau diesem Anzug? Das ist eklig. Wenn Yasmin damit ins Becken darf, gehe ich jedenfalls nicht rein.“
„Geh dich umziehen, Yasmin!“, rief Frau Weigemüller ihr streng zu.
„Ich darf nur im Burkini schwimmen“, antwortete Yasmin schüchtern.
Der Bademeister näherte sich. „Damit kannst du nicht ins Wasser. Zieh dir einen normalen Badeanzug an wie die anderen!“
„Ich folge nur den Geboten meiner Religion“, versetzte Yasmin leise.
Die Sportlehrerin und der Bademeister blieben bei ihrem Standpunkt und ließen sie nicht ins Schwimmbecken, wo schon die anderen Mädchen herumtobten und einander johlend bespritzten.
„Am Ende kommt noch jemand im Mantel hier an und will ins Becken“, brummte der Bademeister verärgert und zog sich wieder in seinen Aufsichtsraum zurück.
Die Sportlehrerin entschied: „Das ist ein Fall, der höheren Orts entschieden werden muss. Bis dahin musst du dem Schwimmunterricht fernbleiben.“
Wie es sich wohl anfühlte, auf der Straße mit einem Kopftuch herumzulaufen? Ina und Lucie kauften sich hell glänzende Kopftücher, solche wie Yasmin sie trug, die Haare, Hals und Brust bedeckten. Nur Dorit wollte keins. „Nach außen hin stellt sich mein Vater demonstrativ vor die islamische Gemeinde und sagt, er sei für den Bau der Moschee, um nicht in die rechte Ecke gestellt zu werden.
Zu Hause redet er ganz anders und fürchtet sich vor der massenhaften Zuwanderung, warnt mich sogar davor, mich mit den Fremden einzulassen. Vielleicht hat er Angst, ich könnte ihm eines Tages einen Moslembruder als Schwiegersohn präsentieren.“
Ina und Lucie aber beschäftigte nur die Frage, wie sich so ein Kopftuch anfühlte, eines, wie Yasmin es besaß, innerlich und äußerlich. Um sich darüber Klarheit zu verschaffen, verabredeten sich beide zu einem Rundgang durch die Stadt. Mal sehen, was passieren würde! Beide setzten sich die Kopftücher auf und begutachteten einander vorm Spiegel von allen Seiten.
„Bei dir ist noch der Haaransatz zu sehen, Ina“, bemängelte Lucie. „Du musst das Kopftuch noch viel tiefer in die Stirn ziehen. Kein Härchen darf mehr hervorlugen.“
Ina zog es bis knapp über die Augen. „Besser?“
Zufrieden mit ihrer Verkleidung - kein Härchen war zu sehen -, klatschten sie zum Start aufgeräumt die Hand gegeneinander und zogen erwartungsvoll los ins unbekannte Abenteuer der fremden Religion.
Am Abend berichtete Lucie ihrer Mutter von dem Streifzug durch die Stadt als selbsternannter Muslimin auf Zeit. „Es war sehr ambivalent. Alles in allem sehr aufschlussreich und ganz unterschiedlich. Die einen reagierten so, die anderen so. Ganz viele muslimische junge Männer tauchten auf einmal auf, aus allen Richtungen, als hätten wir sie mit unserem Kopftuch regelrecht angelockt. Das Kopftuch: die Blüte und die Männer: die Bienen. Sie verschlangen uns förmlich mit ihren Blicken. Ich möchte bloß mal wissen, wo die alle auf einmal so schnell hergekommen sind. Die Kopftücher mussten ihre Aufmerksamkeit erregt haben. Noch nie haben wir uns so begehrt gefühlt. So viele Verehrer interessierten sich plötzlich für uns, so viele, wie nie zuvor, alle sehr männlich mit tiefschwarzen Haaren. Die wollten bestimmt mit uns anbandeln. Mensch, haben wir uns toll gefühlt, richtig geschmeichelt! Aber, dann: Deutsche, genauer gesagt, ältere deutsche Frauen: Wenn Blicke töten könnten, dann stände ich jetzt hier nicht. Die hätten uns am liebsten erwürgt. Den Eindruck hatte ich jedenfalls. Es war schon krass. In ihren Augen spiegelte sich blanker Hass. Ich habe mich vor mancher schnell weggeduckt, aus Angst, dass sie im nächsten Moment unverhofft ausholen und mir frontal ins Gesicht schlagen würde. Ich möchte wirklich kein Kopftuchmädchen sein hier bei uns. Ich würde mich unsicher fühlen. Ich hätte einfach Angst.“
Ina berichtete später ihrer Mutter Ähnliches: „Ich habe diesen Kick genossen, mal was ganz Verrücktes zu tun. Vorher nicht wissen, was dabei rauskommen würde. Sobald die jungen muslimischen Kerle auch nur von hinten ein Kopftuch sehen, schlägt bei denen oben der Blitz ein. Sie sind wie unter Strom gesetzt, wie vom Schlag getroffen, elektrisiert. Wir mussten regelrecht flüchten vor ihnen. Jetzt waren also mal wir die Flüchtlinge.“
Am nächsten Tag fiel den Mädchen auf, dass sich einer von ihnen vor dem Schultor herumdrückte. „Schau mal, wie sehnsüchtig der guckt. Er sucht uns und kann uns ohne Kopftuch nicht finden. Ich kriege richtig Mitleid mit ihm“, prustete Lucie, „so enttäuscht und traurig ist sein Gesicht, weil er uns nicht finden kann.“
Lucie gestand ihren Eltern beim Abendbrot, dass ihr an diesem Tag die Klassenlehrerin einen Eintrag ins Klassenbuch verpasst hatte. „Weil ich Yasmin, die in der Reihe vor mir sitzt, das Kopftuch zwei Mal von hinten heruntergezupft habe. Ich wollte sie nur ein bisschen ablenken. Sie ist immer so betont bei der Sache, will sich ja kein Wort entgehen lassen. Es muss sich komisch für sie angefühlt haben, einen Moment lang so ´nackt` dazusitzen. Da habe ich gesehen, dass sie ganz starkes schwarzes, langes Haar hat wie meine frühere Käthe-Kruse-Puppe. Wenn ich doch auch so schönes Haar hätte! Ich beneide sie glühend darum.“ Sie seufzte und ließ ihre Finger durch ihre blonden schulterlangen Strähnen gleiten. „Sie darf mit ihrem Freizeitanzug nicht ins Schwimmbad. Das hat der Schuldirektor entschieden.“
Ihre Sätze prallten an ihren Eltern ab wie Hagelkörner an der Windschutzscheibe, denn deren Gedanken kreisten nur noch um die unterschwellig umlaufende Frage, was zu tun sei, wenn das Bürgerbegehren gegen den Moscheebau von der Stadtverwaltung abgeschmettert werden würde. In diesem Fall musste man sehr schnell ein weiteres Ass aus dem Ärmel ziehen können. Gab es überzeugende Alternativen? Die abendlichen Unterhaltungen quollen über von allen möglichen Vorschlägen. Da kam Herrn Torval eine hoffnungsvolle Idee. Er schlug im Falle des Scheiterns des Bürgerbegehrens vor, als Ersatz eine Petition in den Landtag einzubringen. „Der Text dafür muss sorgfältig formuliert werden. Alles hängt einzig und allein von einer geschickten Formulierung ab. Wir besprechen es heute Abend in Bertrams Hotel. Ich rufe ihn gleich an und hole einige aus der Partei für unser Land dazu. Die kennen sich aus in solchen Dingen.“
In den Sommerferien saß Edgar Torval jeden Tag mit seinem Freund Sandro Bertram vor dem Computer. Seine Schwester schüttelte schon den Kopf darüber. „Ihr klebt ja an dem Ding wie an eurem Leben. Andere Jungs gehen zum Fußballspielen oder auf den Tennisplatz.“
„Wieso bist du heute zu Hause?“, fragte Sandro. „Du bist doch sonst an diesem Tag in der Musikschule.“
Edgar lachte. „Sie wittert hinter jeder Mauer einen Terroristen, der sie umbringen will. Aus Angst hat sie deshalb den Musikunterricht hingeschmissen. Unsere Mutter ist ziemlich enttäuscht darüber. Sie hält Lucie doch für ein so vielversprechendes musikalisches Talent.“
Lucie schnaubte verächtlich. „Blödmann.“
„Du solltest den Gitarrenunterricht wieder aufnehmen, Lucie“, meinte Sandro.
Edgar rief die Website der Partei für unser Land auf.
Seine Schwester schaute ihm über die Schulter. „Haben denn schon viele Leute für das Bürgerbegehren gestimmt?“, wollte sie wissen.
Sandro strahlte. „Schon ganz viele haben sich in die Liste eingetragen. Meine Mutter kennt die Zahlen. Die nötigen Tausendfünfhundert haben wir bald zusammen. Es herrscht ein riesiges Interesse.“
Edgar drehte eine Wasserflasche auf und nahm einen langen Schluck.
Lucie riss ihm unvermittelt die Flasche aus der Hand. „Was fällt dir ein, dir immer meine Wasserflaschen untern Nagel zu reißen! Ganz nebenbei: In die ist mir heute früh beim Trinken meine Pille reingerutscht.“
Edgar wurde bleich.
Sandro brach in schallendes Gelächter aus und knuffte Edgar gegen die Schulter. „Hahaha, Edgar, du machst gerade eine Geschlechtsumwandlung durch. Denk dir schon mal einen hübschen Mädchennamen aus. Wie wär`s mit Anja oder Bettina?“
Edgar war nicht zum Scherzen zumute. Er griff sich an die Kehle, als stände er kurz vor dem Erstickungstod.
Sandro bekam nun auch Angst, betrachtete ihn sorgenvoll, puffte ihn in die Seite und zischte ihm zu: „Steck den Finger in den Hals!“
Edgar sprang auf, die Hände vor den Mund gepresst, und stürzte unter gefährlichem Röcheln ins Bad. Die anderen hörten, wie er sich erbrach.
Lucie hielt sich kichernd die Hand vor den Mund. „In der Flasche war natürlich gar keine Pille. Mir geht schon lange auf den Keks, dass er sich immer an meinen Wasserflaschen vergreift. Ein kleiner Denkzettel kann da nicht schaden.“ Sichtlich zufrieden mit ihrer Inszenierung beugte sie sich über Sandros Schulter, um die Seite der Partei für unser Land näher zu studieren. Angelockt von dem Feld, auf dem man aufgefordert wurde, seine Stimme für das Bürgerbegehren abzugeben, trug sie, vor selbstvergessenem Eifer die Zungenspitze am Mundwinkel wetzend, ihre Personalien ein. Zufrieden richtete sie sich auf. Aber warum hob sich auf einmal alles ab von ihr? Vor Schreck warf sie die Hände um den Leib, um das Kleid bei sich zu halten, das sich ihr im nächsten Moment zu Füßen werfen wollte. „Sag mal, bist du verrückt geworden? Was soll denn das? Soll ich etwa in Slip und Unterhemd hier herumlaufen? Mach mal schnell den Reißverschluss hinten wieder zu!“
Im Bad war ihr Bruder hörbar noch immer mit dem Ausstülpen seines Mageninhalts beschäftigt.
Betont langsam, übermäßig gefühlvoll, die Wange neben ihrem Ohr, zog Sandro den Reißverschluss ihres Kleides hoch. „Du und ich: Wir würden ein richtig schönes Paar abgeben. Ich werde später mal das Hotel von meinem Vater übernehmen. Da könntest du mit einsteigen. Natürlich nur, wenn du mich heiratest. Wir würden so ein schönes Paar abgeben! Meine Eltern fänden das auch super.“
Lucie stieß ihn ungehalten zurück und beendete selber das Schließen ihres Reißverschlusses. „Bist du immer so melodramatisch? Diese sentimentale Seite an dir kenn ich ja noch gar nicht. Und das hier lässt du in Zukunft bleiben! Verstanden?“
Edgar kam zurück, kreidebleich, mit einem gekränkten Blick auf seine Schwester. „Du hast mich ja angeschwindelt, du gemeines Luder!“
Sandro grinste. „Gratulation! Du bleibst uns also als Edgar erhalten und wirst nicht Bettina. Oh, da fällt mir ein: Die Demo gegen die Moschee findet am nächsten Donnerstagnachmittag vor dem Dom statt. Geplant sind regelmäßige Demos. Meine Eltern haben eine Wut, sage ich euch. Mein Vater befürchtet, dass die Touristen ausbleiben, wenn die Moschee hier gebaut wird. Nach den Ferien soll unser Protest Fahrt aufnehmen.“ Er tippte sich an die Stirn. „Wir sehen uns!“ Lucie warf er mit gespitzten Lippen zum Abschied eine schmatzende Kusshand zu. Sie sah ihm mit einem finsteren Blick hinterher und dachte verächtlich: Den heiraten! Da weiß ich noch was Besseres.
Die Mädchen hielten aufgerollte Plakate hoch. Auf dem einen brüllte in breitschultrigen Lettern: „Kein Kalifat in unserem Land!“ Auf dem anderen: „Wir haben Angst vor dem Islam“.
„Jetzt brauchen wir noch ein Plakat für dich, Dorit“, meinte Ina. „Wem fällt noch was ein?“
Alle drei überlegten eine Zeitlang. Verschiedene Vorschläge machten die Runde: „Islamisten raus aus Deutschland!“, „Keine Rückkehr ins Mittelalter!“ „Gleichberechtigung der Geschlechter! Frauen und Männer sind gleich wert!“ „Kein Verschleierungsgebot in unserem Land!“
„Ich werde schon noch was Passendes finden, etwas, was man nicht so schnell vergisst“, versprach Dorit augenzwinkernd. Sie war die handwerklich geschickteste von den drei Freundinnen, befestigte in Windeseile die Plakate griffsicher an langen Holzstielen, stellte sie in die Ecke und setzte sich zu den beiden anderen an den Küchentisch.
Lucie goss Limonade in Gläser, riss eine Keksschachtel auf und verteilte verschiedenes Knuspergebäck auf einem Teller. „Etwas Positives haben die Ferien gebracht: Ich kann jetzt endlich gut schwimmen, habe keine Angst mehr vorm tiefen Wasser.“
„Richtig, ihr seid ja ans Mittelmeer gefahren“, bemerkte Dorit. „Habt ihr auch die vollen Schlauchboote mit den vielen Schwarzen gesehen, die jeden Tag aus Afrika übers Mittelmeer nach Europa kommen?“
„Nein, aber, was ich euch jetzt erzähle, darf keiner erfahren, nicht mal meine Mutter. Ich war im Freibad, hier bei uns in Domstadt, mit meiner Schwimmhilfe. Mit sechzehn! Eine Schande! Ich weiß es ja. Aber es hatte psychische Gründe. Und wie ich durchs Becken pflüge, immer schön langsam, da höre ich auf einmal Gelächter um mich herum. Und wie ich mich umsehe, bin ich umringt von lauter jungen Typen, dem Aussehen nach Südländer. Die machten sich über meine Schwimmhilfe lustig und gaben mir zu verstehen, dass ich sie abmachen soll. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte viel zu viel Angst ohne das Ding. Aber da hättet ihr die Typen mal erleben sollen. Richtig energisch wurden die: ´Abmachen!` Da konnte ich schließlich nicht anders, als sie am Beckenrand abzustreifen. Ich stürze mich danach also wieder in die Fluten, diesmal ohne, und da stelle ich fest: Mensch, das Wasser trägt mich! Mann, war ich glücklich! Absaufen wäre sowieso nicht möglich gewesen, dazu waren zu viele von den Jungs im Becken. Die hätten mich ganz bestimmt wieder hochgezogen.“ Sie ließ ein kurzes Lachen vernehmen. „Ich möchte annehmen, dass sie selber alle Nichtschwimmer waren. Warum sonst standen sie im Nichtschwimmerbecken rum?“
„Die haben dich nicht betatscht?“, fragte Ina mit spitzem Lächeln.
„Nein! Ehrenwort! Es hat sich keiner von ihnen unter Wasser an mich rangemacht. Sie alle wollten, als ich aus dem Becken stieg, nur eins: mich heiraten. So viele Heiratsanträge auf einmal!“ Sie lachte wieder. „Ich glaube, ohne die hätte ich nicht mehr schwimmen gelernt.“
„Uns ist vielleicht was passiert“, schnaufte Dorit auffahrend. Die Erinnerung daran ließ sie sichtlich erschauern. „Wir juckeln ganz gemütlich auf der Autobahn in Richtung Norden nach Hause, meine Mutter auf dem Beifahrersitz eingenickt, und ich hinten auf der Rückbank. Ich glaube, es war kurz hinter Ulm. Da brüllt mein Vater auf einmal los: ´Der Tank ist gleich leer. Ich hab vorhin versäumt, die Tankstelle anzufahren.` Meiner Mutter und mir fuhr der Schreck in die Glieder. Wir sahen uns schon am Randstreifen das Auto schieben, bei der Gluthitze. Uns zitterten die Ohren. Mit stotterndem Motor schafften wir es gerade noch bis zum nächsten Rastplatz. Dort gab es aber keine Tankstelle. Meine Mutter rang die Hände. Kinder, ich dachte, die springt aus dem Wagen, macht jeden Moment die Fliege. Mein Vater und ich stiegen aus und bettelten die anderen Autofahrer auf dem Rastplatz, einen nach dem anderen, um ein paar Liter Benzin an, um damit bis zur nächsten Tankstelle zu kommen. Es waren alles Deutsche, so, wie wir auf der Heimreise aus dem Süden. Keiner war bereit, uns zu helfen. Alle lehnten ab. Meinem Vater rann der Schweiß von der Stirn. Er war nahe daran, die Fassung zu verlieren. Ich sah ihn zum ersten Mal in meinem Leben zittern. Da fuhr ein Auto auf den Rastplatz mit einem Schwarzen drin. Ich sah, wie mein Vater auch ihn anbettelte. Der Schwarze stieg aus, als Einziger, und holte einen Schlauch aus seinem Kofferraum. Er steckte das eine Ende davon in den Tank seines Autos und das andere Ende in seinen Mund. Stellt euch vor: Er saugte auf diese Weise das Benzin aus seinem Tank an. Mein Vater rief, er solle damit aufhören, er würde sich ja vergiften. Da nahm der Mann das Schlauchende aus seinem Mund und steckte es in den Tank unseres Autos. Man hörte richtig, wie das Benzin aus dem Tank des Mannes in unseren reingluckerte. Der Schwarze war wirklich der Einzige, der bereit war, uns zu helfen. Den hat uns der Himmel geschickt. Mein Vater hat ihn gut bezahlt. Er war so glücklich, dass der Mann ihm geholfen hat. Mit dem Inhalt kamen wir bis zur nächsten Tankstelle. Mir schlottern noch heute die Glieder bei dem Gedanken daran.“
Ina lachte. „Noch mal Glück gehabt.“
„Leute, macht euch auf was gefasst. Die Solis setzen zum Mobilmachen an, haben eine Gegendemo angekündigt. Es verspricht, spannend zu werden“, begrüßte Sandro die Geschwister Torval. Sie machten sich auf den Weg in die Innenstadt zur Anti-Moschee-Demo, jeder ein Plakat unterm Arm.
Vor dem Rathaus in Domstadt versammelten sich immer mehr Moscheegegner. Es mochten mehrere Hundert sein. „Nein zur Moschee in Rosenbach!“ stand ohne Umschweife und wenig einfallsreich auf Sandros Transparent, dafür die Schrift in knallroter Farbe. Dorit hatte in letzter Minute auch noch eines für sich erfunden. Es lautete: „Islam heißt Unterwerfung!“ Weiter hinten Plakate, die über den Köpfen der Teilnehmer wankelmütig hin- und herschwappten oder prophetisch drohend zwischen zwei Stielen flatterten. „Der Islam gehört nicht zu Deutschland!“ war auf mehreren zu lesen. Eine sehr alte Frau hob mit abgemagerten, faltigen Armen mühsam das Schild mit dem handschriftlich aufgemalten Text: „Ich suche meine Heimat - Heimat, Freiheit, Tradition!“ über den grauen Kopf und musste es aus Schwäche immer wieder senken, immer abwechselnd anheben und senken, als wollte sie damit jemandem zuwinken. So konnte es nicht in Vergessenheit geraten. Anwesend sein, ein Zeichen setzen, Zugehörigkeitsgefühle einsammeln, dem Heimatbewusstsein auf die Sprünge helfen. „Aufklären statt verschleiern!“, „Domstadt zeigt Gesicht!“ schoss da mahnend ins Blickfeld. „Gegen die Islamisierung unserer Heimat!“ Die Teilnehmer: Junge und Alte, alle Jahrgänge vertreten, die Älteren in der Mehrzahl.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite formierte sich vielstimmig eine Gegendemonstration. Dort durchweg junge, aber weniger Teilnehmer und Transparente mit anderer Färbung: „Kampf dem Rassismus!“, „Dem Rechtsruck in den Rücken fallen!“, „Schöner leben ohne Nazis“.
Die Demos waren angemeldet und genehmigt, daher das große Polizeiaufgebot in schwarzen Kampfanzügen und schwarz glänzenden Helmen. Ein leichter Nieselregen fiel, der den Rest von Tageslicht schluckte. In den umliegenden Geschäften und Häusern gingen schon nach und nach, fast zögernd, die Lichter an.
Der Redner der Partei für unser Land spannte seinen Regenschirm auf und trat mit einem Megafon vor die Versammlungsteilnehmer. Mehrere Rufe ertönten aus der Menge: „Nein zur Moschee in unserer Stadt!“ Er begann seine Rede mit den Worten: „Liebt ihr die herrlichen Glockenklänge unseres Doms?“ Er wandte den Kopf und wies auf den majestätischen Kirchenbau hinter ihm. „Wie lange wird es noch dauern, bis auf unserem wunderschönen Dom der Halbmond zu sehen sein wird? Wollt ihr das?“
„Nein! Widerstand! Widerstand! Widerstand!“, tönte es empört aus den Reihen der Teilnehmer.
„Nicht wir werden uns dem Islam unterwerfen, sondern der Islam in unserem Land hat sich anzupassen an unsere Werte und Normen, sonst hat er hier bei uns keine Daseinsberechtigung. Moscheen sind Brutstätten des Terrorismus. Nein zu Moscheen in Deutschland!“
Lauter Beifall ertönte.
„Viele Schmarotzer sind in unserem Land.“
„Zu viele!“, unterbrach ihn eine männliche Stimme aus dem Publikum.
„Aber es dürfen nicht noch mehr werden“, fuhr der Redner fort. „Die Überfremdung unserer Heimat mit allen Mitteln stoppen, die Blutsauger abschütteln, das ist das Gebot der Stunde, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir wollen kein Opferland, kein Beuteland sein. Diese Leute essen unser Brot und wie danken sie`s uns? Mit Kriminalität ohne Ende. Sie kommen in unser Land, aus aller Welt, aus allen Himmelsrichtungen! Und warum? Einzig und allein, um uns auszuplündern, um sich unseren schwer erarbeiteten Wohlstand unter den Nagel zu reißen, listig, dreist und schamlos. Hier bei uns siedeln, die intakte Infrastruktur in Anspruch nehmen und von unserem Fleiß profitieren. Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, das muss ein Ende haben.“
„Bravo!“ Lauter Beifall. Buhrufe und Pfiffe von der gegenüberliegenden Straßenseite. Hier und da belanglose kleinere Pöbeleien, Rempeleien am Rande zwischen wenigen.
Lucie blinzelte hinüber auf der Suche nach bekannten Gesichtern und wich verärgert Sandro aus, der ihr immerfort heimlichtuerisch vertraulich etwas ins Ohr flüstern wollte.
Mahnwachen sollten stattfinden und weitere Demonstrationen an jedem Donnerstagnachmittag. Diesmal flatterten im Anschluss an die Versammlung keine Niqab-Schwalben herum.
Die Polizisten zogen ab. In alle Richtungen stäubten die Teilnehmer auseinander. Urplötzlich war Normalität vom Himmel gefallen. Auch der Regen hatte sich unterdessen unbemerkt verträufelt. Sandro, Edgar, Lucie und Ina beschlossen, den Tag im Biergarten ausklingen zu lassen.
In der Gerbergasse kam ihnen ein Trupp großer, starker, junger Kerle entgegen, schweigend, viereckig, hoch aufgerichtet, feste stramme Besatzerschritte, geradeaus starrende, herrisch bohrende Blicke. Sie dehnten ihre Rücken über die ganze Gasse, Schulter an Schulter. Wollten die keinen durchlassen? Am Uhrengeschäft Torck prallten die Reihen aufeinander, standen sich feindselig gegenüber, einander finster musternd. Keiner wollte als Erster weichen.
„Macht Platz!“, verlangte Sandro laut.
Die gegenüber rührten sich nicht. „Ihr seid ja Rassisten“, sagte einer von ihnen herablassend.
„Was sind wir?“, entgegnete Edgar drohend. „Geht zur Seite! Sofort!“
Die gegenüber dachten nicht daran und gefielen sich darin, die Aufforderung geflissentlich zu überhören. „Wieso seid ihr zu der Demo gegangen, einer Versammlung von Neonazis, die zur Hetzjagd auf Flüchtlinge aufgerufen hat?“
„Macht euch weg!“, befahl Sandro. „Letzte Aufforderung!“
„Wir wollen mit euch reden!“, sagte ein anderer der Truppe ungerührt.
„Nein!“, schrie Edgar. „Wir reden nicht mit euch!“
„Ihr seid ja viel zu feige dazu!“, höhnte der erste, wohl der Anführer.
„Keine Diskussionen! Wir lassen uns von euch nicht beleidigen! Macht euch weg und zwar ein bisschen plötzlich!“, brüllte Sandro. Er und Edgar rückten gemeinsam abrupt gegen ihre Front vor, kalt blitzende Pioniere.
„Wir haben euch von jetzt an im Visier!“, kündigte der Anführer der Gruppe an, trat lässig mit halber Schulterdrehung zur Seite, ihnen gönnerhaft Platz machend. Die Phalanx lockerte sich auf und wurde durchlässig. Die vier strichen mit finsteren Blicken unbehelligt durch ihre bereitwilligen Lücken hindurch.
„Linker Mob“, meinte Ina verächtlich. „Die wollen uns nur einschüchtern. Denen geht`s doch gar nicht um die Sache, die suchen nur `n Anlass fürs Provozieren. So sind die Solis, unreflektierte Kommunistensöhnchen.“
Die vier bestellten sich Bier, die Jungs helles, die Mädels alkoholfreies.
„Diese islamische Gemeinde gibt sich nur als Reformbewegung aus“, bemerkte Edgar. „Wir haben uns über ihre Ziele informiert. Die ist genauso fundamentalistisch wie alle anderen islamischen Religionsgemeinschaften, eine abgeschottete Sekte, die einzig und allein das Ziel verfolgt, den politischen Islam zu verbreiten. Für die ist der Islam die einzig wahre Religion. Sie unterteilen die Welt in Gläubige und Ungläubige. Sie sind die guten Gläubigen und die anderen die bösen Ungläubigen.“
„Die Frauen müssen die Männer um Erlaubnis fragen, wenn sie etwas ihre Person Betreffendes entscheiden wollen“, fügte Lucie hinzu. „Wenn jemand aus der Familie ausbrechen will, für den gibt es keine Gnade. Vorehelicher Sex wäre bei denen das Todesurteil, natürlich nur bei den Töchtern.“
„Dort muss der Cousin die Cousine heiraten, die Eltern verlangen das, so dass die Mitglieder gleich von Anfang an in der Gemeinschaft bleiben und keine Möglichkeit haben, ein Leben außerhalb dieser Gemeinschaft anzufangen“, ergänzte Ina. „Das hat eines ihrer ehemaligen Mitglieder einem Journalisten gesteckt. Der hat es öffentlich gemacht.“
„Und sie wollen unentwegt Moscheen bauen und die Welt erobern“, meinte Sandro mit gekniffenen Lippen.
Es entstand eine Pause.
Edgar lachte. „Wir sollten uns im Gemeinschaftskundeunterricht überlegen, wie es erreicht werden kann, dass die Kinder in Afrika nicht mehr hungern müssen. Da hat der baumlange Reichelt allen Ernstes vorgeschlagen, man sollte den Männern in Afrika kleine Transistorradios um den Hals hängen, damit sie mal auf einen anderen Gedanken kämen, als immerzu Kinder zu machen.“ Alle lachten. „Die aberwitzigsten Vorschläge wurden da gemacht, echt.“
Nach einer Weile bemerkte Sandro: „Bei uns zu Hause ist dicke Luft. Meine alten Herrschaften haben ziemlichen Zoff miteinander. Mein Vater will einen pakistanischen Flüchtling als Auszubildenden einstellen. Der hat ein Bleiberecht.“
Die anderen horchten auf.
„Unsere Moscheebauer kommen ja auch aus Pakistan“, erinnerte sich Lucie.
„Wahrscheinlich ist er auch Mitglied der islamischen Gemeinde.“
„Meine Mutter ist auf neunzig“, polterte Sandro. „ Die will auf keinen Fall Muslime im Ort und erst recht nicht im Hotel haben. Der Haussegen hängt gewaltig schief. Seit kurzem knallen nur noch die Türen bei uns.“
„Die anderen Angestellten bei deinem Vater im Hotel sind keine Ausländer?“, fragte Ina.
„Keine Muslime“, entgegnete Sandro. „Die sind teils aus EU-Staaten, teils aus Asien: Pavel, der Koch, stammt aus Tschechien, Andrej kommt aus Polen, Li aus Südkorea. Die findet meine Mutter ganz okay. Aber ausgerechnet einen Muslim? Mein Vater sagt, er würde kein deutsches Personal kriegen. Viele wollen am Wochenende frei haben und auch nicht abends oder bis spät in die Nacht rein arbeiten. Und viele gehen lieber auf die Uni als eine Hotelausbildung zu machen.“ Er hob sein Bierglas und nahm einen Schluck: „Bin mal gespannt, wer sich von beiden durchsetzt.“
Die Mädchen tranken ihre Gläser aus, zahlten und verabschiedeten sich. Sie brauchten ein Geburtstagsgeschenk für Dorit.
Ina stieß Lucie an. „Du, ich hab `ne Idee. Wir schenken ihr was für ihre persönliche Sicherheit: eine Pfefferspraypistole. So ein kleiner Bodyguard ist heute wichtiger denn je. Das ist genau das richtige Geschenk in unsicheren Zeiten wie jetzt. Ich weiß, wo ein Waffengeschäft ist, in der Isoldenstraße ist eines.“
Stolz, in mehreren Reihen übereinander drapiert, präsentierten sich im Waffengeschäft die Rüstungen der scharfen Pistolen und ihre dunkel drohenden Mündungen. Protzig machohaft, mit einschüchterndem Imponiergehabe, boten sie sich an zu Schutz und Sicherheit oder vielleicht noch zu was anderem, Schlimmerem? Spähend blitzten sie den Betrachter an aus der Kälte ihres Metalls, stumm auf sein Urteil lauernd. Ihr Versprechen: „Mit mir, deinem Begleiter und Beschützer in der Tasche, kann dir gar nichts mehr passieren. Du brauchst jetzt vor niemandem mehr Angst zu haben.“
„Die sind aber schwer“, staunte Lucie, als sie eine in die Hand nahm.
Ina wiegte eine andere, kleinere in der Hand. „Die hier ist auch ziemlich schwer. Aber damit würde man sich draußen sehr viel sicherer fühlen, besonders in den Abend- oder Nachtstunden, wenn man da mal unterwegs ist.“
„Seid ihr denn überhaupt schon volljährig?“, fragte der Verkäufer.