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Der neue herzergreifende, wunderbar komische Roman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Sophie Kinsella.
Sasha braucht eine Auszeit. Ihr stressiger Job raubt ihr jede Energie, sie hat keine freie Minute für sich, von der Liebe ganz zu schweigen. Also reist sie an die englische Küste, in jenen kleinen Ort, in dem sie als Kind immer die Ferien verbrachte. Doch nun ist es Winter, das einst luxuriöse Hotel »The Rilston« ist mittlerweile sichtlich heruntergekommen, und es gibt nur noch einen weiteren Gast: den mürrischen Surfer Finn. Sasha lässt sich nicht entmutigen und sucht bei Smoothies und Yoga am Meer nach neuer Kraft und innerer Ruhe. Doch wie soll sie die finden, wenn Finn ihr ständig über den Weg läuft? Als dann auch noch rätselhafte Botschaften am Strand auftauchen, sind Sasha und Finn gezwungen, miteinander zu reden – und kommen sich dabei unerwartet näher …
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Seitenzahl: 556
Buch
Die Londonerin Sasha Worth hat die Nase gestrichen voll. Von ihrem stressigen Job bei einem angesagten Start-up. Von den tausend To-dos und Mails, die täglich bei ihr aufploppen. Und davon, dass sie keine Zeit mehr für ihre Freunde hat und schon gar nicht für die Liebe. Also beschließt sie kurzerhand, eine Auszeit zu nehmen, und flüchtet sich an die englische Küste, in jenen kleinen Ort, in dem sie als Kind mit ihrer Familie immer wunderbare Ferien verbracht hat. Zugegeben, es ist Februar und regnerisch-kalt, aber ein paar Wochen im Luxushotel The Rilston mit ganz viel Ruhe, Strandspaziergängen und Yoga werden ihr sicher guttun. Als Sasha dort ankommt, muss sie allerdings erkennen, dass das Hotel seine besten Jahre schon eine Weile hinter sich hat. Außer ihr gibt es nur noch einen weiteren Gast: Finn, ein attraktiver Surfer, der sich jedoch ziemlich ruppig verhält. Wie soll Sasha innere Ruhe finden, wenn Finn ihr ständig über den Weg läuft oder auf einem Felsen sitzt und sie beobachtet? Als dann aber rätselhafte Botschaften am Strand auftauchen, sind Sasha und Finn gezwungen, miteinander zu reden – und kommen sich dabei unerwartet näher …
Weitere Informationen zu Sophie Kinsella sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Sophie Kinsella
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Roman
Aus dem Englischen von Jörn Ingwersen
Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Burnout« bei Bantam, an imprint of Transworld Publishers, LondonDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2024
Copyright © der Originalausgabe 2023 by Sophie Kinsella
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: © FinePic®, München
Redaktion: Kerstin Ingwersen
MR · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-29921-7V001
www.goldmann-verlag.de
Für meine Kinder:
Freddy, Hugo, Oscar, Rex und Sybella
Es sind nicht die E-Mails, die mich in Panik versetzen.
Es sind nicht mal die »Nachfrage«-Mails. (Ich frage mich, ob Sie meine letzte Mail eigentlich bekommen haben, weil Sie mir gar nicht antworten.)
Es sind die »Nachfrage-nach-der-Nachfrage«-Mails. Die mit den beiden roten Ausrufezeichen. Die Mails, die entweder genervt klingen – Wie bereits in meinen ZWEI vorherigen E-Mails erwähnt –, oder auch leicht sarkastisch Sorge heucheln – Sind Sie vielleicht in einen Brunnen gefallen oder so???
Das sind die Mails, bei denen ich so einen Druck auf der Brust spüre und mein linkes Auge zu zucken anfängt. Mein Leben wird bestimmt von rot markierten E-Mails, mein ganzesLeben. Leider habe ich vor einer Weile vergessen, eine wichtige Mail zu markieren, und deshalb ist mein Kollege jetzt genervt von mir, wenn er es auch nett formuliert: Alles okay bei dir, Sasha? Jetzt habe ich nur noch ein schlechteres Gewissen. Er ist ein netter Kerl. Vernünftig. Er kann nichts dafür, dass ich die Arbeit von drei Leuten erledigen muss und dabei manchmal den Überblick verliere.
Ich arbeite für Zoose, die Travel-App, die momentan in aller Munde ist. Zoose – Reisen ohne Blues. Das ist unsere aktuelle Werbekampagne, und die App ist wirklich super. Zoose findet auf Knopfdruck weltweit Reiserouten, günstige Ticketangebote und Prämien. Ich bin Director of Special Promotions. Der schillernde Titel hat mich zugegebenermaßen in den Job gelockt. Und die Tatsache, dass Zoose so ein aufstrebendes Start-up ist. Wenn ich von meinem Job erzähle, dann sagt jeder: »Ach, die! Kenn ich aus der Fernsehwerbung!« Und dann sagt jeder: »Cooler Job!«
Und es ist auch ein cooler Job. Auf dem Papier. Zoose ist eine junge Firma, sie wächst schnell, wir haben in unserem Großraumbüro einen Raumteiler aus Pflanzen, und es gibt kostenlosen Kräutertee. Als ich hier vor zwei Jahren angefangen habe, war ich auch wirklich froh. Jeden Morgen bin ich aufgewacht und dachte: »Was habe ich für ein Glück!« Aber irgendwann bin ich nur noch aufgewacht und dachte: »O Gott, bitte, ich kann nicht mehr, wie viele Mails warten da noch, wie viele Meetings, was habe ich übersehen, wie soll ich das schaffen, was soll ich nur tun?«
Ich bin mir nicht sicher, wann das war. Vor sechs Monaten vielleicht? Sieben? Es kommt mir vor, als wäre ich schon ewig in diesem Zustand. Wie in einem Tunnel, in dem mir nichts anderes übrig bleibt, als weiterzulaufen. Weiter und immer weiter.
Ich notiere es mir noch mal auf einem Post-it – MAILSMARKIEREN!!! – und klebe den Zettel an meinen Bildschirm, gleich neben APP??, was da schon seit Monaten hängt.
Meine Mum steht auf Apps. Sie hat eine Weihnachtsplaner-App und eine Urlaubsplaner-App und eine Uhr mit Zeitansage, die sie jeden Morgen um halb acht daran erinnert, ihre Vitamine einzunehmen. (Die App erinnert sie auch daran, jeden Abend Bodenübungen für ihre Hüftgelenke zu machen, und zitiert den ganzen Tag über »inspirierende Sinnsprüche«, was ich echt schräg und etwas übergriffig finde, aber das behalte ich lieber für mich.)
Jedenfalls hat sie bestimmt recht – wenn ich nur die richtige App finden könnte, würde sich mein Leben wie von selbst regeln. Aber die Auswahl ist so groß, und – mein Gott – die brauchen alle unglaublich viel Aufmerksamkeit. Ich habe ein hübsches Notizbuch mit farbigen Gelstiften. Man soll seine Aufgaben notieren, sie farbig markieren und der Reihe nach abhaken. Aber wer hat schon Zeit dafür? Wer hat die Zeit, sich für einen türkisfarbenen Stift zu entscheiden und zu schreiben: »Vergiss bloß nicht, die vierunddreißig wütenden Mails in deinem Posteingang zu beantworten«, um dann ein angemessen traurig dreinblickendes Emoji zu suchen. In meinem Notizbuch gibt es nur einen einzigen Eintrag, und der ist schon ein Jahr alt. Da steht: »Oberste Priorität: Anstehende Aufgaben erledigen.« Aber abgehakt wurde der Eintrag nie.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr und schrecke hoch. Wieso ist es schon 11:27 Uhr? Ich muss loslegen. Los jetzt, Sasha!
»Lieber Rob, es tut mir so leid, dass ich mich noch nicht zu dem Thema gemeldet habe. Bitte entschuldige.« Diese Worte muss ich bestimmt zwanzig Mal am Tag schreiben. »Wir planen jetzt mit dem 12. April, aber ich gebe dir auf jeden Fall Bescheid, falls sich daran etwas ändern sollte. Und was Markteinführung (Niederlande) angeht, wurde entschieden, dass …«
»Sasha!«
Ich bin dermaßen vertieft, dass ich richtig zusammenzucke, als mich eine wohlbekannte schrille Stimme aus meinen Gedanken reißt.
»Hättest du mal eine Sekunde?«
Mein ganzer Körper erstarrt. Eine Sekunde? Eine Sekunde? Nein. Ich habe keine Sekunde. Ich habe meine Bluse durchgeschwitzt. Meine Finger rattern über die Tasten. Ich muss noch Millionen dringende Mails beantworten, ich hab zu tun, ich hab keine Sekunde …
Aber Joanne, unsere Empowerment- und Wohlfühlbeauftragte steuert zielstrebig auf mich zu. Joanne ist Mitte vierzig, vielleicht zehn Jahre älter als ich, obwohl sie bei Meetings oft von »Frauen in unserem Alter« spricht und mir dann einen verschwörerischen Blick zuwirft. Sie trägt wie immer eine sportlich legere Hose, ein teures, schlichtes T-Shirt und dazu diesen missbilligenden Gesichtsausdruck, den ich nur allzu gut kenne. Ich hab mal wieder was verbockt. Aber was? Eilig überlege ich, welche Untaten ich begangen haben mag, aber mir will nichts einfallen. Seufzend höre ich auf zu tippen und drehe meinen Stuhl ein Stück in ihre Richtung. Gerade weit genug, um nicht unhöflich zu wirken.
»Sasha«, sagt sie munter und streicht ihr geglättetes Haar zurück. »Ich bin doch ein wenig enttäuscht, was deine mangelnde Beteiligung an unserem Mitarbeiterheiterkeitsprogramm angeht.«
Verdammt. Heiterkeit. Ich wusste, dass ich was vergessen hatte. Ich dachte, ich hätte mir eine Notiz an meinen Bildschirm geklebt – HEITERKEIT! –, oder ist sie mir runtergefallen? Ich sehe hin, und tatsächlich kleben da zwei Post-its am Heizkörper: HEITERKEIT! und GASRECHNUNG.
»Tut mir leid«, sage ich und gebe mir Mühe, angemessen demütig zu klingen. »Tut mir leid, Joanne. Tut mir so leid.«
Manchmal muss man zu Joanne nur oft genug »Tut mir leid« sagen, dann geht sie weiter. Heute aber nicht. Sie beugt sich über meinen Schreibtisch, und mir krampft sich der Magen zusammen. An ihrer Predigt werde ich nicht vorbeikommen.
»Asher ist deine mangelnde Beteiligung auch schon aufgefallen, Sasha.« Sie mustert mich eingehend. »Wie du weißt, liegt Asher die Heiterkeit seiner Mitarbeiter ganz besonders am Herzen.«
Asher ist unser Marketing-Chef und somit mein Boss. Außerdem ist er der Bruder von Lev, dem berühmten Gründer von Zoose. Lev ist derjenige, der die Idee für Zoose hatte. Er war an irgendeinem Flughafen gelandet, als ihm die Idee kam, und er blieb den ganzen Tag im Café vom Terminal sitzen, hat sechs Flüge nach Luxemburg verpasst, während er das erste Konzept entwarf. So zumindest geht die Legende. Ich habe gehört, wie er es bei einem TED-Talk erzählt hat.
Lev ist drahtig, charismatisch und charmant und voller Fragen. Immer wenn er mal im Büro ist, spaziert er herum – eine auffällige Gestalt mit wirren Haaren – und fragt die Leute: »Warum dies?«, »Warum das?«, »Was machen Sie?«, »Warum versuchen Sie es nicht mal so?« Bei meinem Vorstellungsgespräch hat er mich gefragt, woher ich meinen Mantel habe, wer mein Professor an der Uni war und was ich von Autobahnraststätten halte. Es war spielerisch und inspirierend.
Leider habe ich kaum noch mit ihm zu tun, sondern nur noch mit Asher, der von einem völlig anderen Planeten als Lev zu kommen scheint. Asher pflegt so einen polierten Charme, über den man sich anfangs amüsiert. Aber irgendwann merkt man, dass er eigentlich nur selbstherrlich ist, neidisch auf Levs Erfolg und hyperempfindlich allem gegenüber, was er als Kritik versteht. Was so ziemlich alles betrifft, außer: »Das ist eine bahnbrechende Idee! Asher, du bist genial!«
(In Meetings ruft Joanne bei jedem Quatsch, den er so erzählt: »Das ist eine bahnbrechende Idee! Asher, du bist genial!«)
Wie dem auch sei. Bei Asher muss man also aufpassen und genauso bei Joanne, die schon seit der Uni mit Asher befreundet ist und wie sein Wachhund herumläuft, auf der Suche nach Abtrünnigen.
»Ich unterstütze Ashers Heiterkeitsprogramm voll und ganz«, sage ich eilig und versuche, möglichst aufrichtig zu klingen. »Ich habe gestern an diesem Zoom-Vortrag von Dr. Sussman teilgenommen. Sehr inspirierend.«
Der Zoom-Vortrag von Dr. Sussman (»Abwärts kann aufwärts sein! Eine Reise zu persönlicher Erfüllung«) war für alle Mitarbeiter verpflichtend. Er dauerte zwei Stunden, in denen Dr. Sussman vor allem über ihre Scheidung und ihr anschließendes sexuelles Erwachen in einer Kommune in Croydon erzählte. Ich habe keine Ahnung, was wir daraus lernen sollten, aber weil es über Zoom kam, konnte ich nebenbei wenigstens noch etwas arbeiten.
»Ich spreche von unserem Online-Moodboard zum Thema Zielsetzungen, Sasha«, sagt Joanne und verschränkt ihre gebräunten Arme wie eine furchteinflößende Fitnesstrainerin, die einem gleich zwanzig Liegestütze abverlangen wird. (Wird sie mir gleich zwanzig Liegestütze abverlangen?) »Uns ist aufgefallen, dass du dich seit zehn Tagen nicht eingeloggt hast. Hast du denn gar keine Ziele?«
O Gott. Das verdammte Online-Moodboard zum Thema Zielsetzungen. Das hatte ich total vergessen.
»Tut mir leid«, sage ich. »Das mach ich noch.«
»Asher ist ein sehr fürsorglicher Abteilungsleiter«, sagt Joanne mit eindringlichem Blick. »Er ist darauf bedacht, dass jeder Mitarbeiter sich die Zeit nimmt, seine Ziele zu reflektieren und seine freudvollen Alltagsmomente schriftlich festzuhalten. Notierst du denn deine freudvollen Alltagsmomente?«
Ich bin sprachlos. Freudvolle Alltagsmomente? Wie könnten die denn wohl aussehen?
»Es ist doch nur zu deinem eigenen Empowerment, Sasha«, fährt Joanne fort. »Wir hier bei Zoose sorgen für dich.« Aus ihrem Mund klingt es wie ein Vorwurf. »Aber du musst auch für dich selbst sorgen.«
Im Augenwinkel sehe ich, dass während unseres Gesprächs sechs dringende Mails bei mir eingegangen sind. Mir wird ganz schlecht, als ich all die roten Ausrufezeichen sehe. Wie soll ich denn Zeit zum Reflektieren haben, wenn ich ständig in Panik bin? Wie soll ich meine Ziele niederschreiben, wenn mein einziges Ziel darin besteht, nicht den Faden zu verlieren, und mir das nicht gelingt?
»Ehrlich gesagt, Joanne …« Ich hole tief Luft. »Am meisten interessiert mich, wann Seamus und Chloe ersetzt werden. Ich habe im Moodboard nachgefragt, aber keine Antwort bekommen.«
Das ist das größte Problem. Das ist der Killer. Wir haben einfach nicht genug Personal. Chloe war eine Mutterschaftsvertretung, die genau eine Woche durchgehalten hat, und Seamus ging nach einem Monat, nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Asher. Entsprechend sind alle überarbeitet, und noch immer ist kein Ersatz in Aussicht.
»Sasha«, sagt Joanne etwas herablassend. »Ich fürchte, du hast offenbar die Funktion des Moodboards zum Thema Zielsetzungen missverstanden. Da geht es nicht um Personalfragen, es geht um persönliche Ziele und Träume.«
»Nun, mein persönliches Ziel, mein Traum wäre es, genügend Kollegen zu haben, um die Arbeit schaffen zu können!«, erwidere ich. »Wir gehen hier gerade alle unter, und ich habe schon so oft mit Asher darüber gesprochen, bekomme aber einfach keine konkrete Antwort. Er ist so ein …«
Ich bremse mich, bevor ich etwas Negatives über Asher sage, was sie ihm gleich petzt und ich dann in einem peinlichen Meeting wieder zurücknehmen muss.
»Zuckst du?«, fragt Joanne und mustert mich.
»Nein. Wieso? Zucken?« Ich fasse mir ins Gesicht. »Kann sein.«
Mir fällt auf, dass sie auf meine eigentliche Frage gar nicht eingeht. Warum machen manche Leute das? Unwillkürlich werfe ich einen Blick auf meinen Bildschirm. Rob Wilson hat eben schon wieder geschrieben, diesmal mit vier Ausrufezeichen.
»Joanne, ich muss hier weitermachen«, sage ich verzweifelt. »Aber danke für das Empowerment. Ich fühle mich schon viel … empowerter.«
Ich muss irgendwas ändern, denke ich panisch, als sie endlich geht und ich weitertippe. Irgendwas muss ich ändern. Dieser Job ist nicht, wie er sein sollte. Ganz und gar nicht. Ich war so begeistert, als ich ihn vor zwei Jahren bekam. Director of Special Promotions bei Zoose! Ich habe mich voll darauf gestürzt, habe alles gegeben und dachte, ich würde geradewegs auf eine sichere, goldene Zukunft zusteuern. Aber der Weg dorthin ist nicht mehr sicher. Er ist total aufgeweicht. Ein dicker, breiiger Morast.
Ich drücke Senden, seufze und wische mir übers Gesicht. Ich brauche einen Kaffee. Ich stehe auf, strecke mich und gehe rüber zum Fenster, um kurz frische Luft zu schnappen. Das Büro ist ganz still und konzentriert. Die Hälfte meines Teams arbeitet heute von zuhause aus. Lina ist da und tippt wie wild auf ihren Computer ein, mit den Kopfhörern fest auf den Ohren und einem mörderischen Ausdruck im Gesicht. Kein Wunder, dass Joanne sie lieber in Ruhe gelassen hat.
Soll ich kündigen? Mir einen anderen Job suchen? Aber es kostet eine solche Energie, sich einen neuen Job zu suchen. Man muss Stellenanzeigen lesen und mit Headhuntern reden und sich für eine berufliche Strategie entscheiden. Man muss seinen Lebenslauf ausgraben und sich überlegen, was man schon so geschafft hat, und sich Outfits für Bewerbungen überlegen und dann die Vorstellungsgespräche heimlich in den Arbeitstag einpassen. Man muss spritzig und dynamisch wirken, wenn man von einem furchteinflößenden Gremium befragt wird. Freundlich lächeln, wenn sie einen vierzig Minuten warten lassen, während man gleichzeitig weiß, wie sehr man mit seinem eigentlichen Job ins Hintertreffen gerät.
Und das ist nur eine Bewerbung von vielen. Wenn sie dich nicht haben wollen, fängst du wieder von vorn an. Bei der bloßen Vorstellung möchte ich mich unter meiner Decke verkriechen. Im Moment komme ich nicht mal dazu, meinen Reisepass zu verlängern, ganz zu schweigen davon, dass ich Ordnung in mein Leben bringe.
Ich lehne mich an die Scheibe, und mein Blick schweift abwärts. Unser Büro liegt an einer breiten Durchgangsstraße im Norden von London, voll gruseliger Büroklötze aus den Achtzigern, einem enttäuschenden Einkaufszentrum und – etwas überraschend – einem Kloster, direkt gegenüber. Es ist ein altes viktorianisches Gebäude, und wenn nicht hin und wieder Nonnen ein- und ausgehen würden, wüsste man nicht, dass es sich um ein Kloster handelt. Moderne Nonnen, die Jeans zu ihrem Schleier tragen und mit dem Bus Gott weiß wohin fahren. Wahrscheinlich zu Obdachlosenunterkünften, um Gutes zu tun.
Während ich so dastehe, treten zwei Nonnen angeregt plaudernd aus dem Haus und setzen sich auf die Bank der Bushaltestelle. Man muss sie sich ja nur ansehen. Die führen ein völlig anderes Leben als ich. Kriegen Nonnen E-Mails? Bestimmt nicht. Ich wette, sie dürfen nicht mal Mails kriegen. Sie müssen nicht jeden Abend Hunderte WhatsApps beantworten. Sie müssen nicht den ganzen Tag lang wütende Leute um Verzeihung bitten. Sie müssen sich nicht an Online-Moodboards zum Thema Zielsetzungen beteiligen. Sie haben völlig andere Werte.
Vielleicht sollte ich auch ein anderes Leben führen. Mir einen anderen Job suchen, eine neue Wohnung, einfach alles verändern. Man braucht nur einen Anstoß. Ich brauche ein Zeichen. Vielleicht einen Wink des Universums.
Seufzend wende ich mich ab und mache mich auf den Weg zur Kaffeemaschine. Vorerst werde ich mir mit Koffein behelfen müssen.
Um 18:00 Uhr verlasse ich das Gebäude, sauge die kalte Abendluft in meine Lunge, als wäre ich den ganzen Tag kurz vor dem Ersticken gewesen. Unsere Firma befindet sich über einem Pret a Manger, und dahin steuere ich auf direktem Weg, so wie jeden Abend.
Das Gute an Pret ist, dass man sämtliche Mahlzeiten dort kaufen kann, nicht nur mittags. Es ist nicht verboten. Und sobald einem diese Erkenntnis gekommen ist, wird das Leben machbar. Oder zumindest machbarer.
Ich weiß gar nicht, wann das Kochen so mühsam wurde. Irgendwie ist es mit der Zeit so gekommen. Inzwischen bin ich dem Aufwand gar nicht mehr gewachsen. Ich krieg es einfach nicht hin, so was wie … Lebensmittel im Supermarkt einzukaufen. Zu schälen und zu schnippeln, Töpfe rauszuholen, ein Rezept zu suchen und danach dann alles abzuwaschen. Die bloße Vorstellung erschlägt mich. Wie schaffen die Leute das jeden Tag?
Wohingegen ein Falafel-Halloumi-Wrap ein warmes, tröstendes Abendessen ist, das sehr gut zu einem Glas Wein passt. Und danach schmeißt man das Papier in den Müll.
Ich hole mir meinen Wrap, einen Schokoriegel, irgend so einen »gesunden« Dosendrink und ein Müsli – mein Frühstück für morgen – mit einem Apfel. Das sind meine »Fünf am Tag«. (Okay, mein »Einer am Tag«, wenn man es ganz genau nehmen möchte.)
Als ich an die Kasse komme, hole ich meine Kreditkarte hervor. Und ich erwarte dieselbe wortlose elektronische Transaktion, doch als ich meine Karte an das Lesegerät halte, passiert nichts. Ich blicke auf und sehe, dass der Typ an der Kasse mich freundlich anlächelt, die Augen warm und dunkel.
»Du kaufst jeden Abend das Gleiche«, sagt er. »Wrap, Müsli, Apfel, Dosendrink, Schokoriegel. Immer gleich.«
»Ja«, sage ich überrascht.
»Kochst du denn nie? Gehst du nie mal essen?«
Augenblicklich erstarre ich. Bin ich hier bei der Ernährungspolizei?
»Normalerweise muss ich noch was arbeiten.« Ich lächle angestrengt. »Deshalb.«
»Ich lerne Koch«, sagt er ganz entspannt. »Steh ich drauf. Ist doch traurig, jeden Tag das Gleiche zu essen.«
»Tja. Macht mir nichts. Ich mag das. Danke der Nachfrage.«
Ich werfe einen vielsagenden Blick auf den Kartenleser, aber der Typ scheint keine Eile zu haben, die Transaktion vorzunehmen.
»Weißt du, wie mein perfekter Abend aussehen würde?«, fragt er. »Es hätte auch mit dir zu tun.«
Seine Stimme klingt sonor und irgendwie verführerisch. Und die ganze Zeit blickt er mir tief in die Augen. Ich blinzle leicht irritiert. Was geht hier vor sich? Moment mal, baggert er mich an? Flirtet er mit mir?
Ja, tut er. Ach herrje.
Okay. Was soll ich tun?
Möchte ich zurückflirten? Wie flirtet man zurück? Wie geht das noch mal? Ich versuche, mich an meine Flirtstrategien zu erinnern. An die entspannte, lebensfrohe Version von Sasha Worth, die lächeln und was Geistreiches entgegnen würde. Aber ich habe es verlernt. Ich bin innerlich ganz leer. Ich habe keinen Spruch auf Lager.
»Wir würden über den Borough Market spazieren«, fährt er fort, ungeachtet meiner mangelnden Reaktion. »Wir würden Gemüse, Gewürze und Käse kaufen. Wir würden nach Hause gehen, ein paar Stunden mit dem Kochen verbringen, dann eine gemütliche Mahlzeit zu uns nehmen … und mal sehen, was sich daraus ergibt. Was meinst du?«
Die Fältchen um seine Augen knittern auf anbetungswürdige Weise. Ich weiß, welche Antwort er von mir erwartet. Wie soll ich ihm sagen, was ich wirklich denke?
»Ehrlich?«, sage ich, um Zeit zu schinden.
»Ehrlich.« Sein ansteckendes Lächeln wird immer breiter. »So ehrlich wie möglich. Ich habe keine Angst davor.«
»Die Wahrheit ist, dass es irgendwie anstrengend klingt«, sage ich etwas ruppig. »Das ganze Kochen. Schnippeln. Putzen. Alles voller Kartoffelschalen. Und immer fallen welche auf den Boden, und man muss sie aufwischen …« Ich sehe ihn an. »Das ist nicht so mein Ding.«
Es ist ihm anzumerken, dass meine Antwort ihn getroffen hat, aber er fängt sich gleich wieder. »Wir könnten das Kochen auch überspringen«, schlägt er vor.
»Und dann gleich zum Sex?«
»Na ja.« Er lacht mit blitzenden Augen. »Man könnte sich ja vielleicht so langsam in die Richtung bewegen.«
O Gott, er macht wirklich einen netten Eindruck. Ich sollte ganz ehrlich sein.
»Okay, das Problem mit Sex ist, dass ich momentan kein Interesse daran habe. Ich verstehe, wie sehr es in deinem Interesse wäre«, füge ich höflich hinzu. »In meinem nicht so sehr. Aber vielen Dank für das Kompliment.«
Hinter mir wird ein Stöhnen laut, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass mich eine Frau im dunkelroten Mantel entgeistert anstarrt. »Sind Sie verrückt?«, ruft sie. »Ich würde sofort mitkommen«, fügt sie heiser hinzu. »Ich würde mitkommen und mit Ihnen kochen. Und alles andere auch. Jederzeit. Ein Wort genügt.«
»Ich würde auch mitkommen!«, mischt sich ein gut aussehender Mann in der Nachbarschlange ein. »Du bist doch bi, oder?«, fügt er, an den Kassierer gewandt, hinzu, der ein entsetztes Gesicht macht und die beiden ignoriert.
»Du stehst nicht auf Sex?«, fragt der Kassierer und mustert mich neugierig. »Bist du religiös?«
»Nein, hab einfach damit aufgehört. Vor einem Jahr habe ich mich von jemandem getrennt und …« Ich zucke mit den Schultern. »Weiß nicht. Ich finde die Vorstellung eher unattraktiv.«
»Du findest die Vorstellung von Sex unattraktiv?« Er gibt ein lautes, fassungsloses Lachen von sich. »Nein, das glaube ich nicht.«
Ich spüre, wie leiser Ärger in mir aufsteigt, denn wie kommt dieser wildfremde Mann dazu, mir zu erzählen, was ich attraktiv finden darf und was nicht?
»Stimmt genau!«, erwidere ich vehementer als beabsichtigt. »Was ist denn so toll am Sex? Ich meine, mal ehrlich: Was ist Sex denn eigentlich? Man … Man …« Wild blicke ich in die Runde. »Man reibt seine Genitalien aneinander. Echt jetzt? Das soll Spaß machen? Wenn man seine Genitalien aneinanderreibt?«
Es wird totenstill im Laden, und ich merke, dass mich etwa zwanzig Leute anstarren.
Okay, ich werde mir eine andere Filiale von Pret suchen müssen.
»Ich glaube, ich würde jetzt gern zahlen«, sage ich mit brennend heißen Wangen. »Bitte.«
Der nette Kassierer sagt kein Wort, während er meine Zahlung entgegennimmt, meine Sachen in eine Tüte packt und sie mir reicht. Da sieht er mir wieder in die Augen. »Das ist traurig«, sagt er. »Eine wie du. Echt traurig.«
Seine Worte treffen mich an einem wunden Punkt. Eine wie ich. Wer ist das? Ich war eine, die flirten konnte, die Sex und Spaß haben, die das Leben genießen konnte. Wer auch immer ich jetzt sein mag, das bin gar nicht ich. Aber offenbar kriege ich es nicht hin, eine andere zu sein.
»Jep.« Ich nicke. »Ist es.«
Normalerweise nehme ich mein Abendessen mit rauf ins Büro, aber im Moment bin ich dermaßen demotiviert, dass ich lieber gleich nach Hause fahre. Kaum bin ich in meiner Wohnung, sinke ich auf einen Stuhl, noch im Mantel, und schließe die Augen. Jeden Abend, wenn ich hier reinkomme, fühle ich mich, als hätte ich einen Marathon absolviert und dabei einen Elefanten hinter mir hergezogen.
Als ich nach einer ganzen Weile die Augen aufschlage, fällt mein Blick auf die Reihe toter Pflanzen auf der Fensterbank, die ich schon vor einem halben Jahr rausschmeißen wollte.
Irgendwann mach ich das auch. Ganz bestimmt. Nur … jetzt gerade nicht.
Schließlich schaffe ich es, meinen Mantel abzustreifen, mir ein Glas Wein einzuschenken und mich mit meiner Essenstüte auf dem Sofa einzurichten. Mein Handy blinkt mit tausend WhatsApps, und ich sehe, dass meine alten Unifreunde sich reihum zu Dinnerpartys mit Filmthemen treffen wollen – ob das nicht lustig wäre?
Nie im Leben lade ich mir hier irgendwen zu einer Dinnerparty ein. Das wäre mir zu peinlich. Meine Wohnung ist das reine Chaos. Wohin ich auch blicke, überall werde ich daran erinnert, was ich mir alles vorgenommen hatte – von den ungeöffneten Farbkarten und Probedosen über die elastischen Gymnastikbänder, mit denen ich trainieren wollte, bis zu den toten Pflanzen, den ungelesenen Zeitschriften. Mum hat mir ein Abonnement von Women’s Health geschenkt. Mum, die in einem Maklerbüro arbeitet und Pilates macht und jeden Tag schon vor sieben Uhr morgens perfekt geschminkt ist.
Neben ihr komme ich mir vor wie eine totale Versagerin. Wie macht sie das? In meinem Alter war sie verheiratet und hat meinem Dad jeden Abend Lasagne gemacht. Ich habe nur meinen Job. Meine kleine Wohnung. Keine Kinder. Und trotzdem kriege ich mein Leben kaum auf die Reihe.
Die WhatsApp-Gruppe ist mittlerweile beim Thema TV-Serien angekommen, und ich denke, da sollte ich wahrscheinlich mal mit einsteigen.
Klingt super, tippe ich. Möchte ich unbedingt sehen!
Ich lüge. Ich werde es mir nicht ansehen. Ich weiß gar nicht, was mit mir passiert ist – leide ich vielleicht an einer »Serien-Schwäche«? Oder einer »Serien-Diskussionsschwäche«? Bei der Arbeit flackern diese Diskussionen auf wie Buschfeuer, und dann ist es mit einem Mal, als gehörten alle einem geheimen Club an und übertrumpfen sich gegenseitig mit ihrer Expertenmeinung. »Oh, die Serie ist total unterschätzt. Könnte fast von Shakespeare sein. Hast du noch nicht gesehen? Musst du unbedingt!« Wer mit seiner Serie am weitesten vorangekommen ist, tut, als wäre er allwissend, nur weil er weiß, was in Episode sechs passiert. Mein Ex Stuart war so einer. »Wenn du wüsstest …«, meinte er immer so leicht herablassend, als hätte er das Drehbuch selbst geschrieben. »Du glaubst, bis jetzt war die Serie gut? Wenn du wüsstest …«
Früher habe ich auch Serien geguckt. Früher hatte ich Spaß daran. Aber mein Hirn streikt. Ich kann nichts Neues mehr verarbeiten. Sobald ich fertig gegessen habe, stelle ich meinen Fernseher an, scrolle mich durch meine Favoriten, wähle Natürlich blond und drücke zum wahrscheinlich hundertsten Mal »Film noch einmal abspielen«.
Natürlich blond sehe ich mir jeden Abend an, und daran wird mich niemand hindern. Als der erste Song beginnt, sinke ich in die Polster meines Sofas und beiße in meinen Schokoriegel, betrachte die vertrauten Szenen in faszinierter Trance. Die Einstiegssequenz ist meine kleine Auszeit. In den paar Minuten tue ich rein gar nichts, tauche ab in eine pinke Marshmallow-Welt.
Und wenn Reese Witherspoon dann auf der Bildfläche erscheint, ist das mein Stichwort. Ich komme zu mir und nehme mein Laptop. Ich öffne meine Mails, hole tief Luft, als müsste ich den Mount Everest erklimmen, dann klicke ich die erste rot markierte Mail an.
Liebe Karina, entschuldigen Sie, dass mich in dieser Sache noch nicht bei Ihnen gemeldet habe. Ich nehme einen Schluck Wein. Ich bitte vielmals um Verzeihung.
Am nächsten Morgen komme ich auf dem Sofa zu mir. Ich habe noch mein Haargummi drin, der Fernseher läuft, und auf dem Boden steht ein halb volles Glas Rotwein. Das abgestandene Aroma steigt mir in die Nase wie ekliges Raumspray. Offenbar bin ich bei der Arbeit eingeschlafen.
Als ich mich etwas bequemer hinlege und das Handy unter meinem linken Schulterblatt entferne, sehe ich schon neue Nachrichten, Erinnerungen und Mails blinken. Aber heute scrolle ich nicht gleich los, mit klopfendem Herzen, weil ich wissen muss, welcher Wahnsinn mich heute erwartet. Stattdessen sinke ich aufs Sofa und starre an die Decke, spüre, wie in meinem Kopf ein Entschluss heranreift. Heute gehe ich die Sache an. Ernsthaft. So richtig.
Als ich mir nachträglich etwas pflegende Nachtcreme ins Gesicht schmiere, sehe ich mich im Spiegel und erschauere. Meine winterweiße Sommersprossenhaut sieht aus wie Pappe. Meine glatten dunklen Haare sind leblos. Meine blassblauen Augen sind blutunterlaufen. Wie ausgemergelt sehe ich aus.
Aber seltsamerweise rüttelt mich dieser Anblick auf. Vielleicht haben mich die Bemerkungen von dem Kassierer bei Pret doch schwerer getroffen, als ich dachte. Er hat recht. Es ist traurig. Ich sollte nicht so sein, wie ich jetzt bin. Ich sollte nicht in dieser Situation sein. Ich sollte nicht so fertig aussehen. Ich sollte meinen Job nicht kündigen müssen, weil die Abteilung schlecht geführt wird.
Ich bedenke meine Optionen. Ich habe versucht, mit Asher zu sprechen. Bringt nichts. Ich habe versucht, mich an andere Leute in leitenden Funktionen zu wenden – alle sagen: »Sprich mit Asher.« Also muss ich es noch weiter oben probieren. Mit Lev direkt reden. Zwar habe ich seine Mailadresse nicht, nur die von seiner Assistentin, aber ich werde sie schon auftreiben. Genau.
Ich komme früh ins Büro, bin ziemlich aufgedreht und fahre gleich mit dem Fahrstuhl bis rauf in den obersten Stock, wo sich Levs Büro befindet. Seine Assistentin – Ruby – sitzt an ihrem gläsernen Schreibtisch, vor dem markanten orangefarbenen Zoose-Emblem an der Wand, und ein Teil von mir registriert, dass dieses Büro wirklich was hermacht. So vieles an dieser Firma ist beeindruckend. Weshalb es mich so frustriert, dass andere Bereiche derart unterirdisch sind.
Da hängt ein riesiges Bild von Lev, so charismatisch wie immer mit seinem wilden ungekämmten Haarschopf und dem eindringlichen Blick. Dieses Foto verwenden wir oft fürs Marketing, weil Lev so markant ist. So cool aussieht. Er ist mit einem Modedesigner namens Damien liiert, und zusammen sehen die beiden aus, als kämen sie direkt aus einem Fotoshooting für die Vogue.
Aber cooles Aussehen ist nicht alles. Ich brauche direkten Kontakt. Den Mann selbst. Und ein paar Antworten.
»Hi, ich würde bitte gern mal mit Lev sprechen«, sage ich so sachlich wie möglich, als ich auf Ruby zugehe. »Ist er da?«
»Haben Sie einen Termin?« Sie wirft einen Blick auf ihren Bildschirm.
»Nein.«
Irgendwie zwinge ich mich dazu, es dabei zu belassen. So macht man das im echten Leben: Man sagt einfach »nein«, ohne sich weiter zu erklären. Ich behaupte nicht, dass ich mich damit wohlfühle, aber ich habe es bei Instagram gesehen. Erfolgreiche Menschen machen das so.
»Kein Termin?« Sie zieht ihre makellos gezupften Augenbrauen in die Höhe.
»Nein.«
»Nun, Sie sollten einen Termin vereinbaren.«
»Es ist dringend.« Ich gebe mir Mühe, höflich zu klingen. »Könnte ich vielleicht jetzt gleich einen Termin bekommen?«
»Ich fürchte, er ist nicht da.« Ruby klingt, als würde sie eine Trumpfkarte ausspielen. »Also …«
Da ist so ein höhnisches Blitzen in ihren Augen, und ich merke, wie sich meine Nackenhaare aufstellen. Seit wann sind in dieser Firma eigentlich alle dermaßen hochnäsig?
»Nun, wenn Sie vielleicht so freundlich wären, ihm Bescheid zu geben«, sage ich möglichst freundlich. »Es geht um eine Krise in seiner Firma, von der er sicher gern wüsste. Denn das ist echt nicht so toll. Überhaupt nicht toll. Und wenn es meine Firma wäre, die ich aus dem Boden gestampft habe, dann würde ich es wissen wollen. Also. Vielleicht sollten Sie ihn kurz mal anrufen.«
Ich merke, dass ich meine Fassade der Höflichkeit verloren habe. Ich klinge seltsam angestrengt. Aber das macht nichts. Das ist gut. Es zeigt, dass ich es ernst meine.
Ruby mustert mich kühl, ein paar Sekunden lang, dann seufzt sie.
»Und Sie sind …?«
Ich merke, wie Zorn in mir aufsteigt. Sie weiß genau, wer ich bin.
»Ich bin Sasha Worth«, sage ich freundlich. »Director of Special Promotions.«
»Special Pro-mo-tions.« Sie zieht das Wort absichtlich in die Länge, runzelt die Stirn und knabbert an einem Kugelschreiber mit dem Zoose-Logo. »Haben Sie das Thema schon Asher gegenüber angesprochen?«
»Ja«, sage ich nur. »Oft genug. Das hat nichts gebracht.«
»Haben Sie auch andere darauf angesprochen?«
»Mehrere. Alle sagen, ich soll zu Asher gehen. Aber mit Asher zu sprechen, bringt nichts. Also möchte ich mit Lev sprechen.«
»Nun, ich fürchte, er ist nicht zu erreichen.«
Woher will sie das denn eigentlich wissen? Sie sitzt nur da und macht keinerlei Anstalten, ihn zu erreichen.
»Haben Sie es denn versucht? Haben Sie ihn angerufen?«
Ruby rollt mit den Augen, gibt sich keine Mühe, ihre Geringschätzung zu verbergen.
»Es hat keinen Sinn, ihn anzurufen«, sagt sie superlangsam von oben herab, »weil er nicht zu erreichen ist.«
Irgendwas Seltsames passiert mit mir. Die Geräusche aus den umliegenden Büros werden lauter. Mein Atem geht immer schneller. Mir scheint, ich habe mich nicht mehr so ganz unter Kontrolle.
»Also, irgendwen wird es ja wohl geben«, sage ich und trete einen Schritt vor. »Oder? Irgendwo in dieser Firma wird es jemanden geben, mit dem ich sprechen kann. Also treiben Sie ihn für mich auf. Jetzt. Denn ich habe ein Problem, und Asher hat es nicht gelöst, und niemand scheint in der Lage zu sein, es zu lösen, und ich weiß bald nicht mehr weiter. Ich. Weiß. Bald. Nicht. Mehr. Weiter. Wissen Sie eigentlich, dass ich nicht mal mehr Sex habe?« Meine Stimme wird schrill. »Das ist doch nicht normal, oder? Keinen Sex mehr zu haben? Ich bin dreiunddreißig.«
Ruby macht große Augen, und ich sehe sie schon vor mir, wie sie ihren Freunden später bei Drinks von diesem Gespräch berichten wird, aber das ist mir egal. Das ist mir total egal.
»Ooooooo-kay«, sagt sie. »Mal sehen, was ich tun kann.«
Sie tippt eilig, dann stutzt sie kurz, und ich sehe ihr an, dass sie ihrem Bildschirm eine neue Information entnimmt. Abrupt blickt sie auf und widmet mir ein kaltes Lächeln.
»Es kommt jemand, um mit Ihnen zu sprechen. Möchten Sie sich vielleicht setzen?«
In meinem Kopf dreht sich alles. Ich setze mich auf ein grün-orange gemustertes Retrosofa in der Nähe. Auf dem Kaffeetisch sehe ich eine Schale mit veganem Knabberkram, ein paar Fachzeitschriften und eine neue Sorte von gefiltertem Wasser in umweltfreundlicher Papiertüte. Ich weiß noch, wie ich hier auf mein Vorstellungsgespräch gewartet habe. Wie ich immer wieder mein Kostüm überprüft habe. Wie ich all die Gründe durchgegangen bin, warum ich so liebend gern für eine so spannende und dynamische Firma arbeiten wollte.
»Sasha? Was gibt’s?«
Mir krampft sich das Herz zusammen, als ich die altbekannte schrille Stimme höre. Die hat Ruby gerufen? Joanne? Ich bringe es kaum fertig, sie anzusehen, als sie sich in ihrem lässigen Blazer und der ausgestellten Jeans kopfschüttelnd neben mir auf dem Sofa niederlässt.
»Ruby meint, du wärst vielleicht etwas überemotional?«, sagt sie. »Etwas zu unbeherrscht? Verlierst die Ruhe? Sasha, du weißt, dass ich dich vor den Konsequenzen gewarnt habe, wenn du deine Selbstreflexion vernachlässigst. Es ist an dir, für dich selbst zu sorgen.«
Ein paar Sekunden lang verschlägt es mir die Sprache. Vor lauter Wut schnürt sich mir die Kehle zusammen. Sagt sie mir gerade, ich bin selbst schuld?
»Es ist keine Frage der Selbstreflexion«, presse ich schließlich mit zitternder Stimme hervor. »Es ist eine Frage der Personalführung, ein Versagen des Managements …«
»Ich schlage vor, dass du spezifische Probleme mit Asher besprichst, da er deiner Abteilung vorsteht«, fällt Joanne mir forsch ins Wort. »Allerdings bringe ich tatsächlich Neuigkeiten, die Asher später verkünden wird: Lina arbeitet nicht mehr für diese Firma.« Sie schenkt mir ein eisiges Lächeln. »Daher werden sich alle im Marketing am Riemen reißen müssen. Wenn du Linas Projekte vorübergehend übernehmen könntest, wäre das eine große Hilfe. Daher werden etwaige andere Probleme, die du haben magst, warten müssen, da Asher infolgedessen ein wenig gestresst ist.«
Fassungslos starre ich Joanne an.
»Lina hat gekündigt?«
»Sie hat heute Morgen eine Mail geschickt, in der sie andeutete, dass sie nicht zurückkommt.«
»Sie ist einfach gegangen?«
»Es war ein ziemlicher Schock für Asher.« Joanne spricht mit leiser Stimme. »Offen gesagt habe ich noch nie so ein respektloses Verhalten erlebt. Diese Mail war wirklich unverschämt!«
Meine Gedanken rotieren so schnell, dass ich Joanne kaum hören kann. Lina hat sich aus dem Staub gemacht. Sie hatte die Schnauze voll und ist abgehauen. Und jetzt soll ich ihre Projekte übernehmen? Zu allem anderen noch dazu? Ich brech zusammen. Das schaff ich nicht. Das mach ich nicht. Aber an wen soll ich mich wenden? Mit wem kann ich reden? Dieser Laden ist die Hölle. Die reine Hölle, ohne Notausgang …
Mit einem Mal wird mir übermächtig bewusst, dass ich dasselbe tun muss wie Lina. Ich muss hier raus. Sofort. Auf der Stelle. Aber vorsichtig. Umsichtig. Keine hektischen Bewegungen, sonst ringt Joanne mich nieder.
»Ich muss mal eben für kleine Mädchen«, sage ich mit gestelzter Stimme und nehme meine Tasche. »Und dann komme ich wieder. Ich komme wieder in … etwa drei Minuten. Ich muss nur mal eben verschwinden.«
Ich gebe mir alle Mühe, gleichmäßig zu gehen, als ich auf die Damentoilette zusteuere. An der Tür bleibe ich stehen und sehe mich um, ob ich beobachtet werde. Dann verschwinde ich im Treppenhaus und renne mit klopfendem Herzen wie der Blitz die steinernen Stufen hinunter. Draußen auf der Straße bleibe ich ein paar Sekunden lang stehen und blinzle.
Ich bin raus.
Aber was mache ich jetzt? Wo soll ich arbeiten? Ob sie mir ein Zeugnis ausstellen werden? Was, wenn nicht? Was ist, wenn ich nirgends zu gebrauchen bin?
Vor lauter Angst krampft sich mir der Magen zusammen. Was habe ich getan? Sollte ich wieder reingehen? Nein. Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.
Für einen Moment bin ich wie versteinert. Ich fühle mich überhaupt nicht gut. Irgendwie ist alles verschwommen. Das Blut rauscht in meinen Ohren. All die Autos und Busse klingen wie Sattelschlepper. Ich sollte nach Hause gehen, denke ich. Aber was ist denn mein Zuhause? Eine unaufgeräumte, verlotterte, deprimierende Wohnung. Und was ist mein Leben? Ein unaufgeräumtes, verlottertes, deprimierendes Etwas.
Ich bin dem Leben nicht gewachsen. Die nackte Wahrheit trifft mich wie ein Schlag. Ich bin dem Leben einfach nicht mehr gewachsen. Es ist so schwer. Am liebsten würde ich aufgeben … aber was denn eigentlich? Die Arbeit? Das Dasein? Nein, nicht das Dasein. Ich lebe gern. Glaube ich. Ich kann einfach nur nicht mehr so leben.
Mein Handy summt, und aus reiner Gewohnheit sehe ich nach und finde eine Nachricht von Joanne.
Sasha, wo bist du denn hin?
In einem Anflug von Panik werfe ich einen Blick hinauf zu den Bürofenstern und laufe ein Stück die Straße hinunter, außer Sichtweite. Ich sollte nach Hause gehen, aber ich will nicht nach Hause. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß es einfach nicht.
Während ich da so stehe, hustend in einer Wolke von Busabgasen, fällt mein Blick auf das Kloster gegenüber, und im Nebel meiner Gedanken steigt ein seltsames Gefühl in mir auf. Eine Art Sehnsucht.
Was machen Nonnen eigentlich so den ganzen Tag? Wie ist die Jobbeschreibung? Ich wette, sie beten den ganzen Tag, stricken Pullunder für die Armen und betten sich jeden Abend um sechs in ihren hübschen schlichten Zellen zur Ruhe. Sie müssen Choräle singen – aber die könnte ich lernen, oder? Und auch wie man so einen Wimpel anlegt.
Es wäre ein bescheidenes, gesundes Leben. Ein machbares Leben. Wieso bin ich nicht früher darauf gekommen? Vielleicht sollte alles so kommen.
Plötzlich ergreift mich so ein erleichterndes Gefühl der Glückseligkeit, derart intensiv, dass mir fast schwindlig wird. Das ist meine Berufung. Endlich!
Heiterer und entschlossener als je zuvor überquere ich die Straße. Ich trete an die große Holztür, drücke auf die Klingel, an der »Büro« steht, und warte.
»Hallo«, sage ich zu der ältlichen Nonne, die an die Tür kommt. »Kann ich mitmachen?«
Okay. Ich will das Kloster ja nicht kritisieren, aber ich muss doch zugeben, dass ich von meinem Empfang ein wenig enttäuscht bin. Man sollte meinen, die suchen Nonnen. Man sollte meinen, sie hätten mich mit offenen Armen und einem kleinen Halleluja! empfangen. Stattdessen führte mich eine leitende Nonne namens Agnes in ihr Büro, in Cordhose, Sweater und hellblauem Schleier. Sie hat mir einen Pulverkaffee gemacht (ich hätte eine mittelalterliche Kräutertinktur erwartet) und angefangen, sich nach meinem Hintergrund zu erkundigen. Wer ich bin und wo ich arbeite, und wie ich von dem Kloster erfahren habe.
Wieso ist das alles wichtig? Es sollte wie bei der französischen Fremdenlegion sein. Keine Fragen, setz dir was auf den Kopf, und leg los.
»Sie arbeiten also bei Zoose«, sagt sie gerade. »Sind Sie da nicht glücklich?«
»Ich habe mal für Zoose gearbeitet«, korrigiere ich sie. »Bis vor etwa einer halben Stunde.«
»Bis vor einer halben Stunde?«, fragt sie. »Was ist denn vor einer halben Stunde passiert?«
»Mir wurde klar, dass ich dieses Leben suche.« Ich deute mit einer einfachen, aber vielsagenden Geste auf den schlichten kleinen Raum. »Ein zurückgefahrenes Dasein. Armut. Zölibat. Keine E-Mails, keine Handys, kein Sex. Vor allem kein Sex«, stelle ich klar. »Darum müssen Sie sich bei mir keine Sorgen machen. Ich habe im Moment absolut null Libido. Wahrscheinlich habe ich noch weniger Libido als Sie!« Ich breche in schrilles Gelächter aus, bis ich merke, dass Schwester Agnes nicht mit einstimmt. Sie sieht auch überhaupt nicht danach aus, als könnte sie darüber lachen.
Vermutlich macht man keine Bemerkungen zum Sexualleben von Nonnen, denke ich etwas verspätet. Na gut. Ich werde es schon noch lernen.
»Wir haben Internet«, sagt Schwester Agnes und mustert mich etwas verwundert. »Wir haben Handys. Wer ist Ihr Gemeindepfarrer?«
»Sie haben Handys?« Sprachlos starre ich sie an. Nonnen haben Handys? Das ist doch irgendwie nicht richtig.
»Wer ist Ihr Gemeindepfarrer?«, wiederholt sie. »Besuchen Sie eine Kirche in der Nähe?«
»Na ja.« Ich räuspere mich verlegen. »Eigentlich habe ich gar keinen Gemeindepfarrer, weil ich im Grunde gar nicht katholisch bin. Bis jetzt. Aber ich könnte es problemlos werden. Werde es werden«, verbessere ich mich. »Wenn ich erst mal Nonne bin. Natürlich.«
Schwester Agnes starrt mich derart lange an, dass mir langsam unwohl wird.
»Und wann kann ich anfangen?« Ich versuche, das Gespräch voranzutreiben. »Wie ist der offizielle Ablauf?«
Schwester Agnes seufzt und nimmt das Festnetztelefon auf ihrem Schreibtisch. Sie wählt eine Nummer und murmelt etwas in den Hörer, das klingt wie: Da ist noch so eine. Dann wendet sie sich mir zu.
»Wenn Sie das religiöse Leben erkunden möchten, schlage ich vor, Sie gehen erst mal in die Kirche. Ihre katholische Gemeinde finden Sie online. Vorerst danke ich Ihnen für Ihr Interesse. Gott sei mit Ihnen.«
Ich brauche einen Moment, bis ich merke, dass sie mich verabschiedet. Sie schickt mich weg? Kein »Sie können es ja mal ein, zwei Tage ausprobieren«? Nicht mal »Füllen Sie bitte dieses Formular aus«?
»Bitte nehmen Sie mich auf!« Zu meinem Entsetzen spüre ich, dass mir eine Träne über die Wange läuft. »Mein Leben ist komplett aus dem Ruder gelaufen. Ich stricke auch Pullunder. Ich singe Choräle. Wische den Boden.« Ich schlucke und fahre mir mit der Hand übers Gesicht. »Egal, was. Bitte.«
Einen Moment lang schweigt Schwester Agnes. Dann seufzt sie wieder, diesmal freundlicher.
»Vielleicht sollten Sie sich eine Weile still in die Kapelle setzen«, schlägt sie vor. »Und vielleicht könnten Sie ja jemanden anrufen, der Sie nach Hause begleitet. Sie wirken ein wenig … erschöpft.«
»Meine Freunde sind alle bei der Arbeit«, erkläre ich. »Die möchte ich nicht behelligen. Aber vielleicht setze ich mich wirklich in die Kapelle, nur für eine Weile. Vielen Dank.«
Etwas bedrückt folge ich Schwester Agnes zur kleinen Kapelle, in der es dunkel und ganz still ist. Ich setze mich auf eine Bank vor dem großen Silberkreuz, blicke zu den Buntglasfenstern auf und fühle mich etwas unwirklich. Wenn ich nicht Nonne werde, was soll ich dann mit mir anfangen?
Mir einen neuen Job suchen natürlich, sagt eine kraftlose Stimme in meinem Kopf. Mein Leben in Ordnung bringen.
Aber ich bin so müde. Ich bin einfach so müde. Mir ist, als würde ich durch mein Leben schlittern, weil ich einfach keinen Halt finde. Wenn ich nur nicht immer so müde wäre …
»… doch reichlich bizarr!« Eine schrille Stimme lässt mich erstarren, und ich fahre auf meiner Bank herum. Kriege eine Gänsehaut. Nein. Das bilde ich mir nur ein. Das kann nicht sein …
»Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie uns angerufen haben, Schwester Agnes.«
Sie ist es. Das ist Joanne. Ihre Stimme wird lauter, und ich höre Schritte auf mich zukommen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass uns bei Zoose jedermanns Wohlergehen am Herzen liegt, sodass ich doch einigermaßen überrascht bin, dass eine unsere Mitarbeiterinnen unglücklich sein sollte …«
Diese Nonne ist eine Verräterin. Dieser Ort sollte doch ein Zufluchtsort sein! Schon bin ich auf den Beinen, suche verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit, aber es gibt keinen Ausweg. In Panik drücke ich mich hinter eine hölzerne Marienfigur, als eben Schwester Agnes und Joanne in der Tür der Kapelle erscheinen, wie zwei Gefängniswärterinnen.
In der Kapelle ist es ziemlich dunkel. Vielleicht komme ich damit durch. Ich ziehe meinen Bauch ein und halte die Luft an.
»Sasha«, sagt Joanne nach einem Moment. »Wir können dich ziemlich gut sehen. Ich weiß, dass du gerade außer dir bist. Aber möchtest du nicht vielleicht doch mit ins Büro kommen, damit wir uns mal ein bisschen unterhalten?«
»Ich glaube nicht«, sage ich schroff und trete hinter der Marienfigur hervor. »Schönen Dank auch«, füge ich sarkastisch an Schwester Agnes gewandt hinzu. Eben will ich zwischen den beiden hindurch aus der Kapelle marschieren, als Joanne mich beim Arm packt.
»Sasha, dein Wohlergehen sollte uneingeschränkte Priorität haben«, sagt sie liebreizend, während sie ihre Finger so fest in meinen Arm gräbt, dass ich davon bestimmt blaue Flecken kriege. »Du weißt, wie sehr du uns allen am Herzen liegst, aber du musst auf dich selbst achtgeben. Ich schlage vor, du kommst wieder mit mir rüber, und wir werfen mal einen Blick auf dein Moodboard zum Thema Zielsetzungen …«
»Lass mich!« Ich reiße meinen Arm los und stampfe entschlossen den holzgetäfelten Korridor entlang, dann fange ich an zu rennen, kann es plötzlich gar nicht erwarten, hier rauszukommen.
»Haltet sie! Sie ist unberechenbar!«, ruft Joanne einer Nonne zu, die mich erschrocken ansieht und dann vergebens nach meinem Ärmel greift.
Im Ernst? Nie wieder suche ich Zuflucht in einem Kloster. Von Adrenalin getrieben, hetze ich zum Eingang, reiße die Tür auf und schaffe es hinaus auf die Straße. Im Laufen sehe ich mich um und merke entsetzt, dass Schwester Agnes mir in Cordhose und Turnschuhen hinterherrennt, wobei der blaue Schleier in ihrem Rücken flattert wie das kleine Cape einer Superheldin.
»Halt!«, ruft sie. »Wir wollen Ihnen doch nur helfen!«
»Nein, wollt ihr nicht!«, rufe ich zurück.
Ich steuere auf eine Menschentraube zu, die sich mitten auf dem Gehweg bei der Bushaltestelle drängt, und versuche panisch, mich durchzudrängeln. »Verzeihung«, sage ich atemlos, stolpere fast über Füße und Taschen. »Verzeihung …«
»Halt!«, ruft Schwester Agnes wieder, mit einer Stimme wie eine Fanfare. »Kommen Sie zurück!«
Ich sehe mich um, und mich packt das nackte Entsetzen. Sie ist nur ein paar Schritte hinter mir und holt auf.
»Bitte …!«, rufe ich verzweifelt in dem Versuch, mich durch die Warteschlange zu schieben. »Lassen Sie mich durch! Ich muss diese Nonne abhängen!«
Ein stämmiger Kerl in Jeans sieht erst mich an, dann Schwester Agnes – dann streckt er den Arm aus, um ihr den Weg zu versperren.
»Lassen Sie sie in Ruhe!«, bellt er Schwester Agnes an. »Vielleicht möchte sie keine Nonne werden! Schon mal daran gedacht? Verdammte religiöse Spinner!« Dann wendet er sich mir zu. »Lauf, Mädchen! Lauf!«
»Lauf!«, ruft eine Frau aus der Menge. »Lauf um dein Leben!«
Lauf um dein Leben. Genauso fühlt es sich an. Mein Herz rast. Ich lege einen Zahn zu und bringe die Menge hinter mich. Dann sprinte ich den Bürgersteig entlang und will nur eins: weg hier. Weg von … allem. Ich habe keine Ahnung, wohin ich will, nur weg … weg …
Und dann – ohne jede Vorwarnung – wird alles schwarz.
Diese Schmach. Die Schmach, wenn deine Mutter während der Besichtigung einer Fünf-Zimmer-Doppelhaushälfte in Bracknell angerufen wird, weil du bei der Arbeit ausgeflippt und dann voll gegen eine Wand gerannt bist.
Ich schwöre, diese Wand war auf einmal da. Ich schwöre, diese Ecke war da früher nicht. Eben renne ich noch, als wäre mir ein Gnu auf den Fersen, schon liege ich am Boden, Leute starren auf mich herab, und mir läuft Blut ins Auge.
Das war vor fünf Stunden. Inzwischen wurde ich aus der Notaufnahme entlassen, aber mir brummt immer noch der Schädel. Außerdem habe ich am Telefon mit meiner Hausärztin »geplaudert«. Ich habe ihr die ganze Geschichte erzählt, und sie hat aufmerksam zugehört und mir einen Haufen Fragen gestellt, wie es mir so geht, was ich so denke und ob ich auch genug schlafe. Dann meinte sie: »Ich denke, Sie sollten mal eine Pause einlegen«, und hat mich drei Wochen krankgeschrieben. Wie sich herausstellt, kriege ich eine Woche davon voll bezahlt, was immerhin ein Silberstreif am Horizont ist.
»Aber was jetzt?« Verzweifelt sehe ich Mum an, die ins Krankenhaus kam und mich in einem Uber nach Haus begleitet hat. »Ich kann nur verlieren. Wenn ich zurück ins Büro gehe: Albtraum. Wenn ich einfach abhaue wie Lina, bin ich arbeitslos: Albtraum.«
»Du bist ausgebrannt, Schätzchen.« Mum legt ihre kühle Hand auf meine. »Du solltest dir überlegen, wie du wieder auf die Beine kommst. Triff vorerst keine großen Entscheidungen, was deinen Job angeht. Ruh dich erst mal aus und entspann dich. Dann machst du dir Gedanken um alles andere.«
Sie setzt sich hin, zieht ihre maßgeschneiderte Hose hoch und wirft dabei einen Blick auf ihre Apple-Watch. Nach Dads Tod wurde Mum Immobilienmaklerin, und der Job passt perfekt zu ihr, denn im Grunde ist es eine Lizenz um Tratschen. »Die Verkäufer haben allein tausend Pfund in die Spritzwand der Küche investiert«, »Das Paar wünscht sich ein Schlafzimmer mit schalldichten Wänden.« Sie wird dafür bezahlt, dass sie solche Perlen ablässt. Dabei würde sie es auch umsonst tun.
»Ich habe mich ein bisschen mit dieser Krankenhausärztin unterhalten«, fährt Mum fort. »Ausgesprochen vernünftige Frau. Sie meinte, du bräuchtest mal eine echte Auszeit. Ich glaube ja, es liegt an den sozialen Medien«, fügt sie düster hinzu.
»Soziale Medien?« Ich mustere sie. »Ich bin kaum noch bei irgendwelchen sozialen Medien. Dafür habe ich gar nicht die Zeit.«
»Der ganze Druck heutzutage«, beharrt Mum. »Instagram. TikTok.«
»Ich sage nur ein Wort …«, meint meine Tante Pam, die eben mit drei Bechern Tee hereinkommt. Bedeutungsschwanger hält sie inne. »Menopause.«
O mein Gott. Rette mich. Pam ist neuerdings Wechseljahreberaterin, und sie ist besessen. »Ich glaube nicht, dass ich schon in den Wechseljahren bin«, entgegne ich höflich. »Ich bin erst dreiunddreißig.«
»Möglicherweise willst du es nur nicht wahrhaben, Sasha.« Pam betrachtet mich ernst. »Vielleicht bist du perimenopausal. Hast du Hitzewallungen?«
»Nein«, sage ich geduldig. »Aber danke, dass du dich jedes Mal, wenn wir uns treffen, nach meiner Körpertemperatur erkundigst.«
»Ich sorge mich um deine Körpertemperatur, mein Engel«, sagt Pam leidenschaftlich, »weil niemand über die Menopause spricht. Niemand spricht darüber!« Sie sieht sich im Raum um, als wäre sie enttäuscht, dass ihr noch nicht mal das Sofa seine Menopausensymptome verraten hat.
»Ich glaube nicht, dass es hier um die Wechseljahre geht, Pam«, sagt Mum taktvoll. »Nicht in Sashas Fall.« Sie wendet sich mir zu. »Entscheidend ist, dass wir dir eine richtige Auszeit verschaffen. Also, Schätzchen, du könntest zu mir nach Hause mitkommen, aber leider wird bei mir gerade das Badezimmer gemacht, und das ist doch etwas laut. Aber Pam meint, du kannst mit zu ihr kommen, wenn dich die Papageien nicht stören. Stimmt doch, oder, Pam?«
Die Papageien stören mich nicht, aber dieses Menopausen-Coaching geht gar nicht.
»Die Papageien könnten vielleicht etwas zu viel sein«, sage ich hastig. »Wenn ich irgendwie zur Ruhe kommen soll.«
»Ich bin mir sicher, dass Kirsten dich …«
»Nein«, falle ich ihr ins Wort. »Sei nicht albern!«
Meine Schwester hat ein Baby und ein Kleinkind, und im Gästezimmer wohnt vorübergehend ihre Schwiegermutter, weil deren Heizung gerade repariert wird. Da ist es proppenvoll.
»Ich muss nirgendwo hin. Alles gut. Ich kann auch hierbleiben. Ausruhen. Chillen. Relaxen.«
»Hmm.« Mum sieht sich in meiner Wohnung um. »Hast du hier denn auch deine Ruhe?«
Schweigend betrachten wir gemeinsam mein eher unattraktives Wohnzimmer. Und wie zur Bekräftigung fährt draußen ein Lastwagen vorbei, und von einer Pflanze fällt ein totes Blatt. Ich spüre, dass mein Handy in der Tasche summt, hole es hervor und sehe, dass Kirsten anruft.
»Oh, hi«, sage ich und stehe auf, um raus auf den Flur zu gehen.
»Sasha, was ist los mit dir?«, ruft sie. »Du bist gegen eine Wand gelaufen?«
Ich kann hören, dass sie ihr Handy laut gestellt hat, und sehe sie vor mir, wie sie in ihrer hellen kleinen Küche sitzt, mit dem Zopfmuster-Pullover, den ich ihr zu Weihnachten geschenkt habe, und dem kleinen Ben auf ihrem Schoß, während sie Coco mit Apfelscheiben füttert.
»Es war ein Versehen«, verteidige ich mich. »Ich habe mich ja nicht darum gerissen, nur mal so aus Spaß vor eine Wand zu rennen. Die war plötzlich da.«
»Mauern sind nicht plötzlich da.«
»Die aber schon.«
»Hast du was genommen?«
»Nein!«, entgegne ich empört, denn das haben mich die Ärzte auch gefragt. »Ich war einfach … abgelenkt.«
»Mum sagt, der Arzt hat dich wegen Stress krankgeschrieben. Ich fand schon Weihnachten, dass du gestresst aussahst, und das ist Wochen her«, fügt sie hinzu. »Ich habe dir gesagt, dass du Urlaub brauchst.«
»Das weiß ich. Jetzt habe ich ja drei Wochen Urlaub. Also. Wie geht es Ben und Coco?«
»Gegen Wände zu rennen, ist nicht so toll, weißt du«, sagt Kirsten und ignoriert meinen Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Wohin wolltest du denn eigentlich?«
»Ich bin vor einer Nonne weggelaufen.«
»Vor einer Nonne?« Sie klingt entgeistert. »Was für eine Nonne denn?«
»Du weißt schon. So eine Nonne eben. Schleier. Kreuz. Mit allem Drum und Dran. Ich dachte, ich wollte in ein Kloster eintreten«, füge ich hinzu, »aber das ist irgendwie schiefgelaufen.«
Inzwischen kommt mir das Ganze wie ein Traum vor.
»Du dachtest, du wolltest in ein Kloster eintreten?« Kirstens Lachen explodiert an meinem Ohr.
»Ich weiß, es klingt dämlich. Es schien mir nur … der leichteste Ausweg. Aus allem.«
Schweigen. Im Hintergrund höre ich Coco, die leise vor sich hin brabbelt.
»Sasha, jetzt mache ich mir aber langsam Sorgen«, sagt Kirsten ernst. »Der ›leichteste Ausweg aus allem‹?«
»Das habe ich nicht gemeint«, sage ich sofort. »Das nicht.« Ich stocke, denn – Hand aufs Herz – ich bin mir nicht sicher, was ich gemeint habe. »Ich war nur irgendwie überwältigt. Manchmal bin ich dem Leben einfach nicht gewachsen.«
»Ach Sasha.« Mit einem Mal wird die Stimme meiner großen Schwester sanft und liebevoll. Wie eine Umarmung durchs Telefon, und aus heiterem Himmel kommen mir die Tränen.
»Entschuldige.« Ich versuche, mich zusammenzureißen. »Ich weiß ja, dass es keine Lösung ist, Nonne zu werden. Jetzt habe ich erst mal drei Wochen frei von der Arbeit.«
»Und dann? Willst du zu Hause rumsitzen?«
»Weiß noch nicht. Pam meint, ich könnte zu ihr kommen«, füge ich eilig hinzu, bevor Kirsten mir das wackere Angebot macht, mich auch noch in ihrem Häuschen aufzunehmen.
»Pam ist da? Hat sie sich schon nach aufsteigender Hitze erkundigt?« Ich merke, dass Kirsten mich aufheitern möchte.
»Selbstverständlich.«
»Sie kann es nicht lassen, oder? Immer wenn ich morgens mit Übelkeit zu kämpfen hatte, als Ben unterwegs war, meinte sie: ›Es könnte deine Menopause sein, Kirsten. Du solltest es nicht ausschließen.‹«
Unwillkürlich muss ich lachen, obwohl mir Tränen über die Wangen laufen. O Gott, ich bin ein Wrack.
»Sasha! Ich hab die Lösung!« Aus dem Wohnzimmer höre ich Mums laute, drängende Stimme. »Die perfekte Lösung!«
»Das habe ich gehört«, sagt Kirsten in mein Ohr. »Schreib mir die perfekte Lösung, wenn Mum sie dir anvertraut hat. Aber eine Zweizimmerwohnung in Bracknell ist keine Lösung – falls sie das meint.«
Ich muss grinsen, weil Mum uns immer überreden will, eine günstige Immobilie zu erwerben.
»Und hör mal, Sasha«, fährt Kirsten sanft fort. »Nimm es ernst, okay? Du brauchst eine richtige Pause. Keine E-Mails. Kein Stress. Bring dich wieder auf die Reihe. Sonst …«
Ihr Satz verklingt mit drückendem Schweigen. Ich weiß nicht genau, worauf sie mit dem sonst hinauswill, und ich bin mir auch nicht sicher, ob sie es selbst weiß. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es etwas Gutes ist.
»Ich werde es ernst nehmen.« Ich seufze. »Versprochen.«
»Denn in einem Kloster komme ich dich bestimmt nicht besuchen. Und den Baron von Trapp wirst du da auch nicht treffen, falls das deine Hoffnung gewesen sein sollte.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er da war«, entgegne ich. »Hatte sich im Keller versteckt.«
»Sasha!«, ruft Mum noch mal.
»Geh ruhig«, sagt Kirsten. »Geh und hör dir Mums Plan an. Und pass auf dich auf.«
Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, liest Mum lächelnd irgendwas in ihrem Handy. Ihre Miene hat sich entspannt, und etwas verwundert starre ich sie an. Was hat sie vor? Was ist ihre perfekte Lösung?
»Wie viele Urlaubstage stehen dir zu?«, fragt sie.
»Reichlich«, gebe ich zu. »Ich habe noch einiges aus dem letzten Jahr.«
Im letzten Jahr habe ich kaum Urlaub genommen. Wozu? Irgendwann musste ich mir eingestehen, was keiner zugeben will: »Urlaub« ist ein Mythos. Urlaub ist noch schlimmer als das normale Leben. Man kriegt nach wie vor E-Mails, aber auf einem unbequemen Liegestuhl statt am Schreibtisch. Man sitzt in der Sonne und blinzelt seinen Bildschirm an. Ständig ist man auf der Suche nach einem Ort, an dem man genug Netz und Schatten hat, um über eine schlechte Verbindung mit dem Büro zu telefonieren.
Die andere Option wäre, eine »echte Pause« einzulegen. Man schreibt eine automatische Antwort, dass man nicht da ist, genießt sein Leben und verschiebt alles auf den Moment, in dem man zurückkommt. Wo einen dann eine unüberschaubare Menge an Arbeit erwartet, sodass man eine Woche lang bis morgens um zwei rackern muss, um alles aufzuarbeiten, und man sich dafür verflucht, dass man auch nur vierundzwanzig Stunden weg war.
Meiner Erfahrung nach. Vielleicht kriegen andere das besser hin.
»Sasha, ich hab’s! Ich weiß genau, wohin du fahren solltest.« Mum sieht aus, als wäre sie superzufrieden mit sich.
»Wohin?«
»Ich habe schon angerufen, und bei denen ist auch was frei«, fährt Mum fort, ohne auf mich zu achten. »Wir sollten es uns schnell überlegen!«
»Wohin?«
Mum blickt auf und lässt einen Moment verstreichen, bevor sie sagt: »Rilston Bay.«
Die Worte sind magisch.
Es ist, als wäre kurz die Sonne hinter den Wolken herausgekommen und hätte meine Haut berührt. Wie gestreichelt fühle ich mich von Wärme und Licht und einer Euphorie, die ich fast schon vergessen hatte. Rilston Bay. Das Meer. Der große, weite Himmel. Das Gefühl von Sand unter den Füßen. Dieser erste, magische Blick vom Zug aus auf den Strand. Die schneidenden Laute der Möwen. Die schäumende Brandung, die im sengenden Sommersonnenschein blitzt und glitzert …
Moment mal.
»Aber wir haben Februar«, sage ich, als ich aus meinen Gedanken wiederauftauche.
Rilston Bay im Winter? Vorstellen kann ich es mir nicht. Aber gleichzeitig lässt mich die Idee nicht los, nachdem Mum sie aufgebracht hat. Rilston Bay. Mir wird ganz warm ums Herz. Wäre das vielleicht wirklich was?
»Die haben noch Zimmer frei«, wiederholt sie. »Du könntest mit dem Zug hinfahren, so wie du es immer gemacht hast. Fahr gleich morgen!«
»Du meinst, bei Mrs Heath wäre was frei?«, frage ich unsicher.
Dreizehn Jahre lang haben wir die Ferien in Mrs Heaths Pension verbracht. Ich erinnere mich noch genau daran, wie das Linoleum der Treppe gerochen hat, an die Muschelbilder in unserem Zimmer, die Häkeldecken auf den Betten. Den kleinen Schuppen, in den wir jeden Abend unsere Eimer und Schaufeln gebracht haben. Den winzigen Garten mit der kleinen Höhle.
»Mrs Heath ist schon vor Jahren gestorben, Liebes«, sagt Mum sanft. »Ich meinte das Hotel. Das Rilston.«
»Das Rilston?«
Ist das ihr Ernst? Ich soll im Rilston absteigen?
Wir haben nie im Rilston gewohnt. Solche Leute waren wir nicht. Da gab es eine Kleiderordnung und einmal in der Woche ein Dinner Dance und sogar ein eigenes Rilston-Taxi, das man im Ort herumfahren sieht. Das Hotel ist fantastisch gelegen, direkt am Strand. Nicht so wie Mrs Heaths Pension, zu der man eine Viertelstunde bergauf laufen musste, die Kopfsteinpflasterstraßen entlang, die wir jeden Morgen fröhlich hinunterrannten.