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Audrey wächst in einer liebevollen, leicht durchgeknallten Familie auf: Ihr großer Bruder ist ein Computernerd, ihre Mutter eine hysterische Gesundheitsfanatikerin und ihr Vater ein charmanter Teddybär. Doch Audrey weiß, dass sie selbst am durchgeknalltesten ist – sie leidet unter Angststörungen, kann nicht mehr zur Schule gehen und niemandem in die Augen sehen, weshalb sie stets eine Sonnenbrille trägt. Als sie auf Anraten ihrer Therapeutin beginnt, einen Dokumentarfilm über ihre verrückte Familie zu drehen, gerät ihr immer häufiger der gar nicht so unansehnliche Freund ihres Bruders vor die Linse – Linus. Und langsam bahnt sich etwas an, das viel mehr ist als der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ...
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Seitenzahl: 320
SOPHIE KINSELLA
SCHAU MIR IN DIE AUGEN, Audrey
Aus dem Englischen von Anja Galić
Für meine Kinder, die mich alle auf ihre eigene Art beim Schreiben dieses Buches inspiriert haben.
Nicht so wie sonst, nicht normal Mum-verrückt. Richtig verrückt.
Normal Mum-verrückt geht so: Mum sagt, »Lasst uns zusammen diese tolle glutenfreie Diät machen, von der ich in der Daily Mail gelesen habe!«, und kauft drei glutenfreie Brote, die so widerlich schmecken, dass sich uns im Mund alles zusammenzieht. Die Familie tritt in einen Hungerstreik, Mum versteckt ihr Sandwich heimlich im Blumenbeet und eine Woche später sind wir nicht mehr glutenfrei.
Das ist normal Mum-verrückt. Aber diesmal ist es ernst.
Sie steht am Schlafzimmerfenster, das auf die Rosewood Close hinausgeht, so heißt die Straße, in der wir wohnen. Wobei »sie steht« viel zu normal klingt. Und was sie tut, ist definitiv nicht normal. Sie lehnt sich bebend aus dem Fenster und hat einen irren Ausdruck in den Augen. Vor ihr auf dem Fensterbrett balanciert der Computer von meinem Bruder Frank, der sich in einem gefährlichen Winkel dem Abgrund entgegenneigt. Er kann jeden Moment in die Tiefe stürzen. Ein siebenhundert Pfund teurer Computer.
Ist ihr das klar? Siebenhundert Pfund! Ständig hält sie uns Vorträge darüber, dass wir keinen blassen Schimmer davon hätten, was das Leben heutzutage eigentlich kostet, und sagt solche Sachen wie »Habt ihr überhaupt eine Ahnung, wie hart es ist, zehn Pfund zu verdienen?« oder »Ihr würdet nicht so verschwenderisch mit Strom umgehen, wenn ihr selbst dafür aufkommen müsstet«.
Tja, wie steht’s damit, siebenhundert Pfund zu verdienen und sie dann freiwillig – und buchstäblich – zum Fenster rauszuschmeißen?
Unter uns rennt Frank aufgelöst in seinem Big Bang Theory-Shirt auf dem Rasen vor dem Haus hin und her, rauft sich die Haare und redet verzweifelt auf Mum ein.
»Mum.« Seine Stimme überschlägt sich vor Entsetzen. »Mum, das ist mein Computer.«
»Natürlich ist das dein Computer!«, schreit Mum hysterisch. »Denkst du vielleicht, das wüsste ich nicht?«
»Mum, bitte. Lass uns darüber reden, ja?«
»Ich hab versucht, darüber zu reden!«, gibt Mum aufgebracht zurück. »Ich hab es auf die nette Tour versucht, mit vernünftigen Argumenten, mit Bitten und Betteln, mit Bestechung … Ich habe alles versucht! ALLES, Frank!«
»Aber ich brauche meinen Computer!«
»Nein, du brauchst deinen Computer nicht!«, kreischt Mum so laut, dass ich zusammenzucke.
»Mummy schmeißt den Computer aus dem Fenster!«, ruft Felix, der gerade in den Vorgarten gelaufen kommt, und schaut mit staunender Begeisterung zu ihr hoch. Felix ist unser kleiner Bruder. Er ist vier. Er begegnet so ziemlich allem im Leben mit staunender Begeisterung. Ein Lastwagen in der Straße! Ketchup! Eine extralange Pommes! Dass Mum kurz davor ist, einen Computer aus dem Fenster zu werfen, ist nur ein weiterer Punkt auf der langen Liste der täglichen Wunder.
»Ja, genau. Und wenn sie das macht, dann ist der Computer kaputt«, sagt Frank finster. »Und du kannst nie wieder Star Wars spielen. Nie wieder.«
Felix verzieht erschrocken das Gesicht und Mums Wut entfacht sich von Neuem.
»Frank!«, schreit sie. »Hör auf, deinen Bruder zu ärgern!«
Mittlerweile stehen die McDuggans, unsere Nachbarn von gegenüber, vor der Tür und starren zu uns rüber. »Neeeiiin!«, schreit ihr zwölfjähriger Sohn Ollie, als er sieht, was Mum vorhat.
»Nicht, Mrs Turner!« Er kommt über die Straße in unseren Vorgarten gerannt und schaut gemeinsam mit Frank flehend zu ihr hoch.
Ollie und Frank treffen sich manchmal online, um Land of Conquerors zu spielen, wenn Frank sich gnädigerweise dazu herablässt, weil er gerade niemand anderen zum Zocken hat. Ollie sieht sogar noch panischer aus als Frank.
»Bitte tun Sie das nicht, Mrs Turner«, ruft er mit zitternder Stimme. »Auf dem Computer sind alle Game-Kommentare von Frank drauf. Die sind super witzig.« Er sieht Frank an. »Sind sie echt.«
»Danke«, murmelt Frank.
»Deine Mum ist wie …« Ollie blinzelt nervös. »Sie ist wie die Goddess Warrior im siebten Level.«
»Ich bin was?«, will Mum wissen.
»Das war ein Kompliment«, zischt Frank und verdreht die Augen. »Was dir klar wäre, wenn du schon mal gespielt hättest. Im achten Level«, korrigiert er Ollie.
»Ach ja, stimmt«, beeilt Ollie sich zu sagen. »Im achten.«
»Du kannst dich ja schon gar nicht mehr in deiner Muttersprache unterhalten!«, flippt Mum aus. »Das echte Leben besteht nicht aus einer Reihe von Leveln!«
»Mum, bitte«, ruft Frank. »Ich mache alles, was du willst. Ich räum den Geschirrspüler ein. Ich ruf jeden Abend Granny an. Ich …« Er überlegt verzweifelt. »Ich lese tauben Menschen vor.«
Er will tauben Menschen vorlesen? Hört er sich überhaupt selbst reden?
»Tauben Menschen?«, explodiert Mum. »Tauben Menschen? Ich kann darauf verzichten, dass du tauben Menschen vorliest! Wenn hier verdammt noch mal jemand taub ist, dann du! Nie hörst du, was ich dir sage – ständig hast du diese elenden Stöpsel in den –«
»Anne!«
Dad greift in die hitzige Debatte ein, die mittlerweile noch mehr Nachbarn aus ihren Häusern gelockt hat. Das hier ist besser als jede Reality-TV-Show.
»Anne!«, versucht es Dad noch einmal.
»Lass mich das regeln, Chris«, sagt Mum warnend, und ich sehe, wie Dad schluckt. Mein Vater ist groß, sieht aus wie einem Auto-Werbespot entstiegen und macht den Eindruck, als hätte er das Sagen, aber im Grunde seines Herzens ist er kein Alphatier.
Nein, das ist gemein. Ich glaube, dass er in ganz vielen Dingen ein Alphatier ist. Nur ist Mum eben ein noch viel größeres Alphatier. Sie ist durchsetzungsstark und dominant und hübsch und dominant.
Habe ich gerade zweimal dominant gesagt?
Tja. Zieht eure eigenen Schlüsse daraus.
»Ich weiß, dass du wütend bist, Liebling«, sagt Dad besänftigend. »Aber findest du nicht, dass du es ein bisschen übertreibst?«
»Ich übertreibe es? Er ist derjenige, der es übertreibt! Er ist süchtig, Chris!«
»Ich bin nicht süchtig!«, protestiert Frank.
»Ich meine ja nur –«
»Was?« Mum dreht Dad den Kopf zu. »Was meinst du ja nur?«
»Wenn du ihn genau hier runterwirfst, triffst du möglicherweise den Wagen.« Der Gedanke lässt Dad sichtlich zusammenzucken. »Könntest du vielleicht etwas weiter nach links zielen?«
»Was kümmert mich der Wagen! Hier geht es darum, aus Liebe drastische Maßnahmen zu ergreifen!« Sie kippt den Computer in eine noch gefährlichere Schräglage und wir – inklusive der zuschauenden Nachbarn – keuchen kollektiv auf.
»Liebe?«, ruft Frank zu Mum hoch. »Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du meinen Computer nicht kaputt machen!«
»Tja, und wenn du mich wirklich liebtest, Frank, würdest du nicht hinter meinem Rücken um zwei Uhr nachts aufstehen, um online mit irgendwelchen Leuten in Korea zu spielen!«
»Du bist um zwei Uhr morgens aufgestanden?«, fragt Ollie mit großen Augen.
»Um zu trainieren«, antwortet Frank achselzuckend. »Ich hab trainiert«, sagt er noch einmal mit Nachdruck und schaut dabei wieder zu Mum hoch. »Ich hab bald ein Turnier! Du hast doch immer gesagt, dass ich mir im Leben ein Ziel setzen soll! Und genau das hab ich!«
»Land of Conquerors zu spielen ist kein Ziel! Oh Gott, oh Gott …« Sie lehnt die Stirn gegen den Computer. »Was hab ich nur falsch gemacht?«
»Hey, Audrey«, ruft Ollie, als er mich plötzlich in meinem Zimmer am Fenster stehen sieht. »Wie geht’s so?«
Ich weiche erschrocken zurück. Mein Fenster liegt leicht versetzt in einer Erkernische, und eigentlich hatte ich gehofft, dass mich niemand bemerkt. Vor allem Ollie nicht, von dem ich ziemlich sicher bin, dass er ein bisschen auf mich steht, obwohl er zwei Jahre jünger ist und mir kaum bis zur Brust reicht.
»Hey, da oben steht unser Filmstar!«, witzelt Ollies Dad Rob. So nennt er mich schon seit vier Wochen, obwohl Mum und Dad jeweils getrennt zu ihm rüber sind und ihn gebeten haben, damit aufzuhören. Er hält es für witzig und glaubt, meine Eltern hätten keinen Sinn für Humor. (Mir ist schon öfter aufgefallen, dass man »Sinn für Humor haben« mit »ein unsensibler Vollidiot sein« gleichsetzen kann.)
Aber ich glaube, diesmal haben weder Mum noch Dad Robs ach so lustigen Witz überhaupt gehört. Mum jammert weiter »Washabichnurfalschgemacht? Washabichnurfalschgemacht?« vor sich hin und Dad behält sie nervös im Auge.
»Du hast gar nichts falsch gemacht!«, ruft er. »Alles ist gut! Komm runter, Liebling, und wir trinken erst mal einen kleinen Schluck zur Beruhigung. Stell den Computer ab … nur vorläufig«, fügt er hastig hinzu, als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sieht. »Du kannst ihn auch noch später aus dem Fenster werfen.«
Mum rührt sich keinen Millimeter von der Stelle. Der Computer neigt sich noch ein Stück weiter dem Abgrund zu und Dad zuckt zusammen. »Schatz, mir geht es einzig und allein um den Wagen … Wir haben ihn doch gerade erst abbezahlt …« Er stellt sich mit ausgebreiteten Armen vor das Auto, als könnte er es so vor herabfallender Hardware abschirmen.
»Holt eine Decke!«, ruft Ollie plötzlich. »Rettet den Computer! Wir brauchen eine Decke. Dann bilden wir einen Kreis …«
Mum scheint ihn noch nicht einmal zu hören. »Ich hab dir die Brust gegeben!«, schreit sie Frank an. »Ich hab dir Pu der Bär vorgelesen! Alles, was ich wollte, war ein aufgeweckter Sohn, der gern liest und sich für Kunst interessiert, der gern draußen in der Natur ist und ab und zu ins Museum geht und vielleicht irgendeinen Wettkampfsport macht –«
»LOC ist ein Wettkampfsport!«, ruft Frank. »Du hast echt nicht die leiseste Ahnung! Hier geht es wirklich um was! Das Preisgeld für das internationale LOC-Turnier in Toronto liegt dieses Jahr bei sechs Millionen Dollar!«
»Das erzählst du uns immer wieder!«, ruft Mum wütend zurück. »Und du glaubst tatsächlich, dass du dieses Turnier gewinnst? Und reich wirst?«
»Vielleicht.« Er wirft ihr einen finsteren Blick zu. »Wenn ich hart genug trainiere.«
»Wach auf, Frank!« Ihre Stimme hallt schrill und fast unheimlich durch das Viertel. »Du wirst nicht am internationalen LOC-Turnier teilnehmen! Du wirst diese verdammten sechs Millionen Dollar nicht gewinnen! Und du wirst deinen Lebensunterhalt nicht mit Computerspielen verdienen! AUF GAR KEINEN FALL!«
Angefangen hat alles mit der Daily Mail. Ziemlich viele Dinge bei uns zu Hause fangen mit der Daily Mail an.
Mum beginnt auf diese ganz bestimmte Art zu zucken. Wir haben gerade zu Abend gegessen und den Tisch abgeräumt und sie liest bei einem Glas Wein die Zeitung und nimmt sich ihre »Ich-Zeit«, wie sie es nennt, als sie plötzlich innehält. Ich kann über ihre Schulter hinweg die Überschrift des Artikels sehen:
ACHT ANZEICHEN DAFÜR, DASS IHR KIND COMPUTERSPIELSÜCHTIG IST
»Oh mein Gott«, höre ich sie murmeln. »Oh mein Gott.« Ihr Finger fährt die Liste ab und ihr Atem geht schneller. Ich erhasche einen Blick auf einen der Punkte:
7. Gereiztheit und Launischkeit
Ha. Haha.
Ich meine, mal im Ernst, launisch?
James Dean war in Denn sie wissen nicht, was sie tun ein launischer Teenager (ich habe das Plakat – bestes Filmplakat der Geschichte, bester Filmstar der Geschichte, heißester Filmstar der Geschichte – warum, warum, warum nur musste er sterben?).
Dem Zeitungsartikel der Daily Mail zufolge müsste James Dean also absolut computerspielsüchtig gewesen sein? Ähm, was?
Genau.
Aber das meiner Mum zu erklären, wäre völlig zwecklos, weil es logisch ist und meine Mum nicht an Logik glaubt.
Sie glaubt an Horoskope und an grünen Tee. Ach so, und natürlich an die Daily Mail.
Acht Anzeichen dafür, dass meine Mum nach derDaily Mailsüchtig ist:
Sie liest sie jeden Tag.Sie glaubt alles, was darin steht.Wenn man versucht, sie ihr aus der Hand zu nehmen, reißt sie sie an sich und knurrt: »Finger weg!«, als würde man versuchen, einem Muttertier ihr Junges wegzunehmen.Wenn sie darin einen Artikel über Vitamin-D-Mangel liest, scheucht sie uns alle halb nackt in den Garten, damit wir ein »Sonnenbad« nehmen. (Frostbad würde es besser treffen.)Wenn sie darin einen Artikel über Hautkrebs liest, müssen wir uns alle sofort mit Sun-Blocker einschmieren.Wenn sie darin einen Artikel über »Die Anti-Falten-Creme, die wirklich hält, was sie verspricht« liest, holt sie sofort ihr iPad raus und bestellt sie sich.Wenn sie ihre Zeitung im Urlaub nicht bekommt, entwickelt sie heftige Entzugserscheinungen. Ich sage nur: reizbar und launisch.Einmal hat sie in der Fastenzeit versucht, damit aufzuhören. Sie hat den halben Morgen durchgehalten.Was soll’s. Es gibt nichts, was ich gegen die tragische Abhängigkeit meiner Mum tun kann, außer zu hoffen, dass sie ihrem Leben keinen allzu großen Schaden zufügen wird. (Unserem Wohnzimmer hat sie schon erheblichen Schaden zugefügt, nachdem sie im Lifestyle-Teil einen Artikel mit der Überschrift »Wie Sie Ihren Möbeln mit Handmalerei eine ganz persönliche Note verleihen können« gelesen hat.)
Einen Moment später kommt Frank in die Küche geschlendert. Er hat sein schwarzes »Ich modde, also bin ich«-Shirt an, seine Stöpsel in den Ohren und sein Smartphone in der Hand. Mum lässt die Daily Mail sinken und starrt ihn an, als würde es ihr wie Schuppen von den Augen fallen.
(Ich habe diese Redewendung nie verstanden. Schuppen? Aber egal.)
»Frank«, sagt sie. »Wie viele Stunden hast du diese Woche mit Computerspielen verbracht?«
»Definiere Computerspiele«, sagt Frank, ohne von seinem Handy aufzuschauen.
»Was?« Mum wirft mir einen unsicheren Blick zu und ich zucke mit den Achseln. »Du weißt schon. Computerspiele. Wie viele Stunden? FRANK!«, schreit sie, als er keine Anstalten macht zu antworten. »Wie viele Stunden? Und nimm endlich diese Dinger aus den Ohren!«
»Was?« Frank nimmt die Ohrstöpsel heraus und schaut sie blinzelnd an, als hätte er die Frage nicht gehört. »Ist das wichtig?«
»Und ob das wichtig ist!«, faucht Mum. »Ich will, dass du mir sagst, wie viele Stunden du pro Woche mit Computerspielen verbringst. Jetzt sofort. Rechne es aus.«
»Das kann ich nicht«, sagt Frank ruhig.
»Du kannst nicht? Was soll das heißen, du kannst nicht?«
»Ich weiß nicht, worauf du dich beziehst«, antwortet Frank übertrieben geduldig. »Meinst du reine Computerspiele? Oder meinst du alle Videospiele, einschließlich Xbox und PlayStation? Zählst du auch die Spiele auf meinem Handy dazu? Drücke dich bitte genauer aus.«
Frank ist so ein Vollidiot. Sieht er denn nicht, dass Mum kurz davorsteht, auszuflippen?
»Ich meine alles, was dir dein Hirn verdreht!«, sagt Mum und fuchtelt mit der Daily Mail herum. »Ist dir nicht klar, wie gefährlich diese Spiele sind? Dass sie die Entwicklung deines Gehirns hemmen? Deines GEHIRNS, Frank! Das wertvollste Organ, das du hast.«
Frank prustet verächtlich, worüber ich kichern muss. Frank kann manchmal ziemlich witzig sein.
»Ich werde das ignorieren«, sagt Mum mit versteinerter Miene. »Es beweist nur, dass ich mit dem, was ich gesagt habe, genau richtigliege.«
»Tut es nicht«, sagt Frank und macht den Kühlschrank auf. Er holt sich einen Kakao heraus und trinkt ihn direkt aus dem Karton. Igitt.
»Muss das sein?«, frage ich.
»Entspann dich. Ist noch einer da.«
»Ab sofort wirst du das Spielen einschränken, junger Mann.« Mum klopft auf die Daily Mail, um ihre Worte zu unterstreichen. »Mir reicht es nämlich.«
Junger Mann. Das bedeutet, dass sie Dad in die Sache mit hineinziehen wird. Immer wenn sie Junger Mann oder Junge Frau sagt, findet am nächsten Tag mit Sicherheit eine grauenvolle Familienkonferenz statt, bei der Dad versucht, Mum in allem, was sie sagt, zu unterstützen, obwohl er noch nicht einmal die Hälfte davon versteht.
Egal. Ist diesmal nicht mein Problem.
Bis Mum an dem Abend in meinem Zimmer auftaucht und fragt: »Audrey, was ist Land of Conquerors?«
Ich schaue von meiner Grazia auf und mustere sie prüfend. Sie wirkt angespannt. Ihre Wangen sind gerötet und ihre rechte Hand ist so verkrampft, als hätte sie gerade erst eine Computermaus losgelassen. Sie hat »süchtig nach Computerspielen« gegoogelt, ich weiß es einfach.
»Ein Computerspiel.«
»Ich weiß, dass es ein Computerspiel ist« – Mum klingt verzweifelt –, »aber warum spielt Frank es die ganze Zeit? Du spielst es nicht die ganze Zeit, oder?«
»Nein.« Ich habe LOC ein paarmal gespielt und kann den Hype nicht wirklich nachvollziehen. Ich meine, ein oder zwei Stunden lang ist es ganz okay.
»Was ist der besondere Reiz daran?«
»Tja, also …« Ich denke einen Moment nach. »Es ist spannend. Man bekommt Belohnungen. Und die Helden sind ziemlich cool. Die Grafiken sind der Hammer, und erst vor Kurzem gab es ein Upgrade mit einem neuen Warrior-Team, das ganz viele neue Fähigkeiten hat …« Ich zucke mit den Achseln.
Mum sieht verwirrter aus denn je. Das Problem ist, dass sie selbst keine Computerspiele spielt. Also ist es praktisch unmöglich, ihr den Unterschied zwischen LOC3 und, sagen wir, Pacman von 1985 verständlich zu machen.
Plötzlich habe ich eine Eingebung. »Auf YouTube kann man sich Videos dazu anschauen«, sage ich. »Mit Game-Kommentaren von den Spielern. Warte.«
Während ich auf meinem iPad nach einem Video suche, setzt Mum sich zu mir aufs Bett und schaut sich in meinem Zimmer um. Sie versucht dabei betont entspannt zu wirken, aber ich spüre förmlich, wie ihre wachsamen blauen Augen alles ganz genau unter die Lupe nehmen, als wäre sie auf der Suche nach … was? Egal was. Allem. In Wahrheit gehen Mum und ich schon eine Weile nicht mehr entspannt miteinander um. Unser Verhältnis ist in jeder Beziehung belastet.
Nach allem, was passiert ist, gehört das zu den Dingen, die ich am traurigsten finde. Wir können nicht mehr normal miteinander umgehen. Mum stürzt sich auf jede Winzigkeit, die ich sage, und versucht sie einer tiefenpsychologischen Analyse zu unterziehen, auch wenn ihr das selbst gar nicht bewusst ist. Ihr Gehirn schaltet sofort in den höchsten Gang. Was hat das zu bedeuten? Geht es Audrey gut? Was will Audrey tatsächlich damit sagen?
Ich sehe, wie ihr Blick an einer alten zerrissenen Jeans, die ich über die Lehne meines Bürostuhls geworfen habe, hängen bleibt, als hätte sie irgendeine dunkle Bedeutung. Dabei bedeutet sie nur eines: Sie passt nicht mehr. Ich bin im letzten Jahr ungefähr sieben Zentimeter in die Höhe geschossen, sodass ich jetzt knapp ein Meter achtzig bin. Ziemlich groß für eine Vierzehnjährige. Die Leute sagen, ich sehe aus wie Mum, aber ich bin nicht so hübsch wie sie. Ihre Augen sind so unfassbar blau. Wie Saphire. Meine sind verwaschen – nicht dass sie im Moment besonders sichtbar wären.
Nur damit ihr eine bildliche Vorstellung von mir habt: Ich bin ziemlich dünn und ziemlich unscheinbar und habe ein Trägertop und eine Skinny-Jeans an. Und ich trage die ganze Zeit eine Sonnenbrille, sogar zu Hause. Es ist … Tja. So eine Sache. Meine Sache, schätze ich. Deswegen die »Filmstar«-Witzeleien von unserem Nachbarn Rob. Er hat gesehen, wie ich bei strömendem Regen mit meiner Sonnenbrille aus dem Auto gestiegen bin, und meinte sofort: »Was soll die Sonnenbrille? Hältst du dich vielleicht für Angelina Jolie?«
Ich versuche nicht, cool zu sein. Es gibt einen Grund dafür.
Den ihr jetzt natürlich gern wissen würdet.
Glaube ich.
Okay. Eigentlich ist es etwas ziemlich Persönliches. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit bin, darüber zu reden. Haltet mich ruhig für seltsam, wenn ihr wollt. Ihr wärt nicht die Einzigen.
»Hier, schau«, sage ich zu Mum, als ich ein Video von einem LOC-Wettkampf mit Kommentaren eines gewissen »Archy« gefunden habe. »Archy« ist ein YouTuber aus Schweden, dessen Kanal Frank so genial findet, dass er ihn abonniert hat. Die Videos zeigen »Archy«, wie er LOC spielt und dabei witzige Kommentare von sich gibt. Wie befürchtet, brauche ich eine Ewigkeit, um Mum das Konzept zu erklären.
»Aber warum soll man jemand anderem beim Spielen zuschauen?«, wiederholt sie immer wieder verblüfft. »Wozu? Ist das nicht komplette Zeitverschwendung?«
»Tja.« Ich zucke mit den Achseln. »Das ist LOC.«
Einen Moment lang bleibt es still. Mum betrachtet den Bildschirm wie eine Wissenschaftlerin, die versucht, alte ägyptische Hieroglyphen zu entschlüsseln. Als es im Video zu einer mächtigen Explosion kommt, zuckt sie zusammen.
»Warum muss es dabei immer ums Töten gehen? Wenn ich ein Spiel entwickeln würde, würde es um Ideen gehen. Politik. Wichtige Themen. Aber, ja! Ich meine, warum nicht?« Ich kann förmlich dabei zusehen, wie ihr Gehirn blitzschnell eine neue Idee abfeuert. »Wie wäre es mit einem Computerspiel, das Diskussion heißt? Der wettkämpferische Aspekt würde beibehalten werden, aber die Punkte sammelt man, indem man möglichst kluge Argumente bringt!«
»Das ist der Grund, warum wir keine Milliardäre sind«, sage ich an ein imaginäres Publikum im Raum gerichtet.
Ich suche gerade nach einem anderen Video, als Felix ins Zimmer gerannt kommt.
»Candy Crush!«, ruft er, kaum dass er mein iPad entdeckt hat. Mum keucht entsetzt auf.
»Woher kennt er das?«, fragt sie. »Stell das aus. Ich werde nicht noch einen Süchtigen in dieser Familie dulden!«
Ups. Kann sein, dass ich diejenige war, die Felix Candy Crush gezeigt hat. Nicht dass er auch nur den Hauch einer Ahnung hat, wie man es richtig spielt.
Ich schalte das iPad aus und Felix zieht eine enttäuschte Grimasse. »Candy Crush!«, ruft er. »Ich will Candy Cruuuuush spielen!«
»Es ist kaputt, Felix.« Ich tue so, als versuchte ich, das iPad wieder einzuschalten. »Siehst du? Kaputt.«
»Kaputt«, bestätigt Mum.
Felix’ Blick wandert von uns zum iPad. Man spürt förmlich, dass sein Verstand so hart arbeitet, wie seine vierjährigen Gehirnzellen es zulassen. »Wir müssen einen Stecker kaufen«, ruft er plötzlich und greift nach dem iPad. »Wir kaufen einen Stecker und reparieren es.«
»Der Stecker-Laden hat zu«, lügt Mum, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wie schade. Wir gehen morgen hin. Hey, weißt du was? Jetzt machen wir uns Toast mit Nutella!«
»Toast mit Nutella!« Felix strahlt übers ganze Gesicht. Als er die Arme in die Luft reißt, nimmt Mum ihm das iPad ab und gibt es mir zurück. Fünf Sekunden später habe ich es hinter einem Kissen versteckt.
»Wo ist das Candy Crush hin?«, ruft Felix anklagend und sieht sich suchend um.
»Wir bringen es zum Stecker-Laden, schon vergessen?«, sagt Mum wie aus der Pistole geschossen.
»Stecker-Laden.« Ich nicke. »Genau. Aber, hey, du kriegst Toast mit Nutella! Was meinst du, wie viele du essen kannst?«
Armer kleiner Felix. Völlig verwirrt lässt er sich von Mum aus dem Zimmer führen. Komplett ausmanövriert. So läuft das, wenn man vier ist. Ich wette, Mum wünscht sich, bei Frank liefe das auch so.
Mum weiß jetzt also, was LOC ist. Und laut Kofi Annan, der mal Generalsekretär der UNO war, ist Wissen Macht. Aber Leonardo da Vincis Spruch: »Wo man schreit, ist keine klare Erkenntnis«, passt vielleicht besser zu unserer Familie. (Bitte denkt jetzt nicht, ich wäre super belesen oder so was. Mum hat mir letzten Monat ein Buch mit Zitaten berühmter Menschen gekauft, in dem ich beim Fernsehschauen ab und zu herumblättere.)
Jedenfalls kann man in diesem Fall nicht von »Wissen ist Macht« sprechen, weil Mum keine Macht über Frank hat. Es ist Samstagabend und er spielt seit dem Mittagessen LOC. Gleich nach dem Nachtisch ist er in sein Zimmer verschwunden. Als es einen Moment später an der Tür klingelte, habe ich mich schleunigst ins Fernsehzimmer verzogen, das so etwas wie mein persönlicher Rückzugsort ist.
Jetzt ist es kurz vor sechs und ich husche schnell für eine Handvoll Oreos in die Küche, wo Mum nervös auf und ab tigert. Sie atmet geräuschvoll ein, schaut auf die Uhr und atmet genauso geräuschvoll wieder aus.
»Die sind alle computerspielsüchtig!«, bricht es plötzlich aus ihr heraus. »Ich habe sie bestimmt fünfundzwanzigmal gebeten, die Kiste auszumachen! Warum kriegen sie das nicht hin? Sie müssen doch einfach nur auf den Schalter drücken! An, aus.«
»Vielleicht sind sie gerade in einem Level –«
»Level!«, unterbricht Mum mich aufgebracht. »Ich habe es satt, mir ständig irgendwas über Level anzuhören! Ich gebe ihnen noch eine Minute. Dann ist endgültig Schluss.«
Ich hole die Packung Oreos aus dem Schrank und reiße sie auf. »Mit wem spielt Frank da eigentlich?«
»Mit einem Freund aus der Schule. Ich habe ihn noch nie gesehen. Ich glaube, er heißt Linus …«
Linus. Ich erinnere mich an ihn. Er hat in der Schule bei dem Theaterstück Wer die Nachtigall stört mitgemacht und Atticus Fink gespielt. Frank gehörte zum Pöbel.
Frank geht auf die Cardinal-Nicholls-Schule, die in der Nähe der Stokeland-Mädchenschule liegt, auf der ich bin. Manchmal veranstalten beide Schulen gemeinsame Theateraufführungen und Konzerte und so. Aber genau genommen ist die Stokeland nicht mehr »meine Schule«. Seit Februar bin ich nicht mehr hingegangen, weil dort ein paar Dinge passiert sind. Keine guten Dinge.
Egal.
Das Leben geht weiter. Danach wurde ich krank. Jetzt werde ich die Schule wechseln und ein Jahr wiederholen, weil ich so viel verpasst habe. Meine neue Schule heißt Heath Academy, und die Schulleitung ist der Meinung gewesen, es wäre vernünftiger, wenn ich erst im September anfange statt mitten in der Prüfungszeit vor den Sommerferien. Bis dahin bleibe ich zu Hause.
Ich meine, es ist nicht so, als würde ich nichts tun. Die Heath hat mir jede Menge Lektürevorschläge, Mathebücher und französische Vokabellisten geschickt. Alle sind sich darüber einig, wie wichtig es ist, dass ich unterrichtstechnisch auf dem Laufenden bleibe, und beteuern: »Das wird dir so guttun, Audrey!« (Von wegen.) Also maile ich hin und wieder einen Geschichtsaufsatz oder so etwas in der Art an die Schule, den ich dann ein paar Tage später mit ein paar roten Anmerkungen wieder zurückgemailt bekomme. Mir kommt das alles ein bisschen sinnlos vor.
Egal. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass Linus in dem Stück mitgespielt hat und ein wirklich toller Atticus Fink gewesen ist. Er war großmütig und heldenhaft und jeder hat ihm die Rolle zu hundert Prozent abgenommen. In einer Szene musste er zum Beispiel einen tollwütigen Hund erschießen und an dem Abend funktionierte die Pistole aus der Requisite nicht, aber niemand im Saal hat gelacht oder auch nur ein Raunen von sich gegeben. So gut war er.
Einmal ist er vor einer Probe bei uns zu Hause gewesen. Nur ungefähr fünf Minuten lang, aber ich habe es nicht vergessen.
Keine Ahnung, warum ich das überhaupt erzähle.
Als ich Mum daran erinnern will, dass Linus Atticus Fink gespielt hat, fällt mir auf, dass sie gar nicht mehr in der Küche ist.
Eine Sekunde später höre ich ihre Stimme: »Du hast für heute genug gespielt, junger Mann!«
Junger Mann.
Ich hechte zur Tür und spähe durch den Spalt. Frank kommt gerade mit vor Wut bebendem Gesicht hinter Mum in den Flur gelaufen.
»Wir hatten das Ende des Levels noch nicht erreicht! Du kannst doch nicht einfach so den Computer ausschalten! Kapierst du denn gar nicht, was du damit angerichtet hast, Mum? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie Land of Conquerors funktioniert?«
Er klingt richtig sauer. Seine schwarzen Haare fallen ihm in die blasse Stirn, er fuchtelt mit seinen langen Armen herum und gestikuliert wild mit seinen riesigen knochigen Händen. Ich hoffe, dass Frank eines Tages in seine Hände und Füße hineinwachsen wird. Sie können nicht so überproportional groß bleiben, oder? Der Rest von ihm holt sie doch bestimmt noch ein? Er ist fünfzehn, er könnte also durchaus noch ein paar Zentimeter wachsen. Dad ist ein Meter zweiundachtzig, sagt aber immer, dass Frank bestimmt mal größer wird als er.
»Ist schon in Ordnung«, sagt eine Stimme, die ich kenne. Sie gehört Linus, aber er steht außerhalb meines Blickfelds. »Ich geh dann mal nach Hause. Vielen Dank für alles.«
»Geh nicht!«, ruft Mum mit ihrer bezauberndsten Gastgeberinnenstimme. »Bitte bleib doch noch, Linus. Ich wollte dich damit keinesfalls aus dem Haus jagen.«
»Aber wenn wir nicht spielen können …« Linus klingt verwirrt.
»Willst du damit sagen, dass Computerspiele die einzige soziale Kontaktform ist, die ihr kennt? Weißt du eigentlich, wie traurig das ist?«
»Was sollen wir deiner Meinung nach denn sonst machen?«, fragt Frank finster.
»Warum geht ihr nicht in den Garten und spielt eine Runde Badminton? Es ist so ein schöner Sommerabend – und hier, sieh nur, was ich gerade gefunden habe!« Sie hält Frank unser altes Badmintonspiel hin. Das Netz ist total verzogen und die Federbälle sehen aus, als hätten irgendwelche Tiere daran herumgeknabbert.
Beim Anblick von Franks Gesicht würde ich am liebsten laut loslachen.
»Mum …« Er wirkt fast sprachlos vor Entsetzen. »Wo hast du das denn ausgegraben?«
»Oder Krocket!«, fügt Mum strahlend hinzu. »Das macht einen Heidenspaß, du wirst sehen.«
Frank antwortet gar nicht erst darauf. Allein die Vorstellung, Krocket zu spielen, scheint ihn so mitzunehmen, dass er mir sogar ein bisschen leidtut.
»Oder Verstecken?«
Ich presse mir prustend eine Hand auf den Mund. Ich kann nicht anders. Verstecken.
»Oder Rummikub!« Mum klingt verzweifelt. »Früher hast du Rummikub immer geliebt.«
»Ich mag Rummikub«, sagt Linus. Ich halte überrascht inne. Das ist ziemlich nett von ihm. Er hätte auch einfach gehen und auf Facebook posten können, dass es bei Frank zu Hause total ätzend ist. Aber er klingt, als wollte er Mum wenigstens ein bisschen entgegenkommen. Als würde er zu den Menschen gehören, die kein Problem damit haben, sich selbst auch mal zurückzunehmen, wenn es dazu dient, allen Beteiligten das Leben etwas leichter zu machen. (Jep. Das habe ich alles aus drei Worten herausgehört.)
»Du willst Rummikub spielen?«, fragt Frank fassungslos.
»Warum nicht?«, antwortet Linus achselzuckend, und einen Moment später verschwinden die beiden wieder im Spielzimmer. (Mum und Dad haben es neu gestrichen und in Hausaufgabenraum umgetauft, als ich dreizehn wurde, aber es ist immer noch das Spielzimmer.)
Kurz darauf steht Mum wieder in der Küche und schenkt sich ein Glas Wein ein.
»Na bitte!«, sagt sie. »Sie haben nur eine kleine Orientierungshilfe gebraucht. Ein bisschen elterliche Einflussnahme. Ich habe ihnen einfach etwas auf die Sprünge geholfen. Sie sind nicht computerspielsüchtig. Man muss sie nur daran erinnern, was es sonst noch so da draußen gibt.«
Sie spricht nicht mit mir, sondern mit dem imaginären Daily-Mail-Richter, der über ihr Leben wacht und Punkte von eins bis zehn dafür verteilt.
»Ich glaube nicht, dass es sonderlich viel Spaß macht, zu zweit Rummikub zu spielen«, sage ich. »Ich meine, das dauert doch ewig, bis man alle seine Spielsteine loswird.«
Ich kann förmlich sehen, wie Mum den Gedanken in ihrem Kopf wälzt. Mit Sicherheit stellt sie sich dasselbe Szenario vor wie ich: Frank und Linus, die sich mit finsteren Gesichtern am Rummikub-Tisch gegenübersitzen, sich zu Tode langweilen und zu dem Schluss kommen, dass alle Brettspiele total scheiße sind.
»Du hast recht«, sagt sie schließlich. »Vielleicht sollte ich mich einfach zu ihnen setzen und mitspielen. Damit es mehr Spaß macht.«
Sie fragt nicht, ob ich auch mitspielen will, wofür ich dankbar bin.
»Okay, viel Vergnügen«, sage ich und laufe mit meinen Oreos ins Fernsehzimmer zurück. Ich habe gerade angefangen, durch die Sender zu zappen, als Mums Stimme aus dem Spielzimmer durchs Haus hallt.
»Von Online-Rummikub ist nie die Rede gewesen!«
Unser Familienleben funktioniert ganz ähnlich wie das Wetter. Es gibt Hoch- und Tiefdruckgebiete, Windstille und orkanartige Böen. Manchmal ist der Himmel tagelang strahlend blau, dann wieder wolkenverhangen oder es bricht wie aus dem Nichts ein Gewitter los. Gerade zieht das Gewitter in meine Richtung. Donner-Blitz-Donner-Blitz, Frank-Mum-Frank-Mum.
»Wieso? Das macht doch überhaupt keinen Unterschied.«
»Und ob das einen Unterschied macht! Ich hab euch gesagt, dass ihr die Finger vom Computer lassen sollt!«
»Oh Mann, Mum. Es ist doch trotzdem dasselbe Spiel!«
»Ist es nicht! Ich will, dass du dich von diesem Bildschirm fernhältst! Ich will, dass du mit deinem Freund ein Spiel spielst! IM ECHTEN LEBEN!«
»Aber zu zweit ist Rummikub total öde. Da können wir ja gleich, keine Ahnung, Schnipp-Schnapp spielen.«
»Ich weiß!« Mums Stimme überschlägt sich fast. »Deswegen bin ich ja auch zu euch gekommen, um mitzuspielen!«
»Woher hätte ich das denn WISSEN SOLLEN, VERDAMMT NOCH MAL?«
»Hör auf, Kraftausdrücke zu verwenden, junger Mann! Sonst …«
Junger Mann.
Frank macht sein »Frank ist wütend«-Geräusch. Es ist eine Art Rhinozeros-Grunzen Schrägstrich frustrierter Schrei.
»Verdammt ist kein Kraftausdruck«, presst er schwer atmend hervor.
»Und ob es einer ist!«
»In den Harry-Potter-Filmen sagen sie ständig verdammt, okay? Harry Potter. Dann kann es ja wohl kaum ein schlimmes Wort sein, oder?«
»Wie bitte?«, sagt Mum, der Frank damit allen Wind aus den Segeln genommen hat.
»Harry Potter. Okay, das war’s dann von meiner Seite.«
»Hiergeblieben, junger Mann!«, ruft Mum. »Wir sind noch nicht fertig!«
Junger Mann. Jetzt hat sie es schon dreimal hintereinander gesagt. Armer Dad. Er wird sich ganz schön was anhören müssen, wenn er gleich nach Hause –
»Hi.« Linus’ Stimme überrascht mich so, dass ich erschrocken von der Couch aufspringe. Ich habe ziemlich gute Reflexe. Hypersensibel. Wie der Rest von mir.
Er steht in der Tür. Atticus Fink, schießt es mir durch den Kopf. Ein schlaksiger, braunhaariger Junge mit hohen Wangenknochen und zerzausten Haaren und einem Lächeln wie ein Orangenschnitz. Nicht dass seine Zähne orange wären. Aber sein Mund nimmt dieselbe Form wie ein Orangenschnitz an, wenn er lächelt. Was er gerade tut. Franks andere Freunde lächeln nie.
Er kommt herein und ich balle vor Angst instinktiv die Hände zu Fäusten. Wahrscheinlich hat er sich aus dem Staub gemacht, als das Mum-Frank-Gewitter aufzog. Aber niemand kommt einfach so in dieses Zimmer. Das ist mein Refugium. Hat Frank ihm das denn nicht gesagt?
Hat Frank es denn nicht erzählt?
Meine Brust hebt und senkt sich panisch. Mir schießen Tränen in die Augen und meine Kehle wird eng. Ich muss hier weg. Ich muss – ich kann nicht –
Niemand kommt hier rein. Niemand darf hier reinkommen.
Ich kann die Stimme von Dr. Sarah in meinem Kopf hören. Willkürliche Gesprächsfetzen aus unseren Sitzungen.
Atme ein und zähle bis vier. Atme aus und zähle bis sieben.
Dein Körper hält die Bedrohung für real, Audrey. Aber die Bedrohung ist nicht real.
»Hi«, sagt er noch einmal. »Ich bin Linus. Und du bist bestimmt Audrey, oder?«
Die Bedrohung ist nicht real. Ich versuche, mir die Worte in den Verstand zu hämmern, aber sie werden von der Panik hinweggefegt. Sie hüllt alles ein. Sie ist wie die Wolke einer Atombombenexplosion.
»Trägst du die immer?« Er deutet mit dem Kinn auf meine Brille.
Mein Herz rast vor Todesangst. Irgendwie schaffe ich es, mich an ihm vorbeizudrängen.
»Sorry«, keuche ich und hetze wie ein gejagter Fuchs in den Flur hinaus. Die Treppe hoch. In mein Zimmer. In die hinterste Ecke. Hinter den Vorhang, wo ich mich auf dem Boden zusammenkauere. Mein Atem klingt wie das Schnaufen einer Dampflok und mir strömen Tränen übers Gesicht. Ich brauche eine Clonazepam, aber im Moment schaffe ich es noch nicht einmal, hinter dem Vorhang hervorzukommen, um mir eine Tablette zu holen. Ich klammere mich an den Stoff wie an einen Rettungsring.
»Audrey?« Mum ist an der Tür und ihre Stimme ist vor Sorge ganz hoch. »Schatz? Was ist passiert?«
»Es ist nur … du weißt schon.« Ich schlucke. »Dieser Junge kam rein und ich hab nicht damit gerechnet und …«
»Ist schon okay.« Mum kommt zu mir und streichelt mir beruhigend über den Kopf. »Wirklich. Das ist absolut nachvollziehbar. Willst du eine …«
Mum spricht den Namen des Medikaments nie laut aus.
»Ja.«
»Ich hole sie dir.«
Sie geht ins Badezimmer und ich höre das Geräusch von fließendem Wasser. Und komme mir einfach nur dumm vor. Dummdummdumm.
Jetzt wisst ihr es also.
Das heißt, wissen tut ihr es wohl nicht – ihr vermutet es. Dann will ich euch nicht länger auf die Folter spannen. Die vollständige Diagnose lautet: Soziale Phobie und Generalisierte Angststörung mit depressiven Episoden.
Episoden. Als wäre eine Depression eine Sitcom, bei der es jedes Mal eine witzige Pointe gibt. Oder eine Serienstaffel, bei der jede Folge mit einem Cliffhanger endet. Der einzige Cliffhanger in meinem Leben ist die Frage: »Werde ich diesen Scheiß jemals loswerden?« Und glaubt mir, das ist auf Dauer leider überhaupt nicht mehr spannend.
Sie heißt McVeigh mit Nachnamen, aber wir nennen sie Dr. Sarah, weil man sich hier im Krankenhaus in einer extra zu diesem Thema abgehaltenen Besprechung darüber geeinigt hat, dass Vornamen mehr Vertrauen schaffen, der Zusatz Dr. aber gleichzeitig Autorität und Kompetenz vermittelt, weshalb Dr. plus Vorname als Ansprache die perfekte Lösung für die Ärzte in der Kinder- und Jugendabteilung war.
Die Kinder- und Jugendabteilung befindet sich im St. John’s Hospital, einer großen Privatklinik, deren Kosten unsere Krankenversicherung aber zum Glück übernimmt. (Die erste Frage, die sie einem stellen, wenn man dort ankommt, ist nicht »Wie geht es Ihnen?«, sondern »Sind Sie versichert?«.) Ich war sechs Wochen stationär hier, nachdem Mum und Dad herausgefunden hatten, dass irgendetwas absolut nicht mit mir stimmte. Das Problem ist, dass eine Depression sich nicht mit so offensichtlichen Symptomen wie Ausschlag oder Fieber ankündigt, sondern sich eher unmerklich anschleicht. Man behauptet ständig: »Es ist alles in Ordnung, mir geht’s gut«, obwohl es einem überhaupt nicht gut geht. Aber man denkt, dass es einem doch eigentlich gut gehen sollte, und fragt sich die ganze Zeit: »Warum geht es mir bloß so mies?«
Am Ende haben Mum und Dad einen Termin bei unserem Hausarzt für mich gemacht, der mich dann ins St. John’s überwiesen hat. Ich war in keiner besonders guten Verfassung. Ehrlich gesagt kann ich mich kaum noch an die ersten Tage erinnern. Jetzt komme ich nur noch zweimal die Woche hierher. Wenn ich wollte, könnte ich auch öfter kommen und zum Beispiel Cupcakes backen. Aber ich habe hier schon ungefähr fünfundfünfzig Milliarden Cupcakes gebacken, und zwar immer nach demselben Rezept.
Als ich Dr. Sarah die ganze Hinter-dem-Vorhang-verstecken-Geschichte erzählt habe, betrachtet sie eine Weile bedächtig die Kästchen auf dem Fragebogen, den ich zu Beginn der Stunde ausgefüllt habe. Das Schema ist immer das Gleiche.
Fühlst du dich wie eine Versagerin? Ja, ständig.