Das Leben meistern - Peter Wißmann - E-Book

Das Leben meistern E-Book

Peter Wißmann

0,0

Beschreibung

Sein Leben meistern und das Heft des Handelns in der Hand behalten, darum geht es in diesem Ratgeber. Er richtet sich an beide: an Menschen mit Vergesslichkeit & Co. oder mit einer 'Demenzdiagnose' (Frühbetroffene) und an zugehörige Personen. Er informiert, regt vor allem aber zur Selbstreflexion und zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit der gegebenen Situation an, denn nur als Team kann es gelingen, sie positiv zu gestalten. Er stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbsthilfekräfte der betroffenen Menschen und ihrer Zugehörigen. Er vereint langjährige berufliche Kompetenz mit der Kompetenz der 'Expertinnen in eigener Sache'. Er ist mehr als ein Ratgeber. Neben dem Buch bietet er eine digitale Wissensschatzkammer mit vertiefenden Informationstexten und hilfreichen Arbeitsblättern sowie die Möglichkeit, an Videotreffen teilnehmen, um sich mit anderen (betroffenen) Menschen auszutauschen und sein Wissen zu erweitern. Er bietet zudem Profis ein praxistaugliches Instrument für die Beratungs- und Unterstützungsarbeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 326

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unser Dank geht an

die Mitglieder des Team-WaL-Freundeskreises –

Max Laimböck, Silke Reiß-Naumann & Kalle Müller, Angela Pototschnigg & Johanna Püringer, Christian Peters & Adelheid Sieglin, Beni Steinauer & Rolf Könemann, Jutta Streese & Georg Jungkamp-Streese –

für ihre Beiträge im Text und die fruchtbaren Diskussionen, die wir miteinander geführt haben und auch weiterhin führen werden

an

Yasemin & Frank Aicher

für ihre Statements im Text

an

Angela Pototschnigg

für ihre Bereitschaft, ein Vorwort zum Ratgeber zu schreiben

an die

vielen Menschen mit Vergesslichkeit & Co. sowie die Zugehörigen,

die wir im Lauf vieler Jahre kennenlernen durften und deren Beispiele und Erfahrungen Eingang in unseren Ratgeber gefunden haben

an

Michael Ganß

für seinen kritischen Blick auf das Manuskript und sein Feed-back

an

Stephanie Palfinger

für das Korrigieren von grammatikalischen Fehlern

an

Christian Palfrader

für seine Unterstützung bei der grafischen Gestaltung

an

Durga Wißmann

für das Foto der Autorinnen

an

Charly

, unseren Malteser, der uns mit seinem Quietschball immer wieder zu Arbeitspausen motiviert hat.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1 : Das Vorspiel

Der Fleck

Eine Geschichte in zwei Varianten

Bevor Sie loslegen

Eine Einführung in den Ratgeber

Teil 2: Wenn es anders wird

Da ist etwas!

Wie Sie mit ersten Anzeichen umgehen können

Worum geht es?

Was ist mit mir?

Wie Sie lernen, genau zu beobachten

Erinnern & Vergessen

Warum beides dazugehört

Wie Sie dem Monster ,Demenz' den Schrecken nehmen

Teil 3: Bahnungsphase

Worauf es jetzt ankommt!

Wie Sie typische Fehler vermeiden können

Vorsicht! Kippschalter!

Wie Sie verhindern, dass alles ins Rutschen gerät

Das läuft jetzt so!

Wie Sie Bevormundung entgegenwirken können

Im Wechselbad der Gefühle

Wie Sie hinschauen und loslassen lernen

Die Kraft des Geistes

Wie Sie mit Ihren Gedanken Ihr Leben steuern

Leben unter der Käseglocke?

Wie Sie die Sicherheitsfalle umgehen können

Überflüssig wie ein Kropf

Warum Sie Schamgefühlen keine Chance geben sollten

Am „Früher“ kleben

Warum Ihnen Loslassen Freiheit schenkt

Schleichende Einflüsse

Wie Sie Sie selbst bleiben können

Teil 4: Spotlight ,Demenz'

Diagnose – alles gut?

Wie Sie Vor- und Nachteile abwägen können

Das Behandlungsversprechen

Wie Sie es realistisch einschätzen können

Umweltbedingungen statt Gehirnmüll

Was Sie von den Nonnen lernen können

Teil 5: Handeln

Aktiv sein

Wie Sie Altes bewahren und Neues entdecken können

Dabeisein und mitgestalten

Wie Sie Ihr Recht auf Teilhabe umsetzen können

Stark durch die Gemeinschaft

Warum Sie soziale Beziehungen pflegen sollten

Kraftquelle Gleichbetroffene

Was Ihnen Kontakt und Austausch mit anderen Betroffenen gibt

Mehr als nur Gehirn

Wie Sie Ihr Leibgedächtnis fördern können

Normal oder verrückt?

Warum es sich lohnt, die Dinge auch schon mal zu verrücken

Schwächen ausgleichen

Wie Sie Tricks anwenden und Hilfsmittel einsetzen können

Das Gedächtnis warten

Wie Sie sinnvoll Gedächtnistraining nutzen können

Die Gehirngesundheit pflegen

Was Sie präventiv tun können

In die Zukunft blicken

Wie Sie sinnvoll vorsorgen können

Arbeitsplatz adé?

Was Sie tun können, damit es anders kommt

Orientierung oder Verwirrung?

Wie Sie Informationen filtern und händeln können

Verbündete suchen

Wie Sie Profis zu Partnerinnen machen

Teil 6: Schwere Zeiten

Wenn es schwerer wird

Was Sie bedenken sollten

Teil 7 : Hinter den Kulissen

Mehr als ein Ratgeber

Das Drei-Bausteine-Paket

Das Team WaL

Wer wir sind und was wir tun

Unsere Quellen

Zitatnachweise und Literatur

Vorwort

Liebe Christina, lieber Peter,

euer gemeinsamer Ratgeber ist erschienen und ich gratuliere von ganzem Herzen.

Ihr habt den Wunsch gehabt, mich um ein Vorwort zu bitten, was mich ehrt. Um dies tun zu können, durfte ich vorab Auszüge aus Eurem Buch lesen – und ich habe vieles wiedererkannt. Situationen, die auch in meinem Leben vorkamen, Sätze, die auch ich denke und Strategien, die ich verwende, um mit Vergesslichkeit & Co. umgehen zu können.

Ich könnte mir vorstellen, dass es einige unter den Lesern und Leserinnen gibt, die sich die Frage stellen: geht das überhaupt? Eine Betroffene, die ein Geleitwort schreibt?

Ich sage: ja, das geht und ich weiß, dass auch Ihr dieser Meinung seid. Aber jede Leserin und jeder Leser kann sich selbst eine Meinung bilden.

Es wird höchste Zeit, dass wir uns von unserem Schweigen lösen, welches die Generationen vor uns noch so oft praktiziert haben. Nur wenn wir über unsere Wünsche und Bedürfnisse mit den Menschen in unserem Umfeld sprechen, ist es möglich, dass jene Personen, die uns nahestehen, uns gut unterstützen können.

Millionen von Menschen haben ähnliche Probleme im Leben wie ich, und es liegt mir fern, mich für Einschränkungen zu schämen oder mich zurückzuziehen.

Euer Ratgeber ist ein Mutmachbuch, damit Menschen mit kognitiven Veränderungen endlich ihr Schweigen beenden und aktiv werden – denn auch das ist schon lang überfällig!

Ich bin jedem Menschen, der im Demenzbereich arbeitet, dankbar, wenn sie/er mir nicht nur mit dem nötigen Fachwissen gegenübertritt, sondern mich auch als ganzheitliche Person sieht, eine achtsame Sprache verwendet und mir auf Augenhöhe und mit Empathie begegnet. Das ist bei Euch der Fall.

Wir kennen uns nun schon einige Zeit, und obwohl wir uns persönlich gar nicht so oft treffen, bleibt EmpowerMenz als Verbindung. Diese Vereinigung von Unterstützten Selbsthilfegruppen ist eine tolle Möglichkeit für mich und ähnlich betroffene Personen, eine Stimme zu bekommen und sichtbar zu sein.

Im Laufe meiner Erkrankung habe ich verstanden, dass es nicht genügt, mich als „Betroffene“ zu bezeichnen, denn ich finde, auch Angehörige sind betroffen von „Demenz“, allerdings auf eine andere Weise.

In meiner Vorstellung liegt ein runder Berg zwischen uns, mit verschiedenen Zugängen. Es gilt, diesen Berg von beiden Seiten zu besteigen und sich oben am Bergrücken zu begegnen, sodass Missverständnisse möglichst ausgeräumt sind und wir einen ehrlichen Umgang miteinander pflegen können.

Euer Buch ist das erste, das ich gelesen habe, welches diese Tatsache anspricht, beide Sichtweisen ausführlich beschreibt und Strategien sowie Unterstützung anbietet. Nur eine Seite zu unterstützen heißt, die Schieflage noch mehr zu fördern. Es ist euch gelungen, beide Seiten in einem Buch zusammenzuführen. Natürlich wünsche auch ich mir, dass meine Familie weiterhin zu mir hält und für mich da ist, ohne dass die Überforderung überhandnimmt.

Und so hoffe ich, es wird uns weiterhin gelingen, uns auf dem Bergrücken zu treffen – und das wünsche ich auch den Lesern und Leserinnen eures Textes.

Möglichst lange selbstbestimmt leben zu können ist einer unserer häufigsten Wünsche, und wie schnell wird uns das abgesprochen! Zu wenig wird auf die Fähigkeiten gesehen, die jede und jeder Einzelne von uns hat und über die wir noch lange verfügen können, Meine Kinder sind längst erwachsen und ich lebe allein – jedoch mit Assistenz, die mir bei vielen Dingen zur Seite steht, die ich gern machen möchte, aber allein nicht mehr gut hinbekomme. Und so sehe ich Vergesslichkeit & Co. auch nicht als Schrecken meines Alters an, sondern als eine andere Form, das Alter zu erfahren, und manchmal entdecke ich noch neue Möglichkeiten für mich.

Also mit Mut in die neue Lebenszeit zu gehen, möchte ich allen Menschen mit kognitiven Einschränkungen nahelegen.

Nach dem Durchlesen Eures Manuskriptes habe auch ich den Mut, etwas Neues in mein Leben zu lassen. Ich möchte – als vermeintlich unmusikalische Person (ich mag auch nicht selbst singen) – in einer für mich geeigneten Form das Trommeln erlernen. Ich mache mich jetzt auf die Suche nach einer Möglichkeit, meinen Wunsch umzusetzen – und vielleicht eigne ich mir noch ein gutes Rhythmusgefühl an... Auch ich lerne nie aus!

Ich wünsche euch viele Leser und Leserinnen, die eure Gedanken als hilfreiche Unterstützung sehen.

Angela Pototschnigg (Wien)

Das Vorspiel

1. KapitelDer Fleck

Eine Geschichte in zwei Varianten

An der Ampel entdeckte Carmen den Kaffeefleck auf ihrem weißen T-Shirt. Sofort wurde ihr vor Schreck siedend heiß. Ein Fleck, um Gottes Willen, ein dicker, brauner Kaffeefleck auf ihrem T-Shirt! Was für ein Malheur!

Carmen war auf dem Weg zum Supermarkt, wo sie ihren Mann Herbert treffen wollte. Hektisch blickte sie sich nach links und rechts um. Hatte irgendjemand den Fleck schon entdeckt? Welche Schande! Nicht auszudenken, wenn alle Menschen so verdreckt umherlaufen würden, wie sie das gerade tat! Ausgerechnet sie! Sie war doch keine Pennerin! Sie wusste doch am besten, was sich ziemt und was nicht.

Ein Mädchen, kaum älter als vierzehn Jahre, blickte sie an. Nein, es schaute direkt auf den braunen Fleck auf ihrem T-Shirt. Was sollte sich so ein junger Mensch nur denken! Dass es älteren Leuten völlig gleichgültig ist, wie sie herumlaufen? Dass Schlampigkeit ganz okay ist? Carmen wäre in diesem Moment am liebsten im Erdboden verschwunden. Beschämt legte sie ihre Hände auf den hässlichen Fleck und überquerte die Straße. Sie beschleunigte ihren Schritt und schaute sich dabei immer wieder hektisch um. So darf mich mein Mann auf keinen Fall sehen, fuhr es ihr plötzlich durch den Kopf. Ich muss sofort umkehren! Doch zu spät. Nur noch zwanzig Meter entfernt kam Herbert, mit Einkaufstaschen beladen, bereits auf sie zu. Wie zur Abwehr streckte ihm Carmen beide Hände entgegen. Und so entdeckte ihr Mann den Kaffeefleck. Carmen schaute in seine weit aufgerissenen Augen. Sein Mund stand sperrangelweit offen. Was um Himmels Willen ist denn das, stammelte er. Du läufst ja schon wieder völlig verdreckt umher! Schon das dritte Mal in dieser Woche! Hast du denn gar kein Schamgefühl? Hier, nimm! Halt dir sofort die Einkaufstasche vor das T-Shirt. Mein Gott! Alle Welt kann das sehen!

Er hatte ja recht. Carmen wusste, dass ihr so etwas in letzter Zeit öfters passierte. Ihr selbst war es doch auch peinlich. Warum musste Herbert dann noch in aller Öffentlichkeit solch eine Szene machen? Jetzt schauten die Leute doch erst recht auf sie – und auf den Fleck. Sei endlich ruhig, zischte sie und wandte sich abrupt zum Gehen. Nur noch schnell nach Hause, schoss es ihr durch den Kopf. Herbert versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Sie konnte in ihrem Rücken seine Stimme hören: So eine Schande! Ich kann mich bald nirgendwo in der Nachbarschaft mehr sehen lassen. Was ist nur aus meiner feschen Frau geworden! Wie eine Gammlerin läuft sie herum.

Zuhause angekommen setzten Carmen und Herbert ihren Streit fort. Es waren böse Worte, die zwischen ihnen hin- und hergingen. Als es ihr zu viel wurde, ging Carmen in das kleine Arbeitszimmer und verschloss die Tür hinter sich. Sie konnte die Stimme ihres Mannes hören, der gerade ihre gemeinsame Tochter anrief. Es wird immer schlimmer mit Mama, hörte sie ihn sagen. Warum ist sie nur so schlampig geworden? Ich erkenne sie nicht wieder. Und wenn ich etwas sage, dann reagiert sie immer gleich aggressiv. Komm du doch bitte einmal vorbei und rede mit ihr. Mach ihr klar, dass es so nicht weitergehen kann. Denn sonst... sonst muss ich mir etwas anderes überlegen.

Carmen hatte genug gehört. Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. Nicht mit mir, stieß sie hervor, nicht mit mir!

An der Ampel entdeckte Carmen den Kaffeefleck auf ihrem weißen T-Shirt. Ein dicker brauner Kaffeefleck. Sie seufzte. Hätte ihr das nicht schon beim Verlassen der Wohnung auffallen können? Jetzt war sie bereits auf dem Weg zum Supermarkt, wo sie ihren Mann Herbert treffen wollte. Sie zuckte mit den Achseln. Ein Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren blickte sie an. Nein, es schaute direkt auf den braunen Fleck auf ihrem T-Shirt. Sieht nicht so cool aus, oder? fragte Carmen sie. Das Mädchen grinste. Hab' ich auch dauernd, sagte sie. Das Leben ist halt gefährlich! Jetzt musste auch Carmen grinsen.

Mein Gott, wie heftig hätte sie sich früher, als sie noch Leiterin eines Versicherungsbüros gewesen war, über so ein Malheur geärgert. Aber das war schon lange her. Carmen sah ihren Mann mit Einkaufsbeuteln vollgepackt auf sich zukommen. Ach, schau an! Schon wieder gekleckert, feixte er. Tja, wenn ich mal eine halbe Stunde aus dem Haus bin...!

Carmen lachte. Ohne dich geht halt nichts mehr. Sieht man ja!

Herbert gab ihr einen Kuss. Gut, dass du das endlich einsiehst, sagte er lächelnd. Hast du Lust auf einen Kaffee? Dort hinten gibt es einen italienischen, der schmeckt toll!

Aber gern, antwortete Carmen. Ich lass mir doch von so einem blöden Fleck nicht den Genuss eines echten italienischen Kaffees vermiesen. Aber komme ich überhaupt mit dem bekleckerten T-Shirt in das Café hinein?

Wird uns schon niemand rauswerfen, meinte Herbert und lachte. Und außerdem... Er griff in seine linke Tasche und zog mit einem Ruck ein weißes Stoffbündel hervor. Tatarata! rief er. Schau mal, was dein lieber Mann dabeihat: ein sauberes T-Shirt für dich! Kannst du gerne vorher noch gegen das Kleckershirt auswechseln.

Carmen seufzte erleichtert. Wie immer perfekt vorbereitet! Du bist einfach Gold wert. Gib her, ich wechsle es dann gleich hier hinter dem Baum, da sieht mich niemand.

Sie reichte ihrem Mann den kleinen Rucksack, den sie stets mit sich führte, wenn sie das Haus verließ. Während Carmen blitzschnell das verunreinigte T-Shirt ablegte und das frische T-Shirt überstreifte, schaute Herbert in den geöffneten Rucksack. Er griff hinein und zog ein Stück Stoff hervor.

Wow, entfuhr es ihm, das ist ja ein weißes T-Shirt! Carmen, du hast selbst ja auch an ein Ersatzshirt gedacht!

Carmen schaute ihn entgeistert an. Habe ich? Wirklich? Aha! Da siehst du wieder einmal, wie organisiert ich bin.

Beide lachten prustend los. Überrascht schauten sich einige Fußgängerinnen nach ihnen um. Carmen hakte sich bei Herbert ein und sie nahmen Kurs auf das kleine italienische Café am Ende der Einkaufsstraße.

2. KapitelBevor Sie loslegen

Eine Einführung in den Ratgeber

Warum dieser Ratgeber?

Es gibt immer mehr Bücher zum Thema Vergesslichkeit oder ,Demenz' – gute und schlechte. In den meisten werden immer wieder die gleichen Themen behandelt: Diagnosen, Verläufe, Medikamente und mehr. Was fehlt, ist ein Ratgeber, mit dem betroffene Menschen und ihnen nahestehende Personen an ihrer Lebensplanung und -gestaltung konstruktiv arbeiten können. Unser Ratgeber möchte diese Lücke schließen.

Für wen ist dieser Ratgeber?

Müssen Sie in Ihrem Leben mit Vergesslichkeit, Orientierungsschwächen oder anderen kognitiven Einschränkungen zurechtkommen?

Haben Sie eine ,Demenzdiagnose' erhalten? Oder steht dergleichen vielleicht an? Sind Sie eine so genannte Frühbetroffene?

Uns geht es um alle, die kognitive Veränderungen erleben. Mit oder ohne Diagnose.

Sind Sie eine Zugehörige, das heißt, eine Person, die mit jemandem mit Vergesslichkeit & Co. oder einer ,Demenzdiagnose' in enger Verbindung steht? Weiter unten erklären wir den Begriff Zugehörige genauer.

Bewegt Sie die Angst vor zunehmender Vergesslichkeit & Co. und möchten Sie sich deshalb schon einmal präventiv mit dieser möglichen Lebenssituation auseinandersetzen?

Zählen Sie zu den professionellen Helferinnen, die nach einem wirkungsvollen Instrument für ihre Beratungs- und Unterstützungsarbeit suchen?

Wenn Sie zu einer der genannten Personengruppen gehören, sind Sie richtig!

Kognitive Funktionen: Die Arten

Aufmerksamkeit: Das Gehirn muss täglich entscheiden, welche Eindrücke und Informationen relevant sind und welche nicht.

Wahrnehmung: Die bewusste Informationsaufnahme, bei der die verschiedenen Sinnesorgane des Menschen zum Einsatz kommen.

Lernen: Die Lernfähigkeit beschreibt die Fähigkeit des Menschen, sich Verhaltensweisen anzueignen, sie ist eng verbunden mit der Merkfähigkeit.

Erinnern, Merken: Das ist die Fähigkeit von Menschen, Informationen im Gedächtnis zu speichern, um sie später wieder hervorzurufen.

Abstraktion: Hier kann das Gehirn Situationen oder Erlebtes auf allgemeingültige Eigenschaften reduzieren. Siehe 260 (1).

Unsere Begrifflichkeiten

Wir verwenden in dem Text Begriffe und bedienen uns Schreibweisen, die für Sie vielleicht ungewohnt sind.

Vergesslichkeit & Co.:

Damit sind alle kognitiven Beeinträchtigungen, zum Beispiel die des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, der Orientierung und mehr gemeint.

,Demenz':

Weil wir diesen Begriff ungeeignet finden, setzen wir ihn in Anführungsstriche oder sprechen von sogenannter Demenz.

Wir verwenden durchgängig die

weibliche Anredeform.

Also Helferinnen statt Helfer, Ärztin statt Arzt, Vereinsvorsitzende statt Vereinsvorsitzender. Gemeint sind dennoch alle: Männer und Frauen sowie Angehörige anderer Geschlechter. Warum tun wir das? Weil wir es für angebracht halten, nach jahrhundertelangem Vorrang der männlichen Anredeform endlich einmal den Spieß umzudrehen!

Zugehörige:

Es gibt die Person mit Vergesslichkeit und Co. und es gibt Personen, die in einer nahen Beziehung zu ihr stehen und eine wichtige Stütze darstellen. Wir nennen sie Zugehörige, gleich ob es sich um die Ehefrau, eine Freundin, den Sohn oder eine engagierte Nachbarin oder Vereinskollegin handelt.

Was sind die Ziele und Inhalte des Ratgebers?

Es gibt eine

Bahnungsphase,

in der sich entscheidet, welche Richtung das Leben mit Vergesslichkeit & Co. für Sie nimmt: Scheitern oder meistern? Genau hier setzt der Ratgeber an. Er will Sie ermutigen und zur aktiven Auseinandersetzung mit den vor Ihnen stehenden Herausforderungen anleiten.

Er will Sie

befähigen, das Leben mit Vergesslichkeit & Co. zu meistern.

Dazu braucht es mehr und oft auch andere als die üblichen Informationen zum Thema ,Demenz' oder Vergessen. Es geht vor allem um Klärungsprozesse, Dialog, Hinterfragen, sich befragen, Vermeidung von Stolperfallen und selbstbewusstes Handeln. Das kann in Beziehungen jedweder Art nur gemeinsam erfolgen. Wir setzen auf Teamarbeit!

Er will Sie dazu ermutigen, sich aus einer passiven ,Patientinnenrolle' beziehungsweise einer überfordernden Helferinnenrolle zu lösen und

Ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Warum ist es „Mehr als nur ein Ratgeber“?

Es ist ein Ratgeber, der auch ungewohnte und kritische Perspektiven einnimmt. Er wiederholt nicht einfach, was schon tausendfach gesagt wurde und er traut sich, tausendfach Gesagtes zu hinterfragen.

Er erteilt nicht kluge Ratschläge, sondern fordert Sie zur Arbeit an sich, an Ihrer Situation, an Ihrer Beziehung, an Ihren Glaubenssätzen, an Ihren Emotionen und an Ihrer Zukunft auf. Er liefert die Informationen und die Fragen, die Sie dazu benötigen. Aber Meisterin Ihres Lebens müssen Sie selbst werden!

Er ist nicht am grünen Tisch entstanden. Er basiert auf den Erfahrungen vieler Betroffener – Menschen mit Vergesslichkeit & Co. sowie ihrer Zugehörigen. Diese Erfahrungen haben in vielfacher Art Eingang in den Text gefunden. Eine Reihe betroffener Personen und Zugehöriger hat aktiv an der Entstehung des Ratgebers mitgewirkt. Unser Buch gründet zudem auf der jahre- bzw. jahrzehntelangen Praxis der beiden Autorinnen in der Arbeit mit älteren Menschen sowie mit Personen mit Vergesslichkeit & Co.

Er ist „Mehr als ein Ratgeber", weil er es nicht bei dem Buch, in dem Sie gerade lesen, belässt, sondern Ihnen einen darüber hinausgehenden Service bietet:

» Digitale Austausch- und Informationsrunden, Gespräche mit den Autorinnen sowie Austausch, Diskussion und Kontakte mit Gleichbetroffenen.» Zugriff auf eine umfangreiche Wissensschatzkammer rund um das Thema Vergesslichkeit & Co. sowie ,Demenz'.

Nähere Informationen zur Wissensschatzkammer sowie zu den allen Leserinnen offenstehenden Austausch- und Informationsrunden finden Sie auf Seite → ff.

Wie Sie mit dem Ratgeber arbeiten können

Viele Ratgeber neigen dazu, die Leserinnen mit großen Mengen an Detailinformationen zu füttern. Das macht das Lesen oftmals beschwerlich und kann den großen Zusammenhang schnell verhüllen. Zudem kann ein Buch dadurch enorm aufgebläht werden. Unser Ratgeber stellt die nach unserer Erfahrung zentralen Themen und Fragen in den Mittelpunkt, um die es geht, wenn Vergesslichkeit & Co. ins Leben eintreten. Daher

verlieren wir uns im Text

nicht in ausufernden Sachinformationen

zu speziellen Aspekten, sondern konzentrieren uns auf die wesentlichen. Doch immer wieder wird es so sein, dass Sie zu einzelnen Fragen dennoch mehr und tiefergehende Informationen wünschen. Die erhalten Sie auch! In der Wissensschatzkammer sind zu zahlreichen Themen des Buches

Informationsblätter und weiterführende Texte,

Videolinks und mehr

hinterlegt.

Im Wissensschatzbereich werden Sie weiterhin eine Reihe von

Arbeitsblättern

finden. Sie helfen Ihnen dabei, Ihre Gedanken zu ordnen, sich über etwas klar zu werden oder ein Problem in seine Einzelteile aufzugliedern. Einige dienen dazu, sich auf besondere Situationen vorzubereiten: das klärende Gespräch mit einer zugehörigen Person oder den Termin mit dem Facharzt zum Beispiel.

Der Ratgeber ist ein

Arbeitsbuch für Menschen wie „dich und mich“

und keine wissenschaftliche Abhandlung. Daher wird der Lesefluss in ihm nicht durch Fußnoten, ständige Quellennachweise oder eine komplizierte Fachsprache gestört. Originalzitate sowie inhaltliche Quellen, aus denen wir schöpfen und die Eingang in die Kapitel gefunden haben, nennen wir am Ende des Ratgebers.

Eine Person mit Vergesslichkeit & Co. oder einer ,Demenzdiagnose‘ und eine Zugehörige haben naturgemäß zu bestimmten Fragen unterschiedliche Interessen und Perspektiven. Dennoch stehen sie vor der Herausforderung, das Leben gemeinsam zu meistern. In unserem Ratgeber geht es

um beide Perspektiven.

Große Teile des Buchtextes gelten für beide beteiligten Seiten. Wo immer nötig, differenzieren wir jedoch und beleuchten die Themen aus den unterschiedlichen Perspektiven, zum Beispiel den Aspekt Sicherheit aus dem Blickwinkel der Person mit Vergesslichkeit & Co. und aus dem Blickwinkel der zugehörigen Person. Sie sollen die Perspektive des jeweils anderen verstehen lernen, darüber in den Austausch gehen und miteinander zu Vereinbarungen kommen.

Der Ratgeber vereint verschiedene Elemente, die Sie an einem typischen Symbol erkennen und einordnen können:

Hier erklären oder definieren wir in knapper Form Begriffe, die wichtig für das Verständnis des Textes sind – so etwa das Wort Kognition.

Immer wieder fordern wir Sie, die Leserinnen, dazu auf, sich bestimmte Fragen zu stellen, in sich zu gehen oder über etwas nachzudenken – und geben dazu Anregungen.

Am Ende jedes Kapitels verweisen wir auf weiterführende Informationen und Arbeitsblätter, die Sie in unserer Wissensschatzkammer finden, lesen und downloaden können.

Aus dem Leben

Hier werden Themenaspekte und Aussagen durch Beispiele von Situationen oder Menschen, die wir persönlich kennen oder kennengelernt haben, unterfüttert. So gut wie immer werden die echten Namen der Personen verwendet. Nur in einigen wenigen Fällen haben wir den Namen oder Informationen wie beispielsweise den Wohnort verändert.

Diese Formatierung sagt Ihnen: Die Mitglieder unseres Team-WaL-Freundeskreises (sowie zwei weitere Personen) nehmen zu wichtigen Aspekten der Thematik Stellung und lassen uns an ihren Erfahrungen teilhaben. Dem Freundeskreis gehören betroffene Menschen und Zugehörige an.

Nicht nur den Inhalt, auch die grafische Gestaltung haben wir komplett selbst geleistet. Zahlreiche Bilder und Grafiken sollen Ihnen andere als rein textliche Möglichkeiten des Verstehens eröffnen. Zudem wollen wir dazu beitragen, eine Bildsprache zum Thema Vergesslichkeit & Co. zu schaffen, die freundlicher ist als diejenige, die uns normalerweise begegnet.

Wenn es anders wird

Kapitel 3 Da ist etwas!

Wie Sie mit ersten Anzeichen umgehen können

Alles auf der Welt hat einen Anfang. Kognitive Veränderungen auch. In diesem Kapitel zeigen wir, wie man auf solche Veränderungen reagieren kann und welche Reaktionen mehr, und welche weniger hilfreich sind.

Irgendwann bemerken Sie es. Oder eine Ihnen nahestehende Person bemerkt es zuerst. Irgendetwas ist anders als sonst.

Person mit Vergesslichkeit & Co.

Vergessen Sie mehr Dinge als früher? Zum Beispiel Namen, Wege, Verabredungen, Dinge vom Vortag?Wissen Sie gelegentlich auf Ihrem Weg durch die vertraute Stadt nicht mehr genau, wo lang es zu Ihrem Ziel geht?Wollen Sie gern den Roman, den Sie zum Geburtstag geschenkt bekommen haben, in Ruhe genießen, können sich aber partout nicht darauf konzentrieren?Fällt es Ihnen plötzlich schwer, die Ausgaben für Ihren letzten Einkauf zu berechnen?Liegen Ihnen oftmals Wörter auf der Zunge, die Ihnen in der konkreten Situation jedoch absolut nicht einfallen wollen?So oder so ähnlich schildern viele Menschen den Moment, in dem sie zum ersten Mal bemerken, dass irgendetwas bei ihnen ,nicht mehr stimmt' – besser ausgedrückt: dass sich etwas bei Ihnen verändert hat.Kennen Sie solche Situationen? Falls ja: Wie haben Sie darauf reagiert?

Millionen Menschen, denen dergleichen widerfahren ist, reagierten beispielsweise mit:

Ungläubigkeit:

Das kann doch gar nicht sein! Ich altes Mathegenie werde doch wohl noch wissen, wie man ein paar Zahlen addiert!

Lähmung:

Was ist das? Ich weiß nicht, was ich tun soll! Was soll ich nur tun!?

Abwehr:

Nein, nein! Bei mir doch nicht! Davon will ich gar nichts hören und wissen!

Unbekümmertheit:

Na ja, ist ja nicht so schlimm. Was soll schon sein? Davon lass ich mir nicht die Laune verderben.

Scham:

Oh weh, wenn das meine Kinder mitbekommen! Wie steh ich dann da? Wie ein alter vergesslicher Trottel! Ich möchte vor Scham im Boden versinken.

Aktion:

Sehr komisch! Ich muss der Sache auf den Grund gehen. Ich rufe mal gleich meine Ärztin an und schaue im Internet nach, was dort dazu steht.

Offenheit:

Das irritiert mich jetzt aber! Am besten, ich berate mich gleich einmal mit meiner Frau und mit meinen Kindern.

Panik:

Um Gottes willen! Alzheimer! Demenz! Jetzt bin ich dran! Jetzt ist alles aus!

„Irgendwann kam dann die Umstellung von der Sommer- auf die Winterzeit. Ich wollte meine Uhr umstellen, aber ich wusste in dem Moment überhaupt nicht mehr, wie das geht. Kurz vorher hatte ich mehrmals erlebt, dass ich im Betrieb meine Buchhaltungsaufgaben gar nicht mehr auf die Reihe bekam. Jetzt, nach dem Erlebnis mit der Uhr, war mir klar: Du musst der Sache auf den Grund gehen!“

Beni Steinauer

Denken Sie nach, wie Ihre erste Reaktion damals ausgesehen hat – oder heute noch ausschaut. Was haben Sie gedacht? Wie fühlte es sich an? Was haben Sie getan?

Worum geht es?

Älter werden

Sie kennen sicherlich den Spruch: Alt werden möchte jede Person, alt sein jedoch niemand! Wer lange leben möchte, wird in Kauf nehmen müssen, dass er altert. Wir halten nichts von der weit verbreiteten Geringschätzung des Alters, sondern sind der Meinung, dass das Alter zahlreiche neue Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Das ändert jedoch nichts daran, dass Altern immer auch die Veränderung körperlicher Fähigkeiten bedeutet. Achtzig Jahre alt, aber körperlich fit wie eine vierzigjährige Person sein, das geht nun einmal nicht. Sollten Sie älter sein – was immer man auch unter ,älter' verstehen mag – dann kennen Sie das bereits:

Der Fernseher muss lauter gestellt werden, damit man seinem Lieblingskrimi folgen kann.

Das Kleingedruckte auf der Lebensmittelverpackung bleibt trotz Brille oftmals ein Geheimnis.

Die teure Anti-Aging-Creme kann die Lebensfurchen im Gesicht nicht verbergen und die Haut war auch schon einmal straffer.

Spätestens nach zwanzig überwundenen Stufen ist das eigene Keuchen im Stiegenhaus nicht mehr zu überhören.

Und nach einem Vormittag mit Besuch bei der Ärztin und Einkauf braucht es schon ein kleines Mittagsschläfchen, um auch den Rest des Tages gut zu bewältigen. Apropos Besuch bei der Ärztin: Die kleinen oder größeren ,Zipperlein" sind mehr geworden. Wen wundert's!

Nicht nur unsere Beine, die Lunge, die Haut oder das Herz altern – auch unser Gehirn ist einem lebenslangen Alterungsprozess unterworfen. Und so kann es kaum überraschen, wenn man als älterer Mensch mehr vergisst als früher und den Ausführungen der Enkel über das neue Smartphone nicht so gut folgen kann wie ein jüngerer Mensch. Vielleicht findet man sich in einer neuen Umgebung nicht gleich zurecht, oder in einer bekannten Umgebung und Situation kommt es zu einem kleinen kognitiven Aussetzer.

Auch das Gehirn altert und die kognitiven Funktionen verändern sich. Das ist normal!

In jüngerem Alter

Um ein angegriffenes Herz oder eine schwache Lunge, Schwierigkeiten beim Gehen oder Sehen zu haben, muss man nicht unbedingt alt sein. Das alles kann man auch bei Menschen jüngeren Alters finden. Auch kognitive Beeinträchtigungen können bei jüngeren Menschen auftreten. Warum? Dafür gibt es tausende Gründe. Hier eine kleine Auswahl:

Organische Erkrankungen, zum Beispiel der Schilddrüse, können zu Vergesslichkeit, Konzentrationsproblemen und Orientierungsschwierigkeiten führen.

Medikamente, oft geht es um zu viele Medikamente, können zu solchen Symptomen führen.

Stress ist ungesund. So blockiert er Gedächtnisleistung und Konzentrationsvermögen.

Ein Verkehrs- oder Sportunfall oder ein Sturz von der Treppe können massive Folgen für die Gehirngesundheit haben.

Schlafmangel, Depression oder langjähriger Alkohol- und anderer Drogenkonsum können dahinterstecken. Und auch: Diabetes!

Unterforderung und Langeweile lassen das Gehirn erlahmen.

Veränderungen der kognitiven Leistungen können in jedem Alter auftreten und viele unterschiedliche Ursachen haben.

„Ich habe sehr viel Stress. Mit Ämtern, mit Gerichten, mit der Umwelt. Die ganze Sorge, die ganze Ohnmacht. Das zieht sich jetzt schon lange hin. Dadurch bekomme ich immer mehr Probleme mit dem Lesen, mit dem Gucken, mit der Motorik – der ganze Stress tut mir nicht gut! Stress ist das Schlimmste, das man uns antun kann!“

Silke Reiß-Naumann

Was bedeutet das?

Schauen wir uns dazu noch einmal die unterschiedlichen Reaktionen an, die Vorkommen, wenn kognitive Veränderungen bemerkt werden.

Ungläubigkeit.

Aber was soll daran unvorstellbar sein, wenn es doch so viele unterschiedliche Ursachen und Gründe für kognitive Veränderungen gibt? Also: Die Veränderungen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen!

Lähmung.

Angst und daraus resultierende Lähmung bringen... ja was schon! Rein gar nichts! Wer gelähmt ist, kann nichts tun und wird zum Opfer statt zur bewussten Handelnden.

Abwehr.

Sie ist in vielen Fällen eine Schutzreaktion auf Ereignisse, die eine Person im ersten Moment überfordern. Verbleibt man aber in der Schutzhaltung der Abwehr, verhindert man zugleich eine aktive Auseinandersetzung mit dem Problem. Wenn man im Wald spazieren geht und plötzlich ein Wildschwein vor einem steht, dann ist Abwehr nach dem Motto „Davor verschließe ich jetzt lieber mal die Augen!" wenig hilfreich. Das Wildschwein wird davon jedenfalls nicht verschwinden.

Unbekümmertheit.

Gelassenheit ist gut, doch Unbekümmertheit im Sinne von Fahrlässigkeit kann leicht in die Hose gehen. „Macht doch nichts, wird schon nichts zu bedeuten haben" kann zutreffend sein – oder auch nicht! Falls die zweite Variante zutrifft, ist es durchaus besser, sich darum zu kümmern als sich nicht zu kümmern.

Scham.

Warum bitte schön, soll sich ein Mensch wegen seines Herzinfarktes, seines Rheumas oder seiner nachlassenden Muskelkraft in den Beinen schämen? Und was für das Herz oder die Beine gilt, gilt auch fürs Gehirn. Auch das darf schwächeln!

Angst.

Aus Angst entstehen Mutlosigkeit, Verzweiflung, Apathie und im schlimmsten Fall ,dumme' Handlungen.

Was bleiben also für Alternativen?

Ruhe bewahren!

Tief durchatmen. Zur Kenntnis nehmen, dass da etwas ist, das neu ist und für das es erst einmal keine Erklärung gibt.

Genau hinschauen!

Was genau ist denn da Neues? Wie äußert es sich konkret?

Offener Umgang!

Die eigenen Beobachtungen nicht für sich behalten, sondern mit einer Person oder mit Personen des Vertrauens besprechen.

Handeln!

Nicht in Passivität verharren, sondern die Sache anpacken. Wie das ausschauen kann, dazu erfahren Sie im Folgenden noch einiges mehr. Aber vorweg: Nur wenn Sie aktiv handeln, haben Sie die Chance, das Heft in der Hand zu behalten und nicht zum Objekt Dritter zu werden.

„Die Umgebung merkt das. Wenn man Leuten begegnet, ist es nicht zu verheimlichen, wenn man einen Namen nicht mehr weiß oder wenn man Orientierungsprobleme hat. Im sozialen Kontakt ist es unangenehm, wenn das bemerkt wird. Es ist nicht zu verstecken. Wenn ich mit jemandem rede, vergesse ich, was er einige Minuten zuvor gesagt hat. Und so frage ich oft etwas nach, was schon von der anderen Person gesagt worden ist. Das ist unangenehm, aber damit kann man leben“

Max Laimböck

„Was Beni macht, die Menschen, die um ihn herum sind, ganz selbstverständlich und locker über seine Situation zu informieren und damit wirklich tolle Gespräche auszulösen, ist ein Weg, um eine größere Sensibilisierung zu erreichen.“

Rolf Könemann

„Wenn wir nicht darüber sprechen, wie sollen es andere Menschen dann erfahren und lernen? Das sollten noch viel mehr Betroffene tun. Dann bewegt sich auch etwas.“

Beni Steinauer

„Ich musste erkennen, dass jetzt einiges anders ist und nicht mehr geht. Und das zu erkennen, das sind Schläge. Ja, Schläge! Aber spätestens mein zweiter Satz lautet immer: So ist es! Man kann kein Ruder herumreißen, dass man selbst gar nicht in der Hand hat. Man muss sich entlasten und schauen, wie man sein Leben jetzt neu einrichten oder anpassen kann. Wenn die Akzeptanz da ist, dann kann ich wieder nach vorn schauen: Wie kann ich trotzdem mein Leben weiter interessant gestalten. Was brauche ich dafür?“

Georg Jungkamp-Streese

4. KapitelWas ist mit mir?

Wie Sie lernen, genau zu beobachten

Die Menschen neigen zu Pauschalisierungen. Da ist jemand schön, intelligent oder hintertrieben. Doch was genau macht diesen Menschen schön, intelligent oder hintertrieben? Leicht sagt man: „Ich bin vergesslich“. Oder: „Mein Mann hat keine richtige Orientierung mehr“. Aber wie schauen diese Vergesslichkeit oder die Orientierungsschwierigkeiten exakt aus? Pauschale Aussagen werden Sie nicht weiterbringen. Es kommt darauf an, genau hinzuschauen, wie etwas ist – oder nicht ist!

Wir haben gesehen, dass es unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf das Auftreten kognitiver Veränderungen gibt. Als hilfreiche Verhaltensweisen haben wir genannt:

Ruhe bewahren

offen mit der neuen Situation umgehen

sich jemandem anvertrauen

handeln

und genau hinschauen.

In unserem Ratgeber werden wir auf all diese Punkt eingehen. Jetzt soll es erst einmal um den letztgenannten gehen. Denn der fällt leider oft unter den Tisch. Dabei ist er von zentraler Bedeutung!

Genau hinschauen!

„Ich vergesse auf einmal alles!“

Das glauben wir nicht. Niemand vergisst alles. Schauen Sie bitte genauer hin:

Was vergessen Sie? Oder: Woran können Sie sich nicht mehr erinnern?

Sind es die Namen von Personen, an die Sie sich nicht erinnern können?

Sind es vor allem oder ausschließlich Namen, an die Sie sich nicht mehr erinnern können?

Oder geht es um andere Dinge? Vielleicht haben Sie keine Probleme mit Ihrem Namensgedächtnis, können sich jedoch die Gesichter von Menschen nicht merken.

Verpassen Sie häufiger Termine und Verabredungen? Solche, die Ihnen eigentlich sehr wichtig sind? Oder nur solche, die weniger Bedeutung für Sie haben?

Vergessen Sie öfters, wo Sie Gegenstände – den Schirm, den Schlüssel, die TV-Bedienung – deponiert haben?

Ohne Probleme könnte man diese Aufzählung noch um viele Aspekte erweitern.

Vergessen Sie es dauerhaft oder fällt es Ihnen irgendwann wieder ein?

Können Sie den Namen der Dame, die Ihnen auf der Straße begegnet, auch einige Zeit später nicht mehr erinnern? Oder haben Sie beim Heimkommen ein Aha-Erlebnis: „Das war doch Erika Kohlmann!".

Fällt Ihnen am Abend doch noch ein, wo Sie Ihren Schlüssel hingelegt haben?

Konnten Sie sich schon einmal an etwas Wichtiges gar nicht mehr erinnern? An einen Urlaub mit Ihrer Frau? Dass Sie schon ein Enkelkind haben? Dass Sie jahrelang bei einem großen Möbeldiscounter gearbeitet haben?

In welchen Situationen lässt Sie Ihr Gedächtnis im Stich?

Wenn Sie unter Stress stehen oder sich gerade fürchterlich über etwas geärgert haben?

Wenn Sie aufgeregt sind?

Wenn Sie nicht genug Schlaf gehabt haben oder es am Abend zuvor etwas feucht-fröhlich zugegangen ist?

Passiert es, wenn Sie sich in einer unbekannten Umgebung aufhalten, zum Beispiel in einer anderen Stadt? Oder kann es auch daheim oder an Orten passieren, die Ihnen bestens vertraut sind?

Fällt Ihnen etwas immer dann nicht ein, wenn Sie von einer anderen Person danach gefragt werden?

Funktioniert Ihr Gedächtnis am frühen Morgen anders als am späten Nachmittag?

Klappt es an der frischen Luft besser als in einem überheizten Raum?

Was hilft Ihnen, sich wieder an etwas zu erinnern?

Wenn Sie noch einmal genau im Kopf rekapitulieren, wie Sie am Vorabend nach Hause gekommen sind: Gelingt es Ihnen dann, sich an den Ablageort des Schlüssels zu erinnern?

Oder wenn Sie einen Weg noch einmal zurückgehen?

Wenn Ihnen niemand Druck macht („Heinz, jetzt erinnere dich endlich mal!“): Funktioniert es dann besser?

Hilft es, wenn Sie die Sache erst einmal auf sich beruhen lassen, nicht mehr daran denken und etwas ganz anderes tun?

Oder ist alles bisher Genannte für Sie keine Hilfe?

Wie war es früher?

Haben Sie sich schon immer keine Namen, Gesichter oder Termine merken können oder ist das ein neues Phänomen?

Ist es nichts Neues, aber doch ausgeprägter als bisher?

Wann ist Ihnen zum ersten Mal aufgefallen, dass Sie vergesslich (er) geworden sind?

Befanden Sie sich zu diesem Zeitpunkt in einer belastenden oder schwierigen Situation? Waren Sie gerade pensioniert worden? Hatten sich finanzielle Probleme aufgetan? Gab es eine familiäre Trennung? Oder einen Wechsel des Wohnsitzes?

Gab es ein einschneidendes Erlebnis, zum Beispiel einen Unfall oder einen Trauerfall in der Familie?

Befanden Sie sich damals gerade im Urlaub?

Ist es Ihnen selbst aufgefallen oder einer anderen Person? Ist es Ihnen als Zugehörige zuerst aufgefallen?

Es macht einen großen Unterschied, wie Sie die jeweiligen Fragen beantworten. Sich schlecht an Namen erinnern zu können ist lästig, rechtfertigt jedoch nicht die Aussage: „Ich bin total vergesslich!“.

Gegenstände zu verlegen ist unangenehm. Wenn man sich aber irgendwann daran erinnert, wo man sie liegengelassen hat, ist das etwas anderes, als wenn man gar nicht mehr weiß, dass man sie benutzt hat.

Unter Stress streiken Gedächtnisfunktionen bei vielen Menschen, auch bei jungen. Wenn das Kurzzeitgedächtnis schwächelt, hat das andere Konsequenzen, als wenn man sich an weit zurückliegende Ereignisse seines Lebens nicht mehr erinnern kann.

Erinnern und Vergessen können in vielen Formen und Ausprägungen stattfinden. Daher helfen nur genaues Hinschauen und Beschreiben statt pauschalisierender Aussagen.

Was wir in diesem Kapitel am Beispiel des Gedächtnisses durchgespielt haben, gilt ebenso für andere kognitive Funktionen. Wie genau ist Ihre Aufmerksamkeit eingeschränkt? In welcher Form zeigen sich bei Ihnen Orientierungsprobleme? Was bedeutet eine veränderte Auffassungsgabe bei Ihnen konkret?

Wissensschatzkammer

Arbeitsblatt:

Erfassung Ihrer kognitiven Veränderungen und Beeinträchtigungen sowie Ihrer Stärken.

Erläuterung: Es bietet die Möglichkeit, dass sowohl die betroffene als auch die zugehörige Person ihre Beobachtungen und Einschätzungen festhält. Es empfiehlt sich, nicht nur die eigene Einschätzung einzutragen. Mögliche Differenzen zwischen den Einschätzungen sind kein Problem, sondern wichtige Hinweise. Vier Augen sehen bekanntlich mehr als nur zwei!

Das ausgefüllte Arbeitsblatt hat verschiedene Funktionen:

Sie können sich ein genaues Bild über ihre kognitiven Veränderungen machen – oder die der anderen Person.Das hilft Ihnen, zielgenaue Strategien zum Umgang mit den Einschränkungen zu entwickeln.Die Erhebung Ihrer Schwächen und Stärken kann ebenso eine wichtige Information für eine Ärztin, Psychologin oder eine andere Fachkraft darstellen.

Kapitel 5 Erinnern & Vergessen

Warum beides dazugehört

Manche Menschen fürchten sich vor Vergesslichkeit, andere leiden darunter, weil es ihren Alltag beschwert. Wiederum andere schämen sich ihretwegen und versuchen sie zu verbergen. Vergesslichkeit scheint etwas Schlechtes zu sein. Verniedlichung ist sicherlich nicht angebracht. Dramatisierung jedoch auch nicht! Daher wollen wir in diesem Kapitel unseren Blick nüchtern und unaufgeregt auf eingeschränkte Gedächtnisleistungen werfen.

Die Natur hat uns mit der Fähigkeit ausgestattet, Dinge zu vergessen. Könnten wir das nämlich nicht, würde unser Gehirn wie eine überreife Frucht zerplatzen. Wir sind tagtäglich so vielen Informationen und Eindrücken ausgesetzt, dass unser Gehirn ununterbrochen damit beschäftigt ist, den größten Teil davon wieder zu löschen. Dadurch läuft unsere interne „Festplatte“ nicht über und es wird Platz für Neues geschaffen.

„Wir verteufeln das Vergessen geradezu. Jedes Mal, wenn wir etwas vergessen, versetzt uns das sofort in Panik, weil es ja ein Zeichen für Krankheit sein könnte. Dabei ist das Gedächtnis unser ganzes Leben lang abhängig vom Vergessen. Wir wollen uns an das Bedeutsame erinnern und alles andere vergessen. Leute, die an Syndromen leiden, die sie alles in Erinnerung behalten lassen, fühlen sich sehr beschwert“.

Neurowissenschaftlerin Lisa Genova

Siehe Seite → (2)

Bereits ab dem 30. Lebensjahr beginnt unsere Gedächtnisleistung langsam abzubauen. Das kennen wir auch von anderen Körperfähigkeiten. Ab dem 40. Lebensjahr nimmt das Gehirn an Masse ab. Im hohen Alter wird es um zehn bis fünfzehn Prozent kleiner geworden sein. Es kommt zu Veränderungen bei den Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die man Synapsen nennt. Mit zunehmendem Alter ist es also recht normal, dass auch im Kopf nicht mehr alles so funktioniert wie ehedem.

Gehirn & Gedächtnis im Alter