Herausforderung angenommen! - Peter Wissmann - E-Book

Herausforderung angenommen! E-Book

Peter Wißmann

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Leben leben - jenseits von Demenz "Herausforderung angenommen!" ist ein Sachbuch über das Leben zweier Menschen, von denen der einer, Beni an Demenz erkrankt ist und seinem Ehemann und Lebenspartner Rolf. Beide beschreiben, unterstützt von Peter Wißmann, wie die Demenz ihren Alltag verändert hat, aber nicht ihr Leben ausmacht und bestimmt. Im Mittelpunkt steht das Leben und der Alltag von Beni und Rolf. Sie beschreiben, wie sie sich kennengelernt, geheiratet und gemeinsame Reise genossen haben. Eindringlich schildern sie, wie sich die Demenz erstmalig bemerkbar machte und wie sie fortan ihr Leben und ihr Beziehung verändert hat. Klar benennen sie, was sie im Leben weiterbringt, wie gute Freunde, Familie, Haustiere, Selbsthilfegruppen, Reisen, Gesang, Musik, Neugier und Offenheit. Aber auch, was verzichtbar wäre, wie Halluzinationen, Sorgen, Lewy-Body, Trauer und Zukunftsängste. Zu all dem noch die Corona-Pandemie, die es für Menschen mit Demenz erschwert, die Gesichtern von Mitmenschen hinter Masken zu erkennen und zu lesen. Beeindruckend berichten sie, wie sie als Botschafter in eigener Sache ihre Erfahrungen mit anderen Menschen teilen und offen mit Benis kognitiver Behinderung umgehen. Die Texte sind verständlich geschrieben, knapp gehalten und wirken authentisch durch viele O-Töne und Zitate. Zwei Gesprächen zwischen Peter, Beni und Rolf sowie Auszüge aus einer Talkrunde ergänzen den Text. Infoboxen liefern Hintergründe zu zentralen Themen im Leben von Beni und Rolf, die von Kreativität über Homosexualität, Pflegezeiten und Spiritualität bis hin zu Vorsorge und Wohngemeinschaften reichen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 278

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Wißmann

Leo Beni Steinauer

Rolf Könemann

Herausforderung angenommen!

Unser neues Leben mit Demenz

Mit einem Geleitwort von MMaga Christina Pletzer

Herausforderung angenommen!

Peter Wißmann, Leo Beni Steinauer, Rolf Könemann

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Pflege

Jürgen Osterbrink, Salzburg; Doris Schaeffer, Bielefeld; Christine Sowinski, Köln; Franz Wagner, Berlin; Angelika Zegelin, Dortmund

Peter Wißmann. Buchautor, ehem. Leiter Demenz Support & KuKuK-TV, Innsbruck

E-Mail [email protected]

Leo Beni Steinauer, Inzlingen

Rolf Könemann, Inzlingen

E-Mail [email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Copyright-Hinweis:

Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Pflege

z. Hd. Jürgen Georg

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Jürgen Georg, Christina Nurawar Sani, Joëlle Zemp

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Noah Werner, Lörrach

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Illustration/Fotos (Innenteil): Rolf Könemann, Noah Werner, Lörrach/Inzingen

Satz: punktgenau GmbH, Bühl

Format: EPUB

1. Auflage 2021

© 2021 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96166-8)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76166-4)

ISBN 978-3-456-86166-1

http://doi.org/10.1024/86166-000

Nutzungsbedingungen:

Der Erwerber erhält ein einfaches und nicht übertragbares Nutzungsrecht, das ihn zum privaten Gebrauch des E-Books und all der dazugehörigen Dateien berechtigt.

Der Inhalt dieses E-Books darf von dem Kunden vorbehaltlich abweichender zwingender gesetzlicher Regeln weder inhaltlich noch redaktionell verändert werden. Insbesondere darf er Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen, digitale Wasserzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.

Der Nutzer ist nicht berechtigt, das E-Book – auch nicht auszugsweise – anderen Personen zugänglich zu machen, insbesondere es weiterzuleiten, zu verleihen oder zu vermieten.

Das entgeltliche oder unentgeltliche Einstellen des E-Books ins Internet oder in andere Netzwerke, der Weiterverkauf und/oder jede Art der Nutzung zu kommerziellen Zwecken sind nicht zulässig.

Das Anfertigen von Vervielfältigungen, das Ausdrucken oder Speichern auf anderen Wiedergabegeräten ist nur für den persönlichen Gebrauch gestattet. Dritten darf dadurch kein Zugang ermöglicht werden. Davon ausgenommen sind Materialien, die eindeutig als Vervielfältigungsvorlage vorgesehen sind (z. B. Fragebögen, Arbeitsmaterialien).

Die Übernahme des gesamten E-Books in eine eigene Print- und/oder Online-Publikation ist nicht gestattet. Die Inhalte des E-Books dürfen nur zu privaten Zwecken und nur auszugsweise kopiert werden.

Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

1. Gestern und heute – Wie sich das Leben verändert

2. Das Kennenlernen – Von der Flucht aus der Bar in den Hafen der Ehe

3. Die Herausforderung beginnt – Wenn beim Kopfrechnen das Gehirn plötzlich streikt

4. Der Krampf mit der Hose – Von Erfolgen und Niederlagen im Alltag

5. Füreinander da sein – Wie sich die Beziehung verändert

6. Hilfreiches und weniger Hilfreiches – Was einen weiterbringt und was verzichtbar ist

Gut zu wissen! – Selbsthilfegruppen

7. Zwei Männer mit Stil – Von Schuhen, Lederschlipsen und Toupets

8. Zwei Typen, ein Paar – Von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

Gut zu wissen! – Homosexualität und gleichgeschlechtliche Ehe

9. Nicht alleine sein – Familie und Freunde als Stütze

10. Die Eltern wiedersehen! – Spiritualität, Glaube und Tod

Gut zu wissen! – Halluzinationen

Gut zu wissen! – Spiritualität

11. Schwierige Themen – Sich mit Trauer, Sorgen und Vorsorge auseinandersetzen

Gut zu wissen! – Vorsorgeinstrumente

12. Aus Kraftquellen schöpfen – Wie Vogelgesang, Schlager und ein Chor die Seele stärken

13. Koffergeschichten – Von aufregenden Erlebnissen beim Reisen

Gut zu wissen! – Reisen

14. Botschafter on tour – Wie wir unsere Erfahrungen mit anderen Menschen teilen

15. Offen umgehen mit seiner Behinderung? – Ein Gespräch von Menschen mit Vergesslichkeit und Demenz

16. Das Alte bewahren, sich dem Neuen öffnen – Kreativität, Neugier und Offenheit als Weg

Gut zu wissen! – Kreativität, Kunst, Musik

17. Lewy-Body-Demenz in Theorie und Praxis – Ein Test

18. Die Kluft zwischen Theorie und Realität – Ein Gespräch

19. Bino, der Magier – Wie wir einem Hund helfen wollten und der Hund uns helfen sollte

Gut zu wissen! – Haustiere bei Demenz

20. Die Last mit der Maske – Wie Corona das Leben mit einer Demenz erschwert

21. Was, wenn …? – Ein Gespräch über eine mögliche oder unmögliche Zukunft

Gut zu wissen! – Pflegezeiten

22. Typisch oder untypisch? – Die Realität hat viele Gesichter

23. Ein Buch entsteht – Unsere Arbeit als Autorenteam

Dankeschön!

24. Ein Song für Beni & Rolf

Hinweise zu den Zusatzmaterialien

Zum Weiterschauen und Weiterlesen – Links und Adressen

Gut zu wissen! – Selbsthilfegruppen

Gut zu wissen! – Homosexualität und gleichgeschlechtliche Ehe

Gut zu wissen! – Vorsorgeinstrumente

Gut zu wissen! – Reisen

Gut zu wissen! – Kreativität, Kunst, Musik

Gut zu wissen! – Haustiere und Demenz

Gut zu wissen! – Pflegezeiten

Gut zu wissen! – Wohngemeinschaften

Weitere Links/Textquellen

Unser buntes Leben – Fotocollage

Die Autoren

Weiterführende Literatur: Das Dementia-Care-Programm im Hogrefe-Verlag

Sachwortverzeichnis

|8|Geleitwort

Ich bin Beni das erste Mal bei einer Demenzveranstaltung im Jahr 2019 in Wien begegnet. Obwohl wir uns zuvor noch nie gesehen hatten, strahlte Beni eine besondere Herzenswärme aus. Er war damals sofort bereit, mir ein kurzes Interview zum Thema ‚Reisen mit kognitiven Einschränkungen‘ zu geben. Ich war fasziniert von der Offenheit, mit der er über sein Leben und das seines Mannes Rolf sprach. Unser Gespräch sollte sich 2019 fortsetzen. Damals saßen wir erneut nach einem Arbeitstreffen in einem Restaurant zusammen. Beni erzählte über die Herausforderungen, der sich sein Partner und er ausgesetzt sehen. Der Hintergrund: die Diagnose Lewy-Body-Demenz bei Beni. Die Auswirkung: ein Leben mit kognitiven Einschränkungen, das es zu bewältigen gilt. Beni berichtete über seine Ängste, wir sprachen über den Tod und das Sterben, aber auch über die Liebe: zu seinem Partner Rolf und, auf einer anderen Ebene, zum Leben und zu den Menschen. Benis uneingeschränkte und in einem vollkommen positiven Sinn schlichte Offenheit hat mich damals sehr berührt.

Und bis heute erstaunt mich immer wieder, wie mutig Beni und sein Partner den mit der Erkrankung einhergehenden Herausforderungen begegnen. Natürlich haben auch sie die Phase des Schocks, der Verzweiflung und der Orientierungslosigkeit nach der Diagnosemitteilung erlebt. Doch ihr starker Lebenswille sorgt dafür, dass sie sich ihr Leben und ihr gemeinsames Glück nicht von einer Diagnose oder Behinderung zerstören lassen. Rolf und Beni verstecken sich nicht vor der Außenwelt. Offen, ja, offensiv gehen sie hinaus und ermutigen in ihrer sympathischen Weise auch andere Personen, sich nicht länger zu verstecken. Bodenständig leben die beiden ihre Beziehung und versuchen andere Menschen anzuregen, ihren ganz eigenen Weg des Umgangs mit einer großen gesundheitlichen oder anderen existenziellen Herausforderung zu finden.

Was ist das Besondere an dem Buch, das Sie gerade in den Händen halten?

|9|Für Menschen mit neurokognitiven Störungen wie denjenigen, mit denen Beni lebt, ist der Prozess von der Diagnosestellung bis hin zur Akzeptanz der Behinderung ein oftmals langer und steiniger Weg. Das gilt für die unmittelbar betroffenen Personen und deren Angehörigen gleichermaßen. In meiner Praxis als Psychologin erlebe ich häufig, dass diese Menschen von negativen Erfahrungen hinsichtlich der Vermittlung der Diagnose berichten. Informationen, die sie zum Thema Demenz erhalten und finden, wirken oft angstmachend und entmutigend. Vorgeschlagene Hilfsangebote sind nur selten passend.

In diesem Buch setzen sich Beni und Rolf kritisch mit solchen Erfahrungen, die auch sie gemacht haben, auseinander. Sie thematisieren das Verhalten von Ärzten und die Kommunikation rund um die Diagnosestellung. Sie hinterfragen den Realitätsgrad von Diagnosen und von Zuschreibungen, die mit ihnen verbunden sind. Und sie schildern deren Auswirkungen auf die betroffene Person und das nahe Umfeld. Vielleicht erkennen sich andere Menschen in vielem, was im Buch von den beiden so eindrücklich beschrieben wird, wieder. Ihr Bericht soll dazu ermutigen, sich nicht unkritisch mit einer Diagnose abzufinden, sondern sich selbst und nahestehende Personen im Umgang damit immer wieder zu hinterfragen und zu widersprechen, wenn bestimmte Zuschreibungen nicht zutreffend sind.

Die beiden Männer zeigen auf, wie wichtig ein stützendes soziales Netzwerk für betroffene Personen ist. Dazu gehören nahestehende Bezugspersonen, Familie und Freunde, darüber hinaus auch Menschen, die sich in einer ähnlichen Lebenslage befinden. Zum Beispiel, weil sie mit neurokognitiven Einschränkungen leben müssen.

Aus meiner persönlichen Erfahrung in der Moderation einer unterstützten Selbsthilfegruppe von Menschen mit Gedächtnisproblemen sowie in der Rolle als Koordinatorin des Selbsthilfenetzwerks EmpowerMenz kann ich bestätigen, wie wichtig und stärkend der Austausch von Gleichbetroffenen ist. Immer wieder kann ich beobachten, dass durch einen solchen Austausch die Scham über die kognitive Behinderung überwunden werden kann und sich neue Perspektiven für Betroffene und Angehörige eröffnen. So wie bei Beni und Rolf zeigt sich immer wieder, dass die Offenheit im Umgang mit seiner Behinderung ein günstiges und stützendes Umfeld schaffen kann – in der Nachbarschaft, in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft und in der Gemeinde, in der man lebt. Niemand muss in der Opferrolle bleiben, sondern kann selbst etwas tun und bewirken, kann lernen, auch mit Beeinträchtigungen ein gutes und lebenswertes Leben zu führen.

Beni hat die Gabe, Menschen mit seiner besonderen persönlichen Ausstrahlung in den Bann zu ziehen. Er spricht mit dem Herzen. Die Gespräche gehen in |10|die Tiefe. Er erzählt keine oberflächlichen Geschichten, es sind Schätze, angereichert mit seiner persönlichen Erfahrung und mit Liebe und Offenheit dem Leben gegenüber. Ich wünsche mir, dass noch mehr Menschen, die mit neurokognitiven Beeinträchtigungen leben, diese Liebe zum Leben wiederentdecken. Dass sie sich nicht unterkriegen lassen, sondern sich der Herausforderung stellen, offen und kritisch mit der Diagnose und ihrer Lebenssituation umzugehen. Jeder Mensch, mit oder ohne Behinderung, kann lernen, auf die eigene Kraft zu bauen. Gemeinsam mit Gleichbetroffenen kann diese Kraft wachsen.

Beni und Rolf geben in diesem Buch Einblick in ihr Leben, um andere Menschen zu stärken. Es wäre doch zu schade, wenn ihre mutmachende Geschichte der Welt vorenthalten bliebe.

MMaga Christina Pletzer

Klinische und Gesundheitspsychologin

Team Wachstum ab der Lebensmitte (WaL)

Innsbruck

|11|1.  Gestern und heute – Wie sich das Leben verändert

Das Leben gehört dem Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefasst sein.

(Johann Wolfgang von Goethe)

„Können Sie mir Hilfe leisten?“ Die Frau, die diese Worte spricht, lächelt Beni Steinauer freundlich an. „Ich suche ein Paar schöne Winterstiefel.“ Der junge Verkäufer hat an diesem Tag bereits eine ganze Reihe von Kunden bedient und ist wie immer guter Laune. „Aber selbstverständlich! Folgen Sie mir bitte!“ Beni mustert unaufdringlich die vor ihm stehende Frau, um sich ein Bild über ihren Stil zu machen. „Elegante Erscheinung“, denkt er, „da fallen mir gleich ein paar Stiefel aus unserer Kollektion ein, die ich präsentieren könnte.“ Er bittet die Dame, Platz zu nehmen und macht sich auf, Stiefel zur Ansicht herbeizuholen. Nachdem er zurückgekehrt ist und das Schuhwerk vor der Kundin ausgebreitet hat, probiert diese jedes der Paare an und beschaut das Ergebnis im Spiegel. „Was würden Sie mir raten?“, wendet sie sich schließlich an Beni. Der ist nun in seinem Element. Sachkundig erläutert er die Vorteile und die eventuellen Nachteile eines jeden Stiefelpaars, macht auf deren Wirkung in Beziehung zur Kleidung und Frisur der potenziellen Trägerin aufmerksam und spricht am Ende eine Empfehlung aus. „Sie haben recht“, bedankt sich die Frau. „Ich nehme das empfohlene Paar. Und das andere dort hinten auch noch.“ Beni freut sich, wieder einmal eine Kundin zu deren Zufriedenheit beraten zu haben, und begleitet sie zur Kasse. „Ist es möglich, mit Bankkarte zu zahlen?“, fragt die Dame. Beni witzelt: „Wenn die Karte gedeckt ist, jederzeit.“ Die Verkäuferin an der Kasse verdreht die Augen und eine Kollegin, die gerade Schuhe in ein Regal einsortiert, stöhnt leise auf. „Seit wann darf man |12|hier denn keinen Witz mehr machen?“, denkt sich Beni und schüttelt unwillig den Kopf. Die Kundin bedankt sich noch einmal bei ihm für die gute Beratung und verlässt mit ihrem Einkauf das Geschäft. „Mann Beni, gehts noch? Weißt du denn nicht, wen du da gerade bedient hast?“ Nein, das weiß Beni nicht. Nach seinem Verständnis hat er eine von mehreren anderen Kundinnen an diesem Tag bedient, und das offensichtlich erfolgreich. Wo liegt also das Problem? Wie sich herausstellt, war diese Kundin durchaus ein wenig anders als die anderen. Oder geschieht es in einem Schuhgeschäft etwa jeden Tag, dass man eine waschechte Fürstin aus einem kleinen Land in Europa bedient? Auch Beni kann schließlich über die Situation lachen. Aber letztendlich ist es ihm gleich, wer die elegante Dame war, die gleich zwei Paar teure Stiefel bei ihm gekauft hat. Jeder Schuh sollte zu seinem Träger oder seiner Trägerin passen. Das ist es, was den passionierten Schuhverkäufer antreibt.

Fast zwanzig Uhr! Wieder einmal so spät. Dabei hatte Rolf Könemann gehofft, an diesem Tag etwas früher von der Arbeit nach Hause fahren zu können. Um acht Uhr hat er wie gewohnt die Wohnung verlassen. Dass es ein anstrengender Tag werden würde, war ihm da schon klar gewesen. Als Bezirksleiter eines großen Schuhdiscounters galt es, am Vormittag eine Niederlassung in der näheren Umgebung zu besuchen. Und ab nachmittags musste er wieder in seinem Stammbetrieb in Rheinfelden präsent sein. Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Schuhverkauf im Geschäft und dann noch der notwendige bürokratische Aufwand. Abrechnungen, Buchhaltung, Schreibarbeit.

Rolf lässt den Motor seines Nissans an und steuert den Wagen vom Parkplatz des Betriebes. Wenn nichts dazwischenkommt, kann er in zwanzig Minuten zuhause sein. Seine Arbeit macht dem Anfangsfünziger Spaß. Doch manchmal, an langen Tagen wie diesem, ist sie auch anstrengend. Er freut sich auf einen ruhigen Abend, weiß aber auch, dass er sich nach seinem Ankommen zuhause nicht einfach aufs Sofa legen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen kann. Wenn man den Ehepartner viele Stunden lang nicht gesehen hat, möchte man sich auch austauschen. Wenn dieser Ehepartner, anders als man selbst, nicht mehr arbeitet, sondern den Tag zuhause verbracht hat, freut er sich darauf, von dem anderen ‚Geschichten von draußen‘ zu hören. Und wenn der Ehepartner auch noch kognitive und körperliche Einschränkungen hat, dann weiß man, dass es nach dem Nachhausekommen noch einiges zu tun geben wird.

|13|All das weiß Rolf. Ihm ist bewusst, dass der ruhige Abend noch ein wenig auf sich warten lassen wird. Auch macht er sich wie immer ein wenig Sorgen um seinen Partner zuhause. Und dennoch freut er sich auf das Nachhausekommen und die folgenden Stunden.

Zwischen dem erfolgreichen Verkaufstag von Beni in einem renommierten Züricher Schuhgeschäft und dem anstrengenden Arbeitstag von Rolf im baden-württembergischen Rheinfelden liegen über fünfunddreißig Jahre. Beni ist seit einigen Jahren nicht mehr berufstätig. Der Verkäufer aus Leidenschaft bedauert das. Er ist nicht freiwillig aus dem Berufsleben ausgeschieden. Halt gibt ihm seine langwährende Beziehung und Ehe. Rolf hat, wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt, noch rund zehn Jahre bis zum Renteneintritt. Auch er ist verheiratet. Konkret: Rolf und Beni sind ein Ehepaar. Und sie stehen vor einer großen Herausforderung. Denn bei Beni will manches nicht mehr so funktionieren wie früher. Die Ärzte haben dem Ganzen einen Namen gegeben: Lewy-Body-Demenz.

Anmerkung: In der Tat hat Beni 2017 die Diagnose Lewy-Body-Demenz erhalten. Im Buch schildern wir, wie wir im Lauf unserer Gespräche immer mehr Zweifel an der Richtigkeit dieser Diagnose entwickelt haben. 2021 fanden unsere Zweifel schließlich eine Bestätigung. Ärzte des Demenz-Therapiezentrums Bad Aibling schlossen sich ihnen an und kamen nach entsprechenden Untersuchungen zu dem Schluß, dass es sich bei Beni mit großer Wahrscheinlichkeit um keine Lewy-Body-Demenz handelt und am wahrscheinlichsten die Diagnose PCA (Posteriore kortikale Atrophie) ist. Im Text, der den Zeitraum zwischen 2017 bis zum Sommer 2021 umfasst, ist natürlich dennoch meistens von der Lewy-Body-Demenz die Rede. Nur in wenigen Fällen haben wir diesen Begriff durch die allgemeinere Bezeichnung Demenz ersetzt. Aus bestimmten Gründen findet diese Bezeichnung im Buch Verwendung, obwohl einer der Autoren sie für ungeeignet zur Bezeichnung neurokognitiver Beeinträchtigungen hält.

|14|2.  Das Kennenlernen – Von der Flucht aus der Bar in den Hafen der Ehe

Wie süß ist alles erste Kennenlernen. Du lebst so lange nur als du entdeckst.

(Christian Morgenstern)

Beni und Rolf sind seit vielen Jahren ein Paar. Hätten sie gleich zu Beginn ihrer Beziehung geheiratet oder heiraten können, wären sie jetzt vielleicht mit Gedanken zur nicht mehr fernen Silberhochzeit beschäftigt. Jede noch so lange Beziehung hat irgendwann einmal einen Beginn. Der Start für Beni und Rolf war 1997 und spielte in Basel. Beni hat zu dieser Zeit dort gelebt und gearbeitet. Rolfs Wohnort lag auf der anderen Seite der Grenze, in Deutschland. Doch Basel war nah und wer in seiner Freizeit ein wenig erleben wollte, kam immer wieder gerne in die schöne mittelalterliche Schweizer Stadt.

Rolf erinnert sich: „Ich bin 1992 von Bielefeld nach Baden-Württemberg ins beschauliche Weil am Rhein gezogen. Mit meinem damaligen Freund war ich nach der Arbeit oder an den Wochenenden immer gern in Basel unterwegs. Ein oder zwei Jahre später sind Beni und ich uns dann das erste Mal begegnet. Eher flüchtig. Wir saßen in einer Bar bei einem schönen Rotwein, als mein Freund mich anstieß und meinte: „Schau mal da drüben der Typ! Der kann seinen Blick ja gar nicht von dir wenden!“ Der Typ, von dem die Rede ist, war Beni, der dort nach anstrengenden Arbeitstagen ein wenig Entspannung bei einem Glas Bier suchte. Er weiß noch: „Die beiden sind mir sofort beim Eintreten in die Bar aufgefallen. Vor allem der eine, den ich später als Rolf kennenlernen sollte. Großgewachsen, sportliche Figur. Und Haare bis zu den Schultern. Eigentlich gefallen mir lange |15|Haare gar nicht. Aber ich habe gedacht: „Wenn der sich mal die Haare schneiden lassen würde, dann sähe er ja noch schöner aus als jetzt!“

Außer Blicken, die zwischen Beni und Rolf in der Bar hin und her schwirren, passiert nichts an diesem Tag. Man hat sich registriert und findet sich sympathisch. Oder auch ein wenig mehr.

Aber einige Zeit später, es muss 1997 gewesen sein, hat man sich wieder einmal zufällig getroffen. In derselben Bar, in der schon einmal Blicke ausgetauscht worden waren. Doch dieses Mal sind beide alleine dort. Die Beziehung zwischen Rolf und seinem damaligen Begleiter existiert nicht mehr. Und so verläuft dieses Aufeinandertreffen der beiden Männer etwas anders als das erste. Es ist Rolf, der an diesem Tag in die Offensive geht. „Als sich unsere Blicke wieder einmal von Tisch zu Tisch getroffen haben, bin ich zu einem etwas intensiveren Schauen übergegangen. Mit durchaus überraschender Wirkung! Beni hat das nämlich sichtlich nervös gemacht. Er hat gar nicht recht gewusst, wo er hinschauen soll, und dann ist er plötzlich aufgestanden und hat etwas überstürzt die Bar verlassen. Das sah schon wie eine Flucht aus. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Aber siehe da: Nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen, da öffnete sich die Eingangstüre der Bar und herein kam: Beni! Irgendwie hat mich das ein wenig erleichtert. Der ist sicherlich beruflich unterwegs, Taxifahrer oder so, habe ich noch gedacht.“

Taxifahrer ist Beni nicht und sein überstürzter Abgang aus der Bar hatte ebenso wie seine Rückkehr dorthin ganz andere als berufliche Gründe. „Der Rolf, der hat mir ja wirklich sehr gut gefallen. Aber seine Blicke haben mich an diesem Tag ganz nervös gemacht. Ich war seinerzeit noch in einer anderen Beziehung. Die kriselte zwar schon und neigte sich dem Ende zu, aber dennoch habe ich gedacht: Mein Gott, was tue ich denn! Ich kann doch nicht einfach mit einem anderen Mann herumflirten.“

Wie auch immer: Die beiden Männer kommen ins Gespräch. Rolf ist es, der die Initiative ergreift. Heute lachen beide darüber. „Eigentlich ist doch Rolf der eher Schüchterne und ich der offen auf alles und jedermann Zugehende. Aber damals war es einfach anders.“

In der Folgezeit treffen sich die beiden Männer immer wieder einmal. WhatsApp und Messenger-Dienste gibt es damals noch nicht. Wer sich sehen möchte, muss sich konkret verabreden: an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Uhrzeit, an diesem oder jenem Ort. Von Treffen zu Treffen kommen Beni und Rolf sich näher und stellen viele Gemeinsamkeiten fest. Beide sind in der Schuhbranche tätig. Beide lieben Gran Canaria und haben dort schon viele Urlaube verbracht. Beni war seit 1988 jedes Jahr dort. Und Rolf hat seit 1990 seine Urlaube auf der Insel verbracht. Auch Städtereisen mögen beide. Hamburg finden sie fas|16|zinierend. Und darum zeigt sich Rolf noch einmal von seiner normalerweise unbekannten offensiven Seite. „Rolf hat gleich am Anfang vorgeschlagen, dass wir gemeinsam nach Hamburg reisen. Mann, geht der ran, habe ich mir gedacht. Aber dann haben wir es wirklich auch getan. Und ein Jahr später sind wir schon gemeinsam nach Gran Canaria gefahren. Meine bei unserem Kennenlernen noch bestehende, wenn auch kriselnde Beziehung hatte ich übrigens zuvor beendet. Ich war mit meinem damaligen Partner noch einmal nach Gran Canaria geflogen, das hatten wir schon gebucht, bevor das mit Rolf losging. Aber in diesem Urlaub habe ich es ihm dann gesagt. Ich wollte nicht unehrlich sein und wir wussten beide eigentlich auch, dass unsere Beziehung im Prinzip schon länger am Ende war.“

Für Beni und Rolf beginnt eine neue Liebe und Beziehung. Zuerst einmal wohnen beide noch getrennt. Beni in Basel und Rolf in einer schönen Wohnung in Schopfheim, in die er erst 1997 eingezogen war. Das ist auf Dauer umständlich und zugleich teuer. Und so machen sich beide auf die Suche nach einer neuen, einer gemeinsamen Wohnung. Die finden sie schließlich in Inzlingen, einem kleinen nahe der schweizerischen Grenze gelegenen Ort in Baden-Württemberg.

Abbildung 2-1:  Reise nach Hamburg

|17|„Unsere Traumwohnung“, beteuern beide. „Groß, hell, ruhig und im Grünen. Was wollen wir mehr!“

Sechs Jahre später geben sie ihrer Beziehung einen neuen Rahmen. ‚Eingetragene Partnerschaft‘ heißt das Konstrukt, das damals gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit gab, ihrer Verbindung einen rechtlichen Rahmen zu geben. Neun Jahre später können Beni und Rolf diese Verpartnerung dann in eine offizielle Ehe umwandeln. Irgendwann muss der Gesetzgeber eben das Recht sich wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen anpassen. Und so sind Beni und Rolf seit 2017 ein Ehepaar, das sich versprochen hat, gemeinsam durch helle und durch dunkle Tage zu gehen – bis dass der Tod sie scheide. Damals können die beiden nicht ahnen, dass dieses Versprechen schon bald einem Härtetest unterzogen werden sollte. Denn das Jahr 2017 hält für das Ehepaar eine neue und große Herausforderung bereit.

|18|3.  Die Herausforderung beginnt – Wenn beim Kopfrechnen das Gehirn plötzlich streikt

Jeder Krise kann man nur mit absoluter Ehrlichkeit entgegentreten.

(Franz Schmidberger)

Irgendwann ist für Beni alles schwieriger geworden. Nicht nur für ihn, auch für die große Schuhhandelsfirma, bei der er nach wie vor als Filialleiter tätig ist. Neue Computersysteme und eine neue Software halten Einzug in den Verkaufsalltag. Seinen Beruf liebt er nach wie vor. Und nach wie vor gilt Benis Bestreben dem Wunsch, jeder Kundin und jedem Kunden den Schuh zu verkaufen, der haargenau zu dieser Person passt. Aber Computer und Beni, das will eher nicht so recht zusammenpassen. „Ich bin noch nie ein Computerfreund gewesen. Ich habe einfach keine Beziehung zu diesen Apparaten. Das war bis dahin auch kein Problem gewesen. Aber damals, das muss so um 2015 oder 2016 gewesen sein, ist ein Problem daraus für mich entstanden. Die Neuerungen in unserem Laden haben mich ins Schlingern gebracht.“

Rolf beobachtet das mit zunehmender Sorge. „Wir haben in unserer Branche ja immer schon lange Arbeitszeiten gehabt. Aber dass Beni nun oft auch an den Samstagen bis acht oder neun Uhr abends im Betrieb war, weil er jetzt immer viel am Computer nachzuarbeiten hatte, das hat mir gar nicht gefallen.“

Beni versucht, sich derweil tapfer zu schlagen. Er scheut sich nicht, Kolleginnen um Nachhilfe zu bitten. Die meisten zeigen ihm auch gern, wie er diese und jene Aufgabe am Computer bewältigen kann. Aber nach zwei oder drei Wochen hat Beni das Gezeigte auch wieder vergessen. Und es sollte noch schlimmer kommen. „Ich war im Rechnen, besonders im Kopfrechnen, immer richtig gut gewe|19|sen. Die Buchhaltung im Betrieb, das war gar kein Problem für mich. Und dann stehe ich eines Tages da, will wie in all den Jahren meine Buchhaltungsaufgaben erledigen und stelle plötzlich fest: Ich weiß nicht mehr, wie es geht! Alles weg! Von heute auf morgen! Was für ein schreckliches Gefühl!“

Beni spricht seine Stellvertreterin an. „Kannst du das bitte heute mal für mich übernehmen?“ Die springt gerne für ihn ein. Vermutlich denkt sie, dass jeder einmal einen schlechten Tag haben kann. Auch ein paar Tage später, als Beni sie wieder um Hilfe bitten muss, denkt sie das noch, auch wenn sie fragt: „Hast du Alzheimer oder was ist eigentlich los?“ Sie fragt es lachend. Ihre Frage soll ein Spaß sein.

Beni mag sich jedoch nicht darauf verlassen, dass alles nur ein harmloses Phänomen ist. „Ich dachte mir: da stimmt doch etwas nicht! Das kann doch nicht sein! Was ist nur los in meinem Kopf?“ Er will es genau wissen und begibt sich in ärztliche Behandlung. Über mehrere Wochen lässt er medizinische Untersuchungen über sich ergehen. Rolf unterstützt ihn dabei. Und dann kommt der Tag, an dem ihnen eine Ärztin das Ergebnis mitteilt. „Wir beide haben diesem Moment natürlich mit großem Bangen entgegengesehen“, erinnert sich Rolf. „Beni hat die Ärztin voller Sorge gefragt, ob er Alzheimer hat.“ Doch die Ärztin kann den beiden diese Sorge nehmen, obwohl das, was sie zu verkünden hat, auch nicht ohne Brisanz ist. Bei Beni wurde eine Herzrhythmusstörung festgestellt, die zu einem Schlaganfall führen kann. In einem anderen Zusammenhang hätte diese Ankündigung die beiden wohl in große Aufregung versetzt. Aber weil die ganze Zeit über die Angst vor einer Alzheimerdiagnose im Raum gestanden hatte, waren sie in gewisser Weise sogar erleichtert. Von einer kleinen Veränderung im Gehirn hatte die Ärztin zwar berichtet, aber auf die müsse man jetzt nicht reagieren.

Die Diagnose Herzrhythmusstörung hat für Beni Konsequenzen. „Ich musste dann ein halbes Jahr lang Tabletten einnehmen. Als sich dadurch keine Besserung einstellte, ging es ins Spital. Ich habe dort eine Art Stromstoßtherapie erhalten. Auch wenn das jetzt sicherlich nicht die richtige Bezeichnung für die Behandlung ist, die ich erhalten habe, sie hat doch gewirkt. Am Ende habe ich die Ärzte gefragt, ob ich nun wieder gesund sei. Und die haben geantwortet: ‚Ja, jetzt sind sie wieder gesund!‘“

Rolf ist ebenso erleichtert wie Beni. „Für uns war die erfolgreiche Behandlung der Herzrhythmusstörung wichtig. Schließlich drohte ja sogar ein Schlaganfall. Das Thema Demenz, diese seinerzeit kurzzeitig im Raum stehende Befürchtung, das war dann für uns erledigt und wir haben keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Und dann herrschte bis 2017 auch erst einmal Ruhe.“ Die Ruhe sollte aber nicht von Dauer sein. Weder für den Arbeitgeber von Beni noch für ihn |20|selbst. Auch die Einführung neuer Computersoftware und Technik hatte den Betrieb nicht vor einem wirtschaftlichen Niedergang bewahren können. Die Ertragszahlen entwickelten sich immer schlechter, am Ende stand ein Insolvenzverfahren und 2018 wurden alle Filialen in der Schweiz geschlossen. Beni war zwar einer der Letzten, die entlassen wurden, am Ende verlor aber auch er seinen geliebten Arbeitsplatz.

Rolf erinnert sich: „Erst einmal ging es für Beni dennoch einigermaßen glimpflich aus. Der Konzern, der den insolventen Schuhbetrieb übernahm, übernahm gleich auch das Personal und deshalb hatte Beni schnell wieder neue Arbeit.“

„Ja, aber das war jetzt nicht mehr im Schuhverkauf. Im Prinzip hatte ich jetzt einen ganz normalen Verkäuferjob und musste Lebensmittel an den Mann bringen. Der Laden hatte täglich von morgens um fünf bis nachts um vierundzwanzig Uhr geöffnet. Für mich Morgenmuffel hieß das, morgens um drei Uhr aufzustehen, weil ich meist in der Frühschicht eingesetzt war. Es gab viel Laufkundschaft, da war schnelles Arbeiten gefordert.“ Das alles tut Beni nicht gut. Die schon vergessen geglaubten Merkprobleme treten wieder verstärkt auf. Es kommt zu demütigenden Situationen. „Von meiner neuen Chefin wurde ich rundgemacht: ‚Mein Gott, sie vergessen ja alles! Ich habe Ihnen doch nun oft genug erklärt, wo das Brot hingehört. Und Sie waren einmal Filialleiter im Schuheinzelhandel? Kaum zu glauben! Also wirklich, wen hat man mir da nur empfohlen!‘“

Beni und Rolf leiden unter der Situation. Und dann kommt die jährliche Umstellung von Winter- auf Sommerzeit. „Ich wollte meine Uhr umstellen, aber ich wusste in dem Moment überhaupt nicht mehr, wie das geht. Rolf und ich haben nicht nur eine Uhr, wir haben da einen kleinen Tick. Meine Uhr und die anderen habe ich immer umgestellt. Und nun hatte ich keine Vorstellung mehr davon, wie ich das bewerkstelligen sollte. Rolf habe ich erst einmal nichts davon gesagt. Aber mir war klar, dass ich etwas unternehmen musste.“ Natürlich entgehen dem Partner solche Situationen nicht. Aber Rolf misst dem Ganzen keine große Bedeutung bei. „Ich habe Beni zu beruhigen versucht und gesagt, dass mir so etwas auch passieren könnte, wenn ich jeden Morgen um drei Uhr aus den Federn müsste. Und eigentlich haben wir, wie viele andere auch, jedes Jahr aufs Neue erst einmal überlegen müssen, wie so eine Umstellung vonstattengeht. Muss man nun die Uhr eine Stunde vorstellen oder gehts in die umgekehrte Richtung? Nein, dafür, dass sich da etwas in Richtung auf eine Demenz entwickelte, war ich damals völlig blind.“ Meistens sind es ja nahestehende Personen, die ungewohnte Fehlleistungen oder verwirrende Vorkommnisse bemerken und die beobachtete Person daraufhin drängen, der Sache nachzugehen. Und sehr oft sind die Menschen, denen diese Widrigkeiten unterlaufen, gar nicht davon begeistert, sich nun medizini|21|schen oder neuropsychologischen Untersuchungen zu unterziehen. Bei Beni und Rolf ist das anders. „Beni war auch jetzt wieder derjenige, der sich nicht mit gutgemeinten, aber allzu einfachen Erklärungen für das, was ihm widerfuhr, abgeben wollte. Also ist er zum Arzt gegangen.“

„Ja, mir war klar, dass bei mir etwas nicht stimmte. Das habe ich auch meinem Arzt so gesagt. Der meinte, er würde jeden anderen in meinem Alter, der ihm etwas von einer Demenz erzählt, wieder nach Hause schicken. Bei dem Wort Demenz denkt ja jeder erst mal an ganz alte Menschen. Aber weil er mich seit mehr als zwanzig Jahren kannte, hat er das ernst genommen und mich in so eine Röhre geschickt. Und was er dort gesehen hat, fand er alarmierend. Jedenfalls hat er mich sofort zur näheren Untersuchung ins Spital überwiesen.“ Bis zur Aufnahme dauert es noch einige Wochen, aber dann ist es soweit und Beni wird im Basler Universitätsspital von oben bis unten durchgecheckt.