Das letzte Achtel - Günther Pfeifer - E-Book

Das letzte Achtel E-Book

Günther Pfeifer

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Retz darf nicht Chicago werden! Rohrweihen sind Greifvögel und eher unauffällig. Aber wenn siebenunddreißig Stück tot im Kreis liegen, kann das schon ein bisschen auffallen. Und wenn in der Mitte des Kreises ein Toter liegt, fällt das auf jeden Fall auf. Dabei ist Retz eigentlich ein ganz reizender Ort: eine Windmühle, ein Kellerlabyrinth unter dem historischen Hauptplatz – und natürlich das Weinlesefest. Aber das kann auch verdammt tödlich enden. Zum Glück bringen Hawelka und Schierhuber Licht ins mörderische Dunkel.

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Seitenzahl: 410

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Günther Pfeifer wurde in Hollabrunn (Niederösterreich) geboren, lernte ein Handwerk und war jahrelang Berufssoldat. Seit seinem Wechsel in die Privatwirtschaft arbeitet er im Ein- und Verkauf. Er schreibt Beiträge für Magazine, außerdem Theaterstücke und Kriminalromane. Günther Pfeifer wohnt in Grund, einem kleinen Dorf im Weinviertel.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2019 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/United Archives Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Lothar Strüh eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-488-9 Originalausgabe

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Gewidmet allen ehemaligen

Vogelkreis

Es gibt ja kaum etwas Schöneres als einen Spätsommermorgen im Weinviertel, wenn der Dunst aufsteigt und sich die leichten weißen Schleier ganz langsam von den Feldern heben, sich noch ein wenig zwischen den Windschutzgürteln wiegen, ehe die höher steigende Sonne dann die frische Luft genug erwärmt hat, um die Schwaden schließlich aufzulösen. Ein nahezu magisches Licht umhüllt einen da, und es gibt keine bessere Zeit am Tag, um übers Land zu ziehen und den Morgengruß der Vögel zu belauschen.

Das Feld war klein und lag in einer leichten Senke, es wurde an einer Seite vom Bach, an der anderen von einem Windschutzgürtel eingegrenzt. Der holprige Fahrweg bildete die dritte Grenze. Die einzig freie Seite stieß an das Nachbarfeld, auf dem immer noch hohe, verblühte Sonnenblumen in ordentlichen Reihen standen. Die verbleibende Fläche war fast quadratisch und bereits umgeackert, obwohl es erst September war.

Schober war früh losmarschiert, und mittlerweile hatte er das gleichmäßige Tempo erreicht, in dem er stundenlang ausschreiten konnte, ohne müde zu werden. Jetzt aber war er abrupt stehen geblieben und starrte auf das Feld. Was er sah, wirkte auf ihn wie eine Filmkulisse. Eines schaurigen Films obendrein. Auf dem Acker lagen Vogelkadaver, hübsch ordentlich zu einem nahezu perfekten Kreis angeordnet. Dieser Kreis mochte einen Durchmesser von gut dreißig Metern haben und befand sich ungefähr mittig auf dem Feld. Genau in der Mitte des Vogelkadaverkreises wiederum lag ein Mensch.

Einem ersten Impuls folgend wollte Schober zu dem Liegenden eilen, um ihm zu helfen, als er aber ein, zwei Schritte in das Feld getan hatte, stockte er, weil ihm klar wurde, dass diesem Menschen nicht mehr zu helfen war. Das war kein Verletzter, der hier zufällig zusammengebrochen war, das war kein Bewusstloser, den man mit ein paar Schlägen auf die Wangen oder etwas Wasser über den Kopf wieder ins Leben holen konnte. Zu beabsichtigt war diese Anordnung, zu ausgestreckt lag der Mann da, es war klar, dass er schon seit Stunden hier liegen musste, und Schober gruselte es ein wenig. Hier war etwas sehr Seltsames, vielleicht sogar Mystisches geschehen, und da sollte er sich besser nicht einmischen. Das musste man den Profis überlassen, dies hier war nichts für Amateure wie ihn. Wenn er jetzt hinginge und den Toten berührte oder gar umdrehte, dann könnte er womöglich entscheidende Spuren verwischen. Auf dem Feld mussten sich jede Menge Fußabdrücke befinden, und die zu zerstören könnte die Arbeit der Polizei unnötig erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen. Also trat er wieder zurück auf den Fahrweg und holte sein Handy aus der Tasche.

Um ganz sicherzugehen, dass er sich bezüglich des Zustandes des Mannes auch nicht geirrt hatte, schrie er einige Male laut »Heh! Heh, du! Heh, du, heh!«, aber der Liegende rührte sich nicht.

Um elf nach neun läutete Bergers Mobiltelefon. Unbekannter Anrufer. Er nahm den Anruf trotzdem an.

»Ja?«

»Wer is da?«

Berger runzelte die Stirn: »Was heißt ›Wer is da?‹? Sie haben ja bei mir angerufen. Wer ist dort?«

»Ich bin’s. Berger, bist du das?«

»Na, wer soll es sonst sein, welche Nummer hast du denn gewählt?«

»Na, deine!«

»Na also, dann werd ich es schon sein. Und jetzt sag mir, wer du bist!«

»Na, ich bin’s!«

»Und wer is ›ich‹, wenn ich fragen darf?«

»Der Schober.«

»Der Schober Adi von der Musik?«

»Nein, der Schober Walter vom Lagerhaus.«

»Ah so, der. Servus. Was ist denn?«

»Ich muss was melden.«

»Einen Unfall?«

Berger war Gruppeninspektor und Mitte fünfzig. Er saß an seinem Schreibtisch, auf dem Polizeiposten von Retz, und kämpfte sich durch einen Unfallbericht vom Vortag.

»Nein, einen… ich weiß auch nicht. Ich hab so was noch nie gesehen. Zuerst habe ich mir gedacht: Das gibt’s ja gar nicht. Aber dann… Nein, so was hab ich noch nie gesehen.«

»Aha.«

»Weil nachdem ich mir zuerst gedacht hab: Das gibt’s ja gar nicht, hab ich mir überlegt, was das sein könnte.«

»Mhm.«

»Weil irgendwas muss das ja sein… ich meine, irgendwas muss das ja bedeuten, auch wenn ich so was noch nicht gesehen habe.«

»Klar.«

»Ich denk mir nichts, geh da in aller Ruhe den Weg entlang, dann seh ich auf einmal das da. Da denkst du dir dann schon momentan: Na servus, was ist jetzt das da? Weil so was hab ich noch nie gesehen.«

»Ja.«

»Ja. Eben. Ich auch nicht. Da hab ich mir dann schon gedacht: Jetzt muss ich aber auch einmal was sagen! Oder?«

»Richtig.«

»Weil das geht nicht, oder?«

»Nein.«

»Da hab ich mir gedacht: Ich muss das melden.«

»Und dann hast du mich angerufen…«

»Nein, zuerst hab ich den ARBÖ1 erwischt, weil ich diese Notrufnummern verwechselt hab. Ich merk mir nie, was was ist…«

»Aha.«

»Und wie mir die dann beim ARBÖ gesagt haben, dass sie da nichts machen können, bin ich erst drauf gekommen, dass ich die falsche Nummer erwischt hab.«

»So. Und dann?«

»Dann ist mir eingefallen, dass ich ja deine Nummer eingespeichert hab.«

»Okay.«

»Bist du eh im Dienst?«

»Ja.«

»Also, ihr müssts herkommen, weil so was hab ich noch nicht–«

»Du, Schober!«

»Ja?«

»Kannst du mir jetzt einmal in aller Ruhe sagen, was du überhaupt gesehen hast? Wo bist du gerade, und was ist eigentlich los?«

»Ein Toter.«

»Was?«

»Ein Toter. Auf einem Feld.«

»Ein Toter?«

»Ja.«

»Wer ist es? Kennst du ihn?«

»Nein, weil… ich wollt ja nicht näher hingehen, wegen der siebenunddreißig Kadaver.«

»Schober?«

»Ja?«

»Trinkst du?«

Es dauerte noch gut fünf Minuten, bis das Gespräch beendet war. Berger sah auf den Notizblock vor sich. Routinemäßig hatte er die wichtigsten Stichworte mitgeschrieben. Auf einem Feld lag ein unbekannter Toter, umringt von (Schober hatte während des Telefonates dreimal nachgezählt) siebenunddreißig Vogelkadavern. Das Feld lag entlang des Fahrweges, südlich der Eisenbahn, ungefähr zehn Gehminuten außerhalb der Ortschaft Kleinriedenthal. Berger überlegte. Schober hatte ein wenig verwirrt, vielleicht sogar geschockt, aber nicht betrunken oder sonst irgendwie beeinträchtigt geklungen. Berger hatte ihm geraten, das Feld nicht zu betreten, sich stattdessen ein schattiges Plätzchen in der Nähe zu suchen und dort auf sein Eintreffen zu warten.

Eine Leiche, die mitten auf einem Feld abgelegt worden war, inmitten eines Kreises aus toten Vögeln, das kam nicht wahnsinnig oft vor. Bevor Berger die übliche Alarmkette für Kapitalverbrechen in Gang setzte, wählte er eine Nummer auf seinem Handy. Als im selben Augenblick sein Kollege Fischer ins Dienstzimmer kam, machte Berger eine Geste, die vielseitig interpretiert werden konnte, und verschwand nach draußen. Aha, Diskussion mit der Frau, dachte Fischer und setzte sich an den Computer.

Bergers Telefonat dauerte ziemlich lange. Als er auflegte, war er noch nachdenklicher als zuvor. Dann ging er zurück in die Wachstube.

»Alles okay?«, fragte Fischer, ohne vom Bildschirm aufzublicken.

»Alles okay«, sagte Berger und setzte sich an seinen Platz. Er löste den obersten Zettel von seinem Block ab, zerriss ihn in kleine Streifen und warf ihn in den Papierkorb.

Schober hatte sich mittlerweile an einer kleinen Böschung am Rande des Fahrweges niedergelassen und wartete auf das Eintreffen der Polizei, wobei er von Zeit zu Zeit die toten Vögel zählte. Es dauerte ziemlich lange. Fast zwanzig Minuten später näherte sich ein dunkler Geländewagen mit völlig verdreckter Nummerntafel. Schober erhob sich und ging dem Wagen entgegen.

»Fährt die Kriminalpolizei jetzt mit Geländeautos?«, fragte er den Beifahrer, der zuerst ausgestiegen war und den Kopf seltsam gesenkt hielt. »Ich hab geglaubt, die Retzer kommen zuerst. Seids ihr in der Nähe gewesen, dass ihr so schnell da seid?«

Die Hand des Beifahrers, die bisher hinter dessen Rücken verborgen geblieben war, schnellte vor und presste ein streng riechendes Tuch auf Schobers Gesicht. Sekunden später sank dieser zu Boden. Der Beifahrer beugte sich zu dem Liegenden und nahm dessen Handy an sich.

Mittlerweile war auch der Fahrer ausgestiegen, und die beiden Männer begannen in großer Eile, die Vogelkadaver vom Feld zu holen und in den Laderaum des Autos zu werfen. Wenige Minuten später war der Wagen wieder verschwunden.

Erinnerungslücke

»Sicher«, sagte der Polizeiarzt aus St.Pölten. »So was gibt es, und das ist ganz normal. Das heißt, normal ist es nicht, weil es ja die Ausnahme vom normalen Funktionieren des Gedächtnisses ist– aber, und das wollte ich eigentlich ausdrücken, es kommt in solchen Ausnahmesituationen sehr häufig vor und ist kein Grund zur Sorge. Manchmal kommt später die richtige Erinnerung wieder an die Bewusstseinsoberfläche, manchmal aber auch nicht. Die Situation ist ja auch nicht alltäglich, der Fund einer Leiche, ein bisschen eine Aufregung, ein bisschen ein Schock, dann das Warten in der Sonne, dann die offensichtliche Bewusstlosigkeit…«

»Ja. Ich kann nur noch einmal sagen, was ich eh schon gesagt habe«, erklärte Berger dem leitenden Kriminalbeamten. »Es ist ja auch protokolliert und alles. Der Walter muss sich da etwas zusammengereimt haben… Ich hab keinen Anruf von ihm bekommen. Sicher, es kann schon sein, dass meine Nummer bei ihm eingespeichert ist, wir kennen uns ja vom Sparverein und vom Lagerhaus, aber wie gesagt, ich hab–«

»Ja«, unterbrach ihn der Oberleutnant. »Das Protokoll ist eh eindeutig. Er hat den Toten gefunden, dürfte dann durch die Aufregung ein bisschen bewusstlos gewesen sein, dann ist er in die nächste Ortschaft marschiert und hat von dort aus angerufen.«

»Ja, der Anruf ist um acht nach zehn bei der Notrufzentrale registriert worden«, meldete der zweite Kriminalbeamte aus St.Pölten.

»Und um elf nach zehn hat man uns verständigt«, bestätigte Fischer, der junge Kollege von Berger.

»Ja, Kollegen, ihr habts eh alles richtig gemacht, und der Herr Schober wird sich bald wieder erholen. Oder, Herr Schober? Jetzt geht’s Ihnen schon besser, nicht wahr?«, schlug der Oberleutnant einen munteren Ton an und klopfte dem Angesprochenen auf die Schulter. Aber der war keineswegs dieser Meinung.

»Alles lass ich mir einreden, alles lass ich mir einreden. Sicher hab ich mich g’schreckt, wie ich die Leiche gesehen hab, sicher war ich bewusstlos, sicher, vielleicht verdreht sich da so manches im Hirn, aber eines muss ich schon sagen, ich weiß doch, dass ich die Vögel gesehen hab, und ich weiß doch, dass ich dich angerufen hab, und ich weiß doch, dass da welche mit einem Geländewagen gekommen sind. Das bild ich mir doch nicht nur ein, das weiß ich doch alles. Und wenn das alles nicht wahr war: Wer hat mir dann mein Handy gestohlen? Die Leich vielleicht?«

»Na, du wirst es eben zu Hause liegen lassen haben«, meinte Berger und breitete die Arme aus. »Das ist keine Schande, das passiert mir auch öfters.«

»Wie dem auch sei– Kollegen, wir sind vorerst fertig, also auf dem Feld–, der Tote, der Herr Kramer, wird zur Obduktion mitgenommen, und euch ersuche ich, bis wir so weit sind, seinen nächsten Angehörigen die traurige Nachricht zu überbringen. Es ist besser, wenn das jemand von euch macht…«

Eine halbe Stunde später waren die Kriminalbeamten verschwunden, und nur ein an vier Pflöcken befestigtes Absperrband erinnerte daran, dass hier etwas passiert war. Berger und Fischer waren unterwegs, um den Tod von Erich Kramer dessen Witwe Annemarie mitzuteilen. Einer der Kollegen aus St.Pölten hatte kurz zuvor Schober heimgebracht und war noch kurz mit hinein, um bei der Handysuche zu helfen. »Okay, wir vermerken es im Protokoll«, hatte der Beamte versprochen und sich verabschiedet.

Schober sah durch das Küchenfenster, wie der Mann in den Wagen stieg und davonfuhr.

»Die glauben mir nicht«, murmelte er, als er dem Wagen nachsah. »Die glauben, dass ich deppert bin. Alt und deppert! Die glauben, dass ich mir was z’sammphantasier. Und der Berger lügt mir ins Gesicht, mitten ins Gesicht! Aber das lass ich mir nicht gefallen. Sicher nicht!«

Er öffnete eine Schublade und begann sie zu durchwühlen. Es dauerte einige Zeit, bis er das Gewünschte gefunden hatte, einen alten Taschenkalender. Er blätterte darin, fand den gesuchten Namen und eine Telefonnummer, die er sogleich am Festnetztelefon wählte. Schon nach dem zweiten Mal Läuten wurde abgehoben. Eine laute, energische Stimme meldete sich.

»Ja?«

»Wer is da?« Schober konnte nicht aus seiner Haut.

»Ich geb Ihnen einen Tipp«, klang es scheppernd aus dem Hörer, »wennS’ wo anrufen, dann sagenS’ zuerst Ihren Namen, bevor

Archivaufnahmen

Es war purer Zufall, dass die Berlakovic um diese Zeit das Archiv betreten hatte. Das alte Archiv wohlgemerkt, denn das neue befand sich im Keller eines anderen Gebäudes, während das alte seit drei Jahren »demnächst« übersiedelt wurde und immer noch drei große Räume blockierte, die längst als Büros benötigt wurden. Hier waren Akten aus den 1970er Jahren und aus der Zeit davor gelagert. Die Berlakovic hatte einem Bekannten einen Gefallen tun wollen, der für eine Wochenzeitung über alte Kriminalfälle schrieb.

Der Eingang zu diesem Zimmerkomplex lag keine fünf Meter neben der Kanzlei von Hofrat JohannP. Zauner. Zauner war Chef der Mordkommission und wurde aus unerfindlichen Gründen hinter seinem Rücken nur »Erzherzog« genannt. Als Vorgesetzter war er bei allen gleichermaßen gefürchtet, und auf ein zufälliges Zusammentreffen mit ihm verzichtete man gerne.

Aber als die Berlakovic, die eigentlich Vorsteherin des Administrationsbüros war und von Kollegen stets als wandelndes »Auskunftsbüro Berlakovic« bezeichnet wurde, als ebendiese Berlakovic nun bemerkte, dass sich der Alte im Archiv aufhielt, war es schon zu spät.

»Ich mach euch keinen Krieg da oben, das mach ich nicht! Das ist nicht meine Manier, dass ich wo einen Krieg mach, weil mit einem Krieg spielt man sich nicht!«

Die Berlakovic fuhr herum. Die Stimme des Erzherzogs kam aus einer der ersten Regalreihen beim Eingang. Sie musste also beim Eintreten an ihm vorbeigegangen sein.

»Wenn du einen Rat willst, dann geb ich dir einen Rat: Der offizielle Weg ist immer noch der beste. Geh den offiziellen Weg und mach keinen Blödsinn, weil einen Blödsinn unterstütz ich sicher nicht.«

Die Berlakovic fühlte sich in einer Doppelmühle gefangen. Machte sie den Erzherzog auf sich aufmerksam, dann würde er sie zusammenstauchen, weil sie seine Kreise zu stören gewagt und einen Teil seines Telefonates mitgehört hatte. Verhielt sie sich hingegen ruhig und ließ den Alten in dem Glauben, dass er alleine war, dann lief sie Gefahr, entdeckt und von ihm doppelt zusammengestaucht zu werden, weil sie ihn belauscht hatte. Gestaucht würde also auf jeden Fall. Aber die Berlakovic wurde nicht umsonst Auskunftsbüro genannt. Das Wesen eines Auskunftsbüros ist es ja, Auskünfte zu erteilen, aber um Auskünfte erteilen zu können, muss man die gewünschten Informationen zunächst einmal beschaffen. Notfalls auch unter größter Gefahr. Und manchmal muss ein Auskunftsbüro tun, was ein Auskunftsbüro tun muss. Wenn schon unabsichtliche Informationsbeschaffung, dann gleich ordentlich, dachte sie.

»Einen Krieg fangt man schnell an, aber oft einmal geht er nicht so aus, wie man das haben will. Und ihr da oben seids bis jetzt eine Insel der Seligen auf unserer Insel der Seligen, also quasi doppelt selig, da kenn ich andere Gegenden, da ist es nicht so gemütlich, also überleg’s dir gut. Ich kann dir eine Telefonnummer sagen, dort kannst du–«

Jemand wollte offensichtlich die Unterstützung des Erzherzogs in einer bestimmten Sache. Das kam gelegentlich vor, aber meist war der Alte resistent gegen versuchte Einflussnahmen und Freunderlwirtschaftsanträge. Interessant war, dass er diesmal seine Kanzlei verlassen und sich ins alte Archiv zurückgezogen hatte. Normalerweise machte er kein Geheimnis aus seiner Meinung und seinen Grundsätzen. Telefonate mit dem Ministerium, mit anderen Dienststellen und sogar mit der Presse wurden bei offener Kanzleitüre und mit imposanter Lautstärke geführt. Der Erzherzog war der Souverän der Kripo, der Polizei, des Staates und noch ein bisschen mehr. Er hatte es nicht nötig, sich zu verstellen oder zu verstecken. Was also hatte es mit diesem Telefonat auf sich, dass es hinter Archivtüren abgehalten wurde?

Das Interesse der Berlakovic war natürlich rein professioneller Natur. Dennoch erhöhte sich ihr Puls, und sie konnte dem Drang, ein wenig näher zu schleichen, nicht widerstehen.

»Also gut, ich will dir etwas sagen, du sollst nicht glauben, dass der alte Zauner undankbar ist und diejenigen vergisst, die ihm einmal geholfen haben. Das ist nicht meine Manier, das lass ich mir ganz sicher nicht nachsagen, und das hab ich nicht nötig. Einen Krieg fang ich dir keinen an, dabei bleibt’s, aber ein bisschen eine Hilfe werd ich auftreiben. Wie?… Ja, nach Retz werd ich die schicken. Wenn du mir versprichst, dass die Sach nicht eskaliert, dann werd ich helfen, ich schick wen. Inoffiziell! Aber du musst die ein bisschen… hinführen. Weil die werden nicht als Beamte… Was?… Nein, nein, Befehle kriegen die von mir… Und wenn die G’schicht dann aus der Welt ist, dann müssen wir schauen, dass die offiziellen Stellen… ja, genau…«

Alte Archive haben ein kleines Manko: Durch die Unmengen an Papier, die in ihnen gelagert werden, ist die Staubentwicklung überdurchschnittlich hoch. Weiters haben alte Archive noch ein zweites kleines Manko: Dadurch, dass sie kaum benutzt werden, stehen sie auf der Prioritätenliste der Putztrupps ganz unten. Der überdurchschnittlich hohen Staubentwicklung steht also eine unterdurchschnittlich hohe Staubbekämpfung gegenüber.

Auskunftsbüros wiederum, speziell wenn sie Berlakovic heißen, haben ein großes Manko: Bei überdurchschnittlicher Staubentwicklung und unterdurchschnittlicher Staubbekämpfung wird der Niesreiz oft unüberwindlich.

»Und eines muss klar sein– diese ganze Aktion gibt es gar nicht, und unser kleiner Plausch2 hat nie stattgefunden. Und meine Leut gibt es auch nicht, und wenn doch, dann kenn ich sie nicht, und wenn doch, dann kenn ich dich nicht. Kennst dich aus?«

Während der Erzherzog seine Sicht der Dinge eindringlich ins Telefon bellte, schlich sich die Berlakovic gebückt und ohne zu atmen in den letzten Winkel des Archives. Obwohl es zwischen den drei großen Räumen keine Verbindungstüren mehr gab, würde die bevorstehende Explosion vielleicht doch genug abgemildert, und wenn der Alte gerade laut genug sprach und sie ihr Gesicht fest gegen ihre Handflächen presste, dann–

»Also, geh mir aus der Leitung, weil ich hab andere Hobbys auch noch, und so schön ist das Thema jetzt auch wieder nicht, dass ich da…«

Gleich würde der Alte das Gespräch beendet haben, gleich würde er das Archiv verlassen haben, gleich würde sie wieder Luft holen dürfen, und vor allem: Gleich würde sie dem Niesreiz nachgeben können. Niesen, ohne zu büßen, dachte die Berlakovic und mobilisierte ihre letzten Widerstandskräfte.

»Aber etwas möchte ich schon noch dazu sagen«, unterbrach der Erzherzog seine eigenen Abschiedsfloskeln. »Ich will dann ein bisschen ein Schweigen im Walde hören. Und zwar eine recht lange Zeit. Es heißt ja ›Ewig singen die Wälder‹, aber das heißt ja nicht…«

Es ging nicht, es ging nicht, es ging nicht. Sie konnte es nicht mehr zurückhalten, es musste raus, jetzt sofort, und wenn es ihr Leben kostete…

Die Totenstille, die der Explosion folgte, war furchtbar. Die Berlakovic verharrte in einer Art Schockstarre. Die Hände immer noch vor das Gesicht gepresst, wagte sie nicht, sich zu bewegen. Sekunden vergingen, Minuten, Ewigkeiten. Dann war ihr, als wäre vorne die Tür zugefallen. Sie wartete noch, bis sich ihr Puls normalisiert hatte, dann schlich sie zum Eingang, öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte auf den Gang.

Leer.

Beziehungskrise

Es gab ein Problem, und Hawelka brauchte keine Probleme. Damit hatte er viel mit einem Großteil der Weltbevölkerung gemeinsam. Die meisten Menschen brauchen keine Probleme. Ausgenommen vielleicht Scheidungsanwälte, Berufskiller oder Ärzte. Außerdem Feuerwehrmänner, Mechaniker, Versicherungsmakler, Psychologen, Schädlingsbekämpfer, Pharmakonzerne, Alkoholproduzenten und noch viele andere professionelle Problemlöser. Genau genommen wären in einer Welt ohne Probleme viele hundert Millionen Menschen auf einen Schlag arbeitslos– und dann hätten wir ein Problem.

Aber Hawelka mochte keine Probleme. Er hasste sie geradezu. Und nun hatte er eines. Ein Beziehungsproblem. Beziehungsprobleme sind die schlimmsten!

Eigentlich, dachte er, ist es ja ein Nichtbeziehungsproblem. Weil wenn ich eine Beziehung hätte, hätte ich jetzt kein Problem.

Das war richtig. Denn er hatte keine Beziehung, und deshalb war es ja zu dem Vorfall gekommen, der sich mittlerweile zu einem Problem ausgewachsen hatte. Während einer der seltenen gemeinsamen Freizeitaktivitäten der Beamten des Wiener Landeskriminalamtes, Abteilung Leib und Leben, gemeinhin als »Mordkommission« bekannt, war es zu einem Zwischenfall gekommen. Man war im sogenannten Schweizerhaus3 zusammengesessen. Henk, der beliebte Stellvertreter von Hofrat Zauner, hatte den geselligen Abend angeregt, und bis auf den Erzherzog selbst waren fast alle mitgegangen. Hohlstein, Gerlitz, Sojka, Schütz, Hawelka und natürlich sein Partner Schierhuber, mit dem er schon in etlichen Fällen gemeinsam ermittelt hatte. Auch das gesamte Auskunftsbüro war anwesend. Herta Berlakovic, ihre Stellvertreterin Janne Frischauf, Bettina Sommer, der Traum einsamer Polizistennächte, und sogar die ewig griesgrämige Forstner war mitgegangen. Man hatte getrunken, gescherzt und gegessen, dann hatte man noch mehr getrunken und gescherzt, und schließlich hatte man ausschließlich getrunken.

Irgendwann hatte Henk befohlen, ihm alle Autoschlüssel auszuhändigen, und weil Henk okay war, folgten alle dem Aufruf. Noch später war ein Gewitter aufgezogen, ein wahrer Platzregen war niedergegangen, und die Versammlung hatte sich panikartig aufgelöst.

Es hatten sich verschiedene Taxifahrgemeinschaften gebildet, und die daraus entstehenden Kleingruppen hatten dann irgendwo weitergefeiert. Dabei war es zu dem Vorfall gekommen.

Das Schlimmste ist, dass ich mich irgendwie nicht richtig erinnern kann, überlegte Hawelka. Das soll heißen, er wusste gar nicht genau, wie und wo der Vorfall seinen Anfang genommen hatte. Erinnern konnte er sich noch an eine Taxifahrt. Die Berlakovic war dabei gewesen, das wusste er noch. Schierhuber? Das wusste er nicht mehr. Aber er erinnerte sich, dass der Taxifahrer mehrmals gedroht hatte, sie alle hinauszuwerfen. Jemand hatte ihn dann mit einem weit überhöhten Vorab-Trinkgeld überredet, sie doch irgendwohin zu fahren, obwohl sie die ganze Zeit unglaublich laut und falsch »An Tagen wie diesen« gegrölt hatten. Weil niemand mehr wirklich textsicher war, wurde einfach die erste Refrainzeile vierzigmal wiederholt und dazwischen »Lalalala-laaahlala« gesungen. Und dann– Filmriss.

An sein Erwachen am nächsten Tag hingegen konnte er sich sehr gut erinnern. Nackt in einem fremden Schlafzimmer, seine Kleidungsstücke gleichmäßig über den ganzen Raum verteilt, Kopfweh, Brand, Kater und– die Forstner.

Nun war es so, dass die vier Frauen vom Auskunftsbüro ganz unterschiedliche Merkmale hatten. Die Berlakovic war frech, frivol und stets fidel, die Frischauf lustig, laut und lebensfroh, und die Sommer war sexy, schön und sanft. Ach ja, und die Forstner… also, die Forstner war… eine gute Tipperin. Sie konnte schreiben wie keine Zweite. Ja. Sonst war sie… nicht unansehnlich, nicht… schlecht gebaut, aber… irgendwie… herb. Es gab neue Kollegen, die nach einem halben Jahr ganz aufgeregt in die Kantine kamen und erzählten, sie hätten die Forstner lachen (oder zumindest grinsen) gesehen. Andere wiederum wussten zu berichten, dass sie gehört hatten, wie die Forstner mehrere Sätze hintereinander gesprochen hatte. Irgendjemand behauptete, sie sogar schon einmal einen Witz erzählen gehört zu haben– aber der wollte sich sicher nur wichtigmachen.

Als Hawelka nach dem Schweizerhaus-Abend erwachte, stand diese Forstner also komplett angezogen in der Schlafzimmertüre, wirkte im Vergleich zu ihm äußerst frisch, sah ihn völlig emotionslos an und sagte frostig: »Wenn du gehst, sperr zweimal ab und wirf den Schlüssel in den Briefschlitz.« Dann drehte sie sich um und verließ die Wohnung grußlos.

Das war vor knapp einer Woche gewesen. Seither hatte Hawelka das Problem. Eigentlich sogar mehrere. Eines davon war diese entsetzliche Lücke. Der Filmriss ließ viele Fragen offen. War er auf Einladung der Forstner mit zu ihr gegangen, oder hatte er sich aufgedrängt? Hatte nur er sich ausgezogen, oder war die Forstner zwischendurch auch nackt gewesen? Und wie sah die Forstner unter ihrer stets unglaublich langweiligen Kleidung tatsächlich aus? War es zum Äußersten gekommen oder nicht?

Wenn ja, hätte sich Hawelka am liebsten in den Hintern gebissen, weil er keine Erinnerung daran hatte, und so wahnsinnig oft kam es nicht zum Äußersten mit ihm und einer Frau, also… eher selten, also… eigentlich sehr, sehr selten, also…

Wenn nein, hätte sich Hawelka am liebsten in den Hintern gebissen, weil er sich dann anscheinend vor der Forstner zum Kasperl gemacht hatte, sich »umsonst« ausgezogen hatte, vielleicht sogar einen durch den vielen Alkohol technisch unmöglichen Versuch unternommen hatte… Oh Gott!

Es gab nur einen Menschen, der diese quälende Ungewissheit hätte beseitigen können– die Forstner. Aber die saß im Auskunftsbüro, wie immer, würdigte alle Eintretenden (also auch Hawelka) kaum eines Blickes, tippte und schwieg. Am Gang und in der Kantine grüßte sie mit kaum wahrnehmbarem Kopfnicken, und ansonsten verzog sie keine Miene. Hawelka, der Gewissheit wollte, hatte sich zuerst überlegt, sie nach Dienst abzufangen, wenn sie zur U-Bahn ging, verwarf diesen Plan aber dann und nahm sich vor, sie anzurufen. Leider stand ihre Nummer nicht im Telefonbuch, und leider wagte er nicht, das Auskunftsbüro Berlakovic um die Nummer zu bitten. Was sollte die Berlakovic von ihm denken? Was sollte die Frischauf von ihm denken? Und vor allem, was sollte Bettina Sommer von ihm denken?4

Die Situation war unerträglich. In so einer Situation braucht man üblicherweise jemanden, mit dem man sich beraten kann. Jemanden, bei dem man sich aussprechen kann. Einen Freund zum Beispiel. Oder zumindest einen guten Kollegen, der Partner war und fast schon ein Freund. Einen Schierhuber zum Beispiel.

Vor etlichen Jahren waren Hawelka und Schierhuber kurz nacheinander zur Wiener Kriminalpolizei gestoßen. Der eine war vorher braver Polizist in Zwettl gewesen, der andere hatte in Horn Dienst geschoben. Beide waren damals schon nicht mehr ganz taufrisch gewesen, und beide hatten sie mittlerweile die fünfzig deutlich überschritten. Hawelka war eher klein, hatte einen gemütlichen Bierbauch und äußerst schütteres Haar. Schierhuber war riesig, hatte einen imposanten Bierbauch und ein Boxergesicht mit großen Kinderaugen. Beide hörten auf den Vornamen Josef. Man hatte sie ein wenig belächelt, hatte ihnen anfangs den Spitznamen »die Waldviertler Mordbuben« gegeben und sie grundsätzlich nur als Gespann eingesetzt. Meist waren sie zu niedrigen Tätigkeiten herangezogen worden: Observationen, Zeugenbefragungen, Nachbearbeitungen alter, uninteressanter Fälle. Aber in den letzten beiden Jahren hatten sie auch einige Fälle aufgeklärt, und seither waren sie in der Achtung der Kollegen ein bisschen gestiegen.

Sie verstanden sich gut und passten ausgezeichnet zusammen. Im Lauf der Zeit hatte sich zwischen ihnen fast so etwas wie eine richtige Männerfreundschaft entwickelt. Männerfreundschaft bedeutet, dass man etliche gleiche Interessen hat, viel zusammen unternimmt, sich gegenseitig sehr sympathisch findet, aber keinesfalls darüber spricht.

Deshalb wäre Schierhuber im Forstner-Fall der logische Ansprechpartner gewesen, dem Hawelka sein Herz hätte ausschütten können. Aber– da gab es schon wieder ein Problem. Vor einiger Zeit waren sie im Waldviertel dienstzugeteilt gewesen, und als Schierhuber wegen einer Gerichtssache vorübergehend zurück nach Wien musste, war es seinerseits zu einem Vorfall gekommen.

Einem Vorfall, der Schierhuber offenbar sehr zu schaffen gemacht hatte, denn gegen seine sonstigen Gewohnheiten hatte er bei seiner Rückkehr ins Waldviertel Hawelka eine Art Geständnis gemacht. Nicht dass er über Gefühle oder so etwas geredet hatte! Nein, nein, aber er hatte zumindest gestanden, dass es zu… Handlungen körperlicher Natur… also zu sehr körperlichen Handlungen… mit einer… Frau gekommen war. Eine improvisierte Geburtstagsfeier auf der Dienststelle war sehr ausgelassen gewesen, und die Fortsetzung hatte dann ebendiese körperlichen… Sachen zur Folge gehabt.

Diese Frau war die Forstner gewesen.

Das also war der Grund, warum Hawelka ausgerechnet mit Schierhuber nicht über seinen eigenen Vorfall reden konnte. Schierhuber konnte ihm keine Lösung für sein Problem bieten, nein, er war Teil des Problems, und das verkomplizierte die Sache außerordentlich.

Denn wie es Schierhuber-Art war, wurde das Thema nach der Waldviertler Aussprache nie wieder erwähnt, und nun wusste Hawelka nicht, ob sein Partner und die Forstner sich nicht ab und zu trafen und vielleicht sogar so etwas wie eine Beziehung führten. Heimlich natürlich, denn im Dienst würdigte die Forstner den Zwettler keines Blickes, und nicht einmal die Berlakovic, die sonst alles wusste, wusste etwas.

Wenn die zwei was miteinander haben und ich erzähle dem Sepp, dass ich nackt in ihrer Wohnung aufgewacht bin, ist es aus mit der Freundschaft, dachte Hawelka zum hundertsten Mal in dieser Woche. Aber wenn die zwei was miteinander haben und ich erzähle dem Sepp nichts, aber die Forstner erzählt ihm was– dann ist es doppelt aus mit der Freundschaft. Es war ein Dilemma.

Er hatte seinen Partner die ganze Woche über sehr genau beobachtet und dabei versucht, aus dem Verhalten oder den Aussagen des anderen Schlüsse über dessen Wissensstand zu ziehen– vergeblich. Schierhuber war wie immer: wortkarg, verschlossen, stoisch.

Um vielleicht sachdienliche Hinweise über den Verlauf des denkwürdigen Abends zu erhalten, hatte Hawelka sich vorsichtig im Kollegenkreis umgehört. Das Ergebnis war dürftig. Alle waren sich darüber einig, dass das Ganze eine Riesengaudi gewesen war, die unbedingt wiederholt werden musste. Aber niemand machte Andeutungen ihn und die Forstner betreffend. Gut.

»Du, wer hat eigentlich das Taxi bezahlt?«, hatte er es bei der Berlakovic versucht.

»Da darfst du mich nicht fragen, der Sepp und ich, wir sind beim ›Centimeter‹ raus, weil der Sigi und der Harald auch hinwollten, die waren aber im anderen Taxi. Und ihr seids weitergefahren.«

Das hieß, Schierhuber hatte das auch registriert. Erwähnt hatte er es nicht. Auch nicht gefragt, wie denn der weitere Abend verlaufen war. Vielleicht, weil er es ja schon von der Forstner wusste?

Aber wenn die beiden was miteinander haben, dann wären die doch miteinander heimgefahren, oder?, dachte Hawelka verzweifelt.

Er saß in einer ehemaligen Besenkammer, die vor vier Jahren »vorübergehend« zu einem Büro für ihn und Schierhuber umfunktioniert worden war, und versuchte, einen Bericht fertig zu tippen. Schierhuber genoss einen freien Tag. Hawelka hätte auch gerne einen freien Tag gehabt, allerdings duldete der Bericht keinen Aufschub, und so hatten sie gelost. Hawelka hatte verloren. »Ich bring dir was mit«, hatte der andere ihn getröstet. Vermutlich würde das Mitbringsel hochprozentig sein, denn Schierhuber besuchte einmal mehr seinen Ex-Schwager in Weitra, und dieser brannte Schnaps.

Um vierzehn Uhr drei hatten der Sauerstoffmangel in der kleinen Kammer, das üppige Mittagessen und der langweilige Bericht ihren Tribut vom hawelkaschen Gehirn gefordert, und er war in einen Sekundenschlaf gefallen.

Genau in diesem Moment ging die Tür auf, und der Erzherzog betrat die Kammer.

»Aha. Das lob ich mir, dass Sie schon in vorauseilendem Gehorsam den Schlaf vorkonsumieren, den Sie die nächsten Tage nicht bekommen werden, weil Sie rücken jetzt aus, Hawelka!«

Der Angesprochene versuchte, den Traum zu verscheuchen und aufzuwachen, denn dass er schlief und träumte, stand für ihn fest. Im Wachen passieren keine Wunder, und um ein solches handelte es sich hier offensichtlich. Eigentlich gleich um drei Wunder:

Erstens war Hofrat JohannP. Zauner noch nie in der Besenkammer erschienen. Brauchte er etwas von Hawelka oder Schierhuber, so ließ er sie holen, anrufen, oder er rief ihre Namen von seiner, einen Stock höher gelegenen, Kanzlei aus durch die Gänge, und sie beeilten sich, zu ihm zu gelangen.

Zweitens waren die Worte des Erzherzogs ruhig und sachlich ausgesprochen worden und frei von Sarkasmus, was selten genug passierte– und Hawelka gegenüber eigentlich noch nie vorgekommen war.

Drittens hatte der Alte vom »Ausrücken« geredet, und das bedeutete, dass es einen Fall gab und dass Hawelka tatsächlich ermitteln durfte und nicht wie die letzten paar Monate in der Besenkammer alte Fälle nachbearbeiten und Berichte verfassen musste.

Also auf jeden Fall ein Traum.

Der Erzherzog setzte sich an Schierhubers Schreibtisch, der dem von Hawelka gegenüberstand.

»Es ist eine G’schicht, die ein bisserl kompliziert ist, also versuchenS’ erst gar nicht, sie zu verstehen, weil sonst kriegen Sie Kopfweh, und das tut weh im Kopf, drum heißt es ja so.«

Das war schon eher der gewohnte Erzherzogston. Der Traum und die drei Wunder lösten sich also langsam auf.

»Die Hintergründe werd ich Ihnen zu gegebener Zeit einmal flüstern, aber jetzt will ich, dass Sie sich ein paar Sachen aufschreiben und… Wo ist eigentlich der Schierhuber?«

»Er hat heute frei und kommt morgen wieder.«

»Sie rufen ihn an und sagen ihm, er braucht gar nimmer kommen.«

»Was?«

»Bitte, heißt das! Sie sagen ihm, er braucht gar nicht erst herkommen, er kann Sie morgen gleich dort treffen.« Der Erzherzog reichte Hawelka einen Zettel über die beiden Tische. Noch ehe dieser die Adresse darauf lesen konnte, fuhr der Alte mit dem Gespräch, das eher eine Befehlsausgabe war, fort. »Hawelka, wissen Sie, was eine Geheimsache ist?«

»Äh… na ja, schon, ich–«

»Das Entscheidende an einer Geheimsache ist, dass sie geheim bleibt. Das heißt also nicht, dass Sie der Berlakovic sagen, ich fahre dort- und dorthin und arbeit an einer Geheimsache, oder dem Nachbarn erzählen, könnenS’ mir die Blumen gießen, bis die Geheimsache dort und dort abgeschlossen ist, sondern dass Sie gar nichts sagen. Und wenn Ihre Blumen unbedingt gegossen gehören, dann sagen Sie dem Nachbarn, dass Sie zum Kriminesertreffen5 nach Hamburg fahren.«

»Ja.«

»Und weil das Denken schwer ist und ich kein Freund der langen Reden bin, ist das auch der Text, den Sie der Mama und dem Nachbarn und den Damen im Auskunftsbüro erzählen: Hamburg, Kriminesertreffen. Aber sonst, Hawelka, erzählen Sie niemand nix. HamS’ mich?«

»Ja.«

»Gut. Und weil die Anmeldefrist verpasst worden ist, müssen Sie ein bisschen überstürzt abreisen. Und zwar jetzt.«

»Ja.«

»Sie fahren also nach Hause, packen drei Unterhosen und ein Zahnbürstel ein, und los geht’s– auf ins schöne Weinviertel.«

»Ja. Den Marschbefehl bekomm ich im Auskunftsbüro?«

Das Gesicht des Erzherzogs nahm kurz einen sehr nachdenklichen Ausdruck an. Hawelka hatte seinen Fehler sofort erkannt. Eigentlich noch während er die Frage ausgesprochen hatte. Es war die Macht der Gewohnheit. Keine Bewegung ohne Befehl, keine Handlung ohne Bericht, kein Schritt ohne Vorschrift, keine Situation ohne passendes Formular. Er hatte das System doch nicht erfunden!

Ich hab das System doch nicht erfunden, dachte er ein wenig trotzig. Jetzt hält er mich wieder für einen Trottel.

»Sie fahren jetzt nach Hause, habenS’ mich verstanden? Nach Hause und dann ins Weinviertel. Sonst nirgendwohin. Nicht ins Auskunftsbüro und nicht ins Wirtshaus. Den Schierhuber rufenS’ an und sagen ihm die Adresse, die auf dem Zettel steht. Dort treffen Sie sich mit jemandem, der Ihnen was erzählt, aber kein Märchen. Und, Hawelka, Sie sind dort keine Krimineser, Sie werden sich dort als Journalisten ausgeben, die für eine G’schicht recherchieren. Hüten Sie sich davor, dass Sie den Kollegen aus Niederösterreich in die Quere kommen, die sind da sehr empfindlich, verstehenS’? HabenS’ mich verstanden?«

»Ja.«

»Ja oder ja?«

»Ja.«

»Gut. Auf dem Zettel steht eine Telefonnummer. Unter der werden

Ankunft

Hawelka war erst gar nicht ins Auskunftsbüro gegangen, um sich zu verabschieden, sondern sofort in seine Wohnung gefahren, hatte gepackt und Schierhuber angerufen. Dieser hatte wie immer keinerlei Anzeichen von Erstaunen gezeigt, sondern versprochen, am nächsten Morgen zu der angegebenen Adresse in Retz zu kommen. Früher schaffe er es nicht, da er mit dem Schwager mitten in einer schwierigen Phase der Schnapsherstellung sei und das Gelingen des Unternehmens seine Anwesenheit bis in die späten Nachtstunden erfordere.

Das erste Treffen mit dem mysteriösen Unbekannten, dessen Adresse ihm der Alte aufgeschrieben hatte, würde Hawelka also alleine bestreiten müssen. Außerdem buchte er zwei Zimmer in einer Pension vor Ort. Normalerweise hätte das die Berlakovic erledigt, aber in diesem Fall waren sie ganz auf sich gestellt.

Als Hawelka kurz vor Hollabrunn war, läutete sein Handy. Auf dem Display blinkte »AuskunftsbüroB.«. Zuerst spielte er mit dem Gedanken, gar nicht abzuheben, aber dann nahm er das Gespräch doch an. Er würde einfach die Anweisung des Erzherzogs befolgen und sagen, dass er unterwegs nach Hamburg war. Ein Befehl war ein Befehl, und ein Befehl des Alten war mindestens doppelt so viel wie ein Befehl.

»Pepi, red keinen Blödsinn, das glaubt dir sowieso keiner. Weißt du was? Du wärst der ideale Ehemann, weil im Lügen bist du ganz schlecht. Und Ehemänner, die so schlecht lügen wie du, können gar keine Geheimnisse vor ihren Frauen haben, und das ist gut so. Hamburg! Kriminesertreffen! Du und der Sepp! Hör auf, sonst krieg ich einen Lachanfall. Der Erzherzog hat uns das auch einreden wollen, aber der kann besser lügen als du. Er hat uns einen waschechten Marschbefehl für euch zwei vorgelegt, inklusive Spesenvollmacht, alles für Hamburg. Fast hätte ich es ihm geglaubt, aber nur fast, weil ich heute im alten Archiv war.«

»Das ist ja sehr schön, Herta, aber was hat das alte Archiv mit unserer Hamburg-Reise zu tun?«

»Ich hab unabsichtlich mithören müssen, wie der Alte mit jemandem telefoniert hat. Könnte natürlich auch von Hamburg aus angerufen haben, aber er hat gesagt, dass er wen nach Retz schickt. Und keine drei Stunden später heißt es, dass meine Mordbuben ganz plötzlich wegfahren haben müssen. Nach Hamburg! Dass ich nicht lach. Ihr seids mir zwei schöne Hamburger!«

»Was? Du hast gehört, wie er wegen dieser Sache telefoniert hat?«

»Pepi! Bin ich das Auskunftsbüro, oder bin ich nicht das Auskunftsbüro? Jedes Wort hab ich gehört.«

Wieder einmal erkannte Hawelka, wie sinnlos es war, einem Auskunftsbüro im Allgemeinen und dem Auskunftsbüro Berlakovic im Besonderen etwas verheimlichen zu wollen. Warum also nicht gleich volle Offenlegung aller Fakten? Er erzählte, sie erzählte, und dann mutmaßte man, was das Ganze bedeuten konnte.

»Vielleicht ist das was aus seiner Vergangenheit bei der Fremdenlegion. Du weißt ja, dass er früher ein wilder Hund war, da gibt es sicher ein paar Aktionen, mit denen ihn wer erpressen könnte«, meinte die Berlakovic.

»Aber zwei Polizisten quasi für… Privatangelegenheiten missbräuchlich einzusetzen, das traut sich nicht einmal der Erzherzog.« In Hawelka kam die Beamtenseele durch. Er merkte es, kaum dass er den Satz ausgesprochen hatte, und genierte sich sofort dafür. Trotzdem redete er weiter. »Da steckt sicher mehr dahinter, etwas… Politisches oder so. Das ist sicher von ganz oben irgendwie… inoffiziell befohlen worden, also so wie…«

»James Bond?«, fragte das Auskunftsbüro spöttisch. »Glaubst du, der Bundeskanzler hat ihn angerufen und gesagt, ich brauche deine besten Männer. Schick sie nach Retz, achtzehn Geiseln sind zu befreien, aber wenn es schiefgeht– von mir hat es nie einen Befehl gegeben. Glaubst du das wirklich?«

Hawelka war ein wenig gekränkt. Nicht, weil die Berlakovic über seine Naivität gespöttelt hatte, sondern weil sie beide wussten, dass der Alte im Falle eines solchen Ich-brauche-deine-besten-Männer-Anrufes wahrscheinlich Henk und Nimmervoll geschickt hätte. Und wenn die nicht da gewesen wären, vermutlich Pollmann und Schütz. Und wenn die verhindert gewesen wären, dann Gerlitz und Hohlstein. Und wenn die nicht verfügbar gewesen wären, Sojka und Keutschacher.6

Er hat aber uns geschickt, dachte Hawelka trotzig. Das muss ja irgendwas zu bedeuten haben, er muss uns für diese Sache für geeignet halten, der Erzherzog ist doch nicht blöd!

»Was auch immer, wie auch immer– jedenfalls bin ich immer für euch da, wenn ihr was brauchts, meine Hamburger. Gell? Und wenn ich was herausfinde oder wieder einmal zufällig ein Telefonat mithören muss, dann geb ich euch Bescheid.«

»Okay. Danke, Herta, aber vielleicht ist es besser, wenn du den anderen Mädels… und natürlich allen anderen auch, also… wenn die Aktion wirklich geheim bleibt, weil… der Alte hat uns ja zum Schweigen verdonnert und bringt dich um, wenn er weiß, dass du was weißt, was du nicht wissen sollst, und er bringt dich doppelt um, wenn er weiß, dass du über das redest, was du eigentlich gar nicht wissen sollst.«

Was Hawelka nobel verschwieg, war, dass Zauner zuallererst ihn umgebracht hätte, da er ja das Schwindel- und Schweigegelöbnis gebrochen hatte. Die Berlakovic versprach »strengstes Stillschweigen« und erzählte dann ein wenig Tratsch von der Dienststelle, ohne die Forstner zu erwähnen. Keine drei Minuten später fuhr Hawelka in Retz ein.

»Ich muss Schluss machen, Herta, ich bin da.«

»Ja, grüß mir den Sepp. Du, eine Frage, wenn ihr inoffiziell dort seids, dann gebt ihr euch aber nicht als Kriminalbeamte aus, oder?«

»Nein.«

»Was sagts ihr dann, wer ihr seid?«

Stimmungsschwankung

»Berger ist ein Trottel!« Sie standen vor dem Herrenhaus, der Bürgermeister hatte seinen Bericht beendet und die Gutsherrin ihr Urteil gefällt. Von nun an würde Gruppeninspektor Berger ewig als Trottel gelten.

»Aber er wollte doch nur–«, versuchte der Bürgermeister zu beschwichtigen.

»Ein Trottel!«, wiederholte die Gutsherrin scharf, und der Bürgermeister schluckte den Rest seines Satzes hinunter.

Schrattenthal ist eine der kleinsten Städte Österreichs, vielmehr ein winziges Dorf mit Stadtrecht. Der Bürgermeister hingegen war eine ziemlich stattliche Erscheinung, während die Gutsherrin von der Größe her wunderbar zu Schrattenthal passte. Dennoch bestand kein Zweifel, wer das Sagen hatte.

»Wo sind sie jetzt?«

»In einem Keller in Retz. Sollen wir sie entsorgen?«

»Wie?«

»Verbrennen.«

»Gut. Aber nicht an Ort und Stelle. Weiter weg.«

»In Ordnung. Und Be–«

Der Bürgermeister hätte noch etwas zu sagen gehabt, aber die Gutsherrin ließ ihn mitten auf dem Hof stehen und betrat das große Haus, ohne ihn einzuladen, mit hineinzukommen. Er ging zu seinem Wagen und begann zu telefonieren. In der Zwischenzeit führte auch die Gutsherrin ein Telefonat.

»Pongratz! Es wird jemand kommen, und den werden Sie hierherbringen.«

»Wer? Wer wird kommen?« Pongratz war Hornist bei den Wiener Symphonikern gewesen. Seit seine Lunge nicht mehr mitspielte, hielt er sich mit Auftragsarbeiten als Komponist und Arrangeur mehr schlecht als recht über Wasser. Die Gutsherrin behandelte ihn wie einen Laufburschen.

»Jemand aus Wien. Nicht in offizieller Mission. Offensichtlich will man die niederösterreichischen Ermittler überwachen. Finden Sie den Menschen, ich will mit ihm reden.«

»Jawohl.«

Hawelka saß noch beim Frühstück, als Schierhuber eintraf. Der Zwettler trug zwei Flaschen Quittenbrand bei sich, die er vor Hawelka auf den Tisch stellte.

»Vom Schwager.«

»Danke.«

»Und?«

»Also, wir sind inoffiziell da. Das ist ein Befehl vom Erzherzog.«

»Okay.«

»Offiziell sind wir in Hamburg bei einem Symposium von Kriminalbeamten. Es gibt sogar einen Marschbefehl, den er im Auskunftsbüro vorgelegt hat.«

Nach der Erwähnung des Auskunftsbüros beobachtete Hawelka seinen Partner genau. Wenn er etwas über die Forstner-Geschichte wusste– musste er da nicht jetzt eine Reaktion zeigen? Aber Schierhubers Miene war wie immer.

»Aber die Herta weiß natürlich schon wieder alles«, fuhr Hawelka fort. »Sie hat ein Telefonat vom Alten mitgehört. Sehr komisch…«

Dann berichtete er dem anderen, was die Berlakovic erzählt hatte, vom Auftrag des Erzherzogs und von der Auflage, sich als Journalisten auszugeben. »Die offiziellen Fakten wird die Herta unauffällig über ihre Kontakte mit dem LKA Niederösterreich anfragen und uns an meine private Mailadresse schicken.«

»Okay.«

Mittlerweile hatte Schierhuber ein deftiges Frühstück bestellt (sein zweites an diesem Tag) und langte tüchtig zu. Er schien sich über die Geheimnistuerei des Erzherzogs in keiner Weise zu wundern. Auch die Journalistenrolle nötigte ihm keinen Kommentar ab.

Der Sepp nimmt es, wie es kommt, dachte Hawelka. Dann sagte er: »Ich hab mir gedacht, wir fragen hier einmal im Tourismusbüro nach und dann am Gemeindeamt, du weißt schon, Sehenswürdigkeiten, Originale, Vereine und so weiter. Dann arbeiten wir uns durch die Ortschaften und fangen zufällig mit der an, wo das Feld mit der Leiche ist. Was meinst du?«

»Gut.«

Eine halbe Stunde später brachen sie auf.

Eine halbe Stunde später rief der Erzherzog an.

»Ich will nur das Notwendigste wissen, Hawelka, weil ich Sie nicht aufhalten will, damit die G’schicht bald erledigt ist.«

»Ja.«

»Gut. Der Schierhuber ist bei Ihnen?«

»Ja, der Kollege Schierhuber ist schon da.«

»Gut. Wie wollen Sie vorgehen? VergessenS’ mir nicht, dass Sie undercover oder wie das Pferd sonst heißt unterwegs sind. Also die Dienstmarke lassenS’ schön stecken, und den Schierhuber nehmenS’ an die kurze Leine.«

»Jawohl.«

»Nicht ›Jawohl‹, sondern wie Sie vorgehen wollen, will ich wissen, sonst will ich nichts wissen.«

»Na ja, wenn wir Journalisten sind, gehen wir am besten aufs Gemeindeamt, ins Touristenbüro und so was. Wir erzählen allen die Journalistengeschichte, dann spricht es sich schnell herum, und niemand wundert sich, wenn wir auftauchen und Fragen stellen und so weiter…«

»Und?«

»Wir klappern dann die Ortschaften ab und fangen mit der an, von der aus–«

»Larifari Tschiritschari! Und nächstes Jahr sindS’ dann immer noch im Weinviertel und wissen alles über Retz und Pulkau, aber über den Mord wissenS’ noch nichts!«

»Äh… ja.«

»Sie holen sich jetzt den Menschen, der ihn gefunden hat, und–«

»Ja, aber–«

»UnterbrechenS’ mich nicht, Hawelka! GlaubenS’, weil Sie jetzt in Niederösterreich sind, könnenS’ anfangen, despektierlich zu werden? Da geb ich Ihnen aber einen Tipp: Hüten Sie sich vor diesen Grobheiten! Weil da kann ich ganz schnell schiach werden! Also holenS’ den Schober wo ab, wo es keine Zeugen gibt, und redenS’ ein deutsches Wort mit ihm.« Der Alte sagte Hawelka die Festnetznummer von Schober durch.

»Müssen wir vor ihm auch die Journalisten spielen, oder weiß er, dass–«

»Hawelka, das ist ganz wurscht, was der weiß! Sie sagen nicht so und nicht so7, sonst sagt er irgendwo zur Unzeit einmal, der hat so g’sagt. Und dann hamma den Salat. Sie treffen ihn, sagen nicht so und nicht so und lassen ihn seine G’schichte erzählen, und dann schauen wir wieder weiter.«

Bevor Hawelka noch zu einer Antwort ansetzen konnte, hatte der Erzherzog aufgelegt.

»Sepp, wir haben eine Planänderung, wir holen uns den Zeugen, sprich den Mann, der den Toten gefunden hat, und fragen ihn aus. Der Erzherzog befiehlt uns sozusagen zügiges Vorgehen.« Dann erklärte er noch die Nicht-so-und-nicht-so-sagen-Taktik.

»Okay.«

Sein Partner hatte unmittelbar nach dem Frühstück sein Zimmer bezogen und sich dort innerhalb weniger Minuten in einen höchst überzeugenden Journalisten verwandelt. Mittlerweile war er die Attraktion auf dem Retzer Hauptplatz. Er trug einen weißen Strohhut, Sonnenbrille, ein knallbuntes Hawaiihemd und eine gut fünfzig Jahre alte Rolleicord-Spiegelreflexkamera mit dem charakteristischen Doppelauge. Um nicht mit einem gewöhnlichen Touristen verwechselt zu werden, holte er von Zeit zu Zeit ein Diktiergerät aus der Tasche, in das er dann mit wichtiger Miene seine Eindrücke sprach:

»Historischer Hauptplatz. Schön!«

»Verschiedene ältere Gebäude.«

»Diverse neuere Autos.«

»Kino auch da.«

»Schuhhaus Mühlberger. Öffnungszeiten acht bis achtzehn Uhr.«

»Roter Pkw im Halteverbot, Kennzeichen HL-300CX.«

Jedenfalls spielte er seine Rolle mit Inbrunst, und Hawelka registrierte, dass sich Schierhuber nicht so benahm, als hege er innerlich irgendeinen Groll gegen ihn.

Wahrscheinlich weiß er doch nichts von der Forstner-Geschichte, dachte Hawelka erleichtert. Jetzt ist die Frage aber, wie sollen wir unbemerkt an diesen Schober herankommen?

Nach kurzer Absprache beschlossen sie, einfach anzurufen und den Mann um ein Treffen unter sechs Augen zu bitten. Gerade als sie es tun wollten, rief die Berlakovic an.

»Wie geht’s meinen Buben? Habts schon Sehnsucht nach mir in Hamburg?«

»Immer, Herta, immer.«

»Das will ich hoffen, weil ich hab Neuigkeiten aus der Heimat. Auch wenn ihr nicht da seids, wird gemordet und getotschlagt. Ich weiß ja nicht, ob ihr Retz kennts, aber dort ist gestern ein Mann tot aufgefunden worden.«

»Interessant.«

»Ja. Die Kollegen aus Niederösterreich sind aber schon fleißig beim Aufklären. Zum Beispiel haben sie festgestellt, dass der Mann Erich Kramer heißt und eine Schrotladung in der Brust hat. Eine ziemlich klare Todesursache.«

»Aha.«

»Und zwar schon seit dem Vorabend, also dem Abend des 13.September. Außerdem ist festgestellt worden, dass der Fundort nicht der Tatort ist, und zwar ist die Leiche nach dem Tod bewegt worden und muss irgendwann zwischen Mitternacht und sechs Uhr früh auf dem Feld abgelegt worden sein, wo sie dann gefunden worden ist. Na, bin ich gut, oder bin ich gut?«

»Du bist supergut!«

»Ich weiß, Baby, ich weiß.«

»Du, Herta, du bist aber eh vorsichtig, wenn du recherchierst und so, oder? Weil wenn der Erzh–«

»Ich bin so vorsichtig, wie ein Auskunftsbüro nur sein kann. Ich bin… warte, ich muss auflegen… Danke, Herr Ministerialrat, wir werden die Überstundenabrechnung am schnellsten Weg rüberschicken. Ja. Schönen Tag noch!« Damit legte sie auf. Vermutlich war ein Kollege, wenn nicht sogar der Erzherzog selbst ins Zimmer gekommen. Hawelka informierte den rasenden Reporter an seiner Seite über die Fakten.

»Aha«, stellte Schierhuber fest.

Hawelka suchte in seinem Notizbuch Schobers Nummer und tippte sie ein. Schon nach dem ersten Läuten hob dieser ab:

»Ja?« Hawelka registrierte, dass der Mann tatsächlich Angst hatte. Seine Stimme klang gepresst und nervös. Er stellte sich als Journalist vor und fragte, ob sich Herr Schober denn mit ihm und seinem Kollegen ein wenig unterhalten könne. Irgendwo, wo es schön ruhig sei.

»Ein Journalist? Von einer Zeitung? Ich weiß gar nichts. Ich bin ohnmächtig geworden, wie ich die Leiche gefunden hab. Das, was ich weiß, hab ich der Polizei schon erzählt!«

»Nein, nein, nicht von einer Zeitung… es ist, also wir sind von einem Freund geschickt worden…« Der andere hatte bereits aufgelegt.

»So ein Dreck«, schimpfte Hawelka. »Wie sollen wir da irgendwas herausfinden, wenn der wichtigste Zeuge… Ich meine, wie stellt sich der Erzherzog das vor? Der Typ hat ihn doch selbst angerufen, oder?«