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Ein unberechenbarer Serienmörder und eine knallharte Ermittlerin
Der erste Band der fesselnden Thriller-Reihe zum Mitfiebern
Ein bedeutender Zeuge wird tot in seiner Küche aufgefunden – in seine Stirn ist die Zahl Zwei eingeritzt. Das FBI vermutet zunächst einen gezielten Mordanschlag, um den Zeugen an seiner Aussage zu hindern. Doch der Fall nimmt eine unerwartete Wendung, als immer mehr Leichen auftauchen, die auf ähnliche Weise gekennzeichnet wurden. Ein gemeinsamer Nenner, der die scheinbar willkürlich ausgewählten Opfer verbindet, fehlt jedoch und FBI-Agentin Victoria Heslin befürchtet, dass jeder der Nächste sein könnte. Doch dann hinterlässt der Mörder plötzlich eine persönliche Botschaft für Victoria. Sie darf keine Minute mehr verlieren, um den skrupellosen Serienmörder und seine dunklen Geheimnisse zu enttarnen. Denn dessen Morde erweisen sich alles andere als zufällig …
Erste Leser:innenstimmen
„Wer wird das nächste Opfer sein? Der Wettstreit gegen die Zeit hält die FBI-Agentin auf Trab und lässt auch mich als Leser nicht durchatmen.“
„Für alle, die es düster und spannend brauchen!“
„Packender Thriller mit einer starken Ermittlerin. Sehr lesenswert, aber am besten tagsüber.“
„Ein skrupelloser Serienmörder mit einem dunklen Geheimnis macht den Kriminalthriller von Jenifer Ruff zu einem wahren Page-Turner.“
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Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ein bedeutender Zeuge wird tot in seiner Küche aufgefunden – in seine Stirn ist die Zahl Zwei eingeritzt. Das FBI vermutet zunächst einen gezielten Mordanschlag, um den Zeugen an seiner Aussage zu hindern. Doch der Fall nimmt eine unerwartete Wendung, als immer mehr Leichen auftauchen, die auf ähnliche Weise gekennzeichnet wurden. Ein gemeinsamer Nenner, der die scheinbar willkürlich ausgewählten Opfer verbindet, fehlt jedoch und FBI-Agentin Victoria Heslin befürchtet, dass jeder der Nächste sein könnte. Doch dann hinterlässt der Mörder plötzlich eine persönliche Botschaft für Victoria. Sie darf keine Minute mehr verlieren, um den skrupellosen Serienmörder und seine dunklen Geheimnisse zu enttarnen. Denn dessen Morde erweisen sich alles andere als zufällig …
Deutsche Erstausgabe März 2024
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-691-4 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-698-3
Copyright © 2019, Greyt Companion Press Titel des englischen Originals: The Numbers Killer
Published by Arrangement with GREYT COMPANION PRESS
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Übersetzt von: Johanna Ellsworth Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Romain TALON, © ParamePrizma, © sonatalitravel, © danielschoenen shutterstock.com: © Aqnus Febriyant depositphotos.com: © daniilphotos Korrektorat: Marita Pfaff
E-Book-Version 07.03.2025, 08:08:13.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Ein unberechenbarer Serienmörder und eine knallharte Ermittlerin Der erste Band der fesselnden Thriller-Reihe zum Mitfiebern
Im dunklen, moderigen Wald hinter dem Hotel Sonesta rissen heftige Windböen brüchige Zweige ab, und Beth Dellingers zitternde Hand umklammerte die 9-mm-Glock noch fester.Als sie den Abzug drückte, zerbrach etwas in einem hinteren Winkel ihres Gehirns. Zweischreckliche Dinge geschahen gleichzeitig: ein Mord – das Ende eines Lebens – und der unausweichliche Neuanfang eines anderen Lebens.
Wuchernde Dornenbüsche zerkratzten ihre Haut, während sie mit laut pochendem Herzen den schmalen Waldweg zum Parkplatz hinunterrannte. Ein einziger instinktiver Gedanketrieb sie an.Bloß weg! Keuchendzählte sie jeden vierten eiligen Schritt. Vier, acht, zwölf, sechzehn, zwanzig, vierundzwanzig, achtundzwanzig, zweiunddreißig …
Sie rutschte auf der Böschung am Waldrand aus und ihre nackten Füße glitten unter ihr weg. Sie ruderte wild mit den Armen, fielmit einem dumpfen Schlag hin und rutschte den glitschigen Erdboden hinunter. Der Schlamm verschmierte die Rückseite ihrer nackten Beine und setzte sich in winzigen Kratzern fest.Sie kroch mühsam hoch, warf einen Blick über die Schulter, stolperte und lief weiter. Der raue Asphalt des Parkplatzes war mitKieselsteinen und Bierkronen übersät, eine Glasscherbe schnitt in die Kante ihres schmutzverkrusteten Fußes.Sie spürte den Schmerz noch nicht.
In der Nähe raste ein Zug mit ohrenbetäubendem Lärm vorbei und ließ das Blut in ihren Ohren noch lauter pochen.
Vier, acht, zwölf, sechzehn, zwanzig, vierundzwanzig, achtundzwanzig, zweiunddreißig …
Erst als sie ihr Auto erreicht hatte, bemerkte sie den Lippenstift in ihrer Hand und starrte ihn verwundert an.Sie hatte keine Ahnung, wie er dahin gelangt war. Heftig schaudernd drehte sie sich um undschleuderte ihn zurück in Richtung Wald, als hätte sie eine heiße Kohle in der Hand.
Sie suchte den Schlüsselbund, entriegelte die Tür, riss sie auf und ließ sich auf den Fahrersitz des Wagens fallen. Dannwarf sie ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und rang nach Luft. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad, während siedurch die Windschutzscheibe starrte, ohne etwas wahrzunehmen.
Woran konnte sie sich noch erinnern? An dieFlucht aus dem Hotel. An eine hübsche Frau, die ihrdie Hintertür aufhielt.Sie erinnerte sich daran, geschrien zu haben, und an den plötzlichen brennenden Schmerz in ihrer Wange. An nichts anderes.Was war als Nächstes passiert?Sie wusste nur, dass sie irgendetwas Schreckliches getan hatte, etwas, was sie nicht rückgängig machen konnte.Hatte jemand sie beobachtet?Sie sackte auf dem Sitz zusammen, ließ den Kopf hängen und bedeckte das Gesicht mit den verdreckten Händen. Als sie die Wunde am Auge berührte, zuckte sie zusammen. Ihren Händen entströmte einverbrannter Geruch – der Geruch abgefeuerter Schüsse. Blut tropfte von ihrem Fuß auf den Boden.
Zwei, vier, sechs, acht, zehn, zwölf, vierzehn …
Ein plötzliches Geräusch ließ sie zusammenzucken.
„Beth, Beth, Beth, was soll ich jetzt mit dir machen?“Danny beugte sich zum Fenster herunter, seine blutunterlaufenen Augen starrten sie auf Augenhöhe an.
Beth schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe.Ein Schauder lief ihr über den Rücken.Als sie die Augen wieder öffnete, starrte er sie immer noch durchdringend an.Er schlug mit der Faust gegen das Glas.„Mach das Fenster auf!“
Sie schaltete die Zündung ein und ließ das Fenster halb herunter.Er sah sie finster an, während ihre keuchenden Atemzüge ihr die Brust zusammenschnürten.
„Biste jetzt zufrieden?“Er schlug mit der Hand auf das Dach des Autos.„Was du gerade getan hast, ist noch viel schlimmer als einer deiner kleinen Identitätsdiebstähle.Vielleicht kommst du damit nicht mehr durch.Dieses Mal wirst du wohl echt für das bezahlen, was du getan hast. Zum Beispiel, den Rest deines langen Lebens im Knast verbringen.“
Beth umklammerte den Kragen ihrer Bluse und hielt sich daran fest.
„Sie haben dich gesehen, das ist dir doch klar, oder?“Sein rauer Flüsterton machte seine Worte noch beängstigender.
Sie wollte nicht antworten.Sie wollte dieses Gespräch nicht führen.Aber sie konnte nicht anders.Sie musste unbedingt wissen, was er meinte.In ihrem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet. Das Schlucken fiel ihr schwer und sie wich noch weiter vom Fenster zurück.„Wer hat mich gesehen?“
„Sie alle. Sie alle haben dich gesehen.“Er machte eine ausladende Geste in Richtung der Fenster auf der Rückseite des Hotels Sonesta. Die meisten Fenster wirkten wiegroße geschwärzte Quadrate. Auseinigen schimmerte Licht an den Rändern der Jalousien.
„Nein, sie können nichts gesehen haben.“Ihre Stimme zitterte. Ihre Augensuchten die Fenster nach einem Schatten oder einer flackernden Bewegung, einem Lebenszeichen hinter der Jalousie ab.Was hatten sie gesehen?
Er biss die Zähne zusammen. „Doch, haben sie!“Jedes Wort war wie eine Ohrfeige, die durch die Luft flog und ihr ins Gesicht schlug.Er verlagerte das Gewicht, beugte sich immer noch zum Autofenster herunter und wirkte größer, als er tatsächlich war.„Sie wissen es, weil du gebrüllt hast wie eine … wie eine …“Sein Gesicht lief rot an. Ein großerWortschatz war noch nie seine Stärke gewesen.„Wie eine total bekloppte Irre.Du weißt, was du jetzt zu tun hast, oder?“
Sie starrte aus dem Fenster, den Blick von ihm abgewandt. Sicher hatte er jetzt sein sadistisches Grinsen im Gesicht.
„Du musst dich jetzt auch um sie kümmern, bevor sie dich verraten.“
Wieder raste ihr Herz. „Wie ... mich um sie kümmern?“
„Was kapierst du nicht? Also für jemanden, der sich für so schlau hält ...“
Beth zuckte zusammen. Mit hängenden Schultern blickte sie durch die Windschutzscheibe auf das gespenstische Hotel. Schon beim Einchecken hatte es ihr nicht sonderlich gefallen. Es bestand nur aus düsteren Winkeln und hässlichem Teppichboden. Nun glaubte sie, dass keiner sie gesehen hatte. Aber anscheinend war sie doch beobachtet worden. Schon seit Langem – seit kurz nach ihren Flitterwochen – war Danny ihr gegenüber abweisend, mitunter sogar grausam. Wenn er eine seiner Launen hatte, verletzte seine brutale Ehrlichkeit – Worte, die auf ihrer Seele brannten – sie mehr als jeder Tritt und jede Ohrfeige. Der einst charmante Mann, der ihr das Gefühl gegeben hatte, etwas Besonderes zu sein, war längst verschwunden. Dennoch glaubte sie nicht, dass er sie jemals direkt angelogen hatte. Zumindest nicht ins Gesicht.
„Wie ich sehe, hast du immer noch meinen Revolver, und weißt offensichtlich, wie man ihn benutzt.“ Lachend warf er den Kopf zurück.
Sie schaute auf den braunen Metallgriff, dessen Kante in der oberen Ecke ihrer Handtasche sichtbar war. Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken.
Danny spuckte auf den Boden. „Nee, du hast keine Wahl. Es sei denn, du hast ’ne bessere Idee, worauf ich lieber nicht wetten würde. Und tu es um Himmels willen nicht hier! Warte, bis sie weg sind, sonst bringst du die Polizei direkt auf unsere Spur.“
„Aber wenn ich es nicht hier mache, wie soll ich sie dann finden?“, flüsterte sie.
Er lachte, ein irres, verrücktes Gelächter. „Schalte dein Hirn ein, du bist doch die erfahrene Hackerin. Also überleg dir was!“
Sie ballte die Fäuste und versuchte nachzudenken.
Er schlug auf das Autodach, sie zuckte zusammen. „Ich muss dir wohl alles vorkauen, wie?“
Wenn ich so unerträglich unfähig bin, wie kommt es dann, dass meine Hacker-Aufträge unser ganzes Leben finanzieren? Unsere Wohnung, diesen Urlaub, dein neues Unternehmen mit seinen vielen Ausgaben und keinen Einnahmen, hä? Sie drückte auf den elektrischen Fensterheber, ließ die Glasscheibe hochfahren und sagte: „Lass mich in Ruhe nachdenken!“ Dann kniff sie die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Wieder fuhr ein Zug donnernd vorbei und übertönte alles, was Danny sonst noch gesagt haben mochte.
Was soll ich tun? Was soll ich bloß machen? Und dann, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, fiel ihr eine andere Wahl ein: Was will ich tun?
Eines wusste sie ganz sicher: Die Aussicht auf eine Gefängnisstrafe versetzte sie in Panik. Aber war sie taff genug? Wie stark müsste sie dafür sein? Sie richtete sich auf ihrem Sitz auf und warf noch einen Blick auf die Waffe. Sie würde es tun. Sie würde es ihm ein für alle Mal zeigen. Und was noch wichtiger war: Sie würde es sich zeigen. Sie ließ sich nicht länger herumkommandieren! Sie ließ sich nicht länger überraschen! Nie mehr! Das hier war die neue Beth. Und ihr Neuanfang bedeutete ganz sicher nicht, ins Gefängnis zu gehen.
Sie öffnete wieder die Augen. Danny war verschwunden.
Ja, sie war dazu fähig. Sie würde die Zeugen nacheinander ausschalten, bis sie wieder sicher war.
Sie stieg aus dem Wagen und kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy. Vornübergebeugt und fast auf Zehenspitzen gehend, schlich sie auf kalten, dreckigen nackten Füßen auf dem Parkplatz umher und machte verstohlen Fotos von jedem einzelnen Nummernschild – ein genauso guter Anfang wie jeder andere. Es parkten nur zwölf Autos auf dem Platz. Das Hotel Sonesta war für niemanden ein Traumziel.
Als sie damit fertig war, wartete Danny schon am Auto. „Wir müssen von hier verschwinden. Jetzt gleich, bevor sie dich schnappen! Hol unsere Sachen, dann treffen wir uns hier!“
„Warum kannst du nicht ...“
„Geh einfach! Jetzt!“
Beth lief eilig ins Hotel. Nur wenige Minuten später kehrte sie mit einer Kühlbox und zwei kleinen Koffern, von denen einer ein kaputtes Rad hatte, auf dem Arm zurück. Der Schweiß rann ihr die Schläfen herunter. Sie stiegen in ihren „geliehenen“ Honda und rasten davon, ließen das nächste Hotel links liegen – zu nahe dran – und parkten vor dem übernächsten, das sie entdeckten. Das Vista View lag direkt an einer stark befahrenen Straße ohne nennenswerte Aussicht weit und breit. Doch schon bevor Beth es betrat, stellte sie fest, dass es gegenüber dem Sonesta, für das sich Danny entschieden hatte, eine Verbesserung war.
„Lass uns einchecken“, knurrte Danny.
Beth ging durch die automatischen Schiebetüren in die stille Lobby. Ein Mann in einem dunkelblauen Anzug kam durch eine Tür hinter dem Schreibtisch herein. „Wollen Sie einchecken?“ Er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein, und sein Lächeln bewies, dass er trotz der späten Stunde immer noch charmant sein konnte. Auf seinem Namensschild stand „Ahmad“.
„Wenn Sie noch ein Zimmer frei haben?“ Beth rückte ihre große dunkle Sonnenbrille zurecht. „Wir haben keine Reservierung.“
Ahmad kniff die Augen zusammen, warf einen Blick auf Beth und dann auf die Eingangstür.
„Mein Mann ist auch dabei.“ Sie deckte das Kinn mit der Hand ab, da sie sich der Schlieren, die die Tränen auf ihrem Gesicht hinterlassen hatten, des schillernden blauen Flecks und der verdreckten Kleidung bewusst war.
„Okay, ich bin gleich wieder da. Ich muss erst noch …“ Er wischte sich mit dem Fingerrücken über die Nase. „Eine Minute.“
Ahmad verschwand durch die Tür hinter dem Schreibtisch und ließ Beth allein. Sie verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere und wickelte sich Haarsträhnen um den Finger.
„Hast du noch kein Zimmer bekommen? Warum dauert das so lange?“ Danny war es offenbar leid, draußen auf sie zu warten.
Dann kam Ahmad zurück. Beth seufzte erleichtert auf.
„Tut mir leid.“ Ahmad senkte den Kopf und tippte etwas in seinen Computer ein. „Wie viele Nächte?“
Wie lange wird es wohl dauern? Einen Tag? Zwei? Kann ich es wirklich durchziehen?
„Nimm lieber drei“, sagte Danny, der sich unangenehm dicht neben sie gestellt hatte.
„Vier Tage.“ Beth hob den Kopf und kratzte sich an der Beule, die sich auf ihrem Arm gebildet hatte. Das musste ein Mückenstich sein, obwohl es eigentlich schon zu spät im Jahr und zu kalt für Mücken war. Irgendwas hatte sie im Wald gestochen, und jetzt reagierte ihr Körper darauf.
„Sie haben Glück. Wir haben ein freies Zimmer für vier Nächte.“ Ahmad lächelte Beth an, doch sein Blick wanderte ab, und sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck verriet ihr, was er dachte.
Sie runzelte die Stirn und drückte mit zwei Fingern den Mückenstich zusammen, was gleichzeitig schmerzte und den Juckreiz linderte. „Welche Nummer hat das Zimmer?“
„Zwei-siebenundzwanzig.“ Ahmad lächelte.
Ihre Miene verzog sich, als wäre sie gerade wieder gestochen worden.„Haben Sie auch was mit einer geraden Zahl?“
Ahmad sah sie eine Sekunde länger als nötig an, aber sein aufgesetztes Lächeln war zurückgekehrt, bevor er den Kopf wieder senkte. „Moment, ich schau nach.“Er tippte auf der Tastatur herum und beugte sich noch näher zum Bildschirm hin.„Sie können das Zwei-vierunddreißig haben.Es ist auf der anderen Seite des Flurs. Wäre das in Ordnung?“
Beth stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Das wäre viel besser.Hier.“Sie reichte ihm eine neue Kreditkarte, nicht die Karte, mit der sie im Sonesta bezahlt hatten. Sie müsste mindestens für ein paar Wochen funktionieren.
Ahmad nahm die Karte entgegen.„Danke, Mrs. Malone, und falls Sie das Fitnessstudio nutzen möchten, es ist leider geschlossen. Die Decke ist undicht.In den letzten Tagen hat es zu viel geregnet.Ich frage mich, ob es jemals wieder aufhören wird.“
Als sie in ihrem Zimmer angekommen waren, schrubbte sie sich im Bad die Hände sauber, wusch sich vorsichtig das schmutzige Gesicht und tupfte die Blutkruste auf ihrer Lippe ab.Was für einen Anblick sie geboten hatte!Sie starrte in den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht aus verschiedenen Winkeln, um die Zeit totzuschlagen, bevor sie zurück ins Zimmer ging.
Danny saß auf dem abgewetzten Ausziehsofa, den Oberkörper weit nach hinten gelehnt und den Kopf in die Hände gelegt, die er im Nacken verschränkt hatte. Die Füße, die noch in den Stiefeln steckten, hatte er auf den Couchtisch gelegt. Beth stellte sich so weit wie möglich von ihm entfernt zwischen das Fenster und das Bett.Sie zog eine Kante des Schiebevorhangs zurück und spähte hinaus.Eine Wolke aus Staubkörnchen wirbelte im dunstigen Flutlicht umher und der Wind zerrte an den Ästen der Bäume. Zwischen den aufgemalten Linien der Stellplätze parkten mehrals ein Dutzend Autos.Welcher Art von Menschen gehörten diese Autos wohl? Großmüttern und Großvätern?Müttern und Vätern?Kellnern?Verkäufern? Mitarbeiternund Führungskräften?Nein, keinen Führungskräften, nicht in diesem Hotel. Aberwas noch wichtiger war: Wem gehörten die Autos auf dem Parkplatz des Sonesta?Mit ein wenig Internet-Recherche würde sie es herausfinden.
Ich kann es nicht tun.„Was, wenn ich einfach zur Polizei gehe und mich stelle?“
„Ha!“Danny legte den Kopf noch weiter zurück.„Wie ich schon gesagt habe, überlebst du keinen einzigen Tag im Knast. Aber wenn du zur Polizei gehst, dann werde ich deiner Schwester einen kleinen Besuch abstatten. Mich ein bisschen unter vier Augen mit ihren Kids unterhalten.“
Sie kratzte sich am Hinterkopf.Ihre Schwester beschwerte sich ständig über die Kinder.Vielleicht würde er ihr sogar einen Gefallen tun, indem er sie zu Tode erschreckte.
„Glaubste mir nicht, wie? Denk dran, wasmit ihrem kleinen Hund passierte, als sie mir in die Quere gekommen ist. Wie hieß er noch?Cootie?Nein, Coobie. Der armekleine Coobie.Ha!“
Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern.Es war nur ein Tier.
„Wenn du das nicht tust, wirst du den Rest deines Lebens in einer dreckigen Gefängniszelle verbringen müssen.Und rechne nicht mit meinen Besuchen als dein Ehemann.Du wirst für immer alleine sein, denn wer sonst würde dich da besuchen?“
Beth hielt den Mund und sagte nichts, obwohl das Schweigen sie fast umbrachte. Drohungen gegenüber den Kindern ihrer Schwester ließen sich rationalisieren, die würden überleben.Aber sie würde nicht ins Gefängnis gehen.Gefängnis bedeutete, von noch fieseren, verrückteren Leuten umgeben zu sein als von denen in ihrem jetzigen Umfeld.
Danny redete weiter.Sie konnte den Klang seiner Stimme kaum ertragen, jedes Wort triefte vor eingebildeter Überlegenheit.Sie hasste ihn. Und sieliebte ihn. Oder doch nicht? Hättesie die Kraft, dann würde sie ihn mit bloßen Händen erwürgen.Wie sehr würde sie es genießen zuzusehen, wie er zappelte und nach Luft schnappte, bis er schließlich für immer den Mund hielt.Aber dann wäre sie allein, und das wollte sie auch nicht.Sie stürmte zurück ins Badezimmer und schloss die Tür ab.Sie begann, die Karos auf der Tapete zu zählen.
Vier, acht, zwölf, sechzehn …
Die angespannte Falte auf ihrer Stirn vertiefte sich, bis sie in der oberen Ecke der Wand sechsundneunzig gezählt hatte.Sie drehte sich um und schloss die Badezimmertür auf.
Im Raum war es still.
Er war weg. Rastlos lief sie im Zimmer auf und ab und zupfte dabei an den langen blonden Haarsträhnen, die durch das viele Färben stumpf geworden waren.Sie öffnete den kleinen Kühlschrank.Auf der Tür klebte ein laminiertes Schild mit der Aufschrift „Bezahlung nach Verbrauch“.Ihre Hand zitterte so stark, dass ihr eine Miniflasche Schnaps entglitt und auf den Boden fiel.Sie hob sie auf, öffnete sie, trank sie aus und warf die leere Flasche zurück in den Kühlschrank. Wahrscheinlich kostete das Fläschchen mehr als ein ganzes Sixpack, aber das war ihr egal. HeuteNacht kümmerte es sie nicht. Nicht, solangesie die Kreditkartennummer einer anderen Person benutzte.Nicht bei dem, was sie vorhatte.
Nachdem sie zwei weitere Miniflaschen geleert hatte, klappte sie ihren Laptop auf und machte sich an die Arbeit. Ihre eigene Entschlossenheit überraschte sie.Danny würde sie in dieser Situation nicht in Ruhe lassen, bevor sie das erledigt hatte, was zu tun war.Sie wollte es als Chance ansehen, ihm endlich zeigen zu können, wer sie wirklich war.Wenn sie einmal töten konnte, dann konnte sie es auch wieder tun.
Und immer wieder.
Sie würde es überleben.
Jetzt geht es los!
Morgendlicher Nieselregen bedeckte die Windschutzscheibe.Beth ließ den Motor an, damit die Scheibenwischer die Glasfläche freimachten. Nach vier quietschenden Bewegungen, die Wischblätter mussten dringend ersetzt werden, stellte sie den Motor wieder ab und trank den Rest des verbrannten Kaffees aus der Hotellobby.Drei Päckchen Zucker und fünf Becher Kaffeeweißer machten ihn beinahe genießbar. Nur schade, dass er nicht gegen die pochenden Kopfschmerzen ihres Katers wirkte.
Den Blick auf das junge Paar gerichtet, drehte sie den Schlüssel im Zündschloss, sobald sich das andere Auto in Bewegung setzte.Mit einer Hand griff sie unter den Fahrersitz und tastete nach der Waffe, um sich zu vergewissern, dass sie an ihrem Platz war. Jetzt ging es los. DasSpiel hatte begonnen.Sie war tatsächlich dabei, es zu tun. Ihr Magen verkrampfte sich und sie verspürte den Drang, zur Toilette zu gehen, aber sie musste ihn unterdrücken. Es war nur Nervosität.
Kelly und Jason Smith – beide Mitte Zwanzig, seit etwas über einem Jahr verheiratet.Kelly war zierlich und hatte Kurven, dichtes welliges hellbraunes Haar wie aus einer Shampoo-Werbung, große braune Augen und ein wunderschönes Lächeln voller perfekter weißer Zähne.Ihr rosa Pullover sah weich und fluffig aus.Jason trug eine Brille mit Drahtgestell, hatte einen gepflegten kurzen Haarschnitt und sah nicht viel älter aus als einer dieser Eliteschüler, die in der Schule gestreifte Krawatten und dunkelblaue Mäntel trugen.
Sind sie nicht entzückend?
Es war leicht gewesen herauszufinden, welches Hotelzimmer sie belegt hatten.
Beth grinste verächtlich, während sie dem knallroten Jeep auf die Hauptstraße folgte. DieKöpfe der beiden pendelten auf und ab.Kellys langes Haar schwang hin und her.Was lief da in ihrem Auto ab? Ach je, echt jetzt?Sie wippten zur Musik.Wahrscheinlich sangen sie auch noch im Duett.Beth verdrehte die Augen. Ihr kam eincleverer, fieser Gedanke, den sie beinahe laut Danny verraten hätte, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie ja allein war.
Sie folgte dem Jeep in deutlichem Abstand. Aus demNieselregen wurde Dauerregen.Sie schaltete die Scheinwerfer und Scheibenwischer ein.Alle Regeln einhalten.Keine Aufmerksamkeit erregen.Es stand zu viel auf dem Spiel.
Jason war auf dem Weg zu einer Firma in der Stadt, mit der er ein Verkaufsgespräch führen wollte, seine Frau fuhr zur moralischen Unterstützung mit. Das hatteBeth herausgefunden, weil sie echt gut war.Natürlich hatte ihr die Tatsache, dass die Menschen ihr Leben so bereitwillig in den sozialen Medien mit jedem teilten, der sich dafür interessieren könnte, geholfen. Und Beth interessierte sich sehr für die Info, die Kelly Smith unbedingt mit anderen teilen musste.Kellys Neigung zum Posten hatte es Beth deutlich leichter gemacht, ihr online nachzustellen. Kelly postete alleAktivitäten des Paares. „Geschäftstrip mit Spaßfaktor, weil ich mitkomme!“, verkündeteKelly auf ihrer sehr öffentlichen Facebook-Seite. Genauso guthätte sie auch ein Schild an ihre Haustür hängen können, auf dem stand: „Wir sind beide nicht zu Hause, Einbrecher willkommen!“ Dennfür Beth und auch jeden anderen war es ein Leichtes, die Privatadresse der Smiths herauszufinden.Und falls sie nichts hätten, was es wert wäre, gestohlen zu werden, könnte ein frustrierter Dieb ihre Wohnung zerstören, weil er sich umsonst die Mühe gemacht hatte. Das wusste Beth aus eigener Erfahrung.Als sie und Danny einmal in ein Haus eingebrochen waren und rein gar nichts Wertvolles fanden – nichts, was sie brauchen konnten, nichts, was sie haben wollten, und auch nichts, was wiederverkaufbar war –, hatten sie diesen Hausbesitzern eine Lektion erteilt, die sich gewaschen hatte.
Wie würden Beths eigene Beiträge wohl aussehen, wenn sie ihren Alltag mit aller Welt teilen würde? „Ein Supertag!Hab mich in ein Online-Konto gehackt und mit den Infos gleich drei neue Kreditkarten eröffnet! Jippie! Achja, und dann hat Danny mir eine geknallt und mir einen Zahn ausgeschlagen, weil er völlig zugedröhnt war und ich nicht wusste, wo die TV-Fernbedienung war.Kann mir jemand einen guten Zahnarzt empfehlen?“Ha!Die Welt würde ihre schmutzigen kleinen Geheimnisse nur zu gern erfahren. Doch siemachte ihr Kommen und Gehen nie öffentlich.Die Leute sollten es eigentlich besser wissen und nicht so blauäugig sein. Sonst geschah es ihnen nurrecht, wenn sich jemand mit ihrem Flachbildfernseher davonmachte, ihre Wände mit Zahnpasta und ihre Möbel mit Sirup vollschmierte oder sich ihre Identität auslieh, bis ihr Überziehungskredit ausgeschöpft war.
Nach ein paar Minuten schaltete Jason den rechten Blinker ein und bog mit dem Auto auf den Parkplatz eines Einkaufszentrums mit Geschäften und Restaurants ab, darunter ein großer Target-Supermarkt und ein Outlet der Elektronikkette Best Buy, doch hauptsächlich kleine Franchise-Unternehmen, wie sie in den meisten amerikanischen Einkaufszentren zu finden sind.Würde er hier das Verkaufsgespräch führen?Beths Herz schlug etwas schneller, so als würde es sich für das große Ereignis aufwärmen.
Autos rollten langsam in alle Richtungen, auf und ab auf dem überfüllten Parkplatz, da keiner die Strecke von den leeren Plätzen weiter weg von den Eingängen zu Fuß zurücklegen wollte, nicht jetzt, während aus dem Dauerregen fast ein Wolkenbruch wurde.Beth betete, dass Jason hinter die Geschäfte abbiegen würde, dort, wo die LKWs ihre Ladung abluden und sich keine Menschen aufhielten. Und dann? Die beiden hinterdem Einkaufszentrum erschießen?Wie sollte das funktionieren?Vielleicht hatte sie das Ganze doch nicht so gut durchdacht, wie sie es hätte tun sollen.Bis jetzt hatte sie geglaubt, es würde reichen, ihre Ziele ausfindig zu machen und ihnen zu folgen.
Bei dem starken Verkehr, der sich über den Parkplatz des Einkaufszentrums schlängelte, und einigen Autofahrern, die verdammt aggressiv waren – Hey, heute ist kein Sale, Lady! – hatte Beth keine andere Wahl, als dicht hinter dem Jeep zu bleiben oder das Risiko einzugehen, die Smiths zu verlieren.Jason steuerte direkt auf den Bordstein zu und hielt an. Hinter ihm tratBeth gerade noch rechtzeitig auf die Bremse. Die Beifahrertür des Jeeps schwang auf und Kellys wohlgeformte Beine, die in engen Yogahosen steckten, kamen zum Vorschein. Mit eingezogenem Kopf rannte Kelly zum nächsten Geschäft, dem Nagelsalon Plush Nails. Er sah nicht aus wie ein Laden für Reiche. Das H und das N hingen schief am Schild. Ein heftiger Windstoß würde die Buchstaben wegtragen. Also begleitete Kelly Jason doch nicht zum Verkaufsgespräch. Stattdessen würde sie sich aufhübschen lassen, während ihr Mann den harten Job erledigte. Beth runzelte die Stirn und zog die Unterlippe mit den Schneidezähnen zurück. Das war nicht gut, gar nicht gut. Für ihr Vorhaben mussten die beiden zusammenbleiben.
Im Türrahmen warf Kelly ihrem Mann eine Kusshand zu. Aber ihre Hand war nicht auf den Fahrersitz des Jeeps gerichtet. Beth wich mit dem Oberkörper zurück und folgte mit den Augen Kellys Blick. Offensichtlich hatte sie etwas verpasst.
Jason war aus dem Auto gestiegen. Als Regenschutz hielt er sich eine Zeitschrift über den Kopf, während er direkt auf Beth zu eilte und sie durch die Windschutzscheibe anstarrte. Sein Gesicht wirkte entschlossen. Beth spürte einen Adrenalinstoß und stand kurz vor einer Panikattacke. Was würde er jetzt tun? Er hatte sie offensichtlich erkannt. Sie riss das Lenkrad nach links, doch eine Reihe von Autos neben ihr, die Stoßstange an Stoßstange standen und sich kaum bewegten, verhinderten die sofortige Flucht. Hastig blickte sie in den Rückspiegel, während sie den Rückwärtsgang einlegte, doch hinter ihr versperrte ihr ein Wagen den Weg.
Jason war nur noch wenige Schritte entfernt.
Ihr Herz raste, während sie sich vorbeugte und die Glock unter dem Sitz hervorholte. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie die Hand um den Griff legte. Jetzt stand er wahrscheinlich schon vor ihrem Seitenfenster. Es waren zu viele Leute in der Nähe. Das hier war der falsche Ort! Sie würde sicher beim Versuch, ihn zu erschießen, erwischt werden. Sie schob die Waffe unter ihr T-Shirt und zuckte vor Panik zusammen. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie sich nicht zutraute, den Revolver zu benutzen – schon gar nicht, wenn er dicht an ihrem Bauch lag.
Ein Klopfen am Seitenfenster ließ sie hochschrecken, während sie die Waffe immer noch unter ihrem Hemd hielt.
„Hey!“ Jason sah sie direkt an.
Ihr blieb keine Wahl. Sie zog die Waffe unter dem T-Shirt hervor.
Jason stand mit eingezogenem Kopf im strömenden Regen und zeigte auf die Fahrzeugfront ihres Autos. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihr rechter Scheinwerfer nicht funktioniert. Nicht dass Sie einen Strafzettel bekommen.“
Dann trottete er davon, den Kopf noch immer mit der durchnässten Zeitschrift bedeckt, die Schultern seines Mantels dunkel vom Regenwasser.
Wie vor den Kopf gestoßen saß Beth da und starrte in den dichten Regenvorhang, ohne ihn und das unaufhörliche Trommeln der Tropfen auf dem Wagendach wahrzunehmen. Danny hatte recht, sie konnte es nicht tun. Und in diesem Moment war sie noch nicht einmal imstande, Auto zu fahren, geschweige denn, irgendwelchen Leuten zu folgen und zu tun, was getan werden musste, ohne dabei erwischt zu werden. Aber das war noch nicht alles, was sie aus der Fassung brachte. Es gab noch etwas anderes an der kurzen Begegnung, was sie stutzig machte. Jason hatte sich nicht so verhalten, als hätte er sie wiedererkannt. Kein bisschen. Es sei denn, er hatte ihr was vorgespielt, um sie zu verwirren. Vielleicht war das die Erklärung. Vielleicht funktionierte das Licht ja doch, und die Story vom kaputten Scheinwerfer war nur ein Trick, um sie aus dem Auto zu locken. Abrupt schaute sie nach links und nach rechts, doch sie sah niemanden sonst.
Jason bog mit seinem Wagen bereits wieder in den zäh fließenden Verkehr ein.
Beth fuhr langsamer als erlaubt zum Hotel zurück. Sie sog die Luft in hastigen Zügen ein, murmelte einen Rhythmus vor sich hin und zählte jede vierte kratzende Wischbewegung der Scheibenwischer.
„Vier, acht, zwölf, sechzehn, zwanzig, vierundzwanzig, achtundzwanzig, zweiunddreißig … Vier, acht, zwölf …
***
„Ich hab doch gewusst, dass du es nicht kannst“, sagteDanny verächtlich.„Dein Fehler hat die Sache nur noch schlimmer für dich gemacht.Du bist irgendwie …auffällig, weißt du. Mit den dunklen Haarwurzeln und dem blaulila Fleck stichst duheraus wie eine Hexe.“
Eine Hexe?Sie war nicht hässlich.Sie hatte sich immer für irgendwie attraktiv gehalten – sie hatte eine normale Größe und könnte eine bessere Figur haben, aber sie war nicht gerade dick –, bis Danny angefangen hatte, sie vom Gegenteil zu überzeugen.„Der blaue Fleck, wessen Schuld ist das?“Sie ließ sich in die Ecke des Sofas im Hotelzimmer sinken und schnappte sich ein Kissen für den Fall, dass sie ihr Gesicht schützen musste. Danny fand immer eine Erklärung dafür, dass alles ihre Schuld war. Zum Beispiel, dasser ohne sie im Luxus leben, einen Mercedes fahren und bei den Spielen der Wizards in der ersten Reihe sitzen und Bier bestellen würde. Träum weiter, Danny!
„Jetzt hat er dich aus der Nähe sehen können. Jetzt weiß er genau, wie du aussiehst. Jetztwird es für ihn ganz einfach sein, dich bei einer Gegenüberstellung zu identifizieren, sobald die Polizei dich festnimmt. Da stellen sie dich dann in eine Reihe mit vier anderen Tussis, die ihre besten Jahre hinter sich haben …“
„Er hat sich nicht so verhalten, als würde er mich wiedererkennen.Ich meine, er …“
Danny grunzte.„Viel Spaß im Gefängnis.Ich bin mir nicht sicher, ob du da klarkommst. Du hältst es doch nicht aus, allein zu sein, stimmt’s? Dann drehste durch und fängst an, Sachen zu zählen wie eine verdammte Irre. Du bist echt nicht ganz dicht!“ Er grinste höhnisch und warf den Kopf zurück. „Sie werden dir keine Stifte geben, weil du dir sonst die Augen ausstechen könntest. Aber du kannst mit deinem eigenen Blut Striche auf die Betonwände machen, einen für jeden Tag. Ha! Davon wirst du jede Menge haben, du wirst Striche zählen, bis du ’ne alte Schachtel bist. Eins, zwei, drei, vier, fünf … ach nein, nicht fünf! Ich kann nicht mit einer ungeraden Zahl aufhören, weil ich eine Verrückte bin! Es sei denn … es sei denn, sie knüpfen dich auf, jagen dir Strom durch die Venen oder was auch immer sie heutzutage tun, um durchgeknallte Mörder loszuwerden.“
Sie biss die Zähne zusammen und wandte den Blick von Danny ab.Sie hatte die Wippbewegungen ihres Beins gezählt.Sie drückte sich die Hand aufs Knie und hielt es fest, aber die Zahlen verstummten nicht, sie wurden in ihrem Kopf nur noch schneller und lauter.
Ich gehe nicht ins Gefängnis!
Der Tag fing gerade erst an.Sie würde warten, bis die Smiths wieder zusammen waren. In der Zwischenzeit gab es ja noch mehrPersonen auf ihrer Liste. Wie viele es waren, wusste siegenau: sieben.Sie hatte sie immer wieder gezählt.
Das nächste Mal würde sie nicht scheitern!
Victoria Heslins Haut kribbelte in der kühlen Oktoberluft, als sie über die nassen Waldpfade lief.Sie atmete tief ein und überquerte auf einer neu errichteten Holzbrücke einen rauschenden Bach in Richtung der Wanderwege in den Bergen.Es gab keinen Ort auf dieser Welt, an dem sie lieber wäre, als hier mit ihren Hunden wandern zu gehen.
Der Regen hatte aufgehört, auch wenn die Wolken entschlossen waren, die Sonne abzuschirmen.Am Ende der rosa Leine trottete Izzy mit erhobenem Kopf den Weg entlang, wachsam auf Bewegungen oder Rascheln im Gebüsch achtend.Wie ein lautloser Jäger auf der Suche nach Beute hörte die spanische Greyhound-Hündin nie auf, die Umgebung abzusuchen.Eddie, ein großer Windhund, der früher an Hunderennen teilgenommen hatte, trottete hinterher. Die Schnauze am Boden schnüffelte und markierte er alle paar Meter, indem er beiläufig sein Hinterbein hob, als wäre es seine heilige Pflicht.
„Komm schon, Eddie, schneller!“Victoria zog sanft an seiner Leine.Der große Hund riss ein Maul voll Gras ab und trottete hinter ihr her.
Victorias Handy summte, eine unwillkommene Unterbrechung, bei der sie innerlich das Gesicht verzog.Sie holte das Gerät aus ihrer Hüfttasche, warf einen Blick aufs Display und seufzte.Es war ihr Chef. Zwar war heuteSamstag, doch das spielte bei ihrem Job keine Rolle.Sie nahm den Anruf entgegen.Wie erwartet wurde rasch klar, dass es ein kurzer Spaziergang werden würde.
„O nein, und er ist wirklich tot?“,fragte sie und drehte sich bereits um, um den Rückweg anzutreten. „Gut.Ich bin gerade noch mit den Hunden unterwegs.Ich werde so schnell wie möglich kommen. Seine Adresse habe ich.“
Sie joggte mit den Hunden nach Hause, schloss das schwere schmiedeeiserne Tor auf und ließ die Hunde im Garten von der Leine.Während sie im Vorraum zum Flur ihre Wanderstiefel auszog, wurden sie vom Rest des Rudels – Windhunden, Galgos und Podencos – freudig begrüßt; alle wedelten mit dem Schwanz, schnaubten und beschnüffelten Izzy und Eddie, so als hätten sie sich beim Spazierengehen in ganz neue Kreaturen verwandelt.
„Na, na, regt euch ab!“Lachend zwängte sich Victoria zwischen den wedelnden Hundekörpern ins Haus. „Ihrtut ja so, als wären wir eine ganze Woche weg gewesen.“Als Antwort klopften ihre Schwänze gegen die Flurwände.„Leider muss ich euch sagen, dass ich wieder los muss.“
Sieben wedelnde Schwänze folgten ihr ins Schlafzimmer, wobei Eddie und Izzy leichte Dreckspuren hinterließen.Victoria zog sich die Shorts und das T-Shirt aus und eilte unter die Dusche.Weniger als drei Minuten später streifte sie sich ein weißes Unterhemd über, unter dem sich die Kette aus Saphiren – den Geburtssteinen ihrer Mutter – verbarg. Sie riss eine Tüte aus der Reinigung auf und zog routiniert eine graue Hose, eine Bluse und einen Blazer an. Zwischen kurzenStreicheleinheiten und Kopfmassagen für die Hunde hastete sie in die Küche und verteilte Leckerchen und Entschuldigungen.Sie checkte die Wasser- und Futternäpfe der Hunde, griff nach der schon gepackten Tüte mit Snacks für Menschen, steckte sich eine Wasserflasche in den Rucksack, schloss die Türen ab und sprang dann in ihren umgebauten Suburban.Während sie die lange Auffahrt hinunterfuhr, schloss sie das Handy ans Auto an und diktierte eine Textnachricht an Ned.
„Hi, ich bin’s, Victoria. Ich muss kurzfristig weg und weiß nicht genau, wann ich zurückkomme. Planen Sie also bitte auf alle Fälle ein, heute Abend vorbeizukommen, um meine Hunde zu füttern und ihnen ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Sobald ich mehr weiß, sag ich Ihnen Bescheid. Wie immer tausend Dank für Ihre Hilfe. Und schreiben Sie mir bitte, dass Sie diese Nachricht erhalten haben.“
Ein sanfter Glockenton kündigte eine eingehende SMS an.An der nächsten Ampel las Victoria Neds Antwort.
Hab sie erhalten. Steht unsere Verabredung am Montag zum Abendessen noch?
Sie drückte die Lautsprechertaste am Lenkrad. „Bis jetzt, ja.“Victoria seufzte.War das, was sie empfand, ein leichter Widerstand oder war es möglicherweise ein Anflug von aufgeregter Nervosität?Sie war sich nicht sicher. Es war dochkein richtiges Date, oder?Schließlich arbeitete Ned für sie.Sie ging selten mit Männern aus. Zu manchen Männernhatte sie sich hingezogen gefühlt und gespürt, wenn es auf Gegenseitigkeit beruhte, aber …dann hatte sie Abstand gehalten.Irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein fühlte es sich richtig an, sich mit niemandem einzulassen, jedenfalls nicht jetzt.Es war schon lange her, seit sie einem Mann eine Chance gegeben hatte.Sie erinnerte sich kaum noch an ihr letztes peinliches Dinnerdate. Mittendrin war sieweggerufen worden.Sie hätte das Handy ausschalten sollen und wusste das auch, aber vielleicht hatte sie auf einen möglichen Vorwand gehofft, um abhauen zu können. Bei der Erinnerung daran schüttelte sie den Kopf und war von ihrem eigenen Verhalten nicht wirklich beeindruckt.Vielleicht war es an der Zeit, es noch einmal zu versuchen, jemandem eine Chance zu geben.Vielleicht war es gar nicht so schlimm, wenn das Abendessen mit Ned tatsächlich ein echtes Date würde.Oder fast eins.
Ned schickte ihr eine zweite Nachricht.
Gut. Dann können wir darüber reden, was ich mitbringen soll, wenn wir nächsten Monat nach Spanien ins Tierheim fahren.
Sie diktierte noch eine Antwort. „Ja.Ich bin froh, dass Sie mitkommen. Es wird Ihr Leben verändern.Und Sie werden dort richtig was bewirken.“Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, ließ sie das Handy in die Mittelkonsole fallen.
Die Vorstellung, ihre Hunde viele Tage lang einem Hundesitter anzuvertrauen, machte sie nervös. Mit der Zeit hatte sie gelernt, dass sie sich auf Ned verlassen und ihm vertrauen konnte. Ihn zu finden, grenzte an ein Wunder, aber es würde schon alles klappen. Die Reise nach Spanien war wichtig.Sie hatte eine lange Liste mit Dingen, die sie während ihres Aufenthalts dort überprüfen musste.
Erneut drückte sie den Button Home.„Schicke Ned eine SMS.“
„Was möchtest du Ned mitteilen?“
„Ich weiß nicht mehr, ob ich Ihnen schon gesagt habe, dass Myrtle die neue Kräuterzahnpasta nicht mag. Geben Sie ihr bitte die Geflügelpaste in der roten Tube, sonst könnte sie nach Ihnen schnappen.“ Das war ihr subtiler Hinweis, ihn daran zu erinnern, den Hunden nach dem Abendessen die Zähne zu putzen.
Ned antwortete mit einem „Daumen hoch“.
Es war so wenig Verkehr, dass sie schon eine halbe Stunde später hinter drei Polizeiautos und einem SUV parkte. Als sie aus dem Wagen stieg, wehte ihr ein kalter Wind entgegen. Sie zog die Jacke fester um sich. Ein uniformierter Beamter kam auf sie zu und hob warnend die Hand. „Das ist ein Tatort, Miss. Steigen Sie bitte wieder in Ihren Wagen.“
Victoria schob den Saum ihrer Jacke hoch und blickte auf ihre Taille. „Ich bin Agent Heslin vom FBI.“
Der Beamte folgte Victorias Blick zu dem Abzeichen an ihrem Hosenbund. „Ach, das habe ich nicht ...“
„Mein Versehen, ich habe meine Dienstjacke nicht an.“
Der Beamte wippte auf den Füßen und drehte sich dann zu dem kleinen baufälligen Haus hinter ihm um. „Wir haben den Tatort für Sie gesichert. Der andere Ermittler ist gerade gekommen.“
Victoria nahm das Abzeichen von der Taille und befestigte es am Kragen ihrer Bluse, wo es besser zu sehen war, für den Fall, dass einer der anderen Beamten sie ebenfalls für nicht befugt hielt, sich hier aufzuhalten. „Danke.“ Sie lächelte und ging am gelben Absperrband vorbei auf das Haus zu, das im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Um die Fenster herum blätterte die Wandfarbe ab, die Außenseite war von grauem Schimmel überzogen und eine kaputte Dachrinne hing abgewinkelt herunter. Abgesehen vom Unkraut bestand der kleine Garten fast nur aus nacktem Erdboden. In den Furchen und Vertiefungen hatten sich Schlammpfützen gebildet. Eine leere gelbe Kartoffelchipstüte und eine blaue Sandwicheisverpackung sorgten für die einzigen Farbtupfer. Alles an dem Anwesen zeugte von einem billig zusammengeschusterten Bau, der schon bessere Tage gesehen hatte ... bis auf einen glänzenden schwarzen Range Rover, der nur knapp in den verrosteten Carport passte.
Die Häuser in der Nachbarschaft vermittelten alle die gleiche Botschaft. Ihre Bewohner hatten es entweder aufgegeben, sich um ihr Haus zu kümmern, oder es war ihnen schon immer ziemlich egal gewesen. Womöglich waren sie sich des vernachlässigten Zustands, der deutlich zu erkennen war, gar nicht bewusst. Die Häuser wirkten fast verlassen, aber doch nicht ganz.
Agent Rivera stand in der offenen Tür und fuhr sich mit einer Hand übers kurze dunkle Haar. Auch er hatte seinen FBI-Mantel zu Hause gelassen. Er trug ein strahlend weißes maßgeschneidertes Hemd unter einem anthrazitfarbenen Anzug. Sein Outfit und Victorias Kleidung waren fast identisch: eine männliche und eine weibliche Version in den gleichen Farben und Materialien. Hoppla! Irgendjemand im Büro würde sicher einen Witz über ihre passenden Outfits machen.
Als sie auf das Haus zuging, erblickte er sie. Seine Augen begannen zu leuchteten.
„Hey Tory.“ Er trat vor die zersplitterte Haustür und ließ sie hinter sich knarrend ins Schloss fallen. „Die Spurensicherung ist noch nicht da. Ein stressiger Tag für sie.“
„Zunächst einmal, schön, wieder mit dir zusammenzuarbeiten.Ich hätte nicht gedacht, dass es schon so bald sein würde.“
„Ja, i,ch beschwere mich auch nicht gerade darüber.“
„Also was habe ich verpasst?“Victoria bückte sich und zog sich die Schuhüberzieher an.
„Nun, der wichtigste Zeuge der Anklage hat eine Kugel im Kopf. Keine Spur von einer Waffe, also wohl nicht selbstverschuldet.“
„Das wird viele Agenten und Staatsanwälte wütend machen.“ Sie holte ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche und streifte sie sich über. „Was wissen wir bis jetzt?“
„Ihm wurde aus nächster Nähe in die Schläfe geschossen.Die Kugel ging rein und wieder raus.Die Polizeibeamten haben sie unter der Küchentheke gefunden.“
Victoria öffnete die Tür und betrat das Haus. „Wirklich?“Sie runzelte die Stirn.„Eine Kugel wurde zurückgelassen?“
„Ja.“
Die Agenten gingen an der Wand des Flurs entlang ins Haus.Eine Spur dunkelroter Teilabdrücke von Schuhsohlen führte auf dem Fliesenboden nach draußen.
Sie bückte sich, um die schmalen Profilspuren genauer zu betrachten.„Wer ist ins Blut getreten?“
„Laut der Nachbarin, die ihn gefunden hat – sie ist immer noch drinnen –, waren die Abdrücke schon da, als sie hereinkam.“Rivera senkte die Stimme und beugte sich zu Victoria.„Um sicherzugehen, werden wir Schuhabdrücke anfertigen lassen, aber auf den ersten Blick sind sie zu klein für einen der Beamten hier.“
Immer noch geduckt betastete Victoria die Halskette in ihrer Bluse.„Wer immer es war, hat das Haus tagsüber durch die Haustür wieder verlassen, obwohl das Risiko, gesehen zu werden, größer war.“
Die FBI-Ermittler betraten das Wohnzimmer vom Flur aus.Drei uniformierte männliche Beamte standen zusammen im Raum.Ein großer Mann mit breiten Schultern hob zur Begrüßung die Hand.
„Hey Sully“, sagteRivera mit einem halben Lächeln zu seinem Freund.„Kennst du schon Agent Heslin?“
Detective Sullivan nickte mit leicht grimmiger Miene, wie es sich an einem Tatort gehörte.Er war ein imposanter Typ, der viel Zeit im Fitnessstudio verbracht hatte, manchmal mit Rivera, wenn der Ermittler gerade in der Stadt war.Er hatte einige Schicksalsschläge hinter sich und Victoria hoffte, dass es ihm jetzt gut ging.Da seine Haut so rot angelaufen war wie Feinkostschinken, war sie sich dessen nicht sicher.Seine Augen waren leicht blutunterlaufen, aber das konnte auch daran liegen, dass er eine doppelte Schicht arbeitete und nicht genug Schlaf bekam.
Der Detective stellte die beiden anderen Polizisten vor und sagte: „Ich bin nur ein paar Minuten vor Ihnen gekommen.“
Der bebrillte Polizeibeamte trat vor.„Es gibt keine Anzeichen eines Einbruchs, obwohl die Türen möglicherweise nicht abgeschlossen waren.Er war offensichtlich tot, also haben wir nichts angerührt und die Spurensicherung gerufen.“
„Ja.“Ein sehr junger Polizist mit roten Haaren nickte.„Das Einzige, was wir berührt haben, war die Mikrowelle. Siepiepte, deswegen habe ich sie aufgemacht, um sie abzuschalten. Er hat sich gerade etwas warm gemacht, als er getötet wurde.“
Rivera grinste.„Sie haben also nichts angefasst, außer dem, was Sie angefasst haben. Ich verstehe.“
Sully unterdrückte schnaubend ein Lachen.
Das Gesicht des jungen Beamten lief fast so rot an wie sein Haar, als er fortfuhr: „Wir wurden angewiesen, hier zu warten, bis das FBI kommt – bis Sie kommen –, weil der Mann etwas Besonderes sei.“
„Ja, das war er.“Rivera ging in die kleine Küche zu dem Grund, weshalb sie alle hier in dem Häuschen zusammengepfercht waren – dem Opfer, Todd Meiser.
Durch ein schmutziges Fenster über der Spüle drang Licht herein; der Sonnenstrahl fiel auf tanzende Staubpartikel auf dem Küchentisch und zwei Stühlen.Der Autoschlüssel des Range Rover lag gut sichtbar auf einer kleinen Kochinsel mit einer Melaminplatte. Der Geruch von Zigaretten vermischte sich mit dem Geruch des Essens, das noch in der Mikrowelle stand.
Victoria ließ den Blick durch den Raum schweifen und nahm die traurige, blutige Szene in sich auf. Meiser lag ineinem langärmeligen T-Shirt und Jeans auf dem abgewetzten Linoleum, die Beine seitlich abgewinkelt, als hätte er auf den Knien gebetet, bevor er durch den Schuss seitlich wegkippte.Dunkle Bartstoppeln bedeckten sein Kinn und die gespitzten Lippen hatten sich zu einem O geformt – eine geschockte Grimasse. Über dem rechten Auge und der Nase lag einblutgetränkter Damenschal – ein schwarzes Seidentuch mit grauen und rosa Blümchen. An der linken Kopfseite fehlte ein Teil des Schädels, der zu einem Gemisch aus Knochensplittern, Gehirnmasse und Blut, das jetzt den Küchenboden bedeckte und an den Schränken klebte, explodiert war.
Victoria ging vorsichtig um die Masse aus Blut und menschlichem Gewebe herum, während sie den Toten und seine Umgebung betrachtete.„Als ich ihn das letzte Mal sah, war er ein nervöses Wrack. Händeringend lief er im FBI-Büro auf und ab, wenn er sich nicht gerade für eine weitere Zigarettenpause abmeldete. Aber sein Verhalten war nur verständlich, schließlichwar er ein Hauptbelastungszeuge der Anklage im Prozess gegen Raymond Butler.“
„Ich weiß, dass wir seit Jahren hinter Butler und seiner Organisation her sind.“Riveras Blick wanderte langsam und aufmerksam über die Leiche.
„Ich weiß nicht, wie du den ganzen Spaß verpassen konntest, aber jetzt hast du die Chance, in das Chaos des traurigen Endes einzusteigen.“Victoria stemmte die Hände in die Hüften.„Das hier habe ich nicht erwartet.“
„Ich weiß“, antwortete Rivera leise.„Irgendjemand hat den Job erledigt …und tot ist tot, aber das hier sieht nicht nach einem professionellen Auftragsmord aus.“
„Genau.“ Victoria runzelte die Stirn. „Sieht so aus, als wäre der Schal als Augenbinde verwendet worden. Merkwürdig, jemandem die Augen zu verbinden, wenn man ihn sowieso gleich töten wird, nicht wahr?“
„Aber vielleicht sollte es ursprünglich nur eine Drohung für ihn sein, nicht auszusagen, und endete mit Mord.“
Victoria kauerte sich dicht neben die Leiche hin. „Und was hat das hier zu bedeuten?“ Mit schwarzer Tinte war die Zahl Zwei über Todds linke Augenbraue gekritzelt worden. Direkt darunter stand das Wort „Lügner“. „Das wurde geschrieben, nachdem er erschossen worden war. Und wer auch immer das getan hat, muss dabei in die Blutlache getreten sein.“ Victoria balancierte in der Hocke, während sie mit ihrem Handy ein Foto von Meisers Kopf machte. Sie beugte sich vor, um sich die Fußabdrücke im Blut näher anzusehen, und fotografierte auch sie. „Lasst uns diese Info vorerst vor der Presse und der Öffentlichkeit geheim halten – die Info über die Zahl und das Wort auf seiner Stirn.“
„Gute Idee.“ Rivera ging in den Nebenraum. Sully war am Telefon und deckte es mit der Hand ab, als Rivera sich an die Polizeibeamten wandte. „Hallo Leute, erwähnen Sie die Zahl oder die Schrift auf seinem Kopf mit keinem Wort. Sorgen Sie dafür, dass es auch sonst keiner tut. Diese Details werden wir unter Verschluss halten.“
Sully nickte. „Habe verstanden. Wir hatten denselben Gedanken.“ Er hielt sich wieder das Handy ans Ohr.
Einer der Polizisten folgte Rivera zurück in die Küche und wartete, bis Victoria aufsah. „Also ist dieser Typ in den Butler-Fall verwickelt? Deshalb wurden Sie gerufen?“
„Ja, er war in den Fall verwickelt.“
„Was hat er denn getan?“
„Ohne es zu wissen, hat er den Butlers über ein Jahr lang beim Handel mit illegalen Waren geholfen. Er war der Schlüssel zu Butlers Verurteilung.“ Victoria seufzte. „Der arme Kerl. Er konnte es kaum erwarten, den Prozess zu überstehen, seinen neuen Job anzutreten und sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Nur noch wenige Tage, dann hätte er es geschafft.“ Victoria senkte den Kopf und starrte auf die Überreste von Meisers Gesicht.
„Hey, ich weiß, was Sie meinen.“ Sully schüttelte den Kopf. „Aber Sie waren es nicht, die ihn in diese Misere gebracht hat, und Sie waren es auch nicht, die ihn ermordet hat, während er sein Mittagessen in der Mikrowelle aufwärmte.“
„Ich weiß.“ Victoria lächelte traurig. Ihr entging auch nicht das leichte Zittern in den Händen des Detectives und die Röte, die ihm ins blasse Gesicht gestiegen war. „Wer hat ihn gefunden?“
Sully deutete aufs Wohnzimmer. „Seine Nachbarin. Sie ist nebenan. Hoffentlich macht Ihnen Zigarettenrauch nichts aus.“