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»Das Leuchten der Bäume« ist die ultimative Baum-Anthologie und lässt die Freundschaft zwischen Baum und Mensch erblühen. Wir lesen von dem einzigartigen Wesen der Bäume, ihrer Rolle in Religion und Mythen, Bäume als stille Zeugen unserer tiefsten Gefühle sowie der Baum als enger Freund und Zuhause, beispielsweise für einen Baron auf den Bäumen. Dabei gehen die Texte weit über Klassiker der deutschen Laubbaum-Romantik hinaus: Von japanischen Kirschblütenregen, fernen Kokospalmen bis hin zu Rilkes Apfelgarten reihen sich hier die schönsten Geschichten, Gedichte, Mythen und Erzählungen aus allen Ländern und Zeiten. Mit Texten von Virginia Woolf, W.G. Sebald, László Krasznahorkai, Kenzaburo Oe, Goethe, Konfuzius und vielen mehr. Ein reich illustriertes Geschenkbuch zu allen Anlässen.
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Seitenzahl: 296
Das Leuchten der Bäume
Die schönsten Geschichten und Gedichte
Herausgegeben von Lucas Walter
FISCHER E-Books
Else Lasker-Schüler
Bäume gehören mit ihrer Erhabenheit und Lebenskraft zu den meist bewundertsten Lebewesen unserer Erde. Ihre Anmut und Größe üben einen großen Einfluss auf Menschen aus, werden zu Orten des Friedens und der Inspiration. Eine ganze Literaturepoche, die Romantik, ist von der Faszination des Waldes geprägt. Jedoch schreiben von dem Leuchten der Bäume Menschen aus allen Ländern und Zeiten. Von Rilkes Apfelgarten, Tomas Tranströmers verblüffendem Wald, Hilde Domins bittersüßem Mandelbaum, bis hin zu japanischen Kirschblütenregen in Busons Haikus: Sie verfielen der Anziehungskraft ihrer Bäume, der uns bis heute verzaubert.
Hugo von Hofmannsthal
Was singt in mir zu dieser Stund
Und öffnet singend mir den Mund,
Wo alle Äste schweigen
Und sich zur Erde neigen?
Was drängt aus Herzensgrunde
Wie Hörnerschall zutag
Zu dieser stillen Stunde,
Wo alles träumen mag
Und träumend schweigen mag?
… … .
An Ästen, die sich neigen,
Und braun und dunkel schweigen,
Springt auf die weiße Blütenpracht
Und lacht und leuchtet durch die Nacht
Und bricht der Bäume Schweigen,
Daß sie sich rauschend neigen
Und rauschend ihre Blütenpracht
Dem dunklen Grase zeigen!
… . . :
So dringt zu dieser stillen Stund
Aus dunklem, tiefem Erdengrund
Ein Leuchten und ein Leben
Und öffnet singend mir den Mund
Und macht die Bäum erbeben,
Daß sie in lichter Blütenpracht
Sich rauschend wiegen in der Nacht!
Achim von Arnim
O grüner Baum des Lebens,
In meiner Brust versteckt,
Laß mich nicht flehn vergebens!
Ich habe dich entdeckt.
O zeige mir die Wege
Durch diesen tiefen Schnee,
Wenn ich den Fuß bewege,
So gleit’ ich von der Höh.
Ich bliebe dir gern eigen,
Ich gäb mich selber auf, –
Willst du den Weg mir zeigen,
Soll enden hier mein Lauf?
Mein Denken ist verschwunden,
Es schlief das Haupt mir ein,
Es ist mein Herz entbunden
Von der Erkenntnis Schein.
Ich werd in Strahlen schwimmen,
Aus dieses Leibes Nacht,
Wohin kein Mensch kann klimmen,
Mit des Gedankens Macht.
Es ward mein Sinn erheitert,
Die Welt mir aufgetan
Der Geist in Gott erweitert,
Unendlich ist die Bahn!
Ossip Mandelstam
An die Lippen hin führ ich das Grün,
Diesen leimigen Eid in den Zweigen,
Und die Erde hier, meineidig, kühn –
Große Mutter des Ahorns, der Eiche.
Nun schau her, ich erblinde, gewinne
In der Demut der Wurzeln die Kraft:
Wird das Auge nicht zu viel hier finden
In dem Park hier, an tobender Pracht?
Und die Stimmen der Frösche – vereint
Hin zum rollenden Quecksilber-Ball,
Und die Rute wird endlich zum Zweig,
Und der Dampf wird Erdachtes,
steht milchig im All.
30. April 1937
Conrad Ferdinand Meyer
Schwarzschattende Kastanie
Mein windgeregtes Sommerzelt,
Du senkst zur Flut dein weit Geäst
Dein Laub es durstet und es trinkt,
Schwarzschattende Kastanie!
Im Porte badet junge Brut
Mit Hader oder Lustgeschrei
Und Kinder schwimmen leuchtend weiss
Im Gitter deines Blätterwerks,
Schwarzschattende Kastanie!
Und dämmern See und Ufer ein
Und rauscht vorbei das Abendboot,
So zuckt aus roter Schiffslatern
Ein Blitz und wandert auf dem Schwung
Der Flut, gebrochnen Lettern gleich,
Bis unter deinem Laub erlischt
Die rätselhafte Flammenschrift,
Schwarzschattende Kastanie!
Franz Kafka
Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.
Seamus Heaney
Wegen der Rinde stumpfem Silber, eingeschlagen
In Taubenfedernschillern.
Wegen dem pitschpatsch tröpfelnden
Regenflatternden Laub.
Wegen dem Stups und Knups der jungen grünen Zapfen,
Geschmolzener Smaragd, Chlorophyll.
Wegen der Raspel, Haspel der Zapfen im Winter,
So rasselhäutig, so fossil und spröd.
Wegen dem Erlenholz, feuerrot, wenn Ast
Von Ast reißt.
Aber vor allem wegen den Schaukellocken
Aus gelben Kätzchen,
Pflanz sie, setz sie,
Zerzaust das Haupt im Regen
Tomas Tranströmer
Verblüffender Wald
Wo Gott wohnt ohne Geld.
Die Mauern leuchteten.
*
Kriechende Schatten …
Wir sind im Wald verirrt
im Klan der Morcheln.
*
Eine schwarzweiße Elster
hüpft eigensinnig im Zickzack
quer über die Felder.
*
Schaut, wie ich sitze
wie ein an Land gezogener Kahn.
Hier bin ich glücklich.
*
Die Alleen trotten
in Koppeln von Sonnenstrahlen.
Rief jemand?
Joseph von Eichendorff
O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächtger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäftge Welt,
Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt!
Wenn es beginnt zu tagen,
Die Erde dampft und blinkt,
Die Vögel lustig schlagen,
Daß dir dein Herz erklingt:
Da mag vergehn, verwehen
Das trübe Erdenleid,
Da sollst du auferstehen
In junger Herrlichkeit!
Da steht im Wald geschrieben
Ein stilles, ernstes Wort
Von rechtem Tun und Lieben,
Und was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte, schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Wards unaussprechlich klar.
Bald werd ich dich verlassen,
Fremd in der Fremde gehn,
Auf buntbewegten Gassen
Des Lebens Schauspiel sehn;
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernsts Gewalt
Mich Einsamen erheben,
So wird mein Herz nicht alt.
Birken an einem Wege
Fernando Pessoa
Eine Reihe von Bäumen dort in der Ferne, dort zum Hang hin.
Doch was ist eine Reihe von Bäumen? Bäume, nichts sonst.
Eine Reihe und die Mehrzahl »Bäume« sind keine Dinge, sind Namen.
Arme Menschenseelen, die alles ordnen,
Die von Ding zu Ding Linien ziehen,
Namensschilder an durch und durch wirkliche Bäume heften
Und Längen- und Breitengrade zeichnen,
Selbst auf die Erde, die unschuldig ist und grüner und blühender als all dies!
Eduard Mörike
Ganz verborgen im Wald kenn ich ein Plätzchen, da stehet
Eine Buche, man sieht schöner im Bilde sie nicht.
Rein und glatt, in gediegenem Wuchs erhebt sie sich einzeln,
Keiner der Nachbarn rührt ihr an den seidenen Schmuck.
Rings, soweit sein Gezweig der stattliche Baum ausbreitet,
Grünet der Rasen, das Aug still zu erquicken, umher;
Gleich nach allen Seiten umzirkt er den Stamm in der Mitte;
Kunstlos schuf die Natur selber dies liebliche Rund.
Zartes Gebüsch umkränzet es erst; hochstämmige Bäume,
Folgend in dichtem Gedräng, wehren dem himmlischen Blau.
Neben der dunkleren Fülle des Eichbaums wieget die Birke
Ihr jungfräuliches Haupt schüchtern im goldenen Licht.
Nur wo, verdeckt vom Felsen, der Fußsteig jäh sich hinabschlingt,
Lässet die Hellung mich ahnen das offene Feld.
– Als ich unlängst einsam, von neün Gestalten des Sommers
Ab dem Pfade gelockt, dort im Gebüsch mich verlor,
Führt’ ein freundlicher Geist, des Hains auflauschende Gottheit,
Hier mich zum erstenmal, plötzlich, den Staunenden, ein.
Welch Entzücken! Es war um die hohe Stunde des Mittags,
Lautlos alles, es schwieg selber der Vogel im Laub.
Und ich zauderte noch, auf den zierlichen Teppich zu treten;
Festlich empfing er den Fuß, leise beschnitt ich ihn nur.
Jetzo gelehnt an den Stamm (er trägt sein breites Gewölbe
Nicht zu hoch), ließ ich rundum die Augen ergehn,
Wo den beschatteten Kreis die feurig strahlende Sonne,
Fast gleich messend umher, säumte mit blendendem Rand.
Aber ich stand und rührte mich nicht; dämonischer Stille,
Unergründlicher Ruh lauschte mein innerer Sinn.
Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen Zauber-
Gürtel, o Einsamkeit, fühlt ich und dachte nur dich!
Tomas Tranströmer
Eine Stelle, Jakobsmoor genannt,
ist der Keller des Sommertags,
wo das Licht zu einem Getränk versauert,
das nach Alter und Elendsviertel schmeckt.
Die schwachen Riesen stehen dicht verstrickt
da, so daß nichts fallen kann.
Die geknickte Birke vermodert dort
in aufrechter Stellung wie ein Dogma.
Vom Grunde des Waldes steige ich auf.
Es hellt auf zwischen den Stämmen.
Es regnet über meine Dächer.
Ich bin eine Traufe für Eindrücke.
Am Waldrand ist die Luft lau. –
Große Tannen, abgewandt und dunkel,
deren Maul, im Mull der Erde versteckt,
den Schatten eines Regens trinkt.
Gottfried Keller
Die herrliche Abendsonne beschien mit ihren goldenen Strahlen einen großen Fichtenbaum, welcher an einer felsigen Berghalde stand. Sein stachlichtes Laub prangte im schönsten Grün, und seine Äste waren wie mit Feuer übergossen und glänzten weithin durch die Gegend. Er freute sich dieses Glanzes und meinte, all diese Herrlichkeit gehe von ihm selbst aus und sei sein eigenes Verdienst, so dass er sehr eitel ward und prahlend ausrief: »Seht her, ihr andern Gewächse und Geschöpfe um mich her, wo erscheint eines in solcher Pracht wie ich edle Fichte? Gewiss, ihr seid sehr zu bedauern, dass euch der Schöpfer nicht schöner geschmückt hat.« Die Sonne hörte diese eitle Rede und wurde darüber unwillig, so dass sie ihre Strahlen von dem Baume weg auf einen dunklen Teich wandte, der unten am Berge in tiefer Ruhe lag. Der Fichtenbaum sah nun so öd und traurig aus wie vorher; der Teich aber bewegte sich freudig in kleinen goldenen Wellen und widerstrahlte das Bild der Sonne in tausend Feuerpunkten. Allein auch er wurde stolz darauf und glaubte am Ende, er selbst sei die Quelle all dieser Klarheit, und verspottete die anderen Gewässer, welche im Schatten lagen. Da wurde die Sonne abermals unwillig, zog Wolken zusammen, in denen sich verhüllte, und der Teich lag nun wieder in seinem düsteren melancholischen Grau wie zuvor und schämte sich. Die Wolken hingegen begannen jetzt zu glühen und zu scheinen wie Purpur und verbreiteten sich wohlgefällig im abendlichen Himmel, als die Erde schon im Schatten lag. Da wurden auch sie übermütig und riefen: »Erglänzen wir nicht viel schöner denn die Sonne?« Und zum dritten Male wurde die Sonne unwillig, und indem sie hinter den Horizont hinabstieg, entzog sie ihre Strahlen den undankbaren Luftgebilden, und Wolken, See und Bäume verschwammen nun in der grauen Dämmerung, endlich die Nacht all diese eitlen Geschöpfe der Vergessenheit übergab.
Rainer Maria Rilke
Ihm ward des Eingangs grüne Dunkelheit
kühl wie ein Seidenmantel umgegeben,
den er noch nahm und ordnete: als eben
am andern transparenten Ende, weit,
aus grüner Sonne, wie aus grünen Scheiben,
weiß eine einzelne Gestalt
aufleuchtete, um lange fern zu bleiben
und schließlich, von dem Lichterniedertreiben
bei jedem Schritte überwallt,
ein helles Wechseln auf sich herzutragen,
das scheu im Blond nach hinten lief.
Aber auf einmal war der Schatten tief,
und nahe Augen lagen aufgeschlagen
in einem neuen deutlichen Gesicht,
das wie in einem Bildnis verweilte
in dem Moment, da man sich wieder teilte:
erst war es immer, und dann war es nicht.
Friedrich Hölderlin
Aus den Gärten komm ich zu euch, ihr Söhne des Berges!
Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich,
Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleißigen Menschen zusammen.
Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von Titanen
In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel,
Der euch nährt’ und erzog, und der Erde, die euch geboren.
Keiner von euch ist noch in die Schule der Menschen gegangen,
Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen Wurzel,
Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute,
Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken
Ist euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet.
Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.
Könnt ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer
Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.
Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich,
Das von Liebe nicht läßt, wie gern würd’ ich zum Eichbaum!
László Krasznahorkai
Auszüge
Es hatte natürlich schon etwas Labyrinthartiges, wie die schmalen, kurzen Gassen fortwährend ineinanderliefen, wieder auseinandergingen und dann nach ein paar Gebäuden aufhörten, worauf eine Ecke kam, wo man abbiegen musste, und da war wieder eine Gasse nach links oder nach rechts, doch auch diese wie die vorherige knapp und kurz bemessen, alles in allem einige wenige einander gegenüberstehende Häuschen, und schon war das Ganze fertig und ging in eine andere Gasse über, etwas Labyrinthartiges, natürlich, aber gleichzeitig überhaupt nichts Beängstigendes, noch weniger etwas Vergebliches, eher etwas Spielerisches, ein schwebender Wirrwarr in der Struktur dieser Gassen, und so wie die fein gearbeiteten Zäune und die von winzigen Regendächern geschützten Gitterschiebetüren und darüber das frische Grün des da und dort heraushängenden Bambus oder das hingehauchte, silbrige, an ein aufsteigendes Feuerwerk erinnernde Nadelwerk einer Tränenkiefer, von zwei Seiten, wie in einem Spiegel, so wie sich das alles dicht über den Fußgänger neigte, schien es ihn zu schützen, zu schonen, ihn als Gast zu behandeln, das alles, die enggefügten Zäune und geschlossenen Tore, die Bambuszweige und das Tränenkiefergrün, oder vielmehr gab es dem, der sich hier näherte, gleich zu verstehen, dass ihm Sicherheit gewährt werde, dass ihm hier nichts zustoßen, kein Unglück geschehen könne, er solle einfach zwischen diesen Häuschen ruhig weitergehen und sich an den heraushängenden Bambuszweigen oder an dem hauchartigen Nadelwerk der Tränenkiefer freuen, er solle ruhig weiter hinaufspazieren und den Blick zuweilen auf der atemraubenden Blüte einer Magnolie ruhen lassen, die an den kahlen Ästen eben ihre mächtigen Kelche in der vollkommensten Schönheit des schimmernden Weiß geöffnet hatte, er solle zulassen, dass sie ihn ablenkten von dem, dessentwegen er gekommen war, dass seine Gedanken zerstreut wurden durch die beinahe schon explodierenden Knospen an den hier und dort aus den winzigen Vorgärten auftauchenden Pflaumenbäumen.
Weiter oben, in der Nähe der über den Abgrund führenden kleinen Holzbrücke, doch auf der gegenüberliegenden Seite, stand in der Mitte einer freien Lichtung ein riesiger Ginkgo. Im Geflecht der Gassen war das wohl der einzige freie Raum, auch dieser natürlich nur so groß, wie es gerade noch ging, damit der uralte Baum leben konnte, damit er Luft und Sonnenlicht bekam und seine Wurzeln unter dem Erdreich ausbreiten konnte. Alle anderen Pflanzen in den aufwärts führenden Gassen des Fukuine-Viertels gehörten zu etwas oder zu jemandem: waren der Besitz, der Schmuck, die Zierde, der umhätschelte, gepflegte Schatz dieses oder jenes Eigenheims, neigten sich mit blühenden oder knospenden Zweigen aus den winzigen, sauberen Vorgärten heraus, tauchten mit immergrünem Laub neben den Regendächern der kleinen, versteckten Tore auf oder ließen durch die Ritzen zwischen den regelmäßig gefügten – und für den Fußgänger dauernd schwindelerregend vibrierenden – Zaunlatten ihre kühle Ruhe ahnen, nur er, der Ginkgo gehörte zu nichts und niemandem, stand für sich allein auf der Lichtung, als könnte er gar nicht festgemacht werden, gar nicht zu etwas gehören, ein ungezügeltes, wildes, gefährliches Wesen, das sich in der Distanz über alle Gebäude und Dächer und Bäume erhob und im ungewohnt milden Frühling schon mit der vollständigen, frischen Krone, den im leichten Wind seufzenden, seltsamen fächerförmigen oder wegen ihres Einschnitts in der Mitte vielmehr an Herzen erinnernden Zehntausenden von Blättern an seinen Ästen, er, dieser Ginkgo, die erstarrte, unermessliche Tiefe der Erdzeitalter hinter sich und nur ein Shinto-Seil mit den Papierbändern um seinen dicken Stamm duldend, und unten, an seiner Seite das wilde Gestrüpp eines Stechpalmenstrauchs, er war also der einzige, der sich aus dieser geruhsamen Welt heraushob und auch von unten deutlich sichtbar war, wie ein Turm, denn sonst schien das eine dem anderen Versteck zu gewähren, das eine Haus dem andern, die vordere Gasse der hinteren Gasse, nur er, der mächtige und zwischen allen Pflanzen erschreckend fremde und unerklärliche Ginkgobaum, erhob sich unübersehbar, als wäre er direkt aus der dunklen Kreidezeit hierhergelangt, aus der riesigen Ferne seiner angestammten Zeit, der Kreide, so dass auch derjenige ihn bemerken musste, der von unten heraufblickte, von unten, von der Station, wenn er nach seiner Ankunft auf der Suche nach der richtigen Richtung um sich blickte.
Unten, auf halber Höhe, führte nicht nur der Weg, den der Enkel des Prinzen Genji eben genommen hatte, zum Ginkgobaum, sondern es gab auch eine Aufstiegsmöglichkeit von hinten, von der steilen Seite des Hügels her, wo allerdings kein Mensch hätte gehen können, da der Hang von Gestrüpp überwachsen war und schluchtartig in die Tiefe führte. Von einem Pfad konnte man auch nicht reden, es war eher eine ausgetretene, enge Spur, verborgen unter den stacheligen Zweigen und dem zusammengewachsenen Gestrüpp, so dass derjenige, der sich hier näherte, unsichtbar und bis zu einem gewissen Grad geschützt war, und derjenige, der sich hier jetzt in der sonnenbeschienenen, strahlenden vormittäglichen Stille näherte, hatte einen solchen Schutz ganz offensichtlich in höchstem Maß nötig, wenn man das fürchterliche Sich-Dahinschleppen überhaupt ein Sich-Nähern nennen konnte: ein halbtot geschlagenes Tier kroch da im Schutz der dichten Sträucher und des zusammengewachsenen Gestrüpps auf dem steilen Hang aufwärts, ein rassemäßig nicht mehr bestimmbarer, blutüberströmter, zotteliger, geschwächter, auf die Knochen abgemagerter unglücklicher Hund. In der Tat, er war halb totgeschlagen: einen seiner Läufe, den rechts hinten, konnte er nicht mehr belasten, sondern versuchte ihn in der Luft zu halten, während er sich mit den drei anderen vorwärts schleppte, und auf derselben Seite war sein Auge völlig aus der Höhle getreten, und das Fell war über und über blutig, es war an seinem Bauch und Kopf zu einer dicken Masse verklebt, und den Kopf selbst hielt er schräg, während er sich hinaufquälte, als könne er auf der anderen Seite, mit seinem linken Auge, noch etwas sehen. Aufgrund seiner Verletzungen ließ sich nicht feststellen, ob man ihn mit einem Stock hatte totschlagen wollen oder ob er der Falle einer perversen, entsetzlichen, bestialischen Folter noch knapp entkommen war. Der Steilhang war wirklich sehr steil, und das setzte
ihm offensichtlich besonders zu: seine Bewegungen wurden langsamer, sein Bauch streifte schon beinahe den Boden, er schien eher zu kriechen als zu gehen, als befürchtete er, dass ihm die Eingeweide herausfielen, und davon, dass er sich so tief wie möglich über dem Boden halten musste, dass er seine drei noch brauchbaren Läufe völlig einknicken musste, davon wurde er noch schwächer, musste er noch öfter stehenbleiben und sich auf den Boden legen, um sich ein paar Minuten später wieder in Gang zu setzen. Sein Brustkasten wurde von einem raschen, heftigen Hecheln erschüttert, das so kurzatmig war, als täte ihm auch jeder Atemzug weh, als bekäme er immer weniger Luft in seine zerschlagenen Lungen, aber er atmete, abgehackt und stöhnend, er gab nicht auf, hechelte, kroch weiter, den rechten hinteren Lauf in der Luft, den Kopf nach rechts gedreht, um mindestens ein wenig nach vorn zu sehen und den stacheligen Zweigen auszuweichen, was ihm natürlich nicht immer gelang, so dass auch die Zweige hin und wieder in seine Haut schnitten, worauf er leise winselte, stehenblieb, zitterte, sich wieder langsam zu Boden ließ, um ein paar Minuten später wieder weiter nach oben zu kriechen.
Er hatte ein bestimmtes Ziel, es war offenbar, dass es etwas sehr Wichtiges gab, dessentwegen er sich auf diesem steilen, gefährlichen Weg so quälte, und an der furchtbaren Anspannung seiner Kräfte war ersichtlich, dass er dieses Ziel auch erreichen würde.
Der Gingkobaum war sein Ziel.
Nachdem er von der hinteren Seite, wo man ihn vom Weg aus nicht bemerken konnte, wo ihn weder Tier noch Mensch zu sehen vermochte, oben angekommen war, schleppte er sich mit zitternden Gliedern zum dicken Stamm des Baums, der auf dieser Seite von einem jungen Stechpalmenstrauch dicht umwachsen war, kroch in das Grün hinein, um wirklich ganz unsichtbar zu sein, presste den zitternden Körper an den warmen Gingkostamm, ließ aus seinen gefolterten Gliedern die restliche Kraft hinaus, legte sich hin, seufzte noch einmal und hatte dann ohne einen weiteren Ton nach ein paar Minuten still ausgelitten.
Zweig vom Ginkgo
Die Geschichte der acht Hinokizypressen begann inmitten der chinesischen Provinz Shandong, in einem kleinen Hinokiwald in der Nähe von Taishan, wo nach der männlichen Zapfenblüte und der Reifung und dem Aufplatzen der Pollensäcke eines günstigen Tages, als trockenes Wetter herrschte und die Sonne stille Wärme verbreitete, ungefähr hundert Millionen Pollenkörner plötzlich in die Luft flogen, worauf diese Wolke von einer heißen Luftströmung in die Höhe gehoben und einem von West nach Ost wehenden Wind übergeben wurde, damit er sie mitnehme, über das japanische Meer hinweg mitten auf die japanische Hauptinsel Honshu, und sie im Südteil Kyotos in der Form eines Pollenniederschlags auf diesen kleinen Hof des Klosters hinunterlasse, exakt auf das Grün des heute vertrockneten Mutter-Hinoki, der genau auf einen solchen Besuch gewartet hatte.
Diese märchenhafte Geschichte stimmt durchaus, auch wenn es angebrachter wäre, davon zu sprechen, dass all das, vom Hinokiwald in der Nähe von Taishan bis zu dem damals noch lebenden Hinoki in einem abseits gelegenen Hof eines Klosters von Kyoto, viel eher die Geschichte eines sinn- und geistverwirrenden, ganz und gar unverständlichen Wunders ist, denn der ganze Vorgang weist auf die wahrhaftig zahllosen Hindernisse hin, die sich der Pollenwolke entgegenstellten, darauf, dass von den hundert Millionen Blütenstaubkörnern Millionen und Millionen verlorengingen, denn vor dem Ziel der großen Wanderung türmten sich die Hindernisse und Schwierigkeiten, und zwar tödliche Hindernisse und vernichtende Schwierigkeiten, waren doch diese hundert Millionen für die Weitergabe des Lebens bestimmten Pollensamen, diese nicht einmal mit hundert Millionen Augen auszumachenden, einfachen, abgerundeten, zwei männliche Geschlechtszellen enthaltenden Pollenkörner, den stetigen Angriffen des mörderischen Zufalls in einem Maß ausgeliefert, dass es dort, in China, inmitten der Provinz Shandong, noch völlig unvorstellbar war, dass auch nur ein einziges Körnchen Blütenstaub sein Ziel erreichte, jenen abgelegenen Hof eines Klosters in Kyoto, um auch nur eine einzige Eizelle in der weiblichen Blüte zu befruchten. Für die Pollenwolke war die Welt wegen des unfasslich komplexen Systems der Zufälle ein unberechenbares Labyrinth, wo alles, wirklich alles, auf ihre Vernichtung aus war. Hätte es geregnet an dem Tag, als die Pollensäcke aufbrachen und der Blütenstaub von der Mutterpflanze aufstieg, wäre der ganze Pollenstand vernichtet worden. Wäre da keine Luftströmung gewesen, die an dem Tag die Pollenwolke in die Höhe hob, wären die Pollensamen über der Gegend verstreut worden, wo ihnen tausend Gefahren gedroht hätten: wären sie auf einen Wasserfall, in einen Bach, einen Fluss, einen See gefallen, wären sie versunken und zu einem Teil des Schlamms geworden, und die Bewohner des Schlamms, Mückenlarven und Würmer, hätten sie aufgefressen, aus, amen. Hätte die Luftströmung sie in einen Windkanal gehoben, der von Ost nach West verlief und nicht umgekehrt, hätte die Sache unvorhersehbar geendet, beziehungsweise durchaus vorhersehbar, denn wenn der Pollen auf Pflanzen, Bäume, Dschungel oder Wüste fällt, hat er ebenfalls keine Chance, und es ist aus mit ihm. Und wenn er das japanische Honshu tatsächlich erreichte und nicht vorher im Ozean versank, hätte er auch einfach irgendwo auf den Boden fallen können, wo Heerscharen von Schnecken, Ameisen, Pilzen und Schimmelarten auf nichts anderes warteten, als alles einzuverleiben, und also wieder: es wäre aus gewesen, aus, aus, aus. Wäre ein Regen gekommen, und die Pollenkörner hätten sich an die Blätter und Stämme von Bäumen geklebt, hätte es wiederum kein Weiter gegeben – sie ist einfach nicht aufzuzählen, die grauenvolle Menge von Möglichkeiten der Vernichtung, die übrigens dem größten Teil dieser Shandonger Pollenwolke unterwegs in der Tat den Garaus machte, so dass da ein schreckliches Sterben war, bis sie unter entsetzlichen Verlusten zu dem einsamen Hinoki im Klosterhof gelangte, und doch, und doch: es ist unglaublich, dass ein noch hinreichender Pollenschwarm sein Ziel trotz allem erreichte, von hundert Millionen doch ein paar auf ihr Ziel trafen und dann geschehen konnte, wofür sie bestimmt waren, nämlich dass sie sich zwischen die Zapfenschuppen hineinzwängten, dort auf die günstigen Umstände, in erster Linie auf Wärme, warteten, um dann endlich die weibliche Blüte zu erreichen und mit Hilfe eines Pollenschlauches ins Innere der Samenanlagen zu dringen, wo sie sich mit der Eizelle vereinten und das geschlechtslose neue Leben hervorbrachten, den Samen, der nach seiner Reifung, die ungefähr ein Jahr dauerte, sämtliche Eigenschaften des zukünftigen Hinoki schon ausnahmslos enthielt, und von da an ist die gemeinsame Geschichte der hundert Millionen Pollenkörner und des einzelnen Hinoki weit weniger dramatisch, denn auf Samen lauern unvergleichlich weniger Gefahren, es genügt ja schon, dass sie in der Nähe auf den Boden fallen, auf guten Boden, nachdem sie im Frühling reif geworden sind, und so geschah es hier, und von den ungefähr zehn Millionen reifen Samen fielen acht nicht nur auf guten Boden, sondern geradezu auf den allerbesten Boden, nämlich auf einen in der Nähe liegenden, schon ganz morschen Fichtenstamm, einen Ammenbaum, was das beste war, denn hier gab es den größten Schutz, den man sich für einen Hinokisamen überhaupt vorstellen kann, so dass das Ausschlagen des Samens und die Geburt des winzigen Pflänzchens, des Sämlings, nunmehr ohne größere Gefahren vor sich gehen konnte, auch wenn damit die Prüfungen für die acht kleinen Sämlinge noch nicht vorbei waren, nein, denn auf die Samen selbst mochten zwar weniger Gefahren lauern, um so mehr lauerten aber auf die hilflosen kleinen Pflänzchen. Nach dem milden Wetter konnte es wieder kalt und winterlich werden, es konnte Schnee auf die schwachen Pflanzen fallen, und wenn er sie entzweibrach, dann war es aus. Selbst die heftig fallenden Regentropfen konnten fatal sein, von ihrer Wucht konnte der Sämling zu Boden gedrückt werden, worauf er sich zwar wieder aufrichten mochte, aber nur, um von einem mächtigen Wassertropfen erneut hinuntergedrückt zu werden, so dass am Ende seine schützende Außenhaut beschädigt wurde, oder seine kleinen Wurzeln wurden aus dem Erdreich geschwemmt, und er vertrocknete – fertig, aus. Dann hätten die großen Feinde kommen können, die Würmer und Käfer und Nacktschnecken, und er wäre in die Erde hineingezogen worden, wo Pilze und Bakterien die letzte Aufgabe übernommen hätten, die schmutzige Arbeit, das Wegputzen – und das alles geschah tatsächlich in Abermillionen von Fällen, geschah aber in acht Fällen nicht, hier, in ein paar Schritten Distanz zur Mutterpflanze, denn aus diesen acht kleinen Pflänzchen wuchsen sämtlichen noch lauernden Gefahren zum Trotz acht mächtige, wunderschöne Hinokizypressen heran, als Gesandte, die aus großer Entfernung einen erhebenden Satz mitbrachten, eine Botschaft in ihren verzweigten Wurzeln, in ihren geraden Stämmen, in dem feinen Spitzenwerk ihrer Kronen, eine Botschaft in ihrer Geschichte und ihrer Existenz, die nie jemand verstehen wird, da dieses Verstehen ganz offensichtlich nicht Menschensache ist.
Boris Pasternak
Der Nussstrauch enthebt dich des Tages im Wald,
Und Sonnmünzen fallen bald mit dem Kopf
Aufs schwelende Schwarz eines Baumstumpfes, bald
Mit trübgrünem Adler auf einen Frosch.
Gebüsch überholt dich, der Wald wird, dein Heim,
Je tiefer du heimkehrst, ein Ozean.
Sich lichtende Wipfel und Rundholz in Reihen,
Ein Fink wie ein Schiffchen, wie Schaum Gesang.
Und – querdurch, mit Tauchen, im Zickzack herum,
Azurbläue sammelnd, und mit der Fracht
Vorbei und davon … Und der Wald reckt sich stumm
Und staunt aus den Wolken dem Schiffchen nach.
Wo Himbeere und Gewitter sich finden,
Sich Wolke und Flechtendorn berühren,
Dort glimmt violett, dass die Sinne uns schwinden,
Der Moorgrund verglommener Heidentümer.
1917
Gary Snyder
Die kleinen toten Äste
verbrennen
abgerissen aus der
weißen Borke der
stämmigen Kiefer.
einhundert Sommer
schmelzender Schnee Feld und Luft.
zischen in dem verkrüppelten Ast.
Granit der Sierra;
Mt. Ritter –
schwarzes Gestein, doppelt so alt.
Deneb, Atair
windiges Feuer
Grau, teurer Freund,
ist alle Theorie,
Und grün des Lebens
goldner Baum.
Goethe, Faust
Tomas Tranströmer
Und die Amsel blies auf die Gebeine der Toten mit ihrem Gesang.
Wir standen unter einem Baum und fühlten die Zeit sinken und sinken.
Kirchhof und Schulhof begegneten und erweiterten sich ineinander wie
zwei Ströme im Meer.
Der Klang der Kirchenglocken ging nach oben, getragen vom sanften
Hebearm des Segelflugzeugs.
Sie hinterließen eine gewaltigere Stille auf der Erde
und die ruhigen Schritte eines Baumes, die ruhigen Schritte eines Baumes.
Wolfgang Hilbig
ein
baum
im delta des wassers
schattensturm überm urstromtal über
der geladenen lichtwand
stein
der im blitz erschrockenen flüsse
und feuer das den baum zurück
schlug in die wurzeln
schatten-medien beschreiben
die sucht nach der form des feuers
in der strömenden wasser erscheinung
in baum und rauch in der typografie
Mangrovenwälder an einer Küste
Rainer Maria Rilke
Borgeby-Gård
Komm gleich nach dem Sonnenuntergange,
sieh das Abendgrün des Rasengrunds;
ist es nicht, als hätten wir es lange
angesammelt und erspart in uns,
um es jetzt aus Fühlen und Erinnern,
neuer Hoffnung, halbvergeßnem Freun,
noch vermischt mit Dunkel aus dem Innern,
in Gedanken vor uns hinzustreun
unter Bäume wie von Dürer, die
das Gewicht von hundert Arbeitstagen
in den überfüllten Früchten tragen,
dienend, voll Geduld, versuchend, wie
das, was alle Maße übersteigt,
noch zu heben ist und hinzugeben,
wenn man willig, durch ein langes Leben
nur das Eine will und wächst und schweigt.
Else Lasker-Schüler
Er war mir wie ein Mensch, so lieb – und noch heute. Er hat keine leuchtenden Wangen mehr, ist gelb geworden, gallengelb. Noch im vorigen Monat hingen Granaten an ihm, und seine zarten Blätter waren lauter blühende grüne Spitzenjabots. Wie schnell er dahinsiechte! Über das unausstehliche Krähen der Hähne ärgerte er sich mit mir in taktloser Frühe, denn er war ein kleiner, vornehmer, chevaleresker Baum, ich glaube, er war ein Marquis. Wie oft hörte ich ihn »mais donc« rufen, wenn der Hahn mit seinen watschelnden Frauen auch gerade unter seinen adeligen blutbehangenen Zweigen einherspazierte. Niedere Mauer trennt in den Höfen der Gartenhäuser Hahn von Hahn. Auch Ziegen meckern, was aber eher belustigend auf meinen leuchtenden Baum zu wirken schien, denn seine Zweige bewegten sich erheitert. Ich mag nicht mehr durch mein Fenster auf den Gartenhof sehen. Auch die beiden Freundinnen meines vornehmen Baumes sind nicht mehr. Wohl besteht ihr Gerippe, zwei Gespenster, auf deren dürren Armen ahnungslos die Spatzen sitzen, auf ihr Mannah vom Himmel herab warten. Zwischen den entblößten Bäumen friert der November, der Totengräber, er lauert auf den dritten Baum, »auf meinen zarten Baum«. Täglich vergilbt matter sein mageres Blatt, und die letzten verschrumpften Beeren fielen auf die Erde ins spärliche Gras: Granaten, Blutstropfen, Liebe, Abschied.
Fernando Pessoa
Früchte spenden Bäume mit Leben,
Nicht der getäuschte Geist, der nur den
Bleichen Blütenschmuck
Des inneren Abgrunds kennt.
Wieviel Reiche in den Dingen und im Geiste
Hast in deiner Phantasie du dir errichtet! All die
Träume, Städte,
Die, nie dein eigen, du verlorst!
Ach, kaum mehr vermagst gegen das Widrige du
Als dein eigenes Scheitern!
Verzichte und sei
König deiner selbst.
Hans Christian Andersen
Draußen im Walde stand ein niedlicher Tannenbaum. Er hatte einen guten Platz; Sonne konnte er bekommen, Luft war genug da, und ringsumher wuchsen viele größere Kameraden, Tannen und Fichten. Der kleine Tannenbaum wünschte aber so sehnlich, größer zu werden! Er dachte nicht an die warme Sonne und an die frische Luft, er kümmerte sich nicht um die Bauernkinder, die dort umhergingen und plauderten, wenn sie herausgekommen waren, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll oder hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm gereiht? dann setzten sie sich neben den kleinen Tannenbaum und sagten: »Nein, wie niedlich klein der ist!« Das mochte der Baum gar nicht hören.
Im folgenden Jahre war er um einen langen Trieb größer, und das Jahr darauf um noch einen, denn an den Tannenbäumen kann man immer an den vielen Trieben, die sie haben, sehen, wie viele Jahre sie gewachsen sind.
»Oh, wäre ich doch so ein großer Baum wie die andern!« seufzte das kleine Bäumchen; »dann könnte ich meine Zweige so weit umher ausbreiten und mit der Krone in die weite Welt hinausblicken! Die Vögel würden dann Nester in meinen Zweigen bauen, und wenn der Wind wehte, könnte ich so vornehm nicken, grade wie die andern dort!«
Er hatte gar keine Freude am Sonnenschein, an den Vögeln und an den roten Wolken, die morgens und abends über ihn hinsegelten.
War es dann Winter, und der Schnee lag glitzernd weiß ringsumher, so kam häufig ein Hase angesprungen und setzte geradewegs über das Bäumchen weg – oh, das war so ärgerlich! – Aber zwei Winter vergingen, und im dritten war der Baum so groß, dass der Hase um ihn herumlaufen musste. Oh, wachsen, wachsen, groß und alt werden, das ist doch das einzig Schöne in dieser Welt, dachte der Baum.