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Das Phänomen der terminalen Geistesklarheit am Ende des Lebens Entdecken Sie das Geheimnis der letzten Momente des menschlichen Lebens in Alexander Batthyánys bahnbrechendem Werk. Sein Sachbuch beleuchtet ein Phänomen, das bislang von der Wissenschaft kaum verstanden wurde: die terminale Geistesklarheit. Seit Jahrhunderten von Ärzten dokumentiert, wurde dieses faszinierende Ereignis erst kürzlich zum Gegenstand intensiver Forschung. Alexander Batthyány präsentiert zahlreiche Fallstudien, die ein neues Licht auf den Geist, den Körper und die Natur des Bewusstseins werfen. Er deckt dabei beeindruckende Erkenntnisse über Menschen auf, die kurz vor ihrem Tod eine plötzliche und außergewöhnliche Klarheit erfahren - auch solche, die im Koma lagen, Schlaganfälle erlitten haben oder beispielsweise dement waren. Als einer der Pioniere dieses Forschungsgebiets hat Alexander Batthyány die erste groß angelegte internationale Studie zu diesem Thema durchgeführt. Das Buch erzählt viele berührende Fallbeispiele, die nicht nur das menschliche Schicksal in einem neuen Licht erscheinen lassen, sondern auch unser Verständnis von der menschlichen Seele und ihrem möglichen Fortbestehen nach dem Tod grundlegend verändern könnten. Deutliche Hinweise auf die Unvergänglichkeit der Seele Das Licht der letzten Tage eröffnet neue Perspektiven der Hoffnung und bietet Hinweise auf die Unvergänglichkeit der menschlichen Seele. Alexander Batthyány nutzt ergänzende Befunde zu Nahtoderfahrungen, um eine Brücke zwischen Leben und Tod zu schlagen. Seine Arbeit ist nicht nur wissenschaftlich fundiert, sondern bietet auch tiefgehende Einblicke in die menschliche Erfahrung an der Schwelle des Todes. Sein Buch ist ein Muss für jeden, der sich für die Geheimnisse des Lebens und des Todes interessiert, und bietet eine einzigartige Perspektive auf eines der letzten großen Mysterien der Menschheit. Es ist eine Einladung, die Grenzen unseres Verstehens zu erweitern und unter der behutsamen Leitung des Autors in die tiefen Fragen der menschlichen Existenz einzutauchen.
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Seitenzahl: 331
Dr. Alexander Batthyány
Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens
Aus dem Englischen von Horst Kappen
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Entdecken Sie das Geheimnis der letzten Momente des menschlichen Lebens in Alexander Batthyánys bahnbrechendem Werk. Sein Sachbuch beleuchtet ein Phänomen, das bislang von der Wissenschaft kaum verstanden wurde: die terminale Geistesklarheit. Seit Jahrhunderten von Ärzten dokumentiert, wurde dieses faszinierende Ereignis erst kürzlich zum Gegenstand intensiver Forschung. Batthyány präsentiert zahlreiche Fallstudien, die ein neues Licht auf den Geist, den Körper und die Natur des Bewusstseins werfen. Er deckt dabei beeindruckende Erkenntnisse über Menschen auf, die kurz vor ihrem Tod eine plötzliche und außergewöhnliche Klarheit erfahren - auch solche, die im Koma lagen, Schlaganfälle erlitten haben oder beispielsweise dement waren.
Als einer der Pioniere dieses Forschungsgebiets hat Batthyány die erste groß angelegte internationale Studie zu diesem Thema durchgeführt. Das Buch ist gespickt mit berührenden Fallbeispielen, die nicht nur das menschliche Schicksal in einem neuen Licht erscheinen lassen, sondern auch unser Verständnis von der menschlichen Seele und ihrem möglichen Fortbestehen nach dem Tod grundlegend verändern könnten.
Das Licht der letzten Tage eröffnet neue Perspektiven der Hoffnung und bietet Hinweise auf die Unvergänglichkeit der menschlichen Seele. Batthyány nutzt ergänzende Befunde zu Nahtoderfahrungen, um eine Brücke zwischen Leben und Tod zu schlagen. Seine Arbeit ist nicht nur wissenschaftlich fundiert, sondern bietet auch tiefgehende Einblicke in die menschliche Erfahrung an der Schwelle des Todes. Sein Buch ist ein Muss für jeden, der sich für die Geheimnisse des Lebens und des Todes interessiert, und bietet eine einzigartige Perspektive auf eines der letzten großen Mysterien der Menschheit. Es ist eine Einladung, die Grenzen unseres Verstehens zu erweitern und unter der behutsamen Leitung des Autors in die tiefen Fragen der menschlichen Existenz einzutauchen.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Teil I
1. Kapitel
Terminale Geistesklarheit
Hinter das Sichtbare sehen
Diesseits und jenseits der Statistik
Zum Verhältnis von Nahtoderfahrung und terminaler Geistesklarheit
Lebenslauf und Lebensende
2. Kapitel
Vergessen, Demenz und Person
Um Leben und Tod
Das Sterben des Sokrates
Grenzen des Materialismus
Der verzauberte Webstuhl
Das Ich in der Materie
»Zuerst streiche man die Seele«
Sehen, was dem Auge verborgen bleibt
3. Kapitel
»Bis etwas Unerwartetes geschah«
Am National Institute on Aging
Der Fall Laurenz
Der Fall Anna Katharina Ehmer
Zeitgenössische Fälle
4. Kapitel
Auf der Suche nach einem Phänomen
Begegnungen
Das verborgene Ich
Teil II
5. Kapitel
Die Schleier lüften
An der International Association for Near-Death Studies (IANDS)
Ein Phänomen erwacht
Die Perspektive der Angehörigen
»Wie wird es enden?«
6. Kapitel
Zur Hauptstudie
Ein »Caveat«
7. Kapitel
Bei wem tritt das Phänomen auf?
Alter und Geschlecht
Dauer der luziden Episode
Kognitiver Status während der luziden Episode
Die Sprache der Sterbenden
Am Sterbebett Rachmaninows
Abschiedsgesten
Abschiedsworte
Todesnähe
Auslöser
Reaktionen
Wenn die Wiederkehr ausbleibt
Teil III
8. Kapitel
Worauf deutet die terminale Geistesklarheit hin?
Ich, Gehirn und Tod
Sterben als Grenzbedingung
9. Kapitel
Nahtoderfahrungen
Ich-Austritt und Wahrnehmungserweiterung
Zeugen des eigenen Sterbens
Aufleben im Sterben
10. Kapitel
Denken und Sehen in Todesnähe
Auswertungen
Was sehen Sterbende?
Wie denken Sterbende?
11. Kapitel
Terminale Geistesklarheit und Nahtoderfahrung zusammendenken
Grenzen der Selbstbeurteilung
Erinnern und Wahrnehmen an der Schwelle
Sterben von innen und von außen gesehen
12. Kapitel
Nach der Sonnenfinsternis
Bewusstsein aus sich selbst
Teil IV
13. Kapitel
Ein bewahrtes Ich
Ein bewahrungswürdiges Ich
14. Kapitel
Zur Würdigung eines Vermächtnisses
Zur Rehabilitation der Hoffnung
Danksagungen
Literatur
Register
Für Juliane, Leonie und Larissa, im Gedenken an Sir John C. Eccles
Ein Ich sein
Die Schwerkraft des Geistes lässt uns nach oben fallen.
Simone Weil
Sterblich sein
Ein Mensch stirbt. Sein Atem wird ruhiger, sein Puls schwächer, der Herzschlag unregelmäßig. Ein letztes Ausatmen, und dann ist alles fort, was zuletzt noch Leben war. Einem Sprichwort zufolge stirbt mit dem Tod eines Menschen eine ganze Welt. So zumindest scheint es. Sehr viel mehr kann man von außen meist nicht sehen.
Ganz gelegentlich aber tritt im Umfeld des Sterbens etwas Unerwartetes zutage. Von diesem Unerwarteten – und den Fragen, die es aufwirft – handelt dieser Bericht.
Dieses Buch ist das Zeugnis der Begegnungen mit Menschen, die im Zusammenhang mit dem Sterben und Tod eines Angehörigen Bemerkenswertes beobachtet oder erlebt haben. Vor allem im dritten und vierten Kapitel dieses Buchs gebe ich zahlreiche Berichte dieser Zeugen wieder. Viele kontaktierten mich, nachdem sie aus den Medien über mein Forschungsinteresse an der Psychologie des Sterbens, und insbesondere des Erlebens des Todes, erfahren hatten. Sie berichteten mir von Menschen, deren Sterben in vielerlei Hinsicht unerwartet, gelegentlich sogar unerwartet schön gewesen sei – und zugleich aus wissenschaftlicher Perspektive rätselhaft, tatsächlich sogar äußerst rätselhaft.
Denn die meisten dieser Sterbenden waren bis zum Zeitpunkt ihres Todes psychisch und kognitiv stark beeinträchtigt. Sie litten an einer Demenzerkrankung oder ähnlich schweren neurologischen Störungen. Sie waren verwirrt, hatten weite Strecken ihres früheren Lebens vergessen; einige von ihnen kannten nicht einmal mehr ihren eigenen Namen. Lange vor ihrem Tod war ihnen krankheitsbedingt ihre eigene Welt, vielleicht sogar ihre Identität entglitten.
Nun würde man angesichts ihrer Diagnose und des oft jahrelangen kognitiven Verfalls vermutlich nicht erwarten, dass ausgerechnet vom Sterben dieser Menschen etwas in vielerlei Hinsicht so ausgesprochen Tröstendes ausginge. Weshalb aber beschrieben dann die meisten derjenigen, die beim Sterben dieser Menschen zugegen waren, ihr Sterben als etwas »Schönes«, als ein »Geschenk«? Und warum sprechen diese Zeugen angesichts dessen, was sie erlebten, von einer Bestätigung, wenn nicht gar einem Beweis dafür, dass etwas an und in uns – unser Wesenskern, unser Ich – unversehrt und behütet bleibt – und zwar auch noch angesichts von Krankheit und Hinfälligkeit, und selbst noch angesichts des eigenen Todes?
Die Antwort lautet, dass beim Sterben dieser Menschen etwas beobachtet wurde, das man in der Sterbeforschung seit Kurzem als »terminale Geistesklarheit«, beziehungsweise »terminale Luzidität« oder »Geistesklarheit vor dem Tod« bezeichnet. Diese Begriffe beschreiben ein nunmehr gut dokumentiertes Phänomen: Menschen, die unter schweren neurologischen Erkrankungen – und damit einhergehend unter starken kognitiven Ausfällen – leiden, erleben gelegentlich in Todesnähe eine unerwartete und spontane Rückkehr kognitiver Klarheit: Sie gewinnen ihr Erinnerungs- und Kommunikationsvermögen wieder, wenngleich man aufgrund ihrer Erkrankung eigentlich davon ausgehen musste, dass sie all dies dauerhaft und unumkehrbar eingebüßt haben.1
Wir beobachten (und erforschen) dieses Phänomen etwa bei fortgeschrittenen Alzheimer- oder anderen Demenzerkrankungen, nach Schlaganfällen und ähnlich massiven Hirnschädigungen, bei Menschen, die über lange Zeit bewusstlos und/oder nicht ansprechbar waren, sowie bei Menschen, die durch chronische psychiatrische Erkrankungen oft jahre- oder jahrzehntelang schwerst beeinträchtigt gewesen sind, vielleicht auch jeglichen Kontakt zu ihrer Umgebung und Umwelt verloren hatten. Bei vielen, vielleicht den meisten, hatten Ärzte, Angehörige und Freunde die Hoffnung auf Besserung, geschweige denn Heilung, ihres Zustands bereits aufgegeben – die Demenzerkrankungen und vergleichbare massive neurologische Störungen gelten in der Regel als irreversibel. Eine Spontanheilung oder die Wiederkehr der früheren, prämorbiden Persönlichkeit und kognitiven Funktionen muss im Grunde ausgeschlossen werden; sie wird in den Lehrbüchern daher auch nicht erwähnt. Und dennoch geschieht mit einigen dieser Menschen in ihrer Todesstunde etwas ausgesprochen Ungewöhnliches – etwas, das ein Freund und Kollege, der Psychologe und Pionier der Nahtodforschung Kenneth Ring, als »wundersame Wiederkehr« bezeichnet.2
Das Phänomen selbst ist allerdings keineswegs neu; es wurde schon vor Jahrhunderten beschrieben. Verstanden aber wurde und wird es letzten Endes auch heute noch nicht: Was sagt es uns etwa über die Beziehung zwischen Ich und Gehirn, wenn Menschen mit einem krankheitsbedingt hochgradig dysfunktionalen Gehirn auf einmal – und zwar kurz vor ihrem Tod – wieder in der Lage sind, klar zu denken? Wie ist es möglich, dass sie ihre Umgebung erkennen, mit anderen kommunizieren, über ein mitunter erstaunlich gutes Gedächtnis verfügen – just zu einem Zeitpunkt, zu dem man nach allen Regeln der Kunst annehmen sollte, dass sie gerade dazu angesichts der krankheitsbedingten Zerstörung von Hirngewebe nicht mehr in der Lage sind, auch nie mehr sein werden? Und was kann uns diese unerwartete Rückkehr des Ichs im Sterbevorgang über unser Wesen und unseren Tod sagen?
Obwohl hier offenkundig etwas Außergewöhnliches geschieht, ist das Phänomen der terminalen Geistesklarheit nach einer langen Phase der Vernachlässigung erst seit wenigen Jahren wieder ins Blickfeld der Sterbeforschung geraten. Tatsächlich gab es bis vor Kurzem noch nicht einmal einen einheitlich verwendeten Namen für das Phänomen, geschweige denn systematische Versuche, die terminale Geistesklarheit zu verstehen.
Zwar finden sich gelegentlich vereinzelte Berichte über terminale Geistesklarheit auch in der neueren Fachliteratur. Jedoch galt sie bis vor nicht allzu langer Zeit als medizinische Kuriosität: eine jener klinischen Beobachtungen, die als zu unwahrscheinlich und auch rätselhaft erachtet werden, um je ernstlich ins Blickfeld der zeitgenössischen Forschung zu geraten. Jeder, der in der Forschung und/oder klinisch tätig ist, weiß, dass gelegentlich unerwartete, unwahrscheinliche oder schlichtweg seltsame Dinge geschehen. Derartige Beobachtungen werden meist entweder als ungewöhnliche (wenn auch manchmal ungewöhnlich schöne) Einzelfälle verbucht, oder sie werden vergessen – oder sie werden zu Anekdoten. Vielleicht erwähnt man sie in den Pausengesprächen wissenschaftlicher Tagungen, oder man erzählt der Ehepartnerin, dem Ehepartner oder einem Freund, dass man Zeuge von etwas wurde, auf das man sich mit dem derzeitigen Wissenslexikon einfach keinen Reim machen kann; es kommt darin schlicht und ergreifend nicht vor.
Manchmal aber hält man angesichts solcher Beobachtungen inne: Hier ist tatsächlich etwas äußerst Ungewöhnliches geschehen. Es will verstanden werden; man selbst will es verstehen. Man kann und will nicht einfach daran vorbeigehen, kann es weder »ungesehen« noch ungeschehen machen. Vielleicht hört man sich um und stellt überrascht fest, dass das Phänomen gar nicht so selten ist, wie man bisher angenommen hat. Jetzt läuft es einem gleichsam nach: Andere berichten einem davon, man liest darüber, Patienten oder Kollegen erzählen von einem Erlebnis, das sie noch kaum jemandem anvertraut haben, sie stellen Fragen, sie fordern Erklärungen. Man hat keine; aber man weiß, dass man dem Phänomen nun nicht mehr so leicht davonkommen wird.
Ganze Forscherkarrieren, meine eigene eingeschlossen (davon noch ausführlicher in diesem Bericht), können in dieser Weise durch eine zufällige Begegnung mit dem Unwahrscheinlichen oder Ungewöhnlichen in neue Bahnen gelenkt werden.
Bei meinem Kollegen (und meinem Co-Autor einer der ersten systematischen Studien über zeitgenössische Fälle von terminaler Geistesklarheit), dem Psychiatrie-Professor und Pionier der Nahtodforschung Bruce Greyson, etwa war es die Begegnung mit einer Patientin – Holly –, die ihn auf einen Spaghettisoßenfleck auf seiner Krawatte ansprach. Nicht der Fleck war es, der Bruce so beunruhigte. Vielmehr war es die Tatsache, dass Holly ihn »gesehen« hatte, während sie sich auf einer, wie sie es beschrieb, ausgedehnten Reise »außerhalb ihres Körpers« befand. Für die behandelnden Ärzte (darunter auch Bruce) allerdings war sie zu diesem Zeitpunkt bereits längst nicht mehr ansprechbar. Tatsächlich lag sie infolge einer massiven Überdosis Schlaftabletten bewusstlos auf der Intensivstation des städtischen Krankenhauses, während das Notfallteam um ihr Leben kämpfte. Es war dieser Fleck, dem Greyson sein lebenslanges Forschungsinteresse an der (mit der terminalen Geistesklarheit vermutlich nah verwandten) Todesnäheerfahrung schuldet: »Seit einem halben Jahrhundert versuche ich zu verstehen, wie Holly von diesem Spaghettisoßenfleck wissen konnte«, schreibt er in seiner kürzlich erschienenen Autobiografie.3
In der Regel jedoch bleiben solche Ausnahme- und Grenzerlebnisse ebendies: Ausnahmefälle, Ausbrüche aus einer natürlichen Ordnung, die Derartiges nur selten zuzulassen oder sichtbar werden zu lassen scheint. Wenn sich solche Beobachtungen aber in bestimmten Zusammenhängen häufen, zeichnet sich bisweilen ein Muster ab. Jetzt scheint es zunehmend, als geschähen hier nicht einfach beliebige Ausbrüche aus der natürlichen Ordnung; vielmehr wird eine bestimmte Systematik sowohl im Auftreten als auch in der Gestalt des Phänomens erkennbar – und damit wird einem erst recht deutlich, dass man es sich nicht länger leisten kann oder will, daran vorbeizugehen.
Tatsächlich haben erst in jüngster Zeit mehrere Forschungsinitiativen begonnen, das Phänomen der terminalen Geistesklarheit systematisch zu untersuchen – so etwa Michael Nahm4 in Freiburg, Jason Karwalish am Penn Memory Center der University of Pennsylvania, George A. Mashour am Michigan Neuroscience Center der University of Michigan, Sandy Macleod am Nurse-Maude-Hospiz im neuseeländischen Christchurch, das internationale Forschungskonsortium um Joan M. Griffin am Kern Center der Mayoklinik in Rochester sowie meine eigene Arbeitsgruppe an meinem Forschungsinstitut an der Pázmány-Universität in Budapest, vormals am kognitionswissenschaftlichen Seminar der Universität Wien.
Seit etwas mehr als fünfzehn Jahren nun widme ich einen größeren Teil meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit der Psychologie des Sterbeerlebens, und insbesondere der terminalen Geistesklarheit. Meine Fallsammlung umfasst einige Hundert mittlerweile detailliert analysierter und ausgewerteter Fälle – davon werde ich in späteren Kapiteln dieses Buchs berichten.
Doch auch wenn wir bereits zahlreiche Fallberichte untersucht haben, bleibt etwas in rein quantitativen Maßgaben kaum Fassbares an der terminalen Geistesklarheit. Der Blick nur auf die Zahlen will dem Phänomen schon deswegen nicht gerecht werden, weil die terminale Geistesklarheit (wie auch die Nahtoderfahrung) teils existenzielle, mitunter auch metaphysische Fragen über die Natur, das Wesen und die Zukunft des Ichs, über Leben und Tod aufwirft. Etwa die Frage, ob und in welcher Weise das Ich im Laufe seines Lebenswegs, vor allem in Zeiten der Krankheit und des kognitiven Verfalls und schließlich an der Schwelle des Todes, »ganz ist«; ob es als etwas im Kern Bewahrtes bestehen oder fortbestehen kann oder nicht.
Wir betreten mit diesen Fragen auf den folgenden Seiten ein Gebiet, das über lange Zeit als eine Art Niemandsland der Forschung galt. Sehr langsam tragen wir und andere Forschergruppen vereinzelte Hinweise zusammen; etwas zeichnet sich ab. Aber noch ist es wenig. Vieles ist noch zu tun, vieles noch zu erforschen, noch mehr entzieht sich derzeit unserem Verstehen. Noch haben wir also weit mehr Fragen als Antworten. Dennoch scheint mir das wenige, das wir heute über die terminale Geistesklarheit und ihre Implikationen zusammengetragen haben, bereits jetzt schon wert, erzählt und gehört zu werden.
Wie ich bereits andeutete, lässt sich vieles von dem, was wir in den folgenden Kapiteln behandeln werden, nicht alleine an Daten und Statistiken festmachen; vielmehr entfaltet es sich erst im Gespräch mit den Zeugen, bzw. auch im Dialog mit dem, was sie bezeugen können. Martin Buber hat mit Blick auf das Erkennen des Menschen einmal festgestellt, dass »dieses brüchige Leben zwischen Geburt und Tod eine Erfüllung sein kann, wenn es eine Zwiesprache ist« – und der österreichische Psychiater Viktor Frankl sagte, er sei erst ab dem Zeitpunkt ein »richtiger« Psychiater geworden, als er begann, alles zu vergessen, was ihn seine Lehrer, Sigmund Freud und Alfred Adler (er hatte unter beiden studiert), gelehrt hatten, und stattdessen seine Patienten als seine Lehrer zu erkennen.
Ähnliches gilt auch für den Bereich der Sterbeforschung und ihre methodischen Grenzen. Die Forschung handelt mit und auf Grundlage von geordneter Beobachtung, systematischer Analyse und Auswertung von Daten, aber das Leben selbst entfaltet sich bis zuletzt in Begegnungen – zum Beispiel Begegnungen wie dieser: Vor einigen Jahren besuchte ich im Rahmen meiner Gastprofessur am Moskauer Universitätsinstitut für Psychoanalyse ein Hospiz in Moskau. Wir – eine Gruppe von Psychologen, Psychotherapeuten, Seelsorgern und Ärzten – machten unsere Visite auf der Station. An einem bestimmten Punkt verstummten wir. Jeder von uns machte sich Gedanken darüber, was wir den beiden Patienten in dem Zweibettzimmer, das wir als Nächstes betreten würden, sagen sollten, wie wir ihnen begegnen könnten. Denn in diesem Zweibettzimmer lagen zwei alte Männer, beide Mitte achtzig, beide mit Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Beide hatten vor Jahren ihre Frau verloren, waren kinderlos, hatten auch sonst keine lebenden Verwandten, und die meisten ihrer Freunde waren entweder tot oder selbst zu schwach, krank oder alt, um sie zu besuchen. Keiner der beiden hatte, seit sie in das Hospiz verlegt wurden, einen Anruf oder auch nur eine Postkarte, geschweige denn Besuch, erhalten, und wir wussten – und sie wussten auch – um ihre Prognose. Es würde sich nur noch um Tage handeln, vielleicht um Wochen. Was also sagen?
Schweigend betreten wir ihr Zimmer – und sehen, wie der eine am Bett des anderen kniet, seine Hand hält, ihn tröstet, während dieser aufmerksam zuhört. Wir »Fachleute« blicken einander kurz an, nicken uns zu und verlassen leise den Raum – nicht sicher, ob die beiden uns überhaupt bemerkt haben. Was hätten wir auch sagen können und sollen? Diese kurze Begegnung – auch wenn sie zunächst noch gar nichts mit der terminalen Geistesklarheit zu tun hatte – barg eine Lektion, der man in diesem Arbeits- und Forschungsbereich, auch in diesem Bericht, immer wieder aufs Neue begegnet: Sie berührt die Frage, in welcher Weise wir uns dem Sterben im Allgemeinen und einem Phänomen wie der terminalen Geistesklarheit im Besonderen annähern, wie wir es erfassen können und sollen.
Denn es ist eine Sache, in einem Fallbericht beispielsweise festzuhalten, dass bei einer 86-jährigen, an fortgeschrittener Alzheimerdemenz leidenden Patientin im unmittelbaren Vorfeld ihres Todes eine Episode terminaler Geistesklarheit aufgetreten ist. In einer Tabelle beschreibt das genau vier Datenpunkte: Alter, Geschlecht und Diagnose der Patientin; und ein unerwartetes Ereignis (terminale Geistesklarheit). Eine ganz andere Sache ist es jedoch, den Bericht ihrer Familienmitglieder über das zu lesen, was tatsächlich geschah, als die Patientin im Sterben lag:
Meine Großmutter litt seit mehreren Jahren an Alzheimer-Demenz. Sie in die Obhut eines Pflegeheims zu geben war für uns alle eine schwere Entscheidung, vor allem für ihren Mann, mit dem sie seit mehr als sechzig Jahren verheiratet war – aber irgendwann überstieg die häusliche Pflege einfach die Kräfte dieses alten Mannes, so treu er seiner Frau ergeben war. Im letzten Stadium ihrer Krankheit schien nicht mehr viel von der Großmutter übrig zu sein, die ich kannte und liebte. Es begann damit, dass sie uns nicht mehr erkannte. Schließlich hörte sie ganz auf zu sprechen und musste gefüttert werden, denn sie war nicht mehr in der Lage, ohne Hilfe zu essen. Mein Großvater besuchte sie dennoch Tag für Tag, an jedem Morgen und an jedem Nachmittag. Der Rest der Familie besuchte meine Großmutter jeden Sonntag. Um ehrlich zu sein, galten diese sonntäglichen Besuche weniger meiner Großmutter als vielmehr der Unterstützung meines Großvaters. An dem Tag, als »das Wunder« geschah, traten wir vor ihre Tür, klopften an, betraten den Raum – und sahen, wie mein Großvater liebevoll die Hand meiner Großmutter hielt und, ja, mit ihr sprach! Zuerst haben wir unseren Augen und Ohren nicht getraut. Aber dann sah uns meine Großmutter einen nach dem anderen an (uns alle fünf). Ihre großen, schönen Augen waren vollkommen klar. Der Schleier der Abwesenheit, der Apathie, der »leere Blick« war einem Ausdruck strahlender Vitalität gewichen. Wie klares Wasser. Ich kann mir kein besseres Bild dafür denken. Sie, die uns ein Jahr lang nicht erkannt, die nicht einmal reagiert hatte, wenn wir sie besuchten, und die reflexhaft ihre Hand zurückzog, als wir sie halten wollten, sprach nun jeden von uns mit Namen an. Und an diesem Tag sagte meine Großmutter klar und vernehmlich, dass sie froh sei, »wieder da zu sein« und uns zu sehen.
Dann wandte sie ihren Blick liebevoll ihrem Mann zu, meinem Großvater, und bat uns, uns gut um ihn zu kümmern. Sie sagte, es sei nicht gut, dass er allein in dem großen Haus lebe (mein Großvater wohnte damals in dem geräumigen Elternhaus meiner Mutter), und dass er eine Haushaltshilfe benötige. Als wir entgegneten, er habe vor Kurzem eine Haushälterin eingestellt, sagte sie nur: »Ja, aber das hättet ihr mir doch sagen können!« (Natürlich hatten wir das nicht getan, denn noch einen Tag zuvor wäre diese Mitteilung sinnlos und gar ein Austausch darüber undenkbar gewesen.) Aber nun verstand sie offensichtlich und war beruhigt. Sie nahm seine Hand. Ich sah das Gesicht meines Großvaters – große Tränen liefen ihm über die Wangen. Schluchzend brachte er ein »Ich liebe dich« hervor. Und sie antwortete ihm: »Ich liebe dich!« Und dann ihr Blick … Ich selbst habe Tränen in den Augen, während ich dies niederschreibe, denn ich habe die Klarheit, die Intensität und die Liebe, die an jenem Tag in ihrem Blick zum Ausdruck kamen, noch so deutlich in Erinnerung, als säße sie jetzt vor mir.
Diese Unterhaltung mochte zwanzig oder dreißig Minuten gedauert haben. Dann lehnte sich meine Großmutter zurück und schlief bald darauf ein. Wir saßen noch etwa eine halbe Stunde an ihrem Bett, bis zum Ende der Besuchszeit. Niemand von uns sprach ein Wort, als wir gingen. Mein Großvater hakte sich im Hinausgehen bei mir unter, ließ meinen Arm aber nach ein paar Schritten wieder los und machte im Flur des Pflegeheims kehrt, um seine Frau noch einmal zu küssen. Es sollte das letzte Mal sein. Als am nächsten Morgen das Telefon klingelte, wusste ich bereits, bevor ich abhob, was die Stationsschwester uns mitteilen würde. Meine Großmutter war im Alter von 86 Jahren friedlich im Schlaf gestorben. Unser Abschiedsbesuch bei ihr gehört zum Schönsten, Wundersamsten und Bewegendsten, das ich je erlebt habe.
Dieser Fall trägt die Kennnummer CH34 (Schweizer Fall, Nr. 34). Der hier wiedergegebene Bericht lag einem ausgefüllten standardisierten Fragebogen bei, den ich im Rahmen unserer ersten Pilotstudie an mehrere Hundert Betreuerinnen und Familienangehörige von Demenz- und anderweitig neurologisch Erkrankten versandt hatte. Die Eckdaten von Fall CH34 gingen ein in eine größere Datenbank, deren Auswertung ich schließlich im Jahr 2019 gemeinsam mit Bruce Greyson veröffentlichte. Aber um wie viel mehr erschließt sich und wie viel klarer wird das Bild, wenn wir nicht nur auf die bloßen Daten von Fall CH34 blicken, sondern auch auf die erlebte Erfahrung hinter diesen Datenpunkten? Wenn wir die konkrete Gestalt der letzten bewussten Begegnung der Sterbenden mit ihren Familienangehörigen ansehen und zu verstehen und zu würdigen versuchen?
Die Enkeltochter, die mir diesen Bericht zugesandt hat, fügte ihm noch eine kurze Notiz bei: »Ich dachte«, schrieb sie, »dass Sie wissen sollten, was sich wirklich zugetragen hat. Die Angaben im Fragebogen wären dem nicht gerecht geworden.«
Zu Beginn meiner Forschungsarbeit zur terminalen Geistesklarheit äußerten sich zahlreiche der Befragten in diesem Sinne; bald waren es so viele, dass wir einsehen mussten, dass der zuvor von meiner Arbeitsgruppe und mir gewählte vorrangig datengeleitete Ansatz das Eigentliche – also das, was »sich wirklich zugetragen hat« – weitgehend aus den Augen verlor. Wir hätten mit anderen Worten um Haaresbreite an wesentlichen Aspekten des Phänomens selbst vorbeigeforscht, hätten uns unsere Studienteilnehmer nicht gerade in der Pilotphase unserer Arbeit immer wieder darauf hingewiesen, dass hier mehr geschah, als sich in einer bloßen Tabelle abbilden und erfassen ließ. Unser Netz war, das zeichnete sich zunehmend ab, zu grobmaschig, um ein nur annähernd adäquates Bild dessen zu gewinnen, was in den von uns untersuchten ungewöhnlichen Episoden von Geistesklarheit in Todesnähe tatsächlich vor sich ging.
Einige Monate nach dem Abschluss der zunächst rein quantitativ ausgerichteten Pilotstudie zur terminalen Geistesklarheit ging ich daher dazu über, die Teilnehmenden zu bitten, mir neben unseren standardisierten Fragebögen auch ihre in eigenen Worten formulierten Berichte über das, was sie erlebt und wahrgenommen hatten, zuzusenden.
Ein Großteil dieses Buchs ist diesen persönlichen Berichten und Fallbeschreibungen gewidmet und der Frage, was diese Berichte (und natürlich auch die Daten) uns über das Grenzgebiet zwischen Leben und Tod – und über uns selbst – mitteilen. Im Folgenden werde ich den Versuch unternehmen, beiden Herangehensweisen an das Thema gleichermaßen gerecht zu werden: der qualitativen und der quantitativen. Denn wie sich zeigt, decken beide Perspektiven auf das Phänomen Bereiche ab, welche die jeweils andere nicht, oder zumindest nicht vollständig, abzudecken vermag.
Ein weiterer Teil dieses Buchs – insbesondere die ersten Kapitel – stellt allgemeiner die Frage, was all dies uns über das Wesen des Menschen, über die Beziehung zwischen Gehirn und Geist, über Leben und Tod sagen kann. Hier geht es unter anderem darum, darzulegen, dass und weshalb die terminale Geistesklarheit (vor allem im Verbund mit einigen verwandten Phänomenen) auch weitergehende Folgen für unsere Selbst- und Weltsicht haben kann. Ungeduldige Leserinnen und Leser, die sich (vorerst) mit diesen Fragen nicht befassen und sich gleich unsere Studienergebnisse und Berichte der terminalen Geistesklarheit ansehen wollen, mögen daher nach Abschluss dieses Kapitels auch direkt zu Teil II übergehen – und sich vielleicht im Anschluss daran im Interesse einer verstehenden Gesamtschau den ersten Kapiteln zuwenden.
Im weiteren Verlauf dieses Buchs werde ich zudem ergänzend einige unserer Forschungsergebnisse über verwandte Phänomene aus dem benachbarten Gebiet der Todesnäheforschung vorstellen und mich mit den möglichen Einsichten auseinandersetzen, die wir durch die Analyse auch dieser Phänomene für unser Verständnis unseres Ichs und seines Schicksals angesichts von Krankheit, Tod und Sterben gewinnen können.
Weil hier vermutlich einige Schnittpunkte zu finden sind, sei an dieser Stelle ein klärendes Wort zum Verhältnis der noch relativ weniger bekannten terminalen Geistesklarheit zu der einer weitaus größeren Leserschaft vertrauten Nahtoderfahrung vorangestellt: Wenngleich beide auch in eine ähnliche Richtung zu weisen scheinen, handelt es sich bei der terminalen Geistesklarheit und der Nahtoderfahrung doch um grundlegend verschiedene Phänomene. Erstere geschieht meist im Vorfeld des Sterbens (jemand liegt im Sterben), Letztere scheint bis zu einem gewissen Grad ein integraler Bestandteil des Sterbens selbst zu sein (jemand stirbt). Auch unterscheiden sie sich mit Blick auf ihr Erscheinungsbild und »Ziel«. Die terminale Geistesklarheit zeichnet sich durch eine Wiederbegegnung mit dem in dieser Welt Erlebten aus: Menschen, die aufgrund einer neurologischen Erkrankung mitunter jahrelang kaum Notiz genommen haben von ihrer Erlebniswelt, »erwachen« wieder zu Erinnerung, Wahrnehmung und Dialog mit ihrer Umgebung. Sie treten wieder kurz ins Leben ein, ehe sie sterben.
Die Nahtoderfahrung dagegen wird von den Betroffenen gemeinhin als eine Erfahrung nicht der Wiederkehr in die Welt, sondern als Abkehr von derselben beschrieben – Menschen berichten, dass sie während einer solchen Erfahrung gleichsam fortgetragen werden in Erlebnisweisen oder -welten, die ihnen bis dahin noch gänzlich unbekannt waren. Sie treten aus dem Leben aus, zumindest beinahe und kurzfristig.
Wenn wir uns mit beiden Erfahrungstypen befassen, begegnen uns daher auch unterschiedliche Erlebnisinhalte und sammeln wir folglich grundlegend andere Daten; auch müssen wir methodisch anders vorgehen: Von der terminalen Geistesklarheit berichten uns jene, die bei einer solchen Episode als Zeugen anwesend waren; die Hauptpersonen selbst sind bereits verstorben. Von der Nahtoderfahrung hingegen können uns nur jene berichten, die selbst eine solche Erfahrung durchlebt haben und zurückkehrten. Sie sind die einzigen direkten Augenzeugen ihres Erlebens; bis auf einige wenige später beschriebene Ausnahmefälle kann derjenige, der eine Nahtoderfahrung erlebte, keine externen Zeugen beibringen, die bestätigen könnten, was ihm widerfahren ist.
Aber trotz dieser Unterschiede weisen die Ergebnisse beider Forschungsbereiche doch in eine ähnliche Richtung. Vielleicht ist es sogar dieselbe; es gibt kaum Bruchlinien, dafür aber zahlreiche sinnvolle Zusammenhänge und Übereinstimmungen zwischen beiden Gebieten. Genau genommen gibt es, wie wir sehen werden, gute Gründe zu vermuten, dass beide Gebiete in Wirklichkeit gar nicht getrennt oder auch nur trennbar sind. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass sie ein und dasselbe, jedoch aus unterschiedlichen Richtungen betretene bzw. betrachtete Terrain beschreiben. Doch dazu später mehr.
In diesem Buch geht es zugleich insgesamt um mehr als nur um Berichte und Betrachtungen über das Sterben anderer Menschen. Es geht auch darum, was wir aus der Forschungsarbeit im und am Niemandsland zwischen Leben und Tod über uns selbst, unser Leben und Sterben, lernen und gewinnen können. Denn je weiter wir in dieses noch junge Forschungsfeld vordringen, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass das von uns gesammelte Material womöglich einige entscheidende Hinweise darauf enthält, was und wer wir sind, und nicht zuletzt: worauf wir hoffen können.
Das spiegelt sich auch in unseren Befragungen wider: In beinahe jedem Austausch mit unseren Studienteilnehmern kam der Moment, ab dem sie nicht mehr nur über ihre Erfahrung selbst, sondern auch darüber reden wollten, wie sich ihre Erlebnisse in Todesnähe bzw. die Zeugenschaft der terminalen Geistesklarheit eines Familienangehörigen und Bekannten auf ihr Selbst- und Weltbild auswirkten. Menschen, die vielleicht schon lange jeglichen bewussten Bezug zur Transzendenz verloren hatten, sprachen auf einmal von der Wirklichkeit des Geistigen oder Seelischen. Und sie sprachen oft auch von einer Hoffnung, die ihnen so unerschütterlich und wohlbegründet scheint, dass sie in vielerlei Hinsicht stärker ist als sogar Krankheit und Tod.
Darüber hinaus sagen uns sowohl die klinische Forschung als auch das persönliche Zeugnis derer, die mit sterbenden Menschen umgehen, dass die letzten Tage oft einmalige Gelegenheiten zu tieferem Verstehen des einst Erlebten darstellen. Vielleicht werden in der Rückschau bislang verborgen gebliebene Zusammenhänge sichtbar; vielleicht offenbart sich jetzt erst, am Sterbebett, rückwirkend der Sinn des einen oder anderen lange unverstandenen Kapitels einer Lebensgeschichte; gelegentlich erfüllt er sich auch noch in den letzten Tagen. All dies ist möglich, buchstäblich bis zum letzten Atemzug. Im Laufe meiner eigenen Arbeit ist mir dergleichen so oft selbst begegnet oder berichtet worden, dass man sich manchmal fragen muss, warum wir im Alltagsdiskurs nur so selten davon hören. Warum wir einander nicht viel öfter Zeugnis geben und ermutigen in dem Wissen und der Erfahrung, dass das Sterben auch dann, wenn wir noch gar nicht über Nahtoderlebnisse und terminale Geistesklarheit sprechen, für die Sterbenden selbst ein friedliches und zutiefst sinnerfülltes Ereignis und für die Angehörigen und Pfleger ein Ort der Erkenntnis und des inneren Wachstums sein kann. Natürlich ist es das nicht immer – so realistisch müssen wir bleiben. Aber zum realistischen Bild des Sterbens gehört auch diese andere, oft verschwiegene Seite, die ein so ganz anderes Gegenbild zeichnet zum Sterben als dem schlechthin Beängstigenden und Bedrohlichen.
Was hier gespielt wird, ist eigentlich nicht schwer zu verstehen: Solange wir etwas im Dunkeln belassen und davor zurückscheuen, uns mit dem im Dunkeln Gelassenen zu konfrontieren – das heißt meist: einfach nur hinzusehen und hinzuhören –, wird uns dieses Dunkle nur noch dunkler scheinen und bald als Projektionsfläche aller möglichen Ängste und Befürchtungen dienen, die womöglich viel mehr mit dem Leben selbst als mit dem Tod zu tun haben.
Nur fürchten wir dann eigentlich nicht das, was wir im Dunkeln gelassen haben; wir fürchten vielmehr die eigenen Schreckensbilder, die wir selbst in dieses Dunkel hineingezeichnet haben. Sollte das aber stimmen, dann rührt die gelegentlich beklagte Sprachlosigkeit angesichts des Todes vielleicht nicht so sehr vom Tod selbst her als von seinem Verdrängtsein. Menschen verdrängen den Tod unter diesem Blickwinkel also nicht alleine deswegen, weil sie ihn fürchten; sie fürchten ihn auch, weil sie ihn verdrängen und somit gar nicht zu sich vordringen lassen, was er ihnen alles mitteilen könnte.5
Vorab aber sind es diejenigen, die sich tagein, tagaus um die Sterbenden kümmern, die uns davon berichten, dass an der Schwelle des Todes so viel mehr geschehen kann; dass Sterben nicht einfach bedeutet, dass die Vitalfunktionen nachlassen und Leben erlischt. Und zwar auch dann noch, wenn schon zu Lebzeiten das große Vergessen eingetreten ist – und wider Erwarten im Sterben der Wiedererinnerung weicht.
Natürlich ist auch das noch ein erst vorläufiges Resultat; und eigentlich ist es nicht einmal das – es ist eine einzige große Frage, die in diesen Zusammenhängen immer wieder aufs Neue aufgeworfen wird. Unsere Forschung an der Schwelle zwischen Leben und Tod erzählt also von einer Geschichte, die noch lange nicht fertig geschrieben ist; vieles ist noch unvollständig, manches wird noch folgen. Wir sind wie gesagt erst einige wenige Meter vorgedrungen – gerade genug, um zu ahnen, dass sich hinter dem, was wir vorgefunden haben, noch viel größere Zusammenhänge verbergen, deren wirkliche Ausmaße wir derzeit wohl nur erahnen können. Aber wie wir in diesem Buch sehen werden, sind womöglich alle unsere individuellen Geschichten, die sich innerhalb einer einzigen Lebensspanne entfalten, unvollendete Geschichten, die weit über das hinausreichen, was wir jetzt begreifen können oder uns auch nur vorzustellen vermögen. Es bleibt uns für den Moment daher nicht viel mehr übrig, als auf das hinzuhören, was diejenigen, die durch ihre Lebens- oder Sterbeumstände schon etwas weiter vorgedrungen sind, uns sagen können oder wollen.
Tatsächlich besteht eine der ersten und zentralen Aufgaben unserer Forschung aus wenig anderem als aus Fragen und Zuhören. Das klingt nun vermutlich zunächst nicht spektakulär – und doch geschieht dabei gelegentlich etwas Außergewöhnliches. Hört man hin – hört man Menschen wirklich zu, wenn sie von ihrer eigenen Begegnung mit dem Tod oder auch dem Sterben ihrer Angehörigen berichten und davon, was sie dabei gesehen und erlebt haben, stellt sich bisweilen eine tiefe innere Vertrautheit ein. Diese Menschen haben etwas Besonderes erlebt; und nun sind sie bereit, sich über dieses Erlebnis mitzuteilen. Manche ringen dabei um Worte – unser Alltagsvokabular ist ja durchaus nicht primär für die Schilderung außergewöhnlicher Geschehnisse in Todesnähe geschaffen.
Außerdem haben viele dieser Menschen lange warten müssen, ehe sie jemandem begegneten, mit dem sie über das Erlebte reden oder korrespondieren können. Nun will alles gleichzeitig gesagt werden; all die Erinnerungen, all die Fragen, alles, mit anderen Worten, was jemanden bewegt, der etwas Nichtalltägliches erlebt hat und ahnt, dass die Erinnerung an dieses Ereignis sich in der einen oder anderen Form auf seinen künftigen Lebensweg auswirken wird.
Wenn unsere Studienteilnehmer von ihren Erinnerungen an die terminale Geistesklarheit eines Familienangehörigen berichten, tauchen aber auch allgemeinere Fragen auf. Wir hören von Erinnerungen an Menschen, die aufgrund einer Demenz und anderer stark kognitiv beeinträchtigenden Krankheiten über einen langen Zeitraum Zugang zu ihrem eigenen Erinnerungs-Ich verloren hatten und dieses wider Erwarten kurz vor ihrem Tod wiedergewinnen. Die Vielschichtigkeit dieser Konstellation aus Vergessen, Wiedererinnern und Sterben entgeht auch einigen unserer Studienteilnehmer nicht. Sie soll uns an dieser Stelle hinführen zum eigentlichen Thema. Denn um die terminale Geistesklarheit als solche würdigen zu können und um sich dem anzunähern, was es mit diesem Phänomen auf sich hat, ist es zunächst sinnvoll, sich dem Vergessen und dem Eingeschränktsein zuzuwenden, das der terminalen Geistesklarheit vorausgeht – und allgemeiner noch den menschenbildlichen Fragen, die von der Demenz und ähnlichen Erkrankungen aufgeworfen werden. Ganz ähnliche Fragen werden nämlich auch von der terminalen Geistesklarheit aufgeworfen – wenn auch, wie es scheint, in einer gänzlich anderen Tonart.
Verlust und Übergang
Zwar nimmt im Allgemeinen die Gedächtnisleistung für neu erworbene Informationen mit dem Alter ab; aber das Wissen um unsere Identität und die identitätsstiftenden, länger zurückliegenden Erinnerungen bleibt uns meist auch noch bis ins hohe Alter erhalten. Die Altersforschung sagt uns, dass für viele ältere Menschen diese private Welt der Erinnerungen eine Art Rückzugsgebiet ihres eigenen Lebens ist. Unsere Lebensgeschichte, Entscheidungen und Handlungen verdichten sich so zu dem, was wir geworden sind: Was mit unserer Geburt als Möglichkeit ins Leben trat, wird zuletzt als biografisch gewordene Wirklichkeit aus diesem Leben treten. Das bleibt für die meisten bis zum Ende: Wir sterben als jemand, nicht als etwas.
Nicht wenige von uns kennen aber auch Fälle, in denen Menschen aufgrund einer Demenz- oder anderweitigen neurologischen Erkrankung schon zu Lebzeiten ihre eigene private Welt der Erinnerung, manchmal sogar ihre bisherige Wesensart, gleichsam wegbricht: Der Kunsthistoriker etwa, der noch vor wenigen Jahren viel beachtete Bücher über die italienische Renaissancemalerei verfasst hat, vergisst aufgrund eines schnell wachsenden Gehirntumors alles, was er je über dieses Thema wusste. Bald wird er auch seine eigene Frau und seine Kinder nicht mehr erkennen. Die Mutter und Großmutter, die ihre Familie stets mit ihrer Liebe und Wärme umsorgt hat, verliert mit fortschreitender Demenz allmählich das Interesse an ihren Kindern und Enkelkindern, kann sich bald nicht mehr an deren Namen erinnern und vergisst schließlich, dass sie überhaupt Kinder und Enkelkinder hat:
»Papi, ich bin’s, Scotty … dein jüngster Sohn.«
Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Worte einmal würde aussprechen müssen – Worte, die von Schmerz und Traurigkeit erfüllt sind. Ich musste noch lernen, die Tatsache zu akzeptieren, dass mein Vater mich nicht mehr erkannte. Er hatte mein Gesicht vergessen. Er hatte meinen Namen vergessen. Und dieses Vergessen war für mich viel schwieriger, als ich erwartet hätte. […] Nichts hatte mich auf dieses neue Kapitel in meinem Leben vorbereitet, in dem es hieß, einen Vater lieben und für ihn sorgen zu lernen, der sich nicht mehr an seinen eigenen Sohn erinnern konnte.6
Angehörige und im Frühstadium der Erkrankung auch die Betroffenen selbst sehen sich angesichts dieses Krankheitseinbruchs oft einem doppelten Leidensdruck ausgesetzt: Alles ändert sich, Alltag und Existenz.
Zum einen muss das alltägliche Leben mit den und für die Betroffenen bewältigt werden. Das ist belastend genug. Aber die eigentlichen Fragen beginnen dann, wenn man zur Ruhe kommt, wenn das Tagwerk erledigt ist. Die ersehnte Entspannung will sich nicht recht einstellen; die Gedanken kreisen, die Unruhe wächst. Man sieht ja dem tagtäglichen Verfall eines geliebten Menschen zu; das ist schmerzhaft genug. Aber eigentlich sieht man noch viel mehr: Man sieht, wie anfällig und hinfällig menschliches Leben insgesamt sein kann. Das wirft Fragen auf, und diese Fragen gehen weit über die Bewältigung des Alltags hinaus. All das Reden vom Sterben als Ort menschlicher Würde und Sinnhaftigkeit, all die Hoffnungen, von denen etwa unsere Religionen und Weisheitstraditionen sprechen, erscheinen zunehmend fragwürdig, wenn doch das große Vergessen alles rauben zu können scheint, was der Mensch einst geworden und gewesen ist. Genau genommen erscheint damit alles fragwürdig: »Ist das alles, was von uns bleibt?«, fragen die Angehörigen. »Und wenn das wirklich alles sein sollte, welchen Sinn kann dann irgendetwas von dem, was vorher war, noch haben, je gehabt haben?«
Manche sagen uns, dass mit diesen (unbeantworteten) Fragen auch die letzten verbleibenden Quellen des Trostes zu versiegen drohen – ihr Glaube an eine Seele, ihre religiösen oder metaphysischen Hoffnungen auf eine menschliche Bestimmung, die größer und umfassender ist und von den Auswirkungen der Demenz und ähnlicher Erkrankungen unberührt bleibt: »Aber wie kann ich Trost im Glauben an eine Dimension des Geistes finden, wenn mir die Erkrankung meines Angehörigen so deutlich vor Augen führt, dass diese Dimension vielleicht gar nicht existiert? Wenn ich täglich mitansehen muss, wie zerbrechlich diese vermeintlich geistige Dimension angesichts der Übermacht einer körperlichen Erkrankung letztlich ist?«, fragen sie.
Greifen wir diese Fragen auf. Wir müssen dafür etwas ausholen; denn es geht hier bei näherem Hinsehen nicht mehr nur allein um das konkrete Schicksal der Demenzkranken. Die Demenz ist so gesehen nur ein Test- oder der Ernstfall unseres Menschenbilds. Die dahinterliegende Frage berührt uns alle: Wenn etwa die Unversehrtheit des Ichs der Demenzkranken so sehr von der Unversehrtheit ihrer Gehirnfunktionen abzuhängen scheint, muss man dann nicht folgerichtig annehmen, dass auch das Ich, der Geist, die Persönlichkeit der Nichterkrankten letztlich ebenso abhängig – vielleicht gar nur ein Produkt – von intakter Gehirnaktivität sind? Dass folglich jede Vorstellung einer »Seele« und jegliches Nachdenken über die Möglichkeit eines künftigen Schicksals dieser Seele jenseits des Körperlichen, wie sie etwa von religiösen Traditionen in den Raum gestellt wird, tatsächlich hoffnungslos antiquiert und naiv sind? Mit einem Mal, so scheint es, steht damit nicht nur das Erlebte und Erinnerte, das zuletzt die Krankheit raubte, infrage, sondern auch der Erlebende selbst. Was also sagt uns all dies über das Schicksal des Ichs, insbesondere im Hinblick auf Tod und Sterben?
Eine nüchterne Bilanzierung dessen, was uns die Auswirkungen der Demenzerkrankungen über unser Wesen zunächst mitteilen, scheint auf den ersten Blick tatsächlich nicht viel Raum für etwas eigenständiges Seelisches zu lassen. Damit aber wird auch etliches fragwürdig, was viele von uns gemeinhin in Bezug auf das Wesen des Ichs annehmen oder glauben oder hoffen, glauben zu können: dass unser Ich mehr ist als nur ein Produkt oder eine Fiktion der komplexen Maschinerie unseres Gehirns. Dass etwas an uns geborgen ist, auch wenn der Organismus uns nicht mehr tragen kann. Dass wir nicht Funktion von etwas sind, sondern nach wie vor jemand – auch lange noch, nachdem sich alle Funktion eingestellt hat.