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Drei Monde Zwei verfeindete Völker Eine Prophezeiung Arden arbeitet als Fischer, doch schon seit geraumer Zeit bleibt der Ertrag aus. Stürme und Gewitter ziehen über das Land und Streit mit seinem Freund hat er auch. Als er eines Tages einen fremden Mann aus dem Meer fischt, der Ardens Sprache nicht spricht und der so ganz anders aussieht als die Menschen der Küste, droht die Stimmung im Dorf zu kippen. Shivan wurde bestraft. Mit der höchsten Strafe, die es in Silmariv gibt. Degradiert und gebrochen findet er sich in einer fremden Stadt wieder, in der er ebenso wenig erwünscht ist wie in seiner einstigen Heimat. Schließlich fordern die Stürme Menschenleben und Gerüchte werden unter den Dorfbewohnern laut. Von der ewigen Nacht ist die Rede, dem Untergang der Welt, und der Fremde muss dafür verantwortlich sein … Das Taschenbuch umfasst 576 Seiten.
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Seitenzahl: 601
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das Lied der zwei Völker
von
Saskia Diepold
Impressum: Saskia Diepold Am Waldrand 95 41813 Hückelhoven Saskia.N.Diepold(at)gmx.de
Das Lied der zwei Völker Autorin: Saskia Diepold Lektorat: Elian Mayes Korrektorat: Christian Diepold Coverdesign: Mo Kast Stockmaterial: Adobe Stock Karte von Tevolaris: Saskia Diepold
2022 – Alle Rechte vorbehalten Inhaltshinweise finden sich nach der Danksagung.
Schön, dass du dich auf das Abenteuer „Das Lied der zwei Völker“ einlassen willst. Bevor du anfängst zu lesen, möchte ich dir gern eine kleine Information mitgeben, die Ardens Sprache betrifft.
Shivan und Arden sprechen unterschiedliche Sprachen und du wirst, besonders in der ersten Strophe, mit der für Shivan fremden Sprache konfrontiert. Das Meiste erschließt sich aus dem Kontext und du wirst sicherlich genauso wie Shivan langsam in die Sprache der Livkanev eintauchen. Wenn du es ganz genau wissen willst, findest du im Anhang auch ein Wörterbuch.
Im Laufe der Geschichte wird die Fremdsprache zunehmend direkt übersetzt und irgendwann gibt es nur noch die Übersetzung. Damit weiterhin klar ist, wann Shivan die Fremdsprache spricht, habe ich in den Kapiteln aus seiner Sicht die wörtliche Rede in der Sprache der Livkanev immer kursiv gesetzt, während die wörtliche Rede in seiner eigenen Sprache wie im Fließtext aussieht.
Ich hoffe, die Info hilft für den Einstieg ein wenig, sodass du nicht verwirrt bist, wenn du plötzlich auf kursive Sätze stößt.
Jetzt wünsche ich dir aber viel Spaß in der märchenhaften Welt von Tevolaris.
… gleich und doch verschieden …
Kapitel 1 - Arden
„He Arden, dein Onkel fährt gleich ohne dich.“
Mühsam rollte ich mich auf die andere Seite des Bettes und vergrub meine Nase in den Kissen, die immer noch nach Beron dufteten, obwohl er mich längst allein in den Laken hatte liegen lassen.
„Levi würde nie ohne mich rausfahren“, brummte ich und schlug trotzdem die Augen auf. Beron stand bereits vollständig bekleidet am Fenster mit einem Becher Tee in der Hand und warf einen Blick über die Schulter zurück zu mir. „Sieht aber ganz so aus, als hätte er es eilig.“
Ächzend erhob ich mich und schlang meine Arme um seine Brust. Wie so oft in letzter Zeit erwiderte er meine Umarmung nicht und starrte stattdessen weiter nach draußen. Seufzend folgte ich seinem Blick. Tatsächlich hatte Levi den kleinen Kahn schon bereitgemacht. Immer wieder prüfte er ungeduldig den Stand der Sonne und den der drei Monde, die gerade am Himmel über Adastead ihre Bahnen zogen. Dann schirmte er seine Augen mit der Hand ab und beobachtete unser Häuschen, als könnte er Beron und mich trotz der Entfernung am Fenster stehen sehen.
Ich stöhnte und Beron streifte meine Arme ab. „Ich hab’s dir gesagt.“
„Ja, ja.“ Gähnend ließ ich von Beron ab, um mich anzuziehen. „Warum bei den drei Schwestern muss Levi denn so früh raus heute?“
„Das werden dir die drei Weißen auch nicht beantworten können.“
Ernst beobachtete er, wie ich mir ein getragenes Hemd über den Kopf zog.
„Warum so ein Gesicht?“, fragte ich und hoffte zumindest auf ein Lächeln, das ihm sonst Grübchen in den Wangen bescherte. Aber selbst, als ich unbeholfen auf einem Bein hüpfend versuchte, in die Stiefel zu schlüpfen, schüttelte er nur seufzend den Kopf und stellte seine Tasse auf dem Tisch ab, auf dem noch das dreckige Geschirr vom Vortag stand. Statt meine Frage zu beantworten, sagte er: „Ich habe gestern bei Onto noch eine Bestellung aufgegeben. Kannst du die Sachen nachher bitte abholen? Du kommst am Laden vorbei.“
Ich gähnte ein weiteres Mal und pickte mir einen Rest Brot vom Tisch, bevor ich mich auf den Weg nach draußen machte. „Ja, klar.“
„Arden?“
Ich drehte noch einmal um, bereit für einen Abschiedskuss.
„Ich mein’s ernst. Denk dran. Vergiss das nicht wieder. Wenn der Korb nicht rechtzeitig abgeholt wird, gibt Onto die Sachen an wen anders und wir können wieder gucken, wie wir eine Woche ohne Gemüse auskommen.“
„Richtig, ja! Ich denk dran. Versprochen.“ Rasch drückte ich ihm einen Kuss auf die Lippen. „Bis nachher.“
„Du kommst spät“, brummte Levi.
„Oder du bist viel zu früh dran“, erwiderte ich und gähnte ein weiteres Mal herzhaft. Der gewohnte Geruch von Algen, Salzwasser und Fisch strömte aus jeder Bohle des Fischerbootes und ich ließ mich, weiterhin müde, auf einem der noch leeren Fässer nieder. Levi schnalzte missbilligend mit der Zunge und machte sich daran, unseren Kahn aufs offene Meer hinauszulenken. „Das Wetter gefällt mir nicht. Letzte Nacht hat es auch wieder gestürmt und ich fürchte, es wird über den Tag eher schlimmer als besser. Wir sollten die wenigen Sonnenstrahlen noch nutzen, solange wir können.“
Ich betrachtete nach seinen Worten den verhangenen Himmel und musste ihm leider recht geben. Ohne Sonne würden die Schimmerlinge gar nicht herauskommen, aber für andere Arten, auf die wir uns sonst in den sonnenärmeren Jahreszeiten konzentrierten, war es noch deutlich zu früh.
Im aufgewühlten Wasser trieb allerlei Unrat. Alles, was der Sturm in den letzten Tagen aufs Meer hinausgetragen hatte. Beim Vorbeifahren sahen wir, wie Verhan den Mast seines Bootes reparierte. Der würde wohl heute nicht mehr rausfahren.
„Vermisst auch ein Ruderboot“, erklärte Levi mit einem Nicken in Verhans Richtung. „Kommt davon, wenn man seinen Kram bei dem Wetter nicht besser sichert.“
Im Laufe des Tages wurde es nicht besser. Es blieb wolkenverhangen und windig. Unsere Ausbeute fiel entsprechend gering aus und viel zu tun gab es auch nicht. Gelangweilt sah ich hinüber zu Levi, der an die Reling gelehnt erst missmutig auf das trübe Wasser und dann in den düsteren Himmel starrte. Er klopfte zweimal auf das Holz vor sich und wandte sich anschließend zum Steuer. „Wir drehen um, Arden. Genug Zeit verschwendet. Hol die Netze ein.“
Levi steuerte uns, trotz des stärker werdenden Windes sicher in Richtung Land, während ich in Gedanken versunken die wenigen Schimmerlinge aus dem Netz zupfte, die sich dennoch zu uns verirrt hatten. Auf keinen Fall durfte ich nachher das Gemüse vergessen. Die letzte Woche war in der Tat äußerst eintönig gewesen und mein Magen knurrte beim Gedanken daran, endlich wieder etwas anderes zu essen als Räucherfisch und Brot. Ob Beron auch ein paar Pilze bestellt hatte? Ich mochte sie zwar nicht besonders, aber ich wusste, dass er einem duftenden Pilzomelett nicht widerstehen konnte. Vielleicht könnte ich ihn heute Abend damit überraschen. Nachdem er in den letzten Wochen so schlechte Laune gehabt hatte, würde das seine Stimmung sicher heben.
„Arden. Sieh mal!“
Levis Ruf riss mich aus den Gedanken und ich folgte seinem Fingerzeig. Wir passierten eine Sandbank in einiger Entfernung, aber unsere Aufmerksamkeit galt dem ramponierten Boot, das halb auf dem Sand, halb im Wasser hing und von den Wellen sanft geschaukelt wurde.
Ich erhob mich und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. „Könnte das Verhans Ruderboot sein?“
„Möglich, aber da ist nicht mehr viel dran zu retten“, erwiderte Levi und recht hatte er. Ein großer Riss zog sich von der Backbordseite über den Rumpf, sodass der Kahn schon bedenklich tief im Wasser lag. Vermutlich wurde er nur dadurch über Wasser gehalten, dass er halb auf der Sandbank auflag.
„Sollen wir es trotzdem mitnehmen?“, fragte ich, doch Levi schnaubte nur. „Verhan kann sich selbst um seinen Kram kümmern.“
Eine weitere Welle schwappte gegen das kleine Ruderboot und ich sah etwas im Inneren schimmern. War es Stoff? Ich zog mir eine Kiste heran und stellte mich darauf, um einen besseren Überblick zu haben. Wieder schaukelte der Kahn und überrascht schnappte ich nach Luft.
„Onkel Levi, warte! Da liegt jemand drin.“
„Bei den drei Weißen, was –“ Levi beugte sich ein Stück vor und kniff ebenfalls die Augen zusammen, aber ich war mir mittlerweile sicher. Da lag ein Mensch in Verhans Boot. Ohne zu zögern, streifte ich mir das Hemd über den Kopf, die Stiefel ab und setzte bereits einen Fuß auf die Reling.
„Arden!“ Ich konnte nicht ausmachen, ob in Levis Stimme eher ein warnender oder ein überraschter Unterton mitschwang. Seine Überlegungen wollte ich ohnehin nicht abwarten. Stattdessen tauchte ich mit einem beherzten Kopfsprung in das kühle Nass und hatte nach wenigen Schwimmzügen die Sandbank erreicht. Im Boot und bereits halb im Wasser lag ein Mann, bewusstlos, aber atmend. Eine Platzwunde zierte seine blasse Schläfe.
Levi rief wieder nach mir und ich winkte ihn näher. „Er lebt, aber er ist verletzt.“ Rasch zog ich den schlaffen Körper aus dem Boot.
Immerhin handelte auch Levi endlich, denn er manövrierte das Fischerboot so nah wie möglich an die Sandbank, damit ich den Mann an Deck bringen konnte. Ich schlang die Arme um die schmale Brust des Fremden und schleppte ihn bis zu unserem Kahn ab.
„Hast du ihn?“, fragte ich außer Atem, als ich ihn meinem Onkel übergab. Levi brummte nur, aber als mir klar war, dass er den Mann über Wasser halten konnte, zog ich mich erst selbst ins Boot, bevor wir ihn gemeinsam an Bord zerrten.
Trotz seiner Unterstützung wirkte Levi verunsichert und trat nun kopfschüttelnd ein paar Schritte zurück. „Arden, das gefällt mir nicht!“
„Mir auch nicht,“ erwiderte ich. „Sieh dir nur die Platzwunde an!“
Levi schnaubte verächtlich und aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie er sich mit hochgezogenen Schultern umsah. „Das meine ich nicht. Wo kommt der Kerl her? Und was hat er in Verhans Ruderboot zu suchen?“
„Können wir uns darüber vielleicht später Gedanken machen?“, fragte ich, auch wenn ich mir insgeheim ähnliche Fragen stellte.
Erst blickte Levi skeptisch in den weiterhin mit Wolken verhangenen Himmel, aber dann griff er doch nach einer rauen Decke, die auf einer der Kisten lag, und hockte sich vor den Fremden. Während er das Gesicht des Mannes studierte, warf er etwas ungelenk den Stoff über die schmalen Schultern. Fast so, als wollte er ihn auf keinen Fall berühren. Seufzend wickelte ich den Unbekannten in die Decke und rutschte so weit um ihn herum, dass ich seinen Kopf auf meinen Schoß betten konnte.
„Hat wohl einen ordentlichen Schlag abbekommen“, brummte Levi und deutete auf die blutverkrustete Schläfe des Mannes. „Sicher ist er deswegen bewusstlos.“ Ächzend drückte er sich wieder hoch und sah auf mich herab. „Trotzdem. Geheuer ist mir das nicht.“ Für einen Moment zögerte er. „Hab bloß ein Auge auf ihn.“ Dann wandte er sich von uns ab und kümmerte sich um die Netze, die ich eben achtlos fallengelassen hatte.
Ich nutzte die Zeit, um den Unbekannten eingehender zu betrachten.
Sein langes Haar wirkte fast schwarz, aber vielleicht täuschte das nur, weil es nass war. Seine Haut war eher blass, beinahe wie Alabaster. Das allein zeigte deutlich, dass er ein Fremder war. Die Bevölkerung in Adastead hatte durchweg bronzefarbene, wettergegerbte Haut. Auch seine Statur unterschied sich von der der Küstenbewohner. Weniger stämmig, eher schmal, doch nicht mager.
Levi hatte die Fangnetze eingeholt und warf mir mein Hemd zu, das ich umständlich überstreifte. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich vermutet, dass mein Onkel Angst vor dem Bewusstlosen hatte, so sehr, wie er die Nähe vermied. Nur als er mir geholfen hatte, den schlaffen Körper an Deck zu ziehen, hatte er ihn berührt.
„Was denkst du, wo er herkommt?“, fragte ich, ohne den Blick von dem ebenmäßigen Gesicht abzuwenden.
Levi schnalzte mit der Zunge. „Mir egal. Hätte er Flügel, würde ich sagen, er kommt von oben. Aber ich hoffe, dass er rasch wieder verschwindet, sobald er wach wird.“
Ich schnaufte mindestens genauso genervt wie er zuvor. „Was redest du da?“
Er presste die schmalen Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, bevor er mahnend den Finger hob und nach oben deutete. „Du bist zwar noch jung, Arden, doch auch du solltest die Geschichten kennen. Sieh ihn dir an. Er ist keiner von uns. Bleich wie ein Gespenst. Genauso wie sie die Geflügelten beschreiben. Will mir gar nicht ansehen, ob er Fangzähne und eine gespaltene Zunge hat. Wenn ich’s recht bedenke: Woher soll er kommen, wenn nicht von oben, und vom Himmel kam noch nie etwas Gutes.“ Er wartete gar keine Erwiderung von mir ab, sondern stapfte hinüber zum Steuer und machte sich daran, unseren Kahn zurück nach Adastead zu bringen.
Vom Himmel. Ich unterdrückte ein Auflachen, kam jedoch nicht umhin, selbst einen Blick hinauf zu den grauen Wolken zu werfen.
Genau. Die Kindermärchen von den Volaheli. Wie eine Plage von Heuschrecken kamen sie in den Geschichten über die Menschendörfer. Stahlen die Vorräte und das Vieh und zuweilen auch einen Knaben oder ein Mädchen und flogen dann mit ihrer Beute wieder hoch in ihre Wolkentürme. Gruselgeschichten, um die Kinder zu unterhalten und ihnen auszutreiben, sich des Nachts allein nach draußen zu stehlen.
Ich schüttelte den Kopf und sah zurück auf den Fremden, der sich bis auf seine gleichmäßige Atmung nicht regte. Dass Levi immer noch an so einen Unsinn glaubte.
Das Boot gewann an Fahrt und ein frischer Wind kam auf, der mich in den nassen Beinkleidern frösteln ließ. Selbst meine Eltern hatten nie einen Volaheli zu Gesicht bekommen. Das Friedensabkommen zwischen den beiden Völkern war schon so alt, dass die Einzigen unter uns, die die Geflügelten von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten, dem Tode näher als dem Leben waren und die meiste Zeit so wirr im Kopf, dass sie nicht mal die Namen ihrer Enkel behielten.
Kapitel 2 - Shivan
Alles drehte sich. Selbst bei geschlossenen Augen hatte ich das Gefühl zu trudeln und zu fallen. Eine seltsame Hilflosigkeit erfasste mich, zwang mich, die Finger haltsuchend in den rauen Stoff unter mir zu krallen, bevor ich es wagte, vorsichtig die Lider zu öffnen.
Obwohl ich absolut stilllag, blieb das Gefühl, mich viel zu schnell zu bewegen, was mir Übelkeit bescherte. Angestrengt versuchte ich, meinen Blick zu fokussieren, und starrte auf die dunkle Holzdecke über mir. Das war nicht richtig. Irgendetwas stimmte hier nicht. Doch als ich versuchte, mich zu erinnern, stach es schmerzhaft hinter meiner Stirn und instinktiv kniff ich die Augen wieder zusammen. Nur einen Moment durchatmen. Ich ließ mir Zeit, aber egal, wie sehr ich mich bemühte, mir einen Reim auf all das hier zu machen, es ergab keinen Sinn.
Der zweite Versuch, die Augen zu öffnen, sorgte nicht für so schlimmes Herzrasen wie der erste. Trotzdem blieb das diffuse Gefühl, dass hier etwas überhaupt nicht stimmte. Ein Gefühl, das ich nicht recht benennen konnte. Die Idee, meinen Kopf zu drehen oder mich gar aufzusetzen, verwarf ich sehr schnell wieder, denn das anhaltende Schwindelgefühl und die Kopfschmerzen sorgten dafür, dass ich Mühe hatte, meinen Mageninhalt bei mir zu behalten. Ich schluckte schwer gegen den Kloß in meinem Hals an und eine Panikwelle drohte mich zu überrollen, als ich von weiter her Stimmen vernahm, die sich mir näherten.
Ich hörte, wie sich eine Tür außerhalb meines eingeschränkten Sichtfeldes öffnete, und wie erstarrt lauschte ich auf die Schritte von mindestens zwei Personen. Vielleicht würde ich nun erfahren, was vor sich ging. Allerdings überwog eine undefinierte Angst, die wie ein Felsbrocken auf meiner Brust lag.
Sie unterhielten sich, aber ich verstand kein Wort. Eine seltsame Aneinanderreihung grollender Laute. Dann schob sich ein Gesicht in mein Blickfeld. Dunkle Augen blitzten freudig auf und ein Schwall an Worten ergoss sich über mich, die keinen Sinn ergaben. Mein Herz raste. Warum verstand ich sie nicht? Wo war ich und was war mit mir passiert?
Ohne meinen Kopf zu bewegen, wanderte mein Blick zu dem anderen mürrisch wirkenden Gesicht hinüber, das neben dem ersten aufgetaucht war. Die zweite Person, mit ergrautem Haar und faltiger Haut, eindeutig älter, kniff die Augen zusammen und machte einen feindseligen Eindruck auf mich. Wieder wechselten sie einige Worte in ihrer seltsamen Sprache miteinander, bis die unfreundliche Gestalt den Kopf schüttelte und das Zimmer wieder verließ.
Der andere seufzte und sah dem Mann nach, bevor er sich mir erneut zuwandte. Ein aufmunterndes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, wenn sein Blick auch irgendetwas Trauriges an sich hatte. „Te lin-te baha?“
Ich zog unwillkürlich meine Brauen zusammen. Diese Sprache war mir vollkommen unbekannt.
Er holte tief Luft und ließ sich sacht neben mir nieder. „Ma hana e Arden.“ Er wartete auf eine Reaktion meinerseits, doch ich sah ihn nur weiter sprachlos an. Nach einer kurzen Pause wiederholte er die Worte, sehr langsam und deutlich, als würde das etwas daran ändern, dass ich ihn nicht verstand. Ich war schließlich nicht taub.
Er schüttelte den Kopf und schnaufte frustriert, bevor er einen weiteren Versuch unternahm. Diesmal legte er die Hand auf seine Brust. „Arden.“ Er zog die Augenbrauen hoch, wartete, ob ich nun erkannte, was er mir sagen wollte. Seine Fingerspitzen klopften einige Male sacht auf die Stelle seines Herzens. „Arden. Ma hana e Arden.“
Sein Name? Nannte er mir seinen Namen? Zaghaft öffnete ich den Mund und sofort strahlten seine Augen, während er mir aufmunternd zunickte.
„Ar-den“, sprach ich stockend nach und merkte erst jetzt, wie trocken mein Hals war. Euphorisch rückte er ein Stück näher, sodass ich beinahe bereute, mich auf diesen Kommunikationsversuch eingelassen zu haben. Erneut legte er die Hand auf seine Brust und wiederholte ein weiteres Mal: „Ma hana e Arden.“ Dann streckte er seine Finger in meine Richtung aus, jedoch ohne mich zu berühren. „Te hana e …?“
Mein Name? Er wollte wissen, wie ich hieß. Wieder öffnete ich meinen Mund, doch trotz seines erwartungsvollen Blickes kam kein Wort über meine Lippen und eine erneute Panikwelle drohte mich zu überrollen. Mein Name? Ich konnte mich nicht erinnern. Wie war mein Name? Unwillkürlich griff ich mit der Hand an meinen pochenden Kopf und zog hektisch die Luft ein, weil es sich gerade anfühlte, als würde ich davon deutlich zu wenig bekommen.
Er schien zu verstehen, was mein Problem war und wieder redete er auf mich ein, wollte mich wohl beruhigen. Ungeachtet des Schwindels und der stechenden Kopfschmerzen setzte ich mich jetzt doch auf, weil ich das Gefühl bekam, sonst an dem Kloß in meinem Hals ersticken zu müssen. Warum konnte ich mich an nichts erinnern? Ich würgte bereits trocken, als er nach meinen Schultern griff, wohl immer noch in einem kläglichen Versuch, mich zu trösten oder dergleichen.
„Lass mich los!“, presste ich mit letzter Kraft hervor, obwohl er mich vermutlich ebenso wenig verstand wie ich ihn. Energisch wollte ich ihn zur Seite schieben, aber mein Körper versagte seinen Dienst oder er war schlicht stärker als ich. Wie auch immer. Vielleicht war er es selbst schuld, dass sich mein Mageninhalt daraufhin statt auf dem Boden auf seinem Hemd verteilte. Ich spürte, wie der Druck seiner Hände auf meinen Schultern nachließ, als er auf die Schweinerei hinabsah.
Ich selbst zitterte immer noch schwer atmend und vermied es, ihn anzusehen. „Entschuldigung“, raunte ich und hoffte, dass er zumindest an meinem Tonfall verstand, was ich sagen wollte.
Zu meiner Überraschung schien er nicht wütend zu sein. Ruhig erhob er sich, griff nach einem Tuch und einer Schüssel mit Wasser, die unweit meines Lagers bereitstanden, und beseitigte den Dreck notdürftig.
Seine sanften Worte, die er währenddessen in meine Richtung murmelte, lullten mich beinahe ein. Dann sah er wieder zu mir und deutete auf meine eigene Kleidung. Ich folgte seinem Fingerzeig und musste feststellen, dass ich nicht nur ihn getroffen hatte. Gestisch signalisierte er mir, das Hemd auszuziehen, was sicher die einzig logische Lösung der Misere war, mir jedoch trotzdem Unbehagen bereitete. Unnachgiebig hielt er die Hand ausgestreckt und seufzend gab ich schließlich nach. Der Gedanke, dass er sonst möglicherweise nachhelfen würde, behagte mir noch weniger. Rasch löste ich die Bänder meiner Tunika und wickelte mich aus dem leichten Stoff. Verlegen reichte ich ihm die Kleidung und zog das Laken sogleich enger um mich, ohne ihn anzuschauen. Er räusperte sich und zupfte dann am Stoff seiner eigenen Beinkleider. Zugegebenermaßen spürte ich, dass meine Hose klamm an der Haut klebte. Aber die Vorstellung, völlig nackt in diesem fremden Bett zu liegen, umgeben von ebenso fremden Personen, löste beinahe eine erneute Panikattacke aus. Würde er mich zwingen, wenn ich einfach so tat, als hätte ich seine Aufforderung nicht verstanden?
Ein weiteres Mal redete er unverständliches Zeug, doch er wandte sich ab, ohne darauf zu beharren, dass ich mich weiter auszog. Erst als er plötzlich wieder neben mir auftauchte und mir einen Becher entgegenstreckte, sah ich beschämt zu ihm auf.
„Jun.“ Er hob das Trinkgefäß kurz etwas an. „Jun!“
Zaghaft griff ich nach dem Getränk, hielt es mit beiden Händen aus Angst, es vor lauter Schwäche fallen zu lassen. „Jun!“, wiederholte er und deutete dabei gestisch an, dass ich den Becher an meine Lippen führen sollte. Ich nickte vorsichtig, noch immer mit dröhnenden Kopfschmerzen, und nahm einen Zug. Wasser, das mit ein paar Kräutern versetzt war. Es vertrieb den sauren Geschmack und als die ersten Tropfen meine Kehle hinabrannen, bemerkte ich wieder, wie durstig ich war. Dennoch musste ich mich zwingen, es bei kleinen Schlucken zu belassen. Auf keinen Fall wollte ich riskieren, mich noch einmal zu übergeben.
Stumm beobachtete er, wie ich trank, bevor er auf das Lager zeigte. „Te gun ka fen.“
Ich hatte keine Ahnung, was er da sagte, aber seine Gesten deuteten darauf hin, dass ich mich wieder hinlegen sollte. Dieser Aufforderung kam ich nur allzu gern nach. Hoffentlich würden diese hämmernden Kopfschmerzen dann nachlassen und ich mich vielleicht wenigstens an meinen eigenen Namen erinnern.
„Ma …“ Er sah an sich herunter auf das besudelte Hemd, was mir die Schamesröte ins Gesicht trieb. „Ma lif o sengo ma.“ Dann wandte er sich zur Tür. „Te gun ka fen. Ma zan ion na te.“ Ich verstand nicht, was er sagte, und dann war ich wieder allein.
Mein Herz raste. Für einen Moment überlegte ich, ob das nur ein absurder Albtraum gewesen war. Aber der saure Gestank, der in der Luft hing und der Becher mit Wasser in meinen Händen verrieten mir, dass ich nicht geträumt hatte.
Immer noch pochte es schmerzhaft hinter meiner Stirn. Hastig nahm ich einen weiteren Schluck und stellte das Trinkgefäß danach zitternd auf einem Tischchen neben der Schlafstätte ab.
Ohne mich weiter umzusehen, rutschte ich vorsichtig tiefer in die Kissen und wieder hatte ich das untrügliche Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ganz ungeachtet meines ebenfalls beängstigenden Gedächtnisverlustes, fühlte es sich so an, als fehlte mir etwas, obwohl ich nicht benennen konnte, was genau ich vermisste. Gleichzeitig legte sich eine bleierne Müdigkeit über mich, sobald mein Kopf das Kissen berührte. Vielleicht war das Ganze doch nur ein schlechter Traum. Einer, aus dem ich bald erwachen würde.
Kapitel 3 - Arden
Der Fremde war also wirklich verdammt fremd hier. Dass er unsere Sprache nicht verstand, war eindeutig. Seine Reaktion gab mir allerdings zu denken. Er hatte begriffen, dass ich nach seinem Namen gefragt hatte, hatte sich jedoch augenscheinlich nicht erinnern können.
Dabei hätte ich gern mehr über ihn erfahren. Vielleicht erinnerte er sich ja wieder, wenn er sich etwas erholt hatte.
„Da bist du ja!“
Berons Ruf riss mich aus meinen Gedanken. Er eilte mir entgegen und wirkte besorgt. Erst streckte er die Arme nach mir aus, aber als er mein beflecktes Hemd sah, ließ er sie wieder sinken und sah mich fragend an. „Geht es dir gut?“
Verlegen zupfte ich an dem nassen Stoff und nickte. „Mit mir ist alles in Ordnung. Das, das ist –“
„Der Kerl hat dich vollgekotzt?“ Angewidert verzog Beron das Gesicht.
Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich, gefolgt von ihm, wieder in Bewegung. „Er konnte ja nichts dafür“, murmelte ich und sah dann zu Beron herüber, der mit etwas Abstand neben mir hertrottete. „Also hat Levi schon mit dir gesprochen?“
„Levi hat es dem ganzen Dorf erzählt, glaube ich. Der war total aufgelöst. Meinte, der Kerl sei ein Geflügelter, der vom Himmel gefallen ist.“
Ich stöhnte genervt. „Du glaubst doch diesen Quatsch nicht, oder?“
Beron schnaufte. „Na ja, Menschen fallen auch nicht einfach vom Himmel.“
„Das ist er auch nicht. Er lag in Verhans altem Ruderboot. Levi spinnt sich da was zusammen. Vor allem, und das sollte Levi auch aufgefallen sein, hat der Fremde keine Flügel.“
„Hätte er welche gehabt, hätte er auch kein Boot gebraucht.“
Wir erreichten unsere Hütte und Beron folgte mir nach drinnen, wo ich mich rasch des dreckigen Hemdes entledigte.
„Und was wolltest du bei ihm? Hast du an Onto gedacht?“ Er lehnte im Türrahmen und verschränkte die Arme, während er mich beobachtete.
Scharf sog ich die Luft ein. Onto hatte ich tatsächlich vergessen. „Ah, nein, verdammt. Daran hab ich nicht mehr gedacht, als wir den Fremden ins Haus der Ältesten gebracht haben. Ich wollte sehen, wie es ihm geht. Herausfinden, wo er herkommt und so was.“
„Mh.“
„Was – mh?“ Irgendwie nervte mich Berons Art gerade. Ja, ich hatte die Bestellung vergessen, aber das Leben des Fremden war eindeutig wichtiger als ein Korb mit Gemüse, oder nicht?
„Das hättest du auch den Ältesten überlassen können. Dann hätten wir jetzt was zu essen.“
Verständnislos starrte ich Beron an. „Aber ich habe ihn gefunden und –“
Er lachte auf. „Und was? Gehört er deshalb dir?“
Ich seufzte frustriert und schüttelte den Kopf. „Was ist dein Problem?“
Einen Augenblick standen wir uns schweigend gegenüber. Beron brach zuerst den Blickkontakt ab und drehte sich von mir weg.
„Was? Lässt du mich jetzt einfach hier stehen?“, fauchte ich wütend.
„Ich muss sehen, ob ich bei Onto noch etwas bekomme. Außerdem stinkt’s hier nach Kotze.“ Und damit ließ er mich allein.
Fassungslos starrte ich ihm hinterher. Wut und Enttäuschung rangen um die Vorherrschaft. Wer von uns beiden setzte hier falsche Prioritäten? Außerdem verfluchte ich Levi. Warum verbreitete er solche unsinnigen Gerüchte über den Fremden? Und Beron ging auch noch darauf ein. Wer wohl noch?
Rasch reinigte ich mich und schlüpfte in saubere Kleidung, bevor ich das Fenster aufriss, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Obwohl mich die Bemerkungen von Beron maßlos ärgerten, wollte ich ihm nicht noch mehr Grund zum Stänkern geben.
Levi und ich hatten den Fremden ins Haus der Ältesten gebracht, sicher würde man sich dort um ihn kümmern, aber irgendwie fühlte ich mich tatsächlich verantwortlich für ihn.
Was, wenn die Ältesten sich genauso verhielten wie Levi und Beron? Wenn sie ebensolche Vorurteile hatten und den Unbekannten fürchteten?
Nachdenklich sah ich durch das offene Fenster. Hinaus aufs Meer, das, wie von meinem Onkel prophezeit, noch aufgewühlter war als heute früh. Wenn sie ihm alle so ablehnend gegenüberstanden, wie würde er sich fühlen?
Mein Zorn war verraucht und hatte einer Frustration Platz gemacht, die mir aufs Gemüt drückte. Ich war überrascht, Beron noch in unserem Wohnbereich anzutreffen. Hatte er hier auf mich gewartet?
Schweigend setzte ich mich ihm gegenüber und nahm nickend einen Becher Tee entgegen. Beron fuhr sich seufzend durch die Haare und brach als Erster das Schweigen.
„Tut mir leid. Ich mache mir einfach Sorgen.“
Ich zog die Stirn kraus. „Sorgen? Worüber?“
Der Blick seiner dunklen Augen bohrte sich eindringlich in meinen. „Na, um dich. Da taucht plötzlich ein Kerl in einem Ruderboot auf und du springst ohne zu zögern ins Wasser. Wer weiß, wo er herkommt und was er hier will?“
Ich drehte den Becher mit meinen Fingerspitzen. „Wahrscheinlich will er einfach nur nach Hause, wo auch immer das ist.“ Versöhnlich schob ich eine Hand über die Tischplatte und Beron legte seine darüber. Warm und schützend. „Er spricht unsere Sprache nicht und ich glaube er hat Gedächtnislücken. Ich meine, wie würdest du dich fühlen, wenn du plötzlich an einem fremden Ort aufwachst, wo niemand dich versteht?“
Beron seufzte. „Wann ist aus dir so ein Wohltäter geworden?“
„Er tut mir einfach leid“, erwiderte ich.
„Dass es nächste Woche wieder nur Fisch und Brot gibt, sollte dir leidtun“, murrte Beron, aber schließlich drückte er sanft meine Hand. „Sei vorsichtig. Kannst du mir wenigstens das versprechen?“
Ich schmunzelte. „Wenn du ihn gesehen hättest, wüsstest du, dass du dir keine Sorgen machen musst.“
Fragend zog Beron eine Augenbraue hoch.
„Er ist ziemlich schmal und bestimmt einen halben Kopf kleiner als ich. Dazu noch geschwächt. Im Zweifel würde er definitiv den Kürzeren ziehen.“
„Man weiß nie.“
Ich überging seinen letzten Ausspruch, trank meinen Becher leer und erhob mich.
Beron sah zu mir auf. „Willst du jetzt sofort wieder zu ihm?“
„Ich werde mal sehen, ob ich Onto doch noch etwas abschwatzen kann“, erwiderte ich versöhnlich. „Und dann sollte ich Onkel Levi und meiner Mutter einen Besuch abstatten, aber ja, danach wollte ich nochmal zu ihm.“
Er nickte, obgleich Begeisterung anders aussah.
Immerhin eine Handvoll Pilze und ein paar Rüben hatte Onto mir noch überlassen, sodass ich heute Abend auf jeden Fall versuchen konnte, Berons Laune mit dem Pilzomelett zu bessern. Auf dem Weg hinunter zum Haus meiner Mutter fielen mir die Blicke der Dorfbewohner auf, die mir neugierig folgten. Innerlich verdrehte ich die Augen. Welche Gerüchte mein Onkel wohl im Dorf verbreitet hatte?
„He, Onkel Arden!“ Mein Mundwinkel zuckte unweigerlich nach oben, als eine Gruppe von Kindern mir entgegenkam, angeführt von niemand Geringerem als meiner Nichte Era. „Stimmt es, was Onkel Levi erzählt? Du hast einen Geflügelten aus dem Wasser gefischt?“
„Hat er spitze Zähne?“
„Wie groß sind seine Flügel?“
„Ist er tot?“
„Sieht er sehr hässlich aus?“
„Können wir ihn mal sehen?“
Die Bande umringte mich, sodass ein Fortkommen unmöglich war. Seufzend wuschelte ich Era durch die wilden Locken, was sie vehement zu verhindern versuchte.
„Jetzt mal ganz langsam. Erstens: Der Fremde hat keine Flügel, also ist er wohl auch kein Volaheli. Zweitens: Nein, er ist nicht tot. Er war nur bewusstlos. Und drittens –“ Ich dachte kurz an das blasse, ebenmäßige Gesicht und das lange dunkle Haar. Ungewohnt sah er aus. Anders als die Menschen hier, aber hässlich … „Nein, hässlich ist er nicht.“
Ein Stöhnen und Raunen ging durch die Kindergruppe. Sie hatten sich wohl eine spannendere Geschichte erhofft, aber sicherlich würde ich nicht noch Öl in das Feuer gießen, das Onkel Levi entfacht hatte.
„Also einfach nur ein Kerl, den du vor dem Ertrinken gerettet hast?“, fragte Era und legte den Kopf schief.
„Ganz genau. Einer, der sicher nur mit dem Boot gekentert ist, der noch etwas Ruhe braucht und den ihr schon noch früh genug zu Gesicht bekommt.“
Damit kämpfte ich mich aus dem Haufen frei, der sich nun enttäuscht zerstreute, und überwand die letzten Schritte bis zum Haus meiner Mutter.
Es überraschte mich kaum, sowohl Onkel Levi als auch meine Schwester Fia in der Küche vorzufinden.
„Ah, da ist ja der tollkühne Held, Retter der Gefallenen“, gluckste Fia und legte ihr Nähzeug beiseite, während Mutter mich sofort in ihre Arme schloss.
Ich schnaubte nur und tätschelte Mutters Rücken, bis sie mich ein Stück von sich wegschob, um mir in die Augen zu sehen. „Levi hat schon alles erzählt.“
Ich warf meinem Onkel über ihre Schulter hinweg einen Blick zu. „Ja, davon hab ich gehört. Das ganze Dorf zerreißt sich das Maul.“
„Es schadet nie, vorsichtig zu sein“, verteidigte sich Levi und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du bist nicht vorsichtig. Du erzählst herum, er sei ein Volaheli.“
„Vom Himmel kommt nichts Gutes.“
„Er lag in einem Boot und hat gar keine Flügel!“ Ich raufte mir genervt die Haare. Unwillig, dieselbe Diskussion noch einmal zu führen, die ich gerade erst mit Beron hinter mir hatte.
Meine Mutter knetete ihre Hände. Es war deutlich, dass sie diese Streitereien unter ihrem Dach nicht begrüßte. Fia hingegen grinste mich breit an. Die Ähnlichkeit zu ihrer wilden Tochter war unübersehbar.
Ächzend erhob Levi sich. „Glaubt mir, es kommt was auf uns zu. Und dieser Fremde ist erst der Anfang. Die Zeichen mehren sich.“
Ich verdrehte die Augen, während Fia sich mühsam das Lachen verkneifen musste.
Wütend drehte Levi sich zu meiner Schwester um. „Noch lachst du, aber ich sage es dir ganz deutlich: Die Natur spielt langsam verrückt. Es ist was im Gange. Das bilde ich mir nicht ein. Es wäre töricht, nicht auf die Zeichen zu vertrauen. Die Stürme, die Missernten. Sie sagen, in Henastead verreckt sogar das Vieh. Denkt nur an die Geschichten. Die Geflügelten bringen die ewige Nacht über uns.“ Danach wandte er sich wieder mir zu. „Schön, du hast ihn vor dem Ertrinken gerettet. Jetzt sieh meinetwegen zu, dass er auf die Beine kommt und Adastead dann so schnell wie möglich verlässt. Ob er vom Himmel kommt, aus dem Meer oder sonst woher, völlig egal. Ich halte sein Erscheinen für ein denkbar schlechtes Omen.“
Eine Antwort wartete er gar nicht ab. Stattdessen stapfte er missmutig durch die Tür hinaus.
„Wo willst du denn hin, Onkel Levi?“, rief Fia ihm nach.
„Wahrscheinlich nur noch weitere Gerüchte über den nahenden Weltuntergang verbreiten“, grummelte ich als Antwort, da sie von Levi keine mehr bekam.
Verärgert schnalzte meine Mutter mit der Zunge und warf uns beiden tadelnde Blicke zu. „Ihr seid unmöglich.“
„Keine Sorge, zum Essen ist er sicher wieder da.“ Fia grinste und zwinkerte mir hinter dem Rücken unserer Mutter zu. Diese hatte sich bereits kopfschüttelnd ihrem Gemüse zugewandt.
„Bitte sagt mir, dass ihr diesen Quatsch nicht glaubt“, flehte ich meine übrige Familie an.
„Ich finde die ganze Sache schon recht seltsam. Es hat seine Gründe, dass wir uns von den Volaheli fernhalten“, gab Mutter zu. „Allerdings war Levi schon immer sehr empfänglich für die Geschichten, die unsere Großeltern uns damals erzählt haben.“
„Aber das sind doch nur Kindermärchen und der Fremde kann kein Geflügelter sein. Arden sagte doch schon, dass er keine Flügel hat.“ Fia nahm ihr Nähzeug erneut zur Hand und schlug die Beine übereinander. Ich ließ mich derweil auf Levis Platz sinken.
„Du hättest ihm auch geholfen, nicht wahr?“, fragte ich meine Schwester und wieder lächelte sie verschmitzt. „Na sicher, besonders wenn er hübsch ist.“
„Lass das Darragh nicht hören.“
„Warum? Ist er hübsch? Vielleicht sollte ich mich davon selbst überzeugen.“ Fia lachte und ich schüttelte schmunzelnd den Kopf.
„Kümmere dich lieber mal um Era. Die treibt sich draußen in den Straßen rum und spielt die Anführerin dieser Kinderbande.“
„Das muss so sein. Die Führungsqualitäten hat sie sicher von ihrer Mutter.“
„Klar, Darragh hat seine ja noch.“
Fia bewarf mich als Antwort mit einer Rolle Garn, der ich lachend auswich.
Kapitel 4 - Shivan
Ich spuckte Blut und ein roter Schleier nahm mir die Sicht. Zumindest bis mein Kopf brutal an den Haaren nach oben gerissen wurde und zwei bernsteinfarbene Augen vor mir auftauchten. „Du bist ein Nichts, Shivan! Spätestens jetzt.“
Obwohl mein ganzer Körper schmerzte, war das doch kaum der Rede wert im Vergleich zu dem Brennen, das sich durch meinen Rücken und meine Arme fraß wie ein unaufhaltsames Feuer. Ich hörte meine eigenen Schreie in meinen Ohren gellen und war beinahe froh, als der nächste Schlag mich in Dunkelheit und Stille hüllte.
Eine Berührung ließ mich aufschrecken und nach Luft schnappen. Die Gestalten an meinem Lager waren zurückgewichen und beobachteten mich argwöhnisch. Die Erinnerung kam zurück. Richtig, ich war an diesem seltsamen Ort gelandet. Aufgewacht aus einem furchtbaren Traum, der immer noch ein stechendes Echo durch meinen Körper jagte. Matt ließ ich mich zurücksinken, bemüht, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen und das unverständliche Gemurmel neben mir zu ignorieren.
Ich wusste instinktiv, dass diese Bilder mehr als nur ein Traum waren. Angestrengt kämpfte ich den Würgereiz nieder, der sich ein weiteres Mal meldete. Vielleicht war es doch besser, zu vergessen. Vielleicht sollte ich froh sein, hier an diesem seltsamen Ort gestrandet zu sein. Zumindest hatte mir hier niemand Gewalt angetan. Bis jetzt …
Ein Zittern erfasste meinen Körper und je mehr ich versuchte, dagegen anzugehen, um so schlimmer schüttelte es mich.
Das Gemurmel neben mir wurde lauter. Ich war nicht sicher, ob mich einer von ihnen ansprach oder ob sie lediglich untereinander diskutierten. Aber keiner näherte sich mir und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Das Klopfen nahm ich durch das Beben meiner selbst kaum wahr. Doch eine seltsame Erleichterung erfasste mich, als ich denjenigen erkannte, der sich durch die Tür schob.
Unsere Blicke trafen sich und kurz darauf sprach Arden die Menschen an. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er wütend zu sein. Grob nahm er ihnen ein größeres Stück Stoff aus der Hand, während sie wild gestikulierten. Doch dann wichen sie zurück und drängten sich schlussendlich sogar zur Tür hinaus, die Arden mit Nachdruck schloss, bevor er sich wieder zu mir umdrehte.
Seine Gesichtszüge wurden sofort weicher und nach einigen raschen Schritten setzte er sich neben mich auf das Lager. Sein Mund öffnete sich, aber diesmal kamen keine seltsam anmutenden Worte heraus. Sein Blick fiel auf meine Finger, die sich verkrampft in das Laken gruben. Zaghaft legte er seine Hand auf meine und blickte mich fragend an, als würde er um Erlaubnis bitten. Da ich nichts sagte und mich auch nicht regte, nahm er das wohl als Zustimmung auf. Seine Hand fühlte sich rau an, aber warm und trocken. Im Gegensatz zu meiner, die vermutlich eher kalt und verschwitzt war. Wieder murmelte er in einem beruhigenden Singsang vor sich hin und während sein Daumen sanft über meinen Handrücken strich, ließ das Zittern langsam nach.
Ich schämte mich meiner Schwäche und es war ein seltsam ungewohntes Gefühl, jemandem, noch dazu einer fremden Person, in diesem Moment so nah zu sein. Aber als der Krampf nachließ und ich glaubte, meinen Kiefer wieder unter Kontrolle zu haben, fühlte ich mich bemüßigt, etwas zu sagen.
„Ar-den.“ Es war das Einzige, was mir einfiel. Und doch erhellte es sein Gesicht. Sein Mundwinkel zuckte nach oben und seine Augen funkelten. „Da!“
Ich entzog ihm meine Hand und legte sie stattdessen auf meine Brust. „Shivan.“
Seine Augen weiteten sich in Erstaunen. „Te wen? Te hana e Sifan?“
Ich nickte vorsichtig. Die Worte klangen ähnlich zu dem, was er früher am Tag zu mir gesagt hatte.
„Sifan.“ Er wiederholte meinen Namen und ich musste schmunzeln, weil er sowohl das Sh als auch das V zu hart aussprach.
„Shivan“, korrigierte ich und Arden versuchte es gleich nochmal. Diesmal klang es weicher, aber seine Sprache wirkte auf mich ohnehin härter als die meine.
Wieder nickte ich und er schien ernsthaft erfreut über die Bestätigung, obwohl wir in unseren Kommunikationsversuchen nicht wirklich weitergekommen waren. Einen Augenblick saßen wir unschlüssig voreinander und sein Ausdruck wirkte wieder ernster.
„Te wen-te baha?“
Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Verstand nicht, was er sagte. Nachdenklich presste er die Lippen aufeinander und sah sich im Raum um, als könnte er hier Antworten finden, bis er erneut bei mir angekommen war. Dann schien ihm der Stoff wieder einzufallen, den er den anderen soeben abgenommen hatte. Er hielt es hoch und breitete es vor mir aus, damit ich erkannte, dass es ein sauberes Hemd und eine frische Hose waren. Er zog die Brauen fragend nach oben und streckte es mir auffordernd entgegen.
Ich nickte lediglich und nahm das Leinen an. Der Schnitt des Oberteiles glich dem seines Hemdes, sodass ich erst umständlich meine Hände durch die Ärmel schob und dann den Stoff über den Kopf zog. Irgendwie ein seltsames Gefühl. Ungewohnt. Mindestens genauso kompliziert wechselte ich unter der Decke beschämt die Beinkleider.
„Gen-te taho?“ Sein Blick wanderte an mir nach oben und er deutete auf die Wunde an meiner Schläfe. Unwillkürlich legte ich die Fingerspitzen auf die Beule. Fragte er nach der Verletzung?
„Taho?“ Er verzog das Gesicht und krümmte sich, als täte ihm etwas weh.
„Ta-ho“, wiederholte ich langsam und wieder deutete er auf meine Stirn.
Vielleicht wollte er wissen, ob ich Schmerzen hatte. Ich nickte, unsicher, ob ich ihn richtig verstand.
Er presste die Lippen aufeinander und stand auf. Ich beobachtete, wie er zu einem Schränkchen an der linken Wand trat und dessen Inhalt durchsuchte. Nach einer Weile kam er zurück und hielt mir auffordernd ein paar Kräuter unter die Nase.
Misstrauisch blickte ich erst auf das Grünzeug, dann in seine dunklen Augen.
„Jan!“ Er deutete gestisch an, dass ich mir die Blätter in den Mund stecken sollte. „Io jan-te. Ion e taho baha.“
Ich war mir nicht sicher, ob es ratsam war, irgendwelche Kräuter zu essen, deren Wirkung ich nicht kannte.
Arden seufzte, aber im nächsten Moment lächelte er verschmitzt und hob die Hand mit dem Grünzeug ein Stück in die Höhe. „Ba, jan-ma io o ion jan-te.“
Verständnislos zog ich eine Augenbraue hoch, aber Arden zupfte ein paar der Kräuter aus dem Büschel. „Jan-ma.“
Dann steckte er sich selbst die Blätter in den Mund, kaute und schluckte sie hinunter. Danach hielt er mir den Rest hin. „Io jan-te.“
Zaghaft nahm ich die übrigen Kräuter an. Dem Geruch nach zu urteilen, waren es zumindest zum Teil dieselben, die er mir schon mit dem Wasser gereicht hatte.
Arden nickte mir auffordernd zu und seufzend überwand ich mich. Vielleicht halfen sie ja tatsächlich gegen die Kopfschmerzen.
Zufrieden strahlte er mich an, nachdem ich das Grünzeug hinuntergeschluckt hatte. Verlegen starrte ich auf meine Hände. Ich hatte so viele Fragen und wusste nicht, wie ich sie stellen sollte. Meine Erinnerungen kamen nur bruchstückhaft zu mir zurück und wenn ich an den Traum dachte, war ich mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt mehr erfahren wollte. Aber ich hätte gern gewusst, wo ich mich befand und warum ich mich so seltsam fühlte.
„Sivan?“ Der Anfangslaut war noch immer zu scharf ausgesprochen, trotzdem sah ich auf. Arden trat einen Schritt zurück. „Kan-te lif?“ Er winkte mich zu sich. Was hatte er vor?
„Lif.“ Er ließ zwei Finger durch die Luft wandern und stapfte dann selbst eine Runde im Kreis, bis er wieder vor mir stand. „Kan-te lif?“
Ob ich laufen konnte? Meine Lider flatterten, als ich glaubte, seine Frage zu verstehen. Ich war mir nicht sicher. Also grundsätzlich wusste ich, dass ich dazu imstande war. Ich konnte allerdings nicht einschätzen, ob mich meine Beine in meiner derzeitigen Lage tragen würden und ich wollte nicht noch schwächer vor ihm erscheinen, als ich das ohnehin schon tat.
„Zan!“ Wieder winkte er mir zu.
„Ich weiß nicht“, murmelte ich, worauf er nähertrat und meine Hände nahm. Panisch riss ich die Augen auf und entwand mich seinem Griff. „Nein!“
Erschrocken trat er wieder einen Schritt zurück. Kurz fürchtete ich, dass er wegen meiner Zurückweisung sauer werden könnte, aber überrascht stellte ich fest, dass er eher betroffen aussah, beschwichtigend die Hände hob und wieder etwas in diesem beruhigenden Tonfall murmelte.
„Entschuldige“, gab ich leise zurück. Ich wusste nicht einmal, warum ich so heftig auf seine Berührung reagiert hatte.
Zaghaft bot er mir eine Hand an. „Ivo.“
Mein Blick wanderte von dort in sein offenherziges Gesicht und wieder zurück. Diesmal wartete er ab. Regte sich nicht und hielt Abstand zu mir. Seine Hand war lediglich ein Angebot.
Langsam schob ich meine Beine über die Kante des Lagers. „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, murmelte ich wieder, aber stemmte mich dennoch vorsichtig hoch. Arden behielt seinen Abstand zu mir bei, doch seine Hand blieb in Griffweite.
Meine Beine zitterten, aber sie trugen mich. Ich fühlte mich unerwartet leicht, wieder diese Ahnung, dass irgendetwas fehlte. Langsam taumelte ich vorwärts. Arden blieb an meiner Seite, ohne mir noch einmal zu nahe zu kommen. Ob ich es bis zum Fenster an der gegenüberliegenden Seite schaffen würde? Ein dickes Polster lag auf der Bank vor der Scheibe, lud dazu ein, sich dort hinzusetzen. Zu gerne würde ich den Himmel sehen. Die Enge dieses Raumes war furchtbar erdrückend.
Entschlossen setzte ich einen Fuß vor den anderen und triumphierend nahm ich wahr, dass meine Kopfschmerzen tatsächlich nachgelassen hatten. Nur ein paar wenige Schritte, vorbei an dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes, dann würde ich das Fenster erreichen. Eine Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel sah, ließ mich jedoch innehalten. Erleichtert stellte ich fest, dass es sich lediglich um einen Spiegel an der rechten Wand handelte, der das Bild von Arden und mir zurückwarf. Ich presste die Lippen aufeinander und wollte meine langsame Wanderung fortsetzen, aber aus einem Impuls heraus wandte ich mich ein weiteres Mal unserem Spiegelbild zu.
Mein Blick wanderte an meinem Ebenbild auf und ab. Es wirkte vertraut, doch mein Gefühl sagte mir noch immer, dass etwas nicht stimmte.
„Sivan?“ Ardens Stimme drang kaum durch das Rauschen, das in meinen Ohren unaufhörlich lauter wurde. Du bist ein Nichts, Shivan! Spätestens jetzt.
Ich wusste nicht, was es war, das mir den Boden unter den Füßen wegriss: Der Schmerz, der erneut von meinen Schulterblättern ausgehend durch Rücken und Arme schoss, oder die Erkenntnis, was mir fehlte: Meine Flügel.
Kapitel 5 - Arden
Sein Zusammenbruch kam so plötzlich, dass ich meine Arme nicht schnell genug ausstrecken konnte, um ihn aufzufangen. Andererseits war ich mir nicht sicher, ob er überhaupt von mir berührt werden wollte.
Hilflos sah ich zu, wie er nach dem Blick in den Spiegel auf den Holzdielen in sich zusammensackte. Die Arme um sich geschlungen, bohrten sich seine Finger mit einer solchen Kraft in seine Schultern, dass ich befürchtete, er würde sich selbst verletzen.
„Sivan“, murmelte ich unsicher, ließ mich ebenfalls auf die Knie sinken und rutschte näher an ihn heran. Im Geiste versuchte ich den Grund für seinen Zusammenbruch zu verstehen. Hatte er Schmerzen? Hatte der Blick in den Spiegel etwas damit zu tun? Oder waren es doch die Heilkräuter, die er nicht vertrug?
Sein Körper bebte. Schlimmer noch als vorhin. Die Laute, die er von sich gab, jagten mir einen Schauer über den Rücken. Er schrie nicht, aber das erstickte Schluchzen trieb mir beinahe selbst die Tränen in die Augen und den Lärm musste man bis draußen gehört haben.
„Gibt es hier ein Problem?“ Einer der Ältesten schob neugierig den Kopf durch die Tür.
„Nein, ich kümmere mich um ihn“, zischte ich zurück.
„Sieht aber nicht so aus als –“
„Ich habe alles im Griff!“
Dieses abergläubige Pack hatte Sivan eben schon nicht helfen wollen, jetzt brauchten sie ihre schaulustigen Nasen auch nicht ins Zimmer zu stecken. Mit einem verächtlichen Schnauben wurde die Tür zugezogen und ich wandte mich wieder dem wimmernden Mann neben mir zu.
„Sivan?“ Ich wusste, es war nur ein kläglicher Versuch. Doch sein Name war das einzige Wort, von dem ich sicher war, dass er es verstand. „Was ist denn los? Hast du noch Schmerzen? Lass mich dir helfen.“
Als ich mich näher zu ihm beugte, stellte ich überrascht fest, dass er wieder in seiner Sprache murmelte. Wohl mehr zu sich selbst, trotzdem hätte ich gern gewusst, was er sagte. Das Beben ging langsam über in ein Wippen und Schaukeln und sein verkrampfter Körper wirkte immer zerbrechlicher auf mich. Wieder fiel mein Blick auf die langen, schlanken Finger, die sich sicherlich schmerzhaft in seine Schulterblätter gruben.
Auch auf die Gefahr hin, dass er mich erneut so vehement ablehnen würde, legte ich vorsichtig meine Hände auf seine.
„Sivan? Du tust dir weh. Komm, lass los“, hauchte ich leise, hoffte, dass er zumindest meinen Tonfall verstand, wenn schon nicht die Worte. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich spürte, wie sein Körper sich noch weiter anspannte, und ich rechnete jeden Moment damit, dass er mich von sich stoßen würde. Doch das tat er nicht. Ich wagte mich langsam vor und versuchte sanft, seine verkrampften Finger zu lösen. „Du verletzt dich nur. Bitte, gib mir deine Hände.“
Er hatte die Schultern hochgezogen und seinen Kopf so tief dazwischen vergraben, dass ich nicht mal sein Gesicht sehen konnte, aber tatsächlich ließ der Druck seiner Finger etwas nach, obwohl er sie nicht gänzlich löste.
„Ich würde dir wirklich gern helfen, weißt du?“ Wenn ich nur gewusst hätte, wie. „Ich wünschte, du könntest mir sagen, was dir fehlt.“ Ich seufzte und warf einen kurzen Blick zur geschlossenen Tür. Ob die anderen davor hockten und lauschten, nur um sich nachher darüber das Maul zu zerreißen?
Sivans Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit zurück. Wieder diese fremden Worte aus seinem Mund, gedämpft durch seine zusammengesunkene Haltung. Ich wusste nicht, ob sie mir galten oder ob er mit sich selbst sprach. „Ist schon gut, Sivan.“ Sanft drückte ich seine Hände. „Ich bin bei dir.“
Plötzlich lachte er freudlos auf, was mich zusammenzucken ließ. Er hob den Kopf. Trotz der roten Augenränder und der vom Weinen geschwollenen Lider, hatte sein Blick etwas Eindringliches. Er sah mich direkt an und dieses Mal war ich mir sicher, dass er mit mir sprach, auch wenn ich kein Wort von dem verstand, was er über die Lippen brachte. Einen Moment starrten wir einander an, bis sein Mundwinkel in einem kläglichen Versuch eines Lächelns nach oben zuckte und er kopfschüttelnd den Blickkontakt unterbrach. Er entzog mir seine Hände und ich rückte ein Stück von ihm ab.
„Ich, ich weiß nicht, was du gesagt hast. Was brauchst du? Wie kann ich dir helfen?“
Diese Ungewissheit nagte an mir. Seine seltsamen Zusammenbrüche würden nur die Vorurteile und Gerüchte nähren. Aber selbst wenn ich an Levis Geschichten hätte glauben wollen, sah der Mann, der hier vor mir saß, kein bisschen gefährlich oder aggressiv aus. Er war verzweifelt und wirkte gebrochen.
„Sivan?“
Wieder lachte er verbittert und schüttelte den Kopf. Worte in seiner Sprache flossen über seine Lippen, sanft und weich wie ein kleiner Bach, obwohl ich befürchtete, dass er nichts Schönes zu berichten hatte.
„Möchtest du etwas essen oder trinken? Hast du Schmerzen?“ Es fühlte sich sinnlos an und war so frustrierend, dass er mich nicht verstand. Trotzdem redete ich weiter, möglicherweise beruhigte es wenigstens einen von uns.
„Ich hole dir etwas Wasser. Und – was isst du wohl lieber? Etwas Obst? Oder lieber Brot, vielleicht mit Käse?“
Hastig rappelte ich mich auf und füllte am Tisch einen Becher. Als ich mich wieder zu Sivan umdrehte, stand er mitten im Raum. Selbst auf die zwei Schritt Entfernung hielt mich der Blick seiner ungewöhnlich hellen Augen gefangen. Er wirkte plötzlich so entschlossen, dass ich mich nur mühsam räuspern konnte. Worte wollten mir keine mehr über die Lippen kommen.
Stattdessen sprach er wieder zu mir. Es klang kalt und verbittert.
Verständnislos starrte ich ihn an, aber Sivan drehte mir wortlos den Rücken zu. Überrascht sah ich, wie er den Saum des Hemdes griff und sich das eben erst übergestreifte Stück Stoff erneut über den Kopf zog.
„Sivan, was –“ Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken. Der Becher rutschte mir aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden. Auf der alabasterfarbenen Haut prangten knapp unter den Schulterblättern zwei wulstige, rotschimmernde Narben.
Er kann kein Volaheli sein. Er hat schließlich keine Flügel. Das waren meine Worte gewesen und plötzlich nagten Zweifel eiskalt in meiner Brust.
Er ließ das Hemd achtlos zu Boden fallen und breitete seine Arme aus. Das Gesicht wandte er mir nur so weit zu, dass er meinen geschockten Ausdruck wahrnehmen konnte, und ein bitteres Lächeln zerrte an seinen Lippen, während weitere mir unbekannte Worte kalt durch die Luft schnitten.
Was wenn Levi doch recht hatte? Mein Herz raste und unsicher sah ich wieder zur Tür. Wie würden die Leute reagieren, wenn sie Sivans Narben sahen?
Aus einem inneren Impuls heraus stolperte ich auf ihn zu. Er beobachtete mich genau, rührte sich allerdings kein Stück. Nicht mal, als ich nach dem Hemd griff, das er fallengelassen hatte.
„Du musst das wieder anziehen. Schnell!“
Verständnislos sah er auf das Oberteil und anschließend zu mir. Das seltsame Lächeln hatte sich längst verloren und nur langsam ließ er die Arme sinken.
„Bitte Sivan. Die anderen dürfen das nicht sehen.“ Ich flüsterte nur noch und deutete hektisch zur Tür. „Wenn jemand diese Narben sieht, wird er denken, dass du ein Geflügelter bist.“
Vielleicht war er wirklich einer.
Energisch versuchte ich, diesen Gedanken zu verbannen.
Die Schritte, die ich von draußen hörte, zwangen mich, zu handeln. Kurzentschlossen packte ich Sivan an der Schulter und drehte ihn herum, sodass er nicht mehr mit dem Rücken zur Tür stand. Dann zog ich ihm das Hemd wieder über den Kopf. Wahrscheinlich war er schlicht zu überrascht, um sich zu wehren. Stattdessen starrte er mich mit diesen großen hellblauen Augen an.
„Jetzt mach schon, Sivan, hilf mit, verdammt!“, zischte ich und zu meiner Überraschung streckte er nun wirklich seine Hände durch die Ärmel, gerade als die Tür geöffnet wurde.
„Arden?“
„Beron? Was machst du hier?“ Klang meine Stimme angespannt?
Er schnaubte verächtlich und sah an mir vorbei auf Sivan, der seinen Blick stumm erwiderte. „Hab dich gesucht. Warst schließlich ziemlich lange weg.“
Wahrscheinlicher war, dass Beron einen Vorwand brauchte, um sich den Fremden anzusehen. Sofort ärgerte ich mich über diesen Gedanken. Bloß, weil wir gestritten hatten, sollte ich nicht direkt das Schlechteste annehmen.
„Ich, ja, ich habe Sivan noch frische Kleider gebracht und wollte jetzt gleich nach Hause kommen.“
Beron verschränkte die Arme vor der breiten Brust. „Ach, hat er schon einen Namen? Ich denke er erinnert sich an nichts und versteht kein Wort von dem was wir hier reden.“
„Sein Name ist ihm wohl wieder eingefallen“, murmelte ich und sah kurz zu Sivan, der noch immer unbewegt und mit ausdruckslosem Gesicht hinter mir stand. Den drei Weißen sei Dank mit einem Hemd am Leib, das seine seltsamen Narben verdeckte. Ob er verstanden hatte, was ich von ihm wollte? Er durfte auf keinen Fall einem der Ältesten seinen Rücken zeigen.
„Also, was ist? Gehen wir jetzt?“
Ich drehte mich wieder zu Beron herum und mein Blick streifte den Becher, der nach wie vor auf dem Boden lag. „Ja, natürlich. Ich, lass mich nur noch schnell das hier beseitigen.“
Beron rollte genervt die Augen. „Na schön, ich warte draußen. Viel zu stickig hier drin.“
Als er die Tür schloss, musste ich mich zusammenreißen, um nicht erleichtert aufzuatmen. Trotzdem kümmerte ich mich um das verschüttete Wasser und versuchte dabei, meine Gedanken zu sortieren.
Wer war Sivan? Was war er? Hatte Levi recht? Aber was war dann mit seinen Flügeln passiert? Und wenn das einfach nur ein blöder Zufall war? Oder wenn jemand ihm diese Wunden zugefügt hatte, damit man glauben sollte, er wäre ein Geflügelter? Mein Kopf dröhnte, während ich notdürftig das Wasser aufwischte.
Wie sollte ich verhindern, dass früher oder später jemand Wind von der Sache bekam? Und war es überhaupt richtig, dass ich das geheim hielt?
„Ar-den?“ Unwillkürlich zuckte mein Mundwinkel nach oben, als er meinen Namen nannte. Ich drehte mich zu ihm um. Noch immer stand er am selben Fleck und wirkte in dem zu weiten Hemd wieder so verloren wie am Anfang.
„Ja, Sivan?“
Ächzend rappelte ich mich auf und stellte den Becher zurück auf den Tisch. Da er schwieg, trat ich einen Schritt auf ihn zu. „Hör zu, ich muss jetzt gehen.“ Ich sah ihm eindringlich in die Augen und tippte sacht mit einem Finger auf seine Schulter, während ich den Kopf schüttelte. „Zeig das niemandem! Bitte! Das musst du verstehen.“
Leider würde mein Wunschdenken im Zweifel nicht reichen. Unsere Sprachbarriere war so hoch, wie das Meer tief war. Er hatte keine Ahnung, was ich sagte, und dennoch hoffte ich, dass er irgendwie erkannte, was ich ihm mitteilen wollte.
„Das ist wirklich wichtig!“ Wahrscheinlich lebenswichtig.
Ich seufzte, weil er mich weiterhin nur stumm ansah. Ich konnte in seinem Blick nicht ablesen, ob er verstanden hatte. Aber wenn ich noch länger bliebe, würde Beron gleich wieder im Raum stehen und das wollte ich vermeiden.
Vage deutete ich zum Tisch, auf dem zumindest der halbvolle Krug mit Wasser und ein paar leichte Speisen standen. „Du solltest etwas essen und trinken. Sicher fühlst du dich dann auch besser. Versprich mir das, ja?“
Fast musste ich über mich selbst lachen, aber stattdessen bemühte ich mich, Sivan ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Zumindest wirkte er nicht mehr so teilnahmslos, eher nachdenklich, als er meinen Blick erwiderte.
„Ich komme morgen wieder, in Ordnung? Ruh dich aus.“
Natürlich bekam ich keine Antwort.
Kapitel 6 - Shivan
Ich wusste nicht recht, ob ich froh darüber war, dass Arden mich allein ließ oder nicht. Als er die Tür von außen zuzog, blieb ich noch einen Moment unschlüssig in der Mitte des kleinen Raumes stehen und fühlte mich tatsächlich einsam.
Arden verwirrte mich. Er war ein Wanderer, ein Livkanev. Sie alle waren Wanderer, das wusste ich jetzt. Noch immer konnte ich mich nicht lückenlos an alles erinnern, was geschehen war, bevor ich hier aufgewacht war, aber dass unsere Völker seit langem verfeindet waren, war ein ungeschriebenes Gesetz.
Was ging also in ihm vor? Hatte er es immer noch nicht verstanden? Oder war es ihm egal?
Den Blick in den Spiegel vermeidend, schleppte ich mich die wenigen Schritte hinüber zum Fenster. Wenigstens den Himmel sehen, obwohl auch das schmerzen würde. Seufzend ließ ich mich auf der gepolsterten Sitzfläche direkt unter der klaren Scheibe nieder. Es dämmerte bereits, aber das machte mir nichts aus. Ich zog die Beine an und schlang meine Arme darum, schob die Hände in die viel zu weiten Ärmel, obwohl das nur ein geringer Ersatz dafür war, was mir fehlte. Seit ich das groteske Bild von mir im Spiegel gesehen und verstanden hatte, brannte das Feuer bis auf meine Seele und erneut wünschte ich mir, wieder zu vergessen, was Kysan mir angetan hatte.
Ob sie noch in der Nähe waren und mich beobachteten? Wollten sie sich an meinem Leid ergötzen und zusehen, wie ich mein elendes Dasein fristete? Oder hatten sie gehofft, die Livkanev würden mich sofort töten?
Die Wanderer. Meine Gedanken schweiften wieder ab zu Arden. Er war anders. Er war freundlich zu mir gewesen, bevor er wusste, was ich war.
Du würdest mich nicht berühren, wenn du wüsstest, was ich bin. Er hatte meine Worte nicht verstanden. Natürlich nicht.
Und dann?
Die Verzweiflung hatte mich dazu verleitet, ihm zu präsentieren, dass ich nicht zu seinem Volk gehörte, obwohl das selbst ohne Flügel eindeutig war. Sein Gesichtsausdruck hatte Bände gesprochen und ich darauf gewettet, dass er die anderen Wanderer rief. Dann hätten sie zu Ende gebracht, womit Kysan sich nicht die Hände hatte schmutzig machen wollen.
Der Anblick einer Möwe, die sich vom Wind nach oben treiben ließ, stach schmerzhaft in meiner Brust und ich legte die Stirn auf den Knien ab.
Arden hatte es nicht getan. Er hatte niemanden gerufen. Stattdessen hatte er mich gezwungen, die Narben zu verdecken, und sich schützend vor mich gestellt, als ein anderer seiner Sippe hereingestürmt kam. Warum?
Wollte er nicht glauben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte? Oder hielt er mich nicht für eine Bedrohung? Was war schon ein Volaheli ohne Flügel?
Du bist ein Nichts, Shivan! Spätestens jetzt.
Wahrscheinlich hatte sogar Arden das erkannt. Vielleicht sollte ich es einfach selbst zu Ende bringen? Meine Schläfe pochte wieder und ich sehnte mich nach diesen Kräutern.