Verlorene Brüder - Saskia Diepold - E-Book

Verlorene Brüder E-Book

Saskia Diepold

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Beschreibung

Nach den aufreibenden Ereignissen des letzten Jahres bleibt Antaris und Tesfaye kaum Zeit zur Erholung, denn neben den neugewonnenen Aufgaben zwingt das Begleichen einer alten Schuld die Männer zu einer gefährlichen Reise. Dabei treffen sie auf die Stiefbrüder Troye und Xandier, die überstürzt nach Lathyrien fliehen mussten, weil sie ein Geheimnis verbindet, das sie in ihrer Heimat Hiskalje das Leben kosten kann. Als in Lathyrien vermehrt blutrünstige Dämonen auftauchen, bleibt es fraglich, ob die Brüder hier wirklich sicher sind ...

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Seitenzahl: 707

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Das Erwachen der Götter

Verlorene Brüder

Band 2

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2023

http://www.deadsoft.de

© the authors

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

Marc Andreu – stock.adobe.com

LaFifa – stock.adobe.com

© rufous – stock.adobe.com KI

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-624-1

ISBN 978-3-96089-625-8 (ebook)

Inhalt

Nach den aufreibenden Ereignissen des letzten Jahres bleibt Antaris und Tesfaye kaum Zeit zur Erholung, denn neben den neugewonnenen Aufgaben zwingt das Begleichen einer alten Schuld die Männer zu einer gefährlichen Reise. Dabei treffen sie auf die Stiefbrüder Troye und Xandier, die überstürzt nach Lathyrien fliehen mussten, weil sie ein Geheimnis verbindet, das sie in ihrer Heimat Hiskalje das Leben kosten kann.

1.

Tesfaye 

Die Nacht war sternenklar und, obwohl der Herbst erst begann, eisigkalt. Einzelne Blätter wehten in einer sachten Brise über die Ebene, raschelten in ihrem Tanz mit Caeli, der Göttin des Windes. Wir aber bewegten uns lautlos vorwärts, nutzten den klammen Nebel, um uns vor unliebsamen Blicken zu verbergen.

Der geheime Gang ins Innere des Schlosses war schwer zu finden, denn nachdem er vor über zwanzig Jahren in Vergessenheit geraten war, hatte die Natur den von Menschenhand geschaffenen Weg wieder zurückerobert. Nur mit Mühe gelang es unserer kleinen Gruppe, sich in den schmalen Gang zu quetschen, in dem es nach Moder, Unrat und abgestandener Luft stank.

Lediglich ein sacht brennender Holzspan spendete spärliches Licht und dennoch wurden wir nicht langsamer. Festen Schrittes gingen wir voran, überwanden die undurchdringliche Festungsmauer, indem wir unter ihr hindurchschlüpften, fernab der Bogenschützen und ihrer todbringenden Pfeile.

Der Weg unterhalb der Erde zog sich elend lange hin, während die Luft langsam dünner wurde und uns das Atmen schwerer fiel. Endlich sahen wir den schwachen Lichtschein am Ende des Tunnels, der uns Hoffnung gab. Mit gerümpften Nasen kletterten wir aus dem Loch im Boden und fanden uns an einem Abort wieder, dem vermutlich am wenigsten bewachten Flecken des gesamten Palastes.

Aber weder ließen wir uns von dem Gestank ablenken noch von der nun drohenden Gefahr abschrecken. Wir hatten ein Schloss zurückzuerobern –MEIN Schloss und niemand konnte uns mehr aufhalten.

Sicherlich war es ein schwieriges Unterfangen, doch für unsere ungewöhnliche Verbindung nicht unmöglich. Denn während die besten dalgarischen Krieger sich vor dem Bollwerk versteckt in Stellung gebracht hatten, stahl sich eine Handvoll Assassinen unter meiner Leitung ins Innere, um die Führung der letzten aufsässigen Wächter zu entmachten. Nichts tötete eine sich windende Schlange effektiver, als ihr den Kopf abzuschlagen.

Von innen wären die Tore schnell geöffnet und nach dem verabredeten Zeichen würden die Krieger laut brüllend dem Rest der Verräter den Garaus machen. Zuerst allerdings galt es, die Anführer zu finden und sie zur Strecke zu bringen.

So schlichen wir geräuschlos die Gänge entlang, verbargen uns in den Schatten und räumten umherstreifende Wachen aus dem Weg, ohne dass diese auch nur einen Laut von sich gaben. Unbehelligt gelangten wir in das ehemalige Audienzzimmer, welches durch Fackeln an den Wänden hell erleuchtet war. Rasch kletterten einige von uns zu den Dachbalken empor, andere versteckten sich hinter dichten Vorhängen.

Kurz darauf betrat der ehemalige erste Offizier der Lichtwächter den Raum, gefolgt von vier weiteren hohen Kriegern der Gilde und zwei Fürsten der angrenzenden Provinzen. Damit wurde uns zumindest klar, warum die abtrünnigen Wächter das Schloss so lange hatten halten können. Anstatt die Verräter auszuliefern, hatten die Adligen sie gedeckt.

Als weilte Ignis, der Gott des Feuers, an unserer Seite, wurden die lodernden Flammen der Fackeln gedämpft, sodass wir mit den Schatten verschmolzen und dem Gespräch lauschen konnten.

„Nein, das ist unmöglich!“, begehrte der erste Fürst auf. „Wir können Euch nicht weiter unterstützen. Ihr müsst Euer Lager hier abbrechen und fliehen. Der Hohekönig sammelt gerade seine Kräfte und ist auf dem Weg hierher. Und nach allem, was man sich über ihn erzählt, ist er wenig geduldig.“

Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, denn zumindest damit hatte er recht.

„Dieser selbsternannte Hohekönig ist ein räudiger Köter, aufgewachsen in der Gosse, mehr nicht. Noch glaubt er, ihr würdet das Schloss hier verwalten und ihn mit offenen Armen empfangen – was ihr auch tun werdet.“

Jetzt schauten die Fürsten den Offizier verwirrt an, ehe sich der zweite Adlige zu Wort meldete. „Wir sollen ihm Tür und Tor öffnen? Freiwillig?“ Dann, keinen Herzschlag später, spiegelte sich Erkenntnis in seinem Gesicht. „Ein Hinterhalt!“

„Aber …“, mischte sich der erste erneut ein. „… del Takish wird mit einer halben Armee hier auftauchen. Und wir sollen Eurer Meinung nach was machen? Ihn zum Tee einladen?“

Ungesehen hatte ich mich zur Tür geschoben und lehnte nun mit verschränkten Armen an dieser, als ich mich bemerkbar machte.

„Stimmt. Das klingt ziemlich abstrus, wo doch jeder weiß, dass ich Wein bevorzuge. Besonders den aus dem Keller meiner Eltern, in diesem Schloss, MEINEM Schloss!“

Während die Fürsten mich noch ungläubig und mit weit aufgerissenen Mäulern angafften, zogen die Wächter längst ihre Waffen. Allerdings völlig umsonst. Metallene Messer meiner Begleiter flogen durch den Raum und verbissen sich zielsicher in Hälse und Stirn – nur einer von ihnen blieb davon verschont. Die Fürsten schnappten wie hilflose Fische auf dem Trockenen nach Luft und wurden gleich darauf mit gezielten Schlägen bewusstlos zu Boden geschickt. Sie würden einen fairen Prozess bekommen, den ehemals ersten Offizier der Lichtwächter dagegen erwartete mein Schwert.

Ich gab meinen Männern ein Zeichen, damit sie sich raushielten, denn ER gehörte mir. Außerdem ging nichts über einen guten Zweikampf auf Leben und Tod. Überheblich drehte er zur Lockerung seines Nackens den Kopf hin und her, sodass es laut knackte, und fasste das Heft seines Schwertes fester.

Der Offizier wusste genau, dass er hier und jetzt sterben würde, wenn nicht durch meine Hand, dann durch die meiner Begleiter. Dennoch stand er stolz und aufrecht vor mir, mehr als nur willens für die Sache einzustehen, von der er so überzeugt war.

Ein Mann, der keine Angst vor dem Tod zeigte, war ein Gegner, den man nicht unterschätzen sollte. Er würde kämpfen bis zum bitteren Ende, mit allen ihm dargebotenen Mitteln und genau das machte ihn so gefährlich. Mich hingegen durchflutete eine anregende Vorfreude auf den kommenden Tanz, welche meine Haut zum Kribbeln brachte.

Endlich griff er an. Hart traf Metall auf Metall, immer und immer wieder, dass der Klang im Raum nur so widerhallte. Der Wächter schnaufte, drang verbissen auf mich ein, mit einer Entschlossenheit, die der meinen in nichts nachstand. Sein vor Wut verzerrtes Gesicht feuerte mich weiter an, nötigte mich, fester zuzuschlagen, um ihm zu beweisen, wie ein räudiger Köter aus der Gosse zu kämpfen wusste.

Vergebens versuchte mein Gegner, die Oberhand zu gewinnen, schindete Zeit, indem er Stühle umstieß, Wandbehänge herunterriss, mir Kerzenständer entgegenschleuderte. Ich knurrte nur, trieb ihn derweil durch den Raum, parierte, konterte, versuchte, selbst durch seine Deckung zu dringen, bis mir der Schweiß an den Schläfen hinablief.

Dennoch zitterte mein Schwertarm keinen Augenblick, gewann vielmehr an Kraft, kostete den Moment vollkommen aus, als dem Wächter bewusst wurde, dass er durch meine Hand sterben würde.

Und endlich landete meine Klinge den entscheidenden Treffer. Wie durch Butter drang das Schwert in seinen Hals, genau in die Mitte, bis es am Nacken wieder austrat. Die Augen meines Gegners weiteten sich vor Unglauben, hatte er doch gehofft, mich in sein verfaultes Grab mitnehmen zu können. Nur würde ich diesen Gefallen niemandem so schnell gewähren. Mit einem Ruck riss ich mein Schwert seitlich heraus und schlitzte ihm den Hals auf. Blut spritzte aus der noch pulsierenden Ader, verfärbte den ehemals weißen Waffenrock dunkelrot, einer Anklage für seine misslichen Taten gleich und …

Abrupt hielt ich inne, als ich die mir so vertraute Aura spürte, und klatschte laut in die Hände. Sofort richteten sich die jungen Novizen auf, die bisher locker auf dem Boden verteilt gelegen hatten, klappten ihre offenen Münder zu und glätteten ihre Kleidung. 

„So, also das war die Gründung Lathyriens, wie wir es heute kennen. Dann wollen wir mal sehen, ob ihr auch aufgepasst habt. Wer waren die großen Begründer unseres Landes? Du!“ 

Ich deutete auf einen der Jungen und wie vorher abgesprochen kam sofort die richtige Antwort. 

„Fen Gorza, sao Vohla, van Rayhli und del Takish.“ 

Zufrieden nickend schaute ich in die Runde und tat so, als ob ich mir eine weitere Frage überlegen müsste. 

„Wie hieß der Priester, der ihnen beistand? Du!“ 

„Lazur.“ 

„Sehr gut. Und wen beziehungsweise was gründeten alle gemeinsam nach dem Krieg der vier Lande, damit so etwas nie wieder passieren sollte?“ 

„Die Gilde der Lichtwächter“, riefen jetzt alle zusammen. 

Ich lächelte gutmütig und sah auf die Jungen hinab, die mir für einige Zeit anvertraut worden waren. 

„Alles … AUF! Nehmt Haltung … AN!“ 

Die Kommandos kamen laut und herrisch von mir, wobei ich nicht einmal den Blick von den Kindern nahm. Umso überraschter waren sie, als ihr Oberhaupt durch die Tür der schmalen Baracke trat, ohne dass er sich durch ein Klopfen hatte ankündigen müssen. Die Frage, woher ich wusste, dass gerade er jetzt hier war, stand all diesen Bälgern ins Gesicht geschrieben. 

Schmunzelnd drehte ich mich zu Antaris um und neigte leicht meinen Kopf zur Begrüßung, was er mit einem Nicken zurückgab. Erst dann gab ich den Jungen das Zeichen, sodass alle im Chor „Guten Abend Meister Antaris“ riefen, und ihre linke Faust auf die Brust schlugen. Er erwiderte die Geste, wenn auch eleganter. 

„Guten Abend, Novizen. Wie ich sehe, habt ihr heute viel über die Geschichte Lathyriens gelernt.“ 

Gemächlich ließ Antaris seinen Blick über die Kinder schweifen, die mit großen Augen zu ihm aufschauten. Dass genau in dem Moment die Glocke zum Abendessen läutete, machte die Sache nicht wirklich besser. Man sah ihnen an, wie sehr sie versuchten, ihre Unruhe zu verbergen. 

„Und weil dieser wichtige Geschichtsunterricht so lehrreich war, dürft ihr jetzt zum Essen.“ 

Ein erleichtertes Ausatmen ging durch die Reihen, doch leider zu früh. 

„Und zwar nachdem ihr drei Runden um die Schule gelaufen seid. Die letzten fünf, die hier wieder ankommen, haben Küchendienst! Marsch!“ 

Zäh verkniffen sich die Burschen ein Stöhnen und liefen dann hastig aus der Baracke. Als auch der letzte Novize draußen war, drehte sich Antaris kopfschüttelnd zu mir um. 

„Faye, ich habe dich gebeten, den Kindern die Geschichte ihres Landes näherzubringen, damit sie wissen, warum sie hier überhaupt ausgebildet werden und für was sie später kämpfen. Und nicht, damit du ihnen erfundene Schauergeschichten erzählst. Das sind Frischlinge. Die meisten zählen nicht einmal zehn Winter!“ 

Tief atmete ich ein und versuchte, nicht so gelangweilt dreinzublicken, wie der trockene Unterrichtsstoff auf mich wirkte. 

„Die Gören sind taffer, als du denkst. Viele haben schon mehr gesehen, als uns lieb ist. Außerdem sind meine Geschichten nicht erfunden.“ 

Antaris verzog daraufhin den Mund und hob eine Braue nach oben. „So? Also bin ich ein sacht glimmender Holzspan, ja? Und was sollte dieser Unfug, dass der Gang bei den Latrinen endet? Wir kamen doch in der Küche an.“ 

Jetzt konnte ich mir ein selbstgefälliges Grinsen nicht mehr verkneifen, ergriff die rechte Hand meines Gemahls und küsste seinen Finger, der mit meinem Ring geschmückt war. 

„Möglich. Aber jetzt hast du mindestens zehn Freiwillige, wenn es darum geht, den Abort zu reinigen, weil sie die Hoffnung haben, dort noch etwas zu finden.“ 

Nun musste selbst Antaris schmunzeln. „Du bist ein fieser, hinterlistiger und berechnender König, weißt du das?“ 

Dunkel sah ich ihn an und überwand den letzten Schritt, damit ich dicht vor ihm stand. Zum Glück schien er nicht allzu ungehalten über meine Unwahrheiten in der Erzählung zu sein.

„Ich bin dein König, der übrigens brav den Unterricht bis zum Ende gehalten hat, bevor er mit den anderen Geschichten anfing. Du darfst dich also gerne erkenntlich zeigen.“ 

Schon beugte ich mich hinab, um mir einen Kuss zu stehlen, als er seinen schlanken Finger auf meine Lippen legte. 

„Natürlich, mein König. Doch beim nächsten Mal haltet Ihr Euch an die abgemachten Themen des Unterrichtes. Ansonsten erzähle ich die Geschichte, wie sie sich wirklich im Tunnel abgespielt hat. Und zwar jeden einzelnen Schweißtropfen auf Eurer Stirn inbegriffen. Haben wir uns verstanden, mein König?“ 

Er sprach leise und mit einer rauen Stimme, die mich binnen eines Herzschlages um den Verstand brachte. Und dass sein Finger bei seiner Forderung mit jedem Wort gegen meine Lippen tippte, machte die Sache nicht besser. Tief sah er mir in die Augen, lediglich eine Antwort duldend, die ich nur widerstrebend von mir gab. 

„Jawohl, Meister Antaris.“ 

Knurrend umschloss ich seinen Finger mit meinem Mund, umspielte ihn mit der Zunge und biss leicht hinein, ohne den Blick von Antaris zu nehmen. Er leckte sich über die eigenen Lippen, verfolgte fasziniert dieses Schauspiel, bis er es nicht mehr aushielt und mich endlich küsste. Es entstand ein sanftes, wenn auch nicht wenig forderndes, Zungenspiel.

Ich genoss es unheimlich, von Antaris begehrt zu werden, vor allem wenn er die Initiative ergriff. Dennoch ließ ich von ihm ab. 

Hatte ich früher recht schnell das Interesse an anderen verloren, sobald ich hatte, wonach es mich gelüstete, schien Antaris mich stärker anzuziehen, je mehr er von sich offenbarte, je mehr er sich mir hingab, je mehr er mich verleitete, mich ihm zu öffnen. 

Es war schon fast beängstigend, wie gut wir miteinander harmonierten und einander lasen. Genau wie jetzt. Selbst ohne Gabe spürte ich, dass ihn etwas beschäftigte. Sacht schmiegte ich unsere Wangen aneinander. 

„Die Besprechung mit den Wächtern aus der südlichen Schule ist wohl nicht so verlaufen, wie erhofft, hm?“, fragte ich nach und vergrub meine Nase in seine Halsbeuge, die Antaris mir nur zu gerne anbot. Er schlang derweil seine Arme um meinen Rücken und lehnte die Stirn seufzend an meine Schulter.

„Wir haben zu wenig ausgebildete Männer und einen heftigen Anstieg an willigen Novizen. Vor allem seit man unabhängig seines Standes die Erprobungszeit durchlaufen muss.“

Ich schnaubte belustigt, hatte ich doch genau das vorhergesagt, als Antaris die erste große Veränderung in der Ausbildung der Novizen kundgetan hatte. Die Speichellecker des Adels, die ihre Drittsöhne bespaßt haben wollten, konnten sich mit einer Goldspende die Aufnahmeprüfung nicht mehr erkaufen, weswegen ein Großteil von ihnen wegfiel. Die Kinder des einfachen Volkes dagegen bereiteten sich auf die Prüfungen umso verbissener vor, zeigte es ihnen doch, dass sie an weit mehr teilhaben konnten, auch ohne vermögende Eltern. Somit blieben die wirklich motivierten Burschen, weil sie etwas verändern wollten, und sei es nur die Lebensumstände ihrer Familien. 

Tief atmete ich ein, genoss Antaris‘ eigenen Duft nach Wald, Minze und winterlicher Freiheit, während er weitererzählte.

„Durch die Eröffnung der zusätzlichen Schule hier im Norden konnten wir zwar die Frischlinge unterbringen, haben aber nicht genügend Männer, um ihnen alles beizubringen. Zu viele der älteren Wächter waren Verräter und sind desertiert.“ 

Der Stachel der Verbitterung, dass zahlreiche seiner ehemaligen Waffenbrüder Abtrünnige waren, steckte noch immer tief. Umso ehrgeiziger ging Antaris seine Aufgabe an, eine neue, ruhmreiche und vor allem königstreue Ära der Lichtwächter einzuläuten. Sein Elan war dermaßen mitreißend, dass selbst ich über das schon viel zu lang andauernde Problem grübelte. Und vielleicht hatte ich sogar eine Lösung. 

„Wie wäre es, wenn die Novizen sich gegenseitig ausbilden?“, schlug ich simpel vor, worauf mich Antaris verwundert anstarrte. 

„Nur fertig ausgebildete und entsprechend trainierte Spezialisten unter uns dürfen andere anleiten. Nur sie haben unsere Ideale verinnerlicht und können diese korrekt weitergeben.“ 

Ich lächelte gutmütig und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. 

„Komm weg von der alten Struktur. Anstatt die Novizen in Altersgruppen einzuteilen, sortiert sie lieber nach ihren Fähigkeiten und dann wiederum in Stufen. Eins könnten die Frischlinge sein, zehn die jungen Männer kurz vor der Weihe. Die niedrigen Stufen werden von den zweithöheren ausgebildet – zumindest was den Kampf betrifft. Hat der Novize ein gewisses Können gezeigt, darf er in die nächsthöhere Stufe, was ein gewisser Ansporn ist, sich auch wirklich anzustrengen.“ 

 Sacht wiegte ich den Kopf hin und her, kamen wir doch zum langweiligsten Punkt von allem. 

„Den Geschichtsunterricht können auch Gelehrte übernehmen und die Ideale vermitteln weiterhin die Vorsteher der Schule. So ist die Ausbildung auf mehrere Schultern verteilt und nicht mehr abhängig von einer Handvoll Wächter. Weiter lernen die Novizen von Anfang an, Verantwortung zu übernehmen, ähnlich einem Mentor im annähernd gleichen Alter. Sie vertrauen einander eher als einem in die Jahre gekommenen Sack.“ 

Antaris überhörte den letzten Teil des Schlusssatzes geflissentlich und musterte mich eingehend, als könnte er nicht glauben, was genau ich da gerade von mir gegeben hatte. 

„Das könnte sogar funktionieren …“, überlegte er laut und lächelte mich dann anerkennend an. „Du bist wirklich unglaublich, weißt du das?“ 

„Natürlich“, erwiderte ich überheblich, legte die Hände auf seine Hüfte und zog ihn dicht zu mir heran. Meine Lippen suchten die seinen, hauchten aber nur verheißungsvoll darüber, ohne sie gänzlich zu berühren. 

„Ein weiterer Vorteil dieses Systems ist, dass du um einige Aufgaben leichter wärest und mehr Zeit für interessantere Dinge hättest.“ 

„Also ganz selbstlos“, meinte Antaris und reckte sein Kinn. Doch ich zog lächelnd meinen Kopf zurück und ließ ihn zappeln. Schmollend verzog er seinen sinnlichen Mund und knurrte missgestimmt. 

„Nicht ganz“, antwortete ich etwas verspätet und rieb meine Nase an seiner. „Es ist über fünf Monate her, dass Belegar uns aufforderte, ihn aufzusuchen. Langsam wird es Zeit, unser Versprechen einzulösen.“ 

Antaris versteifte sich in meinen Armen und sah mich forschend an. 

„Wie sehen normalerweise die Konsequenzen für einen vereitelten Auftrag aus?“ Sorge spiegelte sich in seinem Blick wider und dieses Mal war sie durchaus berechtigt. So gleichgültig wie möglich zuckte ich mit den Schultern. 

„Unterschiedlich. Manchmal bekommt man einen spezielleren Folgeauftrag, der nicht gerade einfach auszuführen ist. Also nichts, was man mit Gold klären könnte zumindest.“ 

Selbst durch den vornehmen Stoff meiner Kleidung spürte ich seine Hände, wie diese die tiefen Narben auf meinem Rücken nachfuhren. 

„Körperliche Züchtigung?“ Wieder bohrten sich Antaris‘ Augen tief in meine und fast glaubte ich, er könnte darin lesen. Selbst eine Halbwahrheit würde er durchschauen. 

„Wenn ein Exempel statuiert werden muss …“ 

Antaris ließ mich kaum ausreden. „Ich werde eine Eskorte zusammenstellen, am besten auch einen Diplomaten. Schuld hin oder her, aber ich werde nicht zulassen, dass …“ 

Nur ein inniger Kuss meinerseits brachte ihn zum Schweigen. Erst als ich merkte, dass Antaris sich langsam wieder entspannte, löste ich mich von ihm. 

„Wir reisen allein. Eine Eskorte würde man nicht nur als Provokation auffassen, sondern als kriegerischen Akt. Mal davon abgesehen lasse ich meinen Ruf nicht von ein paar halbwüchsigen Jungspunden ruinieren, die mich angeblich beschützen sollen.“ 

Ein müdes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Er merkte, dass ich in dieser Sache nicht mit mir diskutieren ließ. Und warum auch? Noch vor wenigen Monaten waren wir zu zweit gewesen, Seite an Seite durch das Land gereist, hatten uns Drachenwölfen, einem Leviathan, Räubern und Assassinen gestellt. Selbst den Kampf gegen einen widerlichen Nekromanten hatten wir bestanden. Was bitte sollte jetzt noch geschehen? 

„Deinen Ruf?“, hakte Antaris schmunzelnd nach. „Du meinst den eines lüsternen Trunkenboldes?“ 

„Bestimmt nicht“, knurrte ich, neigte den Kopf etwas hinab und verharrte genau über dem schön geschwungenen Mund meines Liebsten. „Aber vielleicht den des unerbittlichen Assassinen, der sich nimmt, was er begehrt, ohne Rücksicht, ohne Reue.“ 

Antaris schluckte trocken und sein Atem ging schneller. Noch immer schaffte ich es, ihn binnen eines Atemzuges zum Glühen zu bringen und ich genoss dieses Zeichen seiner wachsenden Lust, das nur ich bei ihm hervorrufen konnte. So langsam, wie es meine Selbstbeherrschung zuließ, senkte ich den Kopf, ignorierte den ungeduldigen Druck der Hände auf meinem Rücken, bis sich unsere Lippen endlich berührten. 

Sacht gab ich ein gemächliches Tempo vor, dirigierte die Intensität, was Antaris schier verrückt machte. Doch so gern ich ihn mit Haut und Haaren verschlang, wollte ich ihn genießen. Nach und nach zupfte ich sein Hemd aus der Hose und ließ meine Fingerspitzen über seine erhitzte Haut gleiten. Und obwohl ich an meinem Schenkel sehr genau spürte, wie heftig es nicht nur um mich bestellt war, hielt Antaris meine Hand auf, mit der ich mich an seiner Hose zu schaffen machen wollte. 

„Nicht hier“, keuchte er. 

„Sorg dich nicht. Es sind alle drüben beim Essen“, entgegnete ich heiser und nutzte die fallende Gegenwehr, um endlich seinen Schwanz zu umschließen, als sich eine mir so verhasste Präsenz ins Bewusstsein drängte. 

„Mal abgesehen von einem dämlichen Idioten“, murrte ich verärgert, ließ sogleich von meinem verdutzt dreinschauenden Gemahl ab und baute mich schützend zwischen ihm und der Tür auf. 

Ich liebte es, Devon mit deutlichen Gesten zu zeigen, dass Antaris zu mir – und zwar nur zu mir! – gehörte, doch so, wie er gerade glühte, wollte ich ihn Devon nicht präsentieren. Bisher war ich, abgesehen von den Priestern, der Einzige, der über Antaris‘ enge Verbundenheit zu Ignis Bescheid wusste. Und solange er sich niemand anderem in dieser Sache anvertrauen mochte, so lange wollte ich dieses Geheimnis bewahren. Außerdem war es für mich eine unheimliche Genugtuung, mehr über Antaris zu wissen als Devon. 

Keinen Atemzug später platzte der erste Offizier in die Baracke, blieb allerdings wie vom Blitz getroffen stehen, als er mir direkt gegenüberstand. Ich verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust und setzte den düstersten Blick auf, zu dem ich fähig war. Wäre dieser verdammte Lichtwächter nicht so widerlich gewissenhaft, hätte er sich auf der Stelle verpisst. 

„Mein König“, brabbelte er rasch und beugte sein Knie demütig vor mir. 

Mit einem fiesen Lächeln auf den Lippen registrierte ich, wie viel lieber er wieder geflüchtet wäre. Erst als sich Antaris hinter mir räusperte, eine Hand beschwichtigend auf meine Schulter legte und vortrat, zeigte sich Erkenntnis in Devons Gesicht. Selbst in seinem gesenkten Blick erkannte ich, wie sein Ausdruck versteinerte und er sich wünschte, im Erdboden zu versinken. 

Oh, das würde mir ebenfalls gefallen. Gnädig ließ ich ihn mit einem kurzen Wink meiner Hand wieder aufstehen und gewährte ihm einen Augenblick, Antaris zu mustern, dessen Wangen noch immer herrlich gerötet waren. Es stand komplett außer Frage, was sich hier abgespielt hatte, bevor dieser Idiot den Raum betreten hatte. Devon biss die Zähne zusammen, sichtlich bemüht, nicht so verlegen dreinzuschauen. 

„Was willst du?“, fragte ich etwas zu barsch, weswegen Antaris den Druck auf meiner Schulter unangenehm steigerte und mir einen warnenden Blick zuwarf. Der erste Offizier straffte sich und versuchte, eine möglichst geschäftige Miene aufzusetzen, was ihm gründlich misslang. 

„Meister Tjorsten sucht in dringender Angelegenheit nach Euch, mein König. Er hat wohl ein altes Dokument gefunden, welches kurz nach Eurer Geburt verfasst worden ist und nun eiligst Eurer Aufmerksamkeit bedarf.“ 

Altes Dokument? Kurz nach meiner Geburt? Hatte ich mich eben verhört oder versuchte Devon, mich indirekt zu beleidigen? Antaris verkniff sich ein Glucksen, während sein Waffenbruder weiterhin fest vor uns stand und geduldig meine Antwort abwartete. Erst als ich ihn etwas zu lange aus zusammengekniffenen Augen anstarrte, wiederholte er wohl innerlich seine Worte und lief rot an. Sein Glück, dass Antaris für ihn in die Bresche sprang. 

„Dann solltet Ihr Euren Chronisten nicht warten lassen, mein König.“ Er grüßte gemäß Brauch und ich nickte erhaben und äußerst missgestimmt. Diesen Rauswurf würde Antaris teuer bezahlen. Später, wenn wir endlich wieder allein wären. 

Als ich mich in Bewegung setzte, wehte ein Grummeln zu mir herüber, das mit ziemlicher Sicherheit aus Antaris‘ leerem Magen kam. So gerne, wie ich meine Staatsgeschäfte vernachlässigte, so gerne vergaß er seine Mahlzeiten. Auf Höhe des ersten Offiziers blieb ich kurz vor der Tür stehen. 

„Devon!“ Bei dem gebellten Befehl zuckte er kaum merklich zusammen, was ich mit einer riesigen Genugtuung registrierte. „Sorge dafür, dass mein Gemahl regelmäßig etwas Ordentliches isst! Ich wünsche, dass er bei Kräften bleibt, besonders heute Abend!“

„Tesfaye!“, schnappte Antaris empört, doch ehe er mir sein Missfallen über diese Worte an den Kopf werfen konnte, hatte ich die Baracke bereits verlassen und die Tür schwungvoll hinter mir zugeworfen. 

Und während er schimpfend auf seinen Offizier einredete, der sich bemühte, meinem Befehl nachzukommen, lief ich beschwingt über den großen Vorplatz auf den kleinen Nebeneingang des Schlosses zu, der zur Küche führte. 

Leise schlüpfte ich hindurch und sah mich aufmerksam um. Wie immer herrschte hier ein geschäftiges Treiben. Weniger, weil man für mich groß aufzutischen gedachte, sondern weil der ganze Hausstand, samt den Novizen der Lichtwächter und deren Ausbilder versorgt werden musste. Ich hatte gleich von Anfang an festgelegt, dass man mich nicht einzeln bekochen sollte. Entweder ich aß, was und vor allem wann alle anderen aßen oder ich musste bis zur nächsten Mahlzeit warten. Oder mich heimlich in die Küche stehlen und mir etwas stibitzen. 

Die Küchenmägde kicherten hinter vorgehaltenen Händen, als ich mir eine Scheibe vom Braten stahl, ihnen zuzwinkerte und einen Finger auf den Mund legte, damit sie mich nicht verrieten. Die Oberköchin mochte es so gar nicht, wenn man heimlich durch ihr Reich schlich. 

Gerade als ich mir noch eine derbe Wurst von einem Tablett nehmen wollte, traf ein schmaler Holzlöffel schmerzhaft meine Finger. Grummelnd zog ich die Hand zurück, drehte mich reumütig um und fühlte mich glatt fünfundzwanzig Jahre zurückversetzt. 

Vor mir stand eine korpulente, aber kleine Frau mit einem riesigen Busen, über den sich wie immer eine bunt bestickte Schürze spannte. Ihre einst dunkelblonden Locken waren längst ergraut und sorgsam unter einer Haube versteckt. Drohend wedelte sie mit dem Kochlöffel vor meiner Nase herum, während eine Hand auf ihre breite Hüfte gestemmt war. 

„Wie oft habe ich Euch gesagt, Tesfaye, dass Ihr in meiner Küche nicht alles antatschen sollt!“ 

Mit meinem charmantesten Lächeln schaute ich auf sie hinab und als ich sprach, nahm ich nebenher ihre Hand in meine, küsste deren Rücken und legte den Löffel beiseite. 

„Ach liebste Vehla, ich tatsche doch nicht, ich vernasche und was gibt es Besseres als deine kleinen Köstlichkeiten hier.“ 

Ich hatte gehofft, sie damit milde zu stimmen, doch ihr Mund verzog sich missbilligend, was ihre Haut noch runzeliger wirken ließ.

„Wenn dem so ist, junger Herr, solltet Ihr pünktlich zu den Mahlzeiten erscheinen, was Euch wohlgemerkt recht guttun würde. Ihr seht ganz dürr aus! Genauso unvernünftig wie Euer Gemahl!“ 

Oh, wenn es schon Vehla auffiel, dass Antaris nicht oft genug zum gemeinschaftlichen Essen der Wächter erschien, sollte ich mich intensiver um dieses Problem kümmern. 

„Ihr habt so recht, meine Liebe. Wir müssen fortan einen Eurer Küchenjungen zum Oberhaupt der Lichtwächter schicken, der aufpassen soll, dass dieser auch brav aufisst.“ 

Schnaubend entzog sie mir ihre Hand und drohte mir mit dem erhobenen Zeigefinger. 

„Einen Küchenjungen? Wohl eher einen Kerkerknecht, der Euch zum Essen zwingt – Euch beide! Und jetzt nehmt die Wurst und trollt Euch! Los, hinaus!“ 

Auch sie konnte sich ein mütterliches Lächeln nicht mehr verkneifen, als ich herzhaft in die Wurst biss. Schon damals, als ich hier als kleines Gör durch die Gänge gelaufen war, war sie die Leiterin der Küche und ihr Mann einer der besten Fischer in Vitreylis gewesen. Bis ihn bei der Rettung zweier Königskinder in einer Kiste mehrere Pfeile durchbohrt hatten.

Rasch huschte ich durch den Raum zum Boteneingang, der in den Hauptteil des Schlosses führte, blieb aber auf der zweiten Stufe noch in der Küche stehen, als ich eine mir unbeliebte Stimme hörte. 

„Habt ihr den König gesehen? Ein dringendes Schriftstück aus Gotinis von Fürst Urda ist eingetroffen. Oh, in der Küche? Gut, gut.“

Schnell drehte ich mich um und wäre fast mit Vehla zusammengestoßen, die dicht hinter mir stand, um auf Nummer sicher zu gehen, dass ich verschwand, ohne noch mehr Essen mitgehen zu lassen. Auch sie hatte den Chronisten gehört und sah mich mitleidig an, als ich ihr flehende Blicke zuwarf. 

Seufzend deutete sie auf den Durchgang, durch den ich die Küche eben betreten hatte. Dankend drückte ich ihr einen Kuss auf die glänzende Wange und huschte an Töpfen, Schüsseln und Tischen vorbei, nicht ohne mir ein kleines Limonentörtchen zu schnappen und Vehlas Kochlöffel auszuweichen, den sie mir daraufhin empört hinterherwarf. 

Wieder an der frischen Luft genoss ich meine schmackhafte Beute und hörte amüsiert zu, wie die gute Seele des Schlosses den Chronisten auf eine falsche Fährte führte. Dann jagte sie ihn hinaus, wie jeden, der nicht zu ihrem erwählten Personal gehörte. 

Fast tat Meister Tjorsten mir leid. Zu Zeiten meiner Eltern war er die rechte Hand des damaligen Meisters der Schriften gewesen, weswegen er sich alle Mühe gab, in die ehrenwerten Fußstapfen seines angesehenen Vorgängers zu treten. Auch wenn er seiner Aufgabe gewissenhaft nachkam, waren die Unterredungen mit ihm durch seine penible Art und den überwältigenden Drang, sich ausschweifend mitzuteilen, ziemlich nervenaufreibend.

Ich leckte mir genüsslich den Zuckerguss von den Fingern und erklomm mit raschen Schritten die Wehrmauer, die breitflächig das Schloss und den weiten Vorhof mit den vielen Baracken der Lichtwächter, samt Ställen, umgab. Die Wachen dort grüßten respektvoll, ließen mich aber weitestgehend zufrieden. Ich hatte ihnen frühzeitig klargemacht, dass ich während ihres Dienstes keine großen Verbeugungen duldete, schließlich sollten sie ihrer Arbeit nachkommen und nicht die Zeit mit buckeln vergeuden. 

Mal davon abgesehen war es für mich nicht unüblich, hier oben herumzuschleichen. Die eine Seite des Schlosses mündete in einem steilen Abhang, direkt an der Küste. Dort peitschte der Wind besonders stark über den Wehrgang und während die Wachen ihre Köpfe zwischen die Schultern zogen und sich in ihren Umhängen vergruben, kletterte ich auf die Brüstung und streckte beide Arme aus.

Überschwänglich begrüßte mich meine Göttin und ich hieß sie nur allzu gern willkommen, genoss den frischen Wind, der an meinen Haaren und der Kleidung zerrte. Trotz der enormen Wendung, die mein Leben in den letzten Monaten genommen hatte, fühlte ich mich seltsam ausgeglichen.

Die Staatsgeschäfte liefen gut, das Volk siedelte sich immer mehr um das Schloss herum an und Antaris blühte in seiner neuen Aufgabe als Oberhaupt der Lichtwächter auf. Auch wenn mich das freute, hätte ich ihn lieber mehr um mich gehabt als nur in den kurzen Nächten. 

2.

Antaris 

Es fiel mir nicht leicht, mich aus Tesfayes Armen zu lösen. Der letzte Schein der glimmenden Holzscheite im Kamin zeichnete ein Lichtspiel auf seine nackte Haut, dem ich mit meinen Fingerspitzen folgen musste. Ich lächelte ob der Gänsehaut, die sich daraufhin über Tesfayes Körper ausbreitete. Aber außer einem entspannten Seufzen rührte er sich nicht. 

Schweren Herzens zog ich mich schließlich zurück und rutschte zur Bettkante, um mich anzuziehen. Es wartete wieder viel Arbeit auf uns. Als ich nach den Stiefeln angelte, kam langsam Leben in meinen Gemahl. Von hinten schlang er seine Arme um meine Brust, während seine Lippen sanft über meinen Nacken und die Schultern wanderten. 

„Geh nicht“, raunte er, was mir ein Lächeln entlockte. 

„Wir müssen aufstehen, Faye.“ Trotzdem legte ich meinen Kopf zurück und erlaubte mir, die Liebkosungen für einen Moment zu genießen. 

„Keine Lust“, murmelte er, während seine Hände suchend über meinen Oberkörper fuhren. „Zumindest keine Lust, aufzustehen.“ 

„Du bist ein miserabler Hohekönig, weißt du das?“ Das Lächeln war deutlich aus meiner Stimme herauszuhören und ich spürte, wie sich auch seine Lippen auf meiner Haut verzogen. 

„Dafür ein begnadeter Liebhaber. Und beides ist deine Schuld.“ 

Ich konnte ein leises Aufstöhnen nicht verhindern, als er mit einer Hand fordernd zwischen meine Beine glitt. 

„Ich dachte, Zweiteres liegt an deiner jahrelangen Erfahrung und den zahllosen Bettgeschichten?“ 

„Eifersüchtig?“ 

„Mitnichten!“ 

Er drehte mich so weit zu sich um, dass er mir in die Augen sehen konnte. Beinahe wäre ich schwach geworden und hätte mich von Tesfaye zurück ins Bett ziehen lassen, aber in diesem Moment klopfte es an der Tür. Sein Knurren ließ erahnen, wer davorstand.

Meine Lippen formten stumm ein Liebesbekenntnis, während ich mich sanft, aber bestimmt aus der Umarmung wand. Rasch stand ich auf, um Devon nicht unnötig warten zu lassen. Tesfaye ließ sich stattdessen mit trotzigem Gesicht zurück in die Kissen fallen. 

Ich schaffte es nicht, das Schmunzeln über sein kindisches Verhalten zu verbannen, als ich schwungvoll die Tür öffnete. Mein Offizier starrte mich im ersten Moment so erschrocken an, als hätte er nicht mit mir gerechnet, obwohl er doch wissen musste, wo er gerade stand.

Mit roten Wangen richtete er seinen Blick verlegen gen Boden. Etwas verwundert bat ich ihn herein und wandte mich anschließend wieder um, um nach meinem Hemd zu greifen und mich weiter anzuziehen. Nur zaghaft trat Devon ein, schloss die Tür leise hinter sich und blieb dann wie angewurzelt direkt vor dem Eingang stehen. 

„Ich … ich wollte nur …“ Er räusperte sich und sprach dann wieder mit festerer Stimme weiter: „Wir haben die Novizen bereits zum Übungsplatz geschickt. Kival sorgt dafür, dass sie sich warmlaufen. Wir können dann vor dem Frühstück mit der ersten Einheit beginnen. Er lässt fragen, ob du vorher noch das Wort an die Jungen richten willst oder erst nach der Einheit zum Frühstück dazukommst.“ 

Nachdenklich schloss ich die letzten Bänder an meiner Weste. „Ich denke, ich bin vor dem Frühstück da, aber fangt ruhig schon ohne mich an. Ich komme gleich nach.“ 

Devon nickte nur. Seinen Blick in Tesfayes Richtung, der sich genervt in den Decken und Kissen vergraben hatte, quittierte ich mit einem Kopfschütteln. Nahezu lautlos verschwand Devon daraufhin wieder aus dem Raum, um meine Entscheidung weiterzugeben. Als die Tür ins Schloss fiel, richtete Tesfaye sich auf und betrachtete missbilligend meine Uniform. Selbst ohne seine Gabe wusste ich, was er dachte. 

„Ich muss also heute allein frühstücken?“ 

„Du kannst dich uns gerne anschließen“, gab ich gelassen zurück. 

„Und mit ansehen, wie Devon an deinen Lippen hängt? Nein danke.“ 

„Ich weise noch einmal darauf hin, dass du damit einverstanden warst, dass er uns von Dalgaria nach Vitreylis begleitet, um mich beim Aufbau der neuen Wächterschule zu unterstützen.“ 

Tesfaye grummelte etwas Unverständliches, während ich mir den Umhang überwarf. 

„Ich muss jetzt los.“ 

Zwei grüne Augen blitzten mich an. 

„Ich habe ohnehin schon ein schlechtes Gewissen“, erklärte ich mich. 

„Wann hast du das nicht?“ 

„Na ja, als Gildenoberhaupt sollte ich nicht länger in den Federn liegen als die Novizen. Es wäre meine Aufgabe als Erster aufzustehen und …“ 

Tesfaye unterbrach mich. „Irgendwelche Vorteile muss deine Position doch haben.“ Dabei zog er süffisant eine Augenbraue hoch und entlockte mir ein Lächeln. 

„Der Vorteil ist, dass ich an deiner Seite sein kann.“ Ich beugte mich für einen letzten Kuss zu ihm hinunter, aber seine Faust schloss sich sofort um meinen Kragen und hielt mich fest. 

„Viel zu selten“, knurrte er an meinen Lippen. 

Sanft löste ich seine Finger vom Hemd. „Ich weiß. Dennoch muss ich jetzt gehen.“ 

Tesfaye seufzte. „Natürlich. Geh ruhig. Ist ja nicht so, als hätte ich nichts zu tun.“ Trotzdem klang er wie ein Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. 

„Zum Beispiel Tjorsten aus dem Weg gehen?“ 

Natürlich war mir nicht entgangen, dass er einen weiten Bogen um den Chronisten machte, sobald dieser von alten Schriftstücken sprach. 

„Ich denke, du musst so dringend los? Deine Novizen warten“, sagte er mahnend und winkte mit seiner Hand, als entließe er mich gnädigerweise aus seinen Diensten. 

Ich schaffte es nicht, den Schalk aus meinem Gesicht zu verbannen, als ich aufstand und mich formell verbeugte. 

„Mein König.“ 

Rasch wich ich einem Kissen aus, das Tesfaye halbherzig nach mir warf, und verließ unsere Privatgemächer.

Das Schloss war schon voller Leben. Überall wuselten Bedienstete herum und erledigten ihre Aufgaben. Noch immer war es für mich befremdlich, Teil dieses großen Systems zu sein. Vor allem mit dem ungewohnten Status und der damit einhergehenden Verantwortung. 

Trotzdem mochte ich meine neuen Aufgabenfelder. Der Papierkram war zwar eher ein lästiges Übel, aber insbesondere die Ausbildung der jungen Novizen lag mir am Herzen. Mit Devons Hilfe und Tesfayes Ratschlägen hatten wir die Schule der Wächter reformiert, was bei einigen der älteren Lichtwächter, allen voran Meister Hadk, meinem ehemaligen Lehrer in der Wächterschule von Kasilis, für ausreichend Diskussionsstoff gesorgt hatte. Schlussendlich hatten wir uns aber doch durchgesetzt und mit Devon, Milan und Kival standen fähige und loyale Offiziere an meiner Seite. 

Kälte schlug mir ins Gesicht, als ich nach draußen trat und über den weiten Platz Richtung Wächterschule lief. Eiserne Feuerstellen säumten die Mauer, vertrieben die Schatten bestmöglich, um vermeintliche Eindringlinge frühzeitig auszumachen. Wärme gaben sie kaum ab. Der Frühling war erst im Kommen, weshalb die Nächte von eisiger Kälte bestimmt waren. Der Boden glitzerte weiß im fahlen Mondlicht und knirschte unter den Stiefeln. 

Ich beschleunigte die Schritte, wollte meine Brüder nicht länger warten lassen als nötig. In einem Monat würden neue Novizen in die Schule strömen und viele würden diese nach einigen Wochen wieder verlassen. Die Ausbildung war hart und anspruchsvoll.

Wir hatten keine Zeit für die verzogenen Bengel des niederen Adels, die glaubten, sich ihre Aufnahme erkaufen zu können. Gabriel mochte durch Gold über die Unfähigkeit dieser Jungen hinweggesehen haben, ich würde das nicht tun. Wir brauchten starke und loyale Lichtwächter, die hinter dem standen, wofür wir kämpften. Und die bekamen wir nur durch entsprechend fordernde Ausbildung. 

Schon von Weitem hörte ich das Klirren der Übungsschwerter und dumpf gebellte Befehle. Als ich den Platz betrat, nickte ich Kival zu, der die Gruppe streng im Blick hatte. Rasch wehrte ich eine formale Begrüßung ab und ließ die Burschen weiter üben. 

Sie waren die Ältesten und standen kurz vor der Weihe. Während die anderen Novizen noch schlafen durften, begann ihre Ausbildung in aller Frühe. Und wenn der Rest zum Ende des Tages zu Abend aß, übten sie weiter auf dem Platz, um ihre Fertigkeiten zu perfektionieren.

„Du siehst müde aus, mein Oberhaupt“, grüßte Kival und wies gleich darauf zwei Novizen zurecht, die ihre Schwerter zu weit schwangen und dabei die Deckung vergaßen. 

„Zu viel Papier, das gewälzt werden muss“, winkte ich ab, worauf mein Gegenüber gedämpft auflachte. 

„Wohl eher Laken, in denen sich gewälzt wurde. Noch ist das Flitterjahr nicht vorbei.“ 

Er klopfte mir kräftig auf den Rücken und zog beide Augenbrauen bedeutsam nach oben. Weißer Atem stieg in Wölkchen in den dunklen Morgen auf und ich hoffte inständig, dass die Feuerstellen, die am Rande des Platzes aufgestellt worden waren, weit genug entfernt standen, um meine geröteten Wangen zu verbergen. Tesfaye gab sich recht frei über das, was sich in unserem Schlafgemach abspielte. Nur mir war diese Offenheit fremd und entsprechend unangenehm. 

Zwar hatte es bisher keine offizielle Vermählung gegeben, da uns andere Dinge zuletzt wichtiger erschienen waren. Doch trotz der kleinen Zeremonie unter der Hand vor den Priestern in Dalgaria war ich mehr als nur der Angetraute des Hohekönigs. Ich war das Oberhaupt der Lichtwächter, der größten Gilde aus Lathyrien.

Ich wusste, dass Kival mir keine Vorwürfe machte, obwohl er der älteren Generation angehörte und der Gedanke, dass Lichtwächter von nun an Bindungen eingehen durften, nicht überall auf Gegenliebe stieß. Er stand stets hinter mir und ich war ein ums andere Mal dankbar für seinen Rat. Dennoch beschäftigte es mich, ob ich all dem gerecht werden konnte. Manchmal wog Gabriels Kette um meinen Hals zu schwer. 

Ich schüttelte den Kopf. Es galt, eine Aufgabe zu erfüllen und nicht in Selbstzweifel zu versinken. Gemeinsam mit Kival zeigten wir den älteren Novizen Ausfallschritte, Finten und andere kleine Tricks, die sich im Zweikampf bewährt hatten. Die jungen Männer schauten aufmerksam zu, bevor sie konzentriert das Vorgeführte umsetzten. Dass sie im Halbdunkeln ihre Übungen festigten, würde ihnen später von Vorteil sein, denn nicht alle Feinde warteten bis zum Morgengrauen. Kival ging in seiner Arbeit auf und es war immer wieder erstaunlich mit anzusehen, wie schnell die Novizen von ihm lernten. 

Wir waren so in die Arbeit vertieft, dass uns das Läuten der Frühstücksglocke überraschte. Verschwitzt, aber zufrieden meldeten sich die jungen Männer in den Speisesaal ab, während andere wiederum zum Morgenlauf an uns vorbeitrabten und die Frischlinge verschlafen ihre Unterkünfte verließen. 

Gut gelaunt gesellten Kival und ich uns im Saal zu den anderen Wächtern, die schon gemeinschaftlich mit dem Frühstück begonnen hatten. Es wurde gescherzt und sich über Kampftechniken ausgetauscht. Die bevorstehende Weihe der Novizen war ein ebenso beliebtes Thema am Tisch. Obwohl Devon fast schon gluckenhaft aufpasste, dass ich ausreichend aß, fühlte ich mich, umgeben von meinen Brüdern, aufgehoben und entspannt. 

Zumindest so lange, bis uns laute Rufe von draußen aufhorchen ließen. Stirnrunzelnd sahen wir uns an, bevor wir dem Tumult folgten. Direkt vor dem Speisesaal rauften sich zwei Jugendliche, umringt von anderen Novizen, die sie grölend anfeuerten. 

Kaum, dass sie uns sahen, verstummten ihre Rufe, dennoch warteten sie neugierig ab, was weiter geschehen würde. Mit einem Ruck riss Devon den Größeren an der Schulter nach hinten, während ich den Oberarm des anderen packte und ihn ungehalten zu mir zog. 

„Was ist hier los?“ Meine Stimme klang schneidend, wenn auch nicht laut. Das musste sie überhaupt nicht sein. 

Zwar senkten beide sofort den Kopf und schwiegen sich aus, trotzdem stand der Trotz in ihren Gesichtern. Schuldbewusstsein sah anders aus. Eher schienen sie vor mir ihren Zorn aufeinander verbergen zu wollen. Devon zog eine Augenbraue hoch und ich presste wütend die Lippen zusammen, während ich den Novizen unwirsch zu mir herumdrehte. 

„Also?“ 

Überrascht nahm ich wahr, wie die Körpertemperatur des Halbwüchsigen unter meinem festen Griff zu steigen schien, und fast glaubte ich, ein verdächtiges Funkeln in seinen Augen zu sehen. Dann spürte ich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne im Nacken und verwarf den Gedanken. 

Der junge Novize wendete bewusst den Blick ab und es war deutlich, dass ihm meine Berührung unangenehm war. Auf einen Wink von mir sorgten Kival und Milan dafür, dass die schaulustige Meute wieder ihren Aufgaben nachging, damit Devon und ich uns den Raufbolden widmen konnten. Da beide Streithähne beharrlich schwiegen, seufzte ich. 

„Es ist unerheblich, warum ihr zwei meint, euch prügeln zu müssen. Aber ihr seid Brüder und müsst zusammenhalten. Stellt euch nicht gegeneinander.“ 

Der größere Novize schnaubte verächtlich. „Das ist nicht mein Bruder!“ 

„Warum sagst du so etwas?“, fuhr Devon ihn ungehalten an. Aber der Halbwüchsige zuckte nur gehässig mit dem Mundwinkel und nickte zu dem anderen Novizen hinüber. „Na, weil sie ein Mädchen ist!“ 

Wieder fühlte ich das Aufflammen unter meinem festen Griff, weswegen ich irritiert etwas lockerer ließ. Auch Devon sah überrascht auf und schien nicht so recht zu wissen, was er zu dieser Information sagen sollte. Ich räusperte mich. 

„Was auch immer eure Gründe für die Schlägerei waren, so ein Verhalten ist hier weder angebracht noch erwünscht! Meister Devon wird sich eine angemessene Strafe für dich überlegen.“ Dann wandte ich mich an den Novizen an meiner Seite. „Und du kommst mit mir.“ 

Überrascht sah er – oder sie – zu mir auf und folgte mir anschließend schweigend in mein Arbeitszimmer. Nachdem ich die Tür geschlossen und einmal tief durchgeatmet hatte, drehte ich mich zu dem angehenden Lichtwächter um. Mein Blick wurde, wie zu erwarten, nicht erwidert. Stumm fixierte mein Gegenüber den Boden. 

„Stimmt es, was dein Bruder sagt?“ 

„Werft Ihr mich dann raus?“ Ein trotziger Blick aus grünen Augen traf mich. Bevor ich die Frage beantworten konnte, sprudelten die Worte nur so aus ihr hervor. „Ihr könnt mich nicht rausschmeißen! Ich wäre ein besserer Lichtwächter als die meisten anderen. Ich bin der zweitbeste Novize in meinem Jahrgang, mir fehlen nur noch zwei Jahre bis zur Weihe und es gibt kein Gesetz, das es Mädchen verbietet, Lichtwächter zu werden!“ 

Ich runzelte die Stirn, während ich nachdachte. Sie hatte recht. Zwar war in allen Schriften stets von Jungen und Männern die Rede, aber ich konnte mich tatsächlich nicht daran erinnern, jemals irgendwo gelesen zu haben, dass es für Mädchen ein Verbot gab. Trotzdem kam mir der Gedanke im ersten Moment völlig abwegig vor. Sie schien meine Skepsis zu spüren und schob herausfordernd das Kinn vor. 

„Außerdem ändert Ihr ja gerade ohnehin einige Regeln.“ Ihr Blick zuckte zu meiner Handund dem Ring daran. 

Jetzt fühlte ich Ignis unter meiner Haut kribbeln. Sie spielte auf die Vermählung mit Tesfaye an und wieder hatte ich ihr nicht viel entgegenzusetzen. Sie war auf jeden Fall gut informiert und zu meinem Leidwesen nicht auf den Mund gefallen. 

„Wie heißt du?“ Da sie zögerte, setzte ich nach: „Wie heißt du wirklich?“ 

„Lynnea Vendril.“ Der trotzige Ausdruck in ihren Augen machte Unsicherheit Platz. Auch wenn sie mindestens vierzehn Winter zählte, war sie eben fast noch ein Kind. 

„Pass auf, Lynnea: Ich werde jetzt keine endgültige Entscheidung fällen“, setzte ich an, denn mir fielen keine triftigen Gründe ein, um sie fortzuschicken. „Du nimmst fürs Erste weiter am Unterricht teil, aber keine Prügeleien mehr! Und kein Versteckspiel, verstanden?!“ 

Sie schien nicht gänzlich zufrieden, nickte dennoch. 

„Wegen des Gerangels wirst du heute zum Küchendienst eingeteilt.“ Lynnea schnappte nach Luft, doch ich wischte den aufkommenden Protest mit einer raschen Handbewegung beiseite. 

„Es ist völlig gleich, wer weshalb angefangen hat. Ihr seid Mitglieder derselben Gilde, Verbündete. Meinungsverschiedenheiten mit Gewalt zu lösen, ist nicht der richtige Weg. Melde dich nach dem Unterricht bei Vehla.“ 

Hart presste das Mädchen die Zähne aufeinander, in dem Versuch, sich ihre Verärgerung möglichst nicht ansehen zu lassen.

„Gibt es vielleicht noch etwas, was du mir sagen willst, Lynnea?“ 

Ihre grünen Augen starrten mich vor Schreck geweitet an, doch sie schüttelte den Kopf. Sie flüchtete zur Tür, wo sie dennoch pflichtbewusst Halt machte, sich zu mir umdrehte und ihre linke Hand zum Gruß auf die Brust legte. Wortlos erwiderte ich diesen und entließ sie. 

Seufzend fuhr ich mir durch die Haare. In gut einem Monat würden die neuen Rekruten hier eintreffen und die älteren ihre Weihe erhalten. Bis dies erledigt war, hatte uns Belegar einen Aufschub gewährt, sodass wir uns gleich im Anschluss auf dem Weg zu ihm machen mussten. Und gerade als ich glaubte, alles würde seinen geregelten Gang gehen, tauchte unter den Novizen ein Mädchen auf. 

Ich stoppte meinen Lauf durch die Baracke und trat entschlossen ins Freie. Ich musste Meister Tjorsten finden, sofort. Kein anderer kannte die alten Schriften im Keller des Schlosses so gut wie er. Und da Gabriel die Burg als Hauptquartier genutzt hatte, mussten dort alle Aufzeichnungen der Lichtwächter gelagert sein. 

Noch im Vorbeigehen klärte ich Devon über mein Vorhaben auf und bat ihn, Milan als Ersatz für mich einzuteilen. Zwar war er mit seinen Männern im Normalfall für die Sicherheit der Stadt zuständig, doch da viele neue Lichtwächter nach der Weihe seiner Gruppe zugeteilt wurden, um erste Erfahrungen zu sammeln, war es nicht unüblich, dass auch er an der Ausbildung der Novizen beteiligt war. 

Natürlich hätte ich meinem ersten Offizier oder Meister Tjorsten die Nachforschungen überlassen können, ob für Mädchen die Schule der Lichtwächter offen stünde. Doch alle Augen waren zurzeit auf Vitreylis gerichtet, wo mit alten Traditionen neu aufgeräumt wurde. Es war ein schmaler Grat zwischen dem, was sich ein Oberhaupt der Lichtwächter an Erneuerungen erlauben durfte und den Regeln und Vorschriften, die es galt, unumwunden einzuhalten. Das konnte ich unmöglich jemand anderem aufbürden.

Ich begab mich auf die Suche nach dem alten Chronisten, der strahlte, als ich ihn um Hilfe bat. Mit kleinen Schritten eilte er voran, die Treppen hinab, bis hin zu der Lagerstätte der Chroniken der Lichtwächter. Zerknirscht musterte ich das alte Regal, welches schmal und nicht wirklich befüllt war. 

„Euer Vorgänger hielt nicht viel davon, den Fortschritt der Gilde festzuhalten, geschweige denn die Vergangenheit zu bewahren“, entschuldigte sich Meister Tjorsten und entzündete kleine Öllampen an der Wand. 

Ich schnaubte, konnte mir nur zu gut den Grund vorstellen. Doch die Altlasten der Lichtwächter waren einzig meine Aufgabe. Ich bedankte mich bei dem Archivar und entließ ihn zurück in seine Schreibstube.

Wieder allein griff ich nach den ersten beiden Büchern und setzte mich an den alten Tisch an der Wand. Ignis spendete mir Wärme und Licht und so konnte ich in Ruhe nach Antworten suchen. Doch je länger ich durch die vergilbten Seiten blätterte und die verstaubten Wälzer durchforstete, umso weniger glaubte ich, etwas Brauchbares zu finden. 

„Die Wichtigkeit der Hygiene.“ 

Erschrocken schaute ich auf, direkt in Tesfayes Gesicht. Die Tür stand einen Spalt offen und ich hatte nicht mal bemerkt, wie er hereingetreten war. Mit oder ohne Krone: Assassine blieb wohl immer ein Stück Assassine. 

Tesfaye hatte sich leicht vorgebeugt und las interessiert die ersten Zeilen. Dann schnalzte er mit der Zunge und richtete sich auf. 

„Wieder ein Buch mit vielen Worten, ohne viel Inhalt. Lass mich raten: Du bist bisher nicht fündig geworden?“ 

„Woher weiß du …?“ 

Er grinste. „Was denkst du denn? Die Neuigkeit hat sich innerhalb kürzester Zeit wie ein Lauffeuer in der Schule und im Schloss verbreitet. Und dass du niemals leichtfertig eine solche Entscheidung fällen würdest, war mir sofort klar.“ 

Ich seufzte und lehnte mich auf dem unbequemen Stuhl zurück. Wortlos stellte Tesfaye einen kleinen Korb mit Essen auf den Tisch. Über die Suche hinweg hatte ich völlig das Zeitgefühl verloren, was mein Magen mit einem Knurren quittierte. 

„Wie spät ist es?“, fragte ich und nahm mir einen Apfel. 

„Zeit für Veränderung“, antwortete Tesfaye, stibitzte das Obst aus meiner Hand und bot mir stattdessen ein Stück Käse an. 

„Was ist dein Problem?“ Er setzte sich auf die Tischkante, woraufhin das alte Holz bedrohlich knirschte. „Das Mädel hat Schneid und sie hat euch bereits sieben lange Jahre …“, er lachte laut auf. „… sieben verdammte Jahre an der Nase herumgeführt. Sie hat es verdient, die Ausbildung zu Ende bringen zu dürfen.“ 

Grübelnd biss ich ab und kaute bedächtig. Es war klar, dass Tesfaye sich darüber köstlich amüsierte. Nicht nur, dass bisher keiner das Mädchen bemerkt hatte, sondern weil ihm die Lichtwächter noch immer zu engstirnig waren. Bei den Assassinen gab es seit jeher Frauen, die Seite an Seite mit ihren männlichen Kameraden lebten. Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. 

„Ich will nur sichergehen, dass …“ 

„Was?“ Es war furchtbar, wie gelassen er das Ganze nahm. 

Verlegen starrte ich auf das Stück Käse in meiner Hand. Ich wusste selbst nicht genau, was ich wollte. Vielleicht hatte ich Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen. Gabriel war nicht durchweg ein schlechter Mensch gewesen. Nur, wenn man einmal anfing, Regeln zu brechen, wann genau hörte man damit wieder auf? Sacht hob Tesfaye mein Kinn an und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. 

„Warum sollte sie kein Lichtwächter werden können? Du bist das Gildenoberhaupt. Du entscheidest, was richtig und was falsch ist. Und du hast fähige Männer an deiner Seite, die dich, wenn nötig, zurück auf den Boden der Tatsachen holen. Vertraue ihnen und deinen Fähigkeiten.“ 

Demonstrativ klappte er das dicke Buch zu, in welchem ich zuletzt nach Antworten gesucht hatte, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. 

„Devon wartet oben in deiner Baracke mit den anderen auf dich. Rede mit ihnen und folge dann deinem Gefühl.“ 

Wie so oft wähnte ich, in Tesfayes dunklen Iriden zu ertrinken. Er mochte ein aufbrausender Sturkopf sein. Dennoch schenkte er mir stetig Kraft, wenn ich glaubte, von den Aufgaben und der Verantwortung eines Gildenoberhauptes weggeschwemmt zu werden. 

Entschlossen griff ich mir die drei Bücher, welche ich mir zurechtgelegt hatte. Sie handelten von der Ausbildung der jungen Novizen. Aber niemals wurden Mädchen darin erwähnt – oder abgelehnt. Zur Not würden sie meine Entscheidung stützen können. 

Rasch drückte ich Tesfaye einen festen Kuss auf die Lippen, dann machte ich mich auf den Weg zu meinen Gildenbrüdern. Er hatte recht. Und je länger ich darüber nachdachte, umso sicherer wurde ich mit meinem Entschluss. 

Schon vor der Baracke hörte ich die lauten Diskussionen, die abrupt verstummten, sobald ich eintrat. Nacheinander sah ich die Wächter an, ging dann an ihnen vorbei und legte die Bücher auf dem Tisch ab. Milan war der Erste, aus dem die Ungeduld herausplatzte. 

„Wann hat es jemals ein Mädchen unter den Lichtwächtern gegeben?“ 

Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte unwirsch den Kopf. Dreck bröselte aus seinem Haar und auch sein restliches Erscheinungsbild sah leicht mitgenommen aus. Wieder stach das schlechte Gewissen zu, denn ich hätte mit den Novizen den Waldlauf samt dem anschließenden waffenlosen Zweikampf durchführen müssen. 

„Noch nie“, gab Devon zurück, lenkte damit meine Gedanken zur aktuellen Problematik. „Warum sollten wir das jetzt ändern?“

„Es hat sich einiges geändert in letzter Zeit.“ Tief atmete ich durch, bevor ich fortfuhr. „Zwar haben wir seit Öffnung der Schule für jedermann, ganz gleich welchen Standes, einen regen Zufluss an Novizen, doch die meisten überstehen die erste Prüfung nach drei Monden nicht.“

Nickend stimmte mir Kival zu. Viele der Jünglinge hatten wieder gehen müssen, da sie unseren hohen Anforderungen nicht gewachsen gewesen waren.

„Die Frage ist, ob wir Königstreue, Loyalität und Geschick an einem Geschlecht festmachen dürfen.“ Auffordernd deutete ich auf den Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch. „Und es gibt kein Gesetz, das dagegen spricht. Ihr könnt selbst nachsehen.“ 

Milan schüttelte verlegen den Kopf. „Nein, wir vertrauen dir.“ Er stockte kurz, bevor er erneut Luft holte, um seine Bedenken zu äußern. „Allerdings ist sie dann das einzige Mädchen, umringt von jungen Burschen, deren Reife erwacht. Sie sollen sich auf die Ausbildung konzentrieren und später auf ihre Aufgabe. Nicht jemandem hinterherscharwenzeln.“ 

Es war Kival, der daraufhin belustigt gluckste und seinen Gildenbruder vielsagend anschaute. „Als ob dafür ein Mädchen vonnöten ist. Soweit ich weiß, hat sich ein Freudenhaus am Rande der Stadt angesiedelt, dessen Angestellte weitaus williger sind als eine junge Novizin, die sich zu wehren weiß. Fakt ist, dass Lynnea tatsächlich eine sehr gelehrige Schülerin abgibt. Sie gleicht mögliche körperliche Schwächen an anderer Stelle aus, aber auch so kann sie es locker mit den Jungen in ihrem Jahrgang aufnehmen. Sie hat es unbemerkt weit gebracht bisher. Hätte Fenn sie nicht verraten … wer weiß, wann wir es gemerkt hätten.“ 

Ich nickte beiden zu und wog ihre Argumente gegeneinander ab. Kival war viel mit den Novizen zusammen, da er den Großteil der Ausbildung koordinierte und durchführte. Aber auch Milans Einwand war verständlich. Er hatte für die Sicherheit einer ganzen Stadt zu sorgen und brauchte verlässliche Wächter unter seinem Kommando. Fragend schaute ich zu meinem ersten Offizier. 

„Es könnte Probleme geben“, setzte dieser an. Ich runzelte die Stirn, wartete aber geduldig ab, was Devon zu sagen hatte. „Die Leute werden reden, wenn wir ein Mädchen in unseren Reihen aufnehmen.“ 

„Das Gerede anderer interessiert mich nicht“, fuhr ich streng dazwischen, selbst wenn es nicht stimmte. Ich war das jüngste Oberhaupt in der Geschichte der Lichtwächter und dazu der inoffizielle Gemahl des Hohekönigs. Allein das sorgte für genügend Gesprächsstoff am Hofe und reichlich Kritik, auch aus den eigenen Reihen. Ich sollte mich also davor hüten, zu viele Fehler zu machen, die das Ansehen unserer Gilde in den Schmutz ziehen könnten. Und darüber hinaus ging es hier um die Zukunft eines jungen Mädchens, das sich bisher als Novizin eindeutig bewährt hatte. 

„Wichtig ist doch nur: Wird Lynnea ihre Aufgaben als Wächterin gewissenhaft und erfolgreich erfüllen können oder nicht? Spricht irgendetwas dagegen?“ 

Fest sah ich jedem meiner Gildenbrüder in die Augen. Kival schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, sie ist eine vorbildliche Novizin und wird sicher eine gute und loyale Wächterin sein, wenn wir es ihr ermöglichen, ihre Ausbildung zu beenden.“ 

Von Milan erntete ich ein Schulterzucken. „Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist … aber nein, mir fällt nichts ein, was dagegen spricht.“ 

„Devon?“ 

Mein erster Offizier stimmte den beiden zu. „Geben wir ihr eine Chance.“ 

Somit stand es fest: Lynnea würde vorerst in Vitreylis bleiben.

3.

Antaris 

Wie sich bald herausstellte, war Lynnea tatsächlich eine der Besten ihres Jahrganges. Sie trainierte hart, beinahe verbissen. Wahrscheinlich, weil sie sich im Klaren war, dass sie den Jungen körperlich ansonsten unterlegen sein würde. Sie hatte Ausdauer, war diszipliniert und darüber hinaus äußerst belesen. 

Manchmal beobachtete ich sie in den folgenden Tagen während der Übungen oder des Unterrichts. Ich hatte mir fest vorgenommen, ihr keine Sonderstellung innerhalb der Kinder des Lichts einzuräumen. Dass sie diese unweigerlich hatte, wie mir Tesfaye grinsend immer wieder unter die Nase rieb, konnte ich leider nicht leugnen. Vor allem war sie jedoch eines: allein. 

Ich war mir nicht sicher, ob ich mir das nur einbildete, aber sie erinnerte mich so oft an mich selbst. 

Nach ihrer Prügelei mit Fenn und meiner Standpauke, wusste jedermann, dass sie ein Mädchen war, und wie sie es versprochen hatte, versuchte sie nicht länger, das zu verstecken. Doch die meisten Jungen machten einen weiten Bogen um sie und ich war mir nicht sicher, ob ihr das etwas ausmachte oder nicht.

Tesfayes und meine Abreise rückte unweigerlich näher und ich versuchte, den alltäglichen Ablauf der Wächterschule aufrechtzuerhalten, in der Hoffnung, dass die Routinen in meiner Abwesenheit reibungslos weiterlaufen würden. Die Ausbildung der zukünftigen Wächter hatte noch immer oberste Priorität und durfte nicht von der Anwesenheit eines Mädchens beeinflusst werden.

Ein letztes Mal wollte ich selbst mit den Novizen einen Waldlauf absolvieren und da Tesfaye ohnehin mit Papierkram beschäftigt war, rief ich gemeinsam mit Devon den gemischten Haufen an Rekruten zur Ruhe, um in das nahegelegene Waldstück aufzubrechen. Die Gruppe setzte sich aus Novizen unterschiedlicher Stufen zusammen und auch Lynnea war mit dabei.

„So, jetzt sind alle beisammen und abmarschbereit.“ Devon überprüfte den Sitz seines Schwertgurtes, während ich den Blick über die Jünglinge schweifen ließ.

„Gut, dann los.“ 

Wir trabten in einem gemächlichen Tempo durch die Stadt, wo man uns gewohnheitsgemäß Platz machte, bis hinaus durch das Haupttor. Den schmalen Weg seitlich an den Feldern vorbei gelangten wir rasch in den Wald, der sich östlich von Vitreylis erstreckte. Ich führte die Gruppe an, während Devon als Letzter lief, sodass wir nicht aus Versehen eines der Kinder unterwegs verlieren konnten. 

Die Temperaturen waren in den vergangenen Tagen merklich gestiegen und erste Vorboten des Frühlings begegneten uns im Wald. Winzige grüne Knospen zeigten sich an den kahlen Ästen und Schneeglöckchen und Krokusse säumten unseren Weg. Bei dem Anblick der frisch erwachenden Natur konnte ich mich einer gewissen Vorfreude auf die Zeit gemeinsam mit Tesfaye in den Wäldern nicht entziehen. Ich genoss den kühlen Wind auf der Haut, fühlte Ignis freudig in meinen Adern pulsieren.

Die Sonne war ein kleines Stück gewandert, als auch der letzte Novize zu schnaufen begann. Wie so viele Male zuvor verlangten wir von den Rekruten bei dem Lauf durch unwegsames Gelände alles ab und selbst mir lief der Schweiß in Rinnsalen das Rückgrat hinab.

Doch irgendetwas war anders. Hinter einer Baumreihe verstummte das fröhliche Vogelgezwitscher und eine eisige Kälte, weit entfernt von den sanften Böen der Windgöttin, legte sich um meine Brust wie ein eisernes Band. 

Augenblicklich spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Als ich stehenblieb, begann direkt das Gemurmel hinter mir. Sacht hob ich die Hand und die Novizen verstummten sofort, während ich mit zusammengekniffenen Augen und der Hand am Schwert in das Dickicht um uns starrte. Die angehenden Wächter nahmen zumindest meine Anspannung wahr und sahen sich ebenfalls suchend um, bis Devons Stimme eindringlich die Stille durchbrach und meinen Namen rief. 

Ich fuhr zu ihm herum und bahnte mir einen Weg durch die Halbwüchsigen zu meinem ersten Offizier, der bereits sein Schwert gezogen hatte. Dass Lynnea mir nach hinten gefolgt war, nahm ich zähneknirschend zur Kenntnis.

Im Schatten zwischen den Bäumen waberte violetter Nebel über den Boden, wurde stetig mehr und schien sich zusammenzuziehen. Er wuchs immer weiter heran, bis sich eine klauenbesetzte Hand herausschälte und über den Boden kratzte. Vor unseren Augen materialisierte sich ein Wesen der Dunkelheit, das wir so bisher nur aus Büchern kannten. 

Bedächtig erhob sich die finstere Gestalt zu ihrer vollen Größe, präsentierte einen schlangenartigen Leib und bleckte die scharfen Zähne zu einem diabolischen Lächeln. 

„Sssso viel frisssschessss Fleissssch und sssssso rein.“ 

Sie fuhr sich mit der gespaltenen Zunge über die schmalen Lippen, während sie die Muskeln an ihren menschlich wirkenden Armen eindrucksvoll spielen ließ, als wollte sie uns provozieren. Allein ihre überragende Größe und der glänzende Panzer, der sich über die breite Brust spannte, reichte jedoch bereits aus, dass die meisten Novizen zurückwichen. 

Reflexartig schob ich die letzten Burschen samt Lynnea hinter mich und sah zu Devon, der sich kampfbereit vor den verängstigten Jungen aufgebaut hatte. 

„Devon! Zurück!“, befahl ich harsch und stellte mich neben meinem Offizier, der mich irritiert von der Seite her ansah. Sein Mut in allen Ehren, aber gegen so ein Monster konnte er mit seiner Klinge nichts ausrichten. 

„Und du – verschwinde zurück in die Untiefen, aus denen du gekommen bist!“ 

Das Vieh bleckte abermals die spitzen Zähne und richtete die gelbleuchtenden Augen auf mich. 

„Wer bisssst du, dassss du glaubsssst mir Befehle erteilen zzzzu können?“, zischte es belustigt.