Das Lob der Torheit - Erasmus von Rotterdam - E-Book

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Beschreibung

Sie beherrsche die Welt, lässt Erasmus von Rotterdam die Torheit höchstpersönlich verkünden – man brauche sich nur umzusehen! Und sie sei überall: an den Universitäten, bei den Geistlichen, den Gebildeten, den Herrschenden wie bei den Untertanen. Die Lobrede auf die Torheit, gehalten von der personifizierten Torheit selbst, landete damals, mitten in der turbulenten Reformationszeit, auf dem Index der verbotenen Bücher. Zu scharf war die Kritik an allen Ständen, die Erasmus in diesem Text untergebracht hatte. Doch diese bitterböse und gleichwohl amüsante Rede ist beunruhigend zeitlos. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 232

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Erasmus von Rotterdam

Das Lob der Torheit

Übersetzt von Anton J. GailHerausgegeben von Stefan Zathammer

Reclam

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961979-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014284-4

www.reclam.de

Inhalt

Erasmus von Rotterdam an seinen Freund Thomas Morus

Das Lob der Torheit, eine Lehrrede des Erasmus von Rotterdam

Zu dieser Ausgabe

Literaturhinweise

Nachwort

Inhalt

[5]Erasmus von Rotterdam an seinen Freund Thomas Morus

In den jüngst vergangenen Tagen, als ich von Italien nach England unterwegs war, wollte ich den ganzen langen Ritt (über die Alpen) nicht mit läppischem Geschwätz verbringen und habe mir stattdessen über unsere gemeinsamen Fragen nach Sinn und Aufgabe der Bildung Gedanken gemacht. So konnte ich mich zugleich in die Gesellschaft jener geschätzten klugen Freunde zurückversetzen, die ich verlassen habe. Unter diesen stehst du, mein Freund Morus, an erster Stelle. Auch fern von dir hat mein Geist sich nicht weniger an dir erquickt als damals während unseres täglichen Umgangs. Ich wüsste nichts, was für mich je beglückender gewesen wäre als deine Freundschaft. Da es mich nun drängte, etwas zu schaffen, die Umstände aber keine wissenschaftliche Arbeit zuließen, kam es mir in den Sinn, der Moria, also der Torheit, ein Lob zu singen. Du wirst fragen, wieso mir Pallas (Athene) gerade diese Idee in den Sinn brachte. Zunächst war es dein Familienname, der ebenso auf die Torheit1 anspielt, wie du dich von allem törichten Wesen gründlich unterscheidest. Darin sind alle über dich einer Meinung. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass dir eine ironische Spielerei dieser Art gefallen würde, zumal du gewöhnlich deine unverhohlene Freude an Scherzen dieser Art hast, sofern sie geistvoll und beziehungsreich sind. Du liebst es ja, das menschliche Leben immer ein wenig wie Demokrit2 zu betrachten. Obwohl du, was Intelligenz angeht, weit über die große Masse hinausragst, verstehst du es doch, dir im täglichen Leben durch [6]eine unwahrscheinliche Liebenswürdigkeit überall Freunde zu erwerben. Es macht dir sogar Freude, dich so zu geben. Ich weiß, du wirst diesen Essay nicht nur wohlwollend aufnehmen als Dankesgabe deines Gastes, du wirst ihn auch in sichere Obhut nehmen; denn da er dir gewidmet ist, gehört er schon nicht mehr mir, sondern ist dein Eigentum.

Zweifellos werden die gehässigen Kritiker nicht ausbleiben, die es für unziemlich halten, dass ein theologischer Autor sich mit solchen Spielereien abgebe; andere werden Anstoß nehmen an meiner Bissigkeit, die nicht zu christlicher Bescheidenheit passe. Sie werden mir vorwerfen, dass ich es wie Aristophanes oder Lukian mache und an allem meine Zähne wetze.3 Wen aber Leichtigkeit und Verspieltheit der Behandlung stören, der mag immerhin bedenken, dass ich damit keinesfalls ein Neuerer bin, sondern an großen Autoren der Vergangenheit rühmliche Vorbilder habe. Schon in der grauen Vorzeit hat Homer seinen scherzhaften »Froschmäusekrieg« geschrieben, Vergil seine »Mücke« und sein »Kräutergericht«, Ovid seine »Nuss«.4 So hat Polykrates ein Lob auf Busiris verfasst, ebenso dessen Kritiker Isokrates, Glaukon ein Lob der Ungerechtigkeit, Favorinus ein Lob des Thersites und des viertägigen Fiebers, Synesius ein Lob auf die Glatzköpfigkeit, Lukian ein Lob auf die Fliege und den Schmarotzer.5 Seneca schrieb die »Verkürbissung des Kaisers Claudius«, Plutarch den Dialog des Gryllus mit Odysseus, Lukian und Apuleius einen Eselsroman, dann noch irgendwer das Testament des Schweines Grunnius Corocotta, das [403] der heilige Hieronymus erwähnt.6

Mögen also jene Kritiker sich sagen, ich hätte zu meinem Vergnügen gleichsam die Figuren auf einem Schachbrett [7]hin und her geschoben oder, wenn ihnen das mehr gefällt, mein Steckenpferd geritten7. Ist es nicht eine hanebüchene Ungerechtigkeit, wenn wir jeder Lebenslage ihre eigentümlichen Spiele zugestehen, dem Schriftsteller aber sein Spiel verwehren wollen, besonders wenn es ernsthafte Einsichten vermittelt und seine Kurzweil einem urteilsfähigen Leser doch oft genug mehr die Augen öffnet als die abgenutzten Paradeargumente gewisser Leute. Etwa jene Autoren, die mit zitatenreicher Rede das Lob der Rhetorik oder der Philosophie verkünden, die die Vorzüge eines Fürsten feiern oder zum Türkenkrieg auffordern.8 Wieder andere verlegen sich auf Weissagungen oder machen ihre Problemchen aus einem reinen Nichts. Sicher ist es läppisch, ernsthafte Dinge zu verniedlichen; es ist aber mindestens so eindrucksvoll, wenn jemand witzig schreibt und dabei keineswegs den Eindruck erweckt, er treibe dummes Zeug. Ich stelle mich mit meiner Arbeit dem Urteil der Öffentlichkeit; immerhin, wenn mich meine Eigenliebe nicht blendet, habe ich die Torheit nicht witzlos gelobt.

Was den Vorwurf der Bissigkeit angeht, sollte man immerhin bedenken, dass es zum Vorrecht des Künstlers gehört, sich straflos über das menschliche Leben lustig zu machen, vorausgesetzt, dass die Freiheit nicht in Gehässigkeit ausartet. Umso mehr wundere ich mich über den Geschmack der Zeitgenossen, denen fast nur noch hochtrabende Titel gefallen. Da gibt es unter anderem Leute von reichlich merkwürdigen religiösen Auffassungen, die eher bereit sind, Christus aufs Heftigste anzugreifen, als auch nur den harmlosesten Scherz gegen den Papst oder einen Fürsten zuzulassen, vor allem wenn es um deren Einkünfte oder Amtsgewalt geht. Wenn nun wirklich jemand [8]Lebensgewohnheiten bloßstellt, ohne einen Namen zu nennen, ist das dann Bissigkeit oder nicht vielmehr Unterweisung und Ermahnung? Bitte, wie gründlich nehme ich mich denn selbst unter die Lupe? Wer schließlich keinen Stand ungeschoren lässt, nimmt nicht die Menschen, sondern ihre Fehler aufs Korn. Sollte sich jemand getroffen fühlen, bekennt er sich damit eben schuldig oder hat Angst davor, es zu sein. Der heilige Hieronymus9 legte sich keinen Zwang auf in bissigen Anspielungen, er scheute sich nicht einmal, gelegentlich Namen zu nennen. Ich habe jeden Namen grundsätzlich vermieden und meinen Ausdruck so gemäßigt, dass ein verständiger Leser sofort merkt, es gehe mir mehr um Vergnügen als um Satire. Ich habe es auch nicht gemacht wie Juvenal10, der dauernd der geheimen Spur des Lasters folgt. Statt Schändlichkeiten Revue passieren zu lassen, habe ich Stoff zum Lachen geboten. Sollte nun jemand auch damit noch nicht zufrieden sein, mag er daran denken, wie gut es ist, von der Torheit getadelt zu werden. Wir legen ihr ja alle Worte in den Mund und durften doch nicht aus der Rolle fallen. Doch wozu setze ich dir das alles auseinander? Du bist ein so vorzüglicher Anwalt,11 dass du selbst eine bedenkliche Sache erfolgreich vertreten kannst. Leb wohl, beredter und gewandter Freund Morus, und mach die Sache der Moria zu deiner eigenen. In ländlicher Zurückgezogenheit am 9. Juni 1508.12

[9]Das Lob der Torheit, eine Lehrrede des Erasmus von Rotterdam

Die Torheit spricht:

[405] Was auch immer der große Haufen von mir sagt – ich weiß sehr gut, in welch schlechtem Ruf die Torheit sogar bei den ärgsten Dummköpfen steht –, ich behaupte dennoch, aus eigener Macht Götter und Menschen erheitern zu können. Das beweist schon der plötzliche Anflug ungewöhnlicher Heiterkeit auf euren Zügen in dem Augenblick, da ich mich in dieser großen Gesellschaft zu Wort melde. Eure Stirn glättet sich, und ihr zeigt mir froh und liebenswürdig ein beifälliges Lächeln. Wenn ich euch so vor mir sehe, erscheint ihr mir trunken von Nektar wie die homerischen Götter, wo ihr doch eben noch trübsinnig und bekümmert dasaßt. Es ist, als wärt ihr gerade erst aus der Höhle des Trophonius13 zurückgekommen. Wie auf der Erde beim ersten Strahl der goldenen Sonne oder nach dem rauen Winter beim ersten schmeichlerischen Hauch des Frühlings gleich alle Dinge ein neues Gesicht erhalten, neue Farbe und Jugend [406] wiederkehrt, so zeigt ihr bei meinem Anblick gleich ein anderes Aussehen. Während nämlich sonst berühmte Redner kaum mit einer wohlgesetzten Ansprache die lästigen Sorgen verscheuchen können, zerstreut meine Erscheinung allein sie gleich.

Warum ich aber heute so kostümiert auftrete, sollt ihr bald hören. Leiht mir nur geduldig euer Ohr, freilich nicht wie ihr den Predigern zuzuhören pflegt, sondern wie ihr euch den Spielleuten, Possenreißern und Narren widmet, [10]mit sogenannten Midasohren14. Ich möchte mit euch ein wenig Sophisterei15 treiben, will es aber nicht machen wie gewisse Zeitgenossen, die ihre läppischen Angstgebilde Kindern aufdrängen und mehr als weibische Zanksucht zur Mode machen. Lieber will ich mich an die Alten halten, die sich Sophisten nennen ließen, um der fragwürdigen Bezeichnung eines Weisen aus dem Weg zu gehen. Ihr Anliegen war es, den Ruhm der Götter und wackerer Männer in Lobreden zu preisen. Ihr werdet also eine Lobrede hören, nicht zum Preis des Herkules, auch nicht zum Preis des Solon16, sondern zu meiner eigenen, der Torheit, Verherrlichung.

Ich halte nicht so viel von jenen Weisen, die es als besonders dumm und ungezogen bezeichnen, wenn einer sein eigenes Lob singt. Es mag immerhin töricht sein, wenn sie nur zugeben, dass es mir ansteht. Ist es nicht selbstverständlich, dass die Torheit ihr eigenes Lob trompetet und sich selbst die Flöte bläst? Wer könnte mich besser darstellen als ich selbst? Bin ich doch keinem besser vertraut als mir selbst! Das ist doch viel bescheidener als der gemeine Brauch der Ehrenmänner und Weisen, die sich meistens aus falscher Scham [407 oben] gegen Geld einen Lobhudler oder Reimschmied bestellen, um von ihm unter dreisten Lügen ihr Lob zu vernehmen. Und dann schlägt der Biedermann doch auch nach Pfauenart ein Rad, und der Kamm schwillt ihm, wenn der unverschämte Lobhudler den Nichtsnutz zu einem Gott macht, wenn er ihn als höchstes Muster aller Tugend hinstellt, von dem er sich doch selbst meilenweit entfernt weiß, wenn er seine Helmzier mit fremden Federn schmückt, wenn er eine Mohrenwäsche und geradewegs aus der Mücke einen Elefanten macht. [11]Schließlich halte ich es mit dem alten Sprichwort, dass jeder ein Recht hat, sich zu loben, wenn ihm kein anderer den Gefallen tut.

Ich wundere mich manchmal über die menschliche Undankbarkeit und Säumigkeit, da seit Anbeginn der Welt bisher noch keiner aufstand und mit dankbarer Rede das Lob der Torheit feierte, wo doch alle voll Eifer in meinem Dienst stehen und mit Freude meine Wohltaten wahrnehmen. Es fanden sich genug Menschen, die das Lob des Busiris, des Phalaris, des viertägigen Fiebers, der Fliegen, der Glatzen und ähnlicher Absonderlichkeiten in nächtelanger Arbeit gesungen haben.17 Von mir sollt ihr aus dem Stegreif eine mühelose, aber umso treffendere Lobrede hören. Ihr sollt eben nicht glauben, dass sie zur Schaustellung des Geistes ersonnen ist, wie das so [408 oben] Rednerart ist. Ihr wisst, dass diese, wenn sie nach runden dreißig Jährchen eine Rede, manchmal noch fremdes Eigentum, ans Licht bringen, beteuern, ihr Werk in drei Tagen mit spielender Leichtigkeit niedergeschrieben oder gar diktiert zu haben. Mir war es immer am liebsten, alles zu sagen, wie es gerade auf die Zunge kam.

Es soll aber keiner erwarten, dass ich mich nach gemeinem Rednerbrauch selbst erläutere oder gar auslege. Das zu umschreiben, dessen Wirkung so verbreitet ist, oder das zu zergliedern, in dessen Kult alle Welt übereinstimmt, wäre beides ein gleich heilloses Unterfangen. Wozu soll ich in einer Erläuterung meinen Schatten oder mein Abbild vorführen, da ihr mich doch von Angesicht zu Angesicht leibhaft unter euch seht? Ich bin ja, wie ihr wisst, jene Spenderin der Güter, die man im Lateinischen Stultitia, im Griechischen Moria nennt.

[12]Ist es wirklich noch nötig, das zu sagen? Zeige ich denn nicht auf Gesicht und Stirn deutlich genug, wes Geistes Kind ich bin? Wer mich als Minerva18 oder als Weisheit darstellen wollte, müsste sich durch meinen Anblick allein vom Gegenteil überzeugen lassen, da er auch ohne Beweisführung ein untrüglicher Spiegel des Geistes ist. Verstellung gibt es bei mir nicht, und man sieht mir immer an, was ich denke. Ich bleibe mir immer völlig gleich, [407 unten] so dass selbst jene mich nicht verheimlichen können, die für sich besonders nachdrücklich Maske und Titel der Weisheit in Anspruch nehmen und Affen [408 unten] im Purpur und in der Löwenhaut Esel bleiben. Je eifriger sie sich bemühen, umso deutlicher stehen irgendwo die Midasohren19 hervor. Diese Art Menschen ist, bei Gott, undankbar, da sie als unsere unleugbaren [409] Zunftgenossen unsern Namen, dessen sie sich vor der Menge schämen, allgemein als ausgesuchten Schimpfnamen gebrauchen. Werden wir sie nicht mit gutem Recht die Töricht-Weisen nennen, da sie doch in Wirklichkeit überaus töricht sind, aber weise wie Thales20 erscheinen wollen?

Unsere zeitgenössischen Rhetoren machen es offenbar so und kommen sich wie Götter vor, wenn sie doppelzüngig auftreten wie die Blutegel21. Sie tun sich etwas darauf zugute, ihr Latein da und dort mit einigen griechischen Brocken gleichsam zu verbrämen, auch wenn sie gar nicht am Platze sind. Fehlen ihnen Fremdwörter, graben sie vier oder fünf Worte aus vergilbten Pergamenten aus und benebeln den Geist des Lesers. Das soll bei allen, die es verstehen, die Selbstgefälligkeit heben; die es nicht verstehen, sollen umso mehr in ehrfürchtige Bewunderung versinken, je weniger sie begreifen. Gerade uns bereitet es aber [13]ein köstliches Vergnügen, das Gesuchte und Unpassende vor allem zu beargwöhnen. Sind nämlich streberhafte Menschen darunter, lächeln sie beifällig und verständnisinnig, wackeln wie ein Esel mit den Ohren, um den andern ihre gute Auffassung zu bezeigen. So ist es nun einmal.

Wenden wir uns zu unserm Gegenstand zurück! Den Namen des Mannes habt ihr nun. Welches schmückende Beiwort soll ich ihm geben? Am besten »Krone der Torheit«! Mit welchem ehrenvollen Beinamen wird die Göttin Torheit sonst ihre Geweihten antreiben? Da aber kaum einer meine Ahnen kennt, will ich mithilfe der Musen versuchen, sie darzulegen. Mein Vater war weder das Chaos noch der Orkus, Saturn oder Japetus, noch sonst einer von den altersgrauen, abgestandenen Göttern. Plutos, der Reichtum, war es. Ob nun Hesiod und Homer, ja selbst Jupiter wollen oder nicht,22 er allein ist der Vater der Götter und Menschen. Nach seinem Willen regt und bewegt sich heute wie einst alles Geistliche und Weltliche. Seiner Entscheidung unterliegt alles, Kriege, Friedensschlüsse, Reichsgründungen, Verfassungen, Gerichtsbeschlüsse, Wahlen, Heiraten, Verträge, Bündnisse, Gesetze, Künste, Spiel, Ernst, kurz – mir geht schon der Atem aus –, jede private und öffentliche Tätigkeit unter Menschen. Ohne seine Hilfe wäre das ganze Volk poetischer Geister, frei herausgesagt, sogar die höchsten Götter selbst, entweder einfach nicht vorhanden, oder sie führten ein nüchternes, wenn nicht karges Leben. Hat ihn jemand zum Feind, wird ihm selbst die Hilfe der Pallas Athene nichts nützen23. Wer dagegen unter seinem Schutz steht, [410] darf getrost dem blitzeschwingenden Götterhaupt Jupiter den Strick empfehlen. Seiner Vaterschaft rühme ich mich. Er erzeugte mich nicht aus [14]seinem Haupt wie Jupiter jenes finstere Mannweib Pallas, sondern mit der Nymphe Jugend, der hübschesten und ansehnlichsten von allen. Es war auch keine freudlose Ehe, wie sie den lahmen Schmied24 hervorgebracht hat, sondern ein viel schwungvollerer Liebesbund, wie unser Homer sagt. Täuscht euch nicht, der altersschwache und blinde Plutos des Aristophanes25 war nicht mein Erzeuger, sondern es war der einst frische und noch jugendwarme Plutos, der nicht nur von Jugend, sondern ebenso vom Nektar glühte, den er damals gerade reichlich und ungemischt beim Göttermahl getrunken hatte.

Ihr werdet gewiss nach meinem Geburtsort fragen, da die gesellschaftliche Geltung heute davon abhängen soll, wo man das erste Geschrei ausgestoßen hat. Ich bin weder auf dem haltlosen Delos noch auf dem wogenden Meer noch in der glatten Höhle der Kalypso geboren,26 sondern auf den Inseln der Glückseligen selbst, wo alles ungesät und ungepflügt hervorsprießt. Dort gibt es keine Anstrengung, kein Alter und keine Krankheit, nirgendwo auf den Feldern findet man dort Asphodillwurz, Malve, Meerzwiebeln, Wolfsbohnen, Pferdebohnen oder andere »Köstlichkeiten« dieser Art. Weit und breit haben Auge und Nase ihr Ergötzen an Molykraut, Allheilkraut, Zauberkraut, Majoran, Ambrosia, Lotosblumen, Rosen, Veilchen, Hyazinthen und den Gärtlein des Adonis27. Inmitten solcher Köstlichkeiten habe ich das Licht der Welt erblickt und der Mutter zugelächelt, statt zu weinen.

Ich neide dem erhabenen Jupiter nicht seine Nährmutter Ziege; denn zwei neckische Nymphen nährten mich an ihren Brüsten, die Bacchustochter Methe und Apaedia, die Tochter des Pan.28 Ihr seht sie beide hier unter der Herde [15]meiner Trabanten. Wenn ihr die Namen wissen wollt, müsst ihr euch schon [411] an das Griechische halten. Die ihr hier mit finsteren Augenbrauen seht, heißt Eigenliebe. Dort steht die Schmeichelei sozusagen mit verzückten Augen und mit den Händen Beifall klatschend. Vergessen nennt man, die hier fast im Stehen schläft. Trägheit stützt sich mit verschränkten Händen auf beide Ellenbogen. Mit Rosen bekränzt und duftend vor Salben seht ihr das Vergnügen, und jene mit dem unsteten Blick ist der Wahnsinn. Ergötzen nennt man die andere mit der glänzenden Haut und dem geschmackvollen Mantel. Ihr seht gleichfalls zwei Götterknaben unter den Mädchen, von denen einer Ausgelassenheit und der andere Siebenschläfer heißt. Mithilfe dieses meines Anhangs halte ich alle Welt in meinem Bann und bin sogar Herr über die Herrscher.

Herkunft, Werdegang und meine Gesellschaft kennt ihr nun. Damit ihr nun aber nicht glaubt, ich würde mir den Rang einer Gottheit zu Unrecht anmaßen, spitzt die Ohren und vernehmt, was für Annehmlichkeiten ich Göttern und Menschen bereite. Irgendwer hat einleuchtend nachgewiesen, dass hilfreiches Verhalten gegenüber den Menschen die Gottheit ausmacht.29 Wenn man also verdientermaßen alle zum Rat der Götter zählt, die der Menschheit Wein, Getreide oder ähnliche Annehmlichkeiten gaben, warum werde ich dann nicht von Rechts wegen als »Alpha« des Götterhimmels angesehen, wo ich allein die Fülle des Alls schenke?

Was gibt es denn Angenehmeres und Kostbareres als das Leben selbst? Wer anders als ich gibt aber den Auftakt für dieses Leben? Weder die Lanze der hochgeborenen Pallas Athene noch die Ägis30 des Wolkenbewegers Jupiter hat [16]das Menschengeschlecht erzeugt oder vermehrt. Der Göttervater und König des Menschengeschlechts selbst, der den ganzen Olymp mit einem Wink erschüttert, muss doch den dreigezackten Blitz und den Titanenblick, mit dem er nach Belieben alle Götter in Furcht erhält, ablegen und wie ein Schauspieler eine fremde Maske aufsetzen, wenn er seiner Gewohnheit gemäß ein Kind in die Welt setzen will.31 Die Stoiker dünken sich den Göttern [412] am nächsten, aber gib mir nur einmal drei oder vier, meinethalben auch das Sechshundertfache an Stoikern! Wenn sie schon den Bart, das Abzeichen ihrer Gelehrtheit, das sie übrigens mit den Geißböcken gemein haben, nicht beseitigen, müssen sie aber doch sicher auf die finsteren Augenbrauen verzichten, die Stirne glätten und ihre Lieblingsdogmen über Bord werfen, ja, sie müssen eine gute Weile läppischen Unfug machen. Zuletzt muss der weise Mann mich, mich, sage ich, bemühen, wenn er Vater werden will.

Warum sollte ich meiner Art gemäß nicht offener mit euch reden? Erzeugen etwa Kopf, Gesicht, Brust, Hände oder Ohr, die man ja gemeiniglich als edle Teile ansieht, Götter und Menschen? Nein, jener Körperteil, der in seiner Albernheit und Lächerlichkeit eine ernsthafte Erwähnung gar nicht zulässt, ist Erzeuger und Mehrer des Menschengeschlechts. Er ist schließlich mit mehr Anspruch als der vierfache pythagoreische jener heilige Quell,32 aus dem das All sein Leben schöpft. Welcher Mann würde den Kopf unter das Joch des Ehestands beugen, wenn er nach der Gewohnheit jener Weisheitsapostel zuvor bei sich die Nachteile jenes Lebens erwogen hätte? Oder welche Frau würde sich einem Mann hingeben, wenn sie die Mühen und Gefahren der Geburt und die Last der Erziehung kennen würde oder [17]überlegt hätte? Wenn ihr also der ehelichen Vereinigung das Leben verdankt, die Ehe aber der Unbesonnenheit und ihrem Gefolge, seht ihr doch ein, was ihr mir dankt. Welche Frau würde dies alles, nachdem sie es einmal erfahren hat, wiederholen wollen, wenn die Göttin Vergessenheit nicht einspränge? Selbst Venus würde – mag Lukrez abstreiten, soviel er will33 – damit einverstanden sein müssen, dass ihre Macht ohne unsern göttlichen Beistand kümmerlich und wirkungslos ist. So gehen also aus diesem Spiel unserer lächerlichen Benommenheit sogar die finstern Weisheitslehrer hervor, deren Stelle heutzutage die sogenannten Mönche einnehmen, die Purpurträger, die frommen Priester und die dreimal heiligen Päpste. Nicht anders ist es mit dem Gremium der Götter der Poesie, deren große Menge selbst der überaus geräumige Olymp kaum zu fassen vermag.

Was bedeutet es schon, Pflanzstätte und Quell des Lebens zu sein, wenn ich nicht auch zeige, dass alle Bequemlichkeit des Lebens von mir kommt? Was soll denn das? Kann man überhaupt von »Leben« sprechen, wo kein Vergnügen ist? Ihr klatscht Beifall. Ich wusste wohl, dass keiner von euch so weise oder, besser, so geistlos sein würde oder, noch besser, so geweckt wäre, dass er diese Ansicht hätte. Nicht einmal jene Stoiker verschmähen das Vergnügen. Trotzdem heucheln sie eifrig und hecheln es vor dem Volk durch. Offenbar doch nur, [413] um die anderen wegzugraulen und selbst weidlicher zu genießen! Sie sollen, beim Jupiter, einmal sagen, welcher Teil des Lebens denn nicht traurig, freudlos, unansehnlich, witzlos und beschwerlich ist, wenn man das Vergnügen, die Würze der Torheit, davon wegnimmt? Das hat ja der nie genug hervorgehobene Sophokles deutlich bestätigt, von dem wir jenen [18]wunderschönen Lobspruch auf uns haben: »Vergnügen bringt das Leben, wenn die Weisheit fehlt.«34 Immerhin wollen wir den ganzen Sachverhalt im Einzelnen nachweisen.

Jedermann weiß, dass die Kindheit dem Menschen das fröhlichste und lieblichste Alter ist. Was hätscheln, liebkosen und pflegen wir an den Kindern denn so, dass sogar der Feind diesem Alter hilfreich zur Seite steht? Doch nur die verführerische Macht der Torheit! Wohlbedacht legte die Natur den Neugeborenen diese in die Wiege, damit sie durch das Handgeld des Vergnügens die Mühen der Erzieher versüßen und sich die Gunst der Pfleger erschmeicheln. Wie beliebt ist dann bei allen erst die Jugendzeit, wie ausnehmend gewogen sind ihr alle, wie eifrig bilden alle sie und wie pfleglich reichen sie ihr die hilfreichen Hände? Woher rührt denn nun dieser Glanz der Jugend? Woher anders als von mir? Von mir hat sie jenes Mindestmaß an Einsicht und kennt darum auch so wenig Kummer. Ich will ein Lügner heißen, wenn die Menschen nicht bei zunehmendem Alter, sobald sie durch Erfahrung und Zucht männliche Einsicht gewinnen, alsbald die Blüte der Jugend einbüßen, ihr Feuer verlieren, statt Anmut Kälte und statt Frische Lahmheit zeigen. Je mehr der Mensch sich von mir entfernt, umso mehr schwindet seine Lebenskraft, bis schließlich das beschwerliche Greisenalter kommt, das nicht nur anderen, sondern sogar sich selbst zur Last fällt. Dieses selbst wiederum würde keinem Menschen erträglich sein, wenn ich nicht in solch jammervollem Elend meine Hilfe leihen würde. Wie die Götter bei den Dichtern den Gefährdeten in irgendeiner Vermummung beistehen, so rufe auch ich die Menschen hart am Tod nach Möglichkeit noch einmal zur Kindheit zurück. So nennt man diese ja [19]mit gutem Recht allgemein »kindisch«. Wenn jemand das Rezept zu solcher Verwandlung wünscht, will ich es keineswegs geheim halten. Ich führe ihn zum Quell unserer Vergessenheit, die auf den Inseln der Glückseligen entspringt, in die Unterwelt aber nur mehr als dünnes Bächlein gelangt. Wenn er dort einmal langes Vergessen getrunken hat, wird der Kummer der Seele bald abgespült sein, und die Jugend beginnt aufs Neue.

Die Menge spricht in solchen Fällen von Blödheit und Verdummung. [414] Sei’s drum! Darin liegt ja gerade die Verjüngung. Ist Jungsein denn etwas anderes als Unbesonnenheit und Unvernunft? Schätzt man nicht gerade den Mangel an Verstand am meisten an jenem Alter? Hasst und verabscheut nicht jeder ein frühreifes Kind wie eine Missgeburt? Das Sprichwort »Ein Knabe, früh von Weisheit voll, ist uns verhasst«35 stimmt uns darin bei. Wer könnte es aber im geschäftlichen Verkehr bei einem Greis aushalten, der sich bei solcher Lebenserfahrung gleiche Geistesfrische und Urteilsschärfe bewahrt hätte?

Dass er seine geistige Klarheit verliert, verdankt der Greis uns. Dafür enthebt ihn seine Blödheit aber jener elenden Sorgen, denen der weise Mann ausgeliefert ist. Trotzdem ist er kein witzloser Zechbruder und spürt den Lebensüberdruss nicht, den das reife Alter kaum verwindet. Wenn er gescheit ist, kommt der Tiefunglückliche manchmal mit dem Greis des Plautus auf jene drei Buchstaben36 zurück. Ich mache ihn glücklich und beliebt bei den Fremden und sorge dafür, dass er kein unbequemer Zeitgenosse wird. Bei Homer fließt die Rede aus dem Munde Nestors süßer als Honig, wogegen die Worte Achills voll Bitterkeit sind. Bei dem gleichen Dichter sitzen die Greise auf der Mauer [20](Trojas) und führen anmutige Gespräche.37 Darin sind sie sogar der Kindheit voraus, die bei aller Köstlichkeit doch wortlos bleibt und den vorzüglichsten Reiz des Lebens, die Geschwätzigkeit, nicht kennt. Hinzu kommt ja, dass alte Leute an Kindern ihre besondere Freude haben und die Kinder sich wieder zu den Alten hingezogen fühlen, »wie immer«, nach dem Wort Homers,38 »der Gott gleich zu gleich gesellt«. Welcher Unterschied besteht auch zwischen ihnen, als dass die einen mehr Runzeln und ein höheres Lebensalter haben? Sonst passen sie doch zusammen mit ihrem hellen Haar, ihrem zahnlosen Mund, ihrer körperlichen Kleinheit, dem Verlangen nach Milch, ihrem Lallen, ihrer Schwatzsucht, Läppischkeit, Vergesslichkeit und Unbedachtsamkeit, kurz, in allem Übrigen. Je mehr sie sich dem Greisenalter nähern, umso mehr kommen sie auf die Kindheit zurück, bis sie wie die Kinder aus dem Leben gehen, ohne Lebensüberdruss und ohne Todesfurcht.

Wer will, mag nun meine Gnade mit der Verwandlungskraft aller anderen Götter vergleichen. Was die im Zorn anrichten, mag unerwähnt bleiben. Denen sie am meisten wohlwollen, die verwandeln sie gewöhnlich in einen Baum, einen Vogel, eine Grille oder sogar in eine Schlange.39 Als ob die Verwandlung nicht gleichbedeutend wäre mit dem Tod! Die gleichen Menschen schenke ich unter den besten und glücklichsten Auspizien dem Leben wieder. Wenn sich die Menschen von der Berührung mit der Weisheit ganz fernhielten und ihr Leben nur mit mir verbrächten, gäbe es gar kein Greisenalter, und sie genössen das Glück einer ewigen Jugend.

Seht ihr denn nicht, wie sie sich mit Leichenbittermiene der Philosophie oder anderen ernsthaften und [21]anspruchsvollen [415] Aufgaben verschreiben und schon Greise werden, bevor sie noch recht angefangen haben, jung zu sein. Allerlei Sorgen und stete heftige Gedankenarbeit haben ihnen allmählich die geistige Kraft und den Lebenssaft ausgesaugt. Dagegen glänzt meine Narrenherde vor Körperfülle und Glätte der Haut, richtige akarnanische Schweine, wie man so sagt, und sie spüren keine Last des Alters, wenn sie nicht gerade, wie es bisweilen vorkommt, im Verkehr mit weisen Leuten Schaden litten. Ein vollkommenes Glück gibt es nun einmal nicht im menschlichen Leben.

Aufs Beste bezeugt das ja jenes landläufige Sprichwort, wonach die Torheit zugleich die sonst recht flüchtige Jugend erhält und das lästige Alter in die Ferne rückt. Von den Bewohnern Brabants sagt man ja treffend im Volksmund, sie würden umso törichter, je näher sie dem Greisenalter kämen, während doch sonst den Menschen das Alter Weisheit bringt. Es gibt kein anderes Volk, das im täglichen Leben frohsinniger oder weniger anfällig für den Trübsinn des Alters wäre als gerade sie. Nach Siedlung und Lebensart sind meine Holländer ihre Nachbarn. Warum soll ich sie nicht »meine«40 nennen, wo sie mir so eifrig dienen, dass sie sich damit öffentlich einen Spottnamen verdient haben? Das kränkt sie nicht im Geringsten; denn sie tun sich sogar etwas darauf zugute.

Lasst die erzdummen Menschen nur eine Medea, Kirke, Venus, Aurora und ich weiß nicht welchen Quell für ihre Verjüngung suchen,41 die ich allein doch nur zu gewähren vermag und pflege. Ich besitze jenen wunderwirkenden Saft, mit dem die Tochter des Memnon die Jugend ihres Großvaters Tithon verlängerte. Ich bin die Venus, deren Gunst dem Phaon neue Jugendkraft verlieh, so dass Sappho [22]sich unsterblich in ihn verliebte.42 Mein sind die Kräuter, wenn es überhaupt solche gibt, mein die Beschwörungsformeln und mein der Quell, der nicht allein die entschwundene Jugend wiederbringt, sondern, was noch wünschenswerter ist, sie verewigt. Wenn ihr mit mir die Jugend für das Beste, das Alter für das Abscheulichste haltet, seht ihr wohl ein, was ihr mir verdankt, der ich ein solches Gut verlängere und solches Übel von euch fernhalte.

Doch was rede ich immerzu von Menschen? Schaut euch den ganzen Himmel an, und dann mag jeder nach Belieben auf mich losschimpfen, wenn er irgendeine halbwegs erträgliche und annehmbare Gottheit auftreibt, die ihren Charme nicht von mir hat. Warum wird denn Bacchus immer als Jüngling mit lockigem Haar dargestellt? Doch nur, weil er verrückt und berauscht sein ganzes Leben [416]