Das Löwenamulett - Frank Schwieger - E-Book

Das Löwenamulett E-Book

Frank Schwieger

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Beschreibung

Ein Abenteuer aus dem Alten Rom Rom, zur Zeit des Kaisers Augustus: Delia, die Tochter des gefeierten Dichters Ovid, ist verliebt - in Myron, einen Sklaven. Als dieser eines Nachts seinen Herrn vor einem Dieb schützen will, wird er verdächtigt,selbst der Übeltäter zu sein! Er sucht Zuflucht bei Delia und drückt ihr ein Amulett mit einem Löwen in die Hand, das er dem Dieb bei seinem nächtlichen Überfall entwinden konnte. Nun liegt es an Delia und ihrer Freundin Lycoris, Myron zu retten.

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Seitenzahl: 170

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Frank Schwieger

Das Löwenamulett

Ein Abenteuer aus dem Alten Rom

Mit Illustrationen von Daniel Sohr

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2009© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40502-7 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71339-9Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de

Inhaltsübersicht

HORA NONA PRIDIE IDUS IULIAS

HORA PRIMA IDIBUS IULIIS

HORA TERTIA IDIBUS IULIIS

HORA QUINTA IDIBUS IULIIS

HORA SEXTA IDIBUS IULIIS

HORA OCTAVA IDIBUS IULIIS

HORA NONA IDIBUS IULIIS

HORA SECUNDA ANTE DIEM XVII. KALENDAS SEXTILES

Anhang

Wissenswertes über die Römer zur Zeit des Dichters Ovid

uxori filioque,

mihi carissimis

Zur neunten Stunde am Tag vor den Iden des Juli,

am Nachmittag des 14.Juli

Alles begann vor zwei Tagen, am Tag vor den Iden des Juli. In Rom wurden die Ludi Apollinares gefeiert, ein riesiges Fest mit Umzügen, Theateraufführungen und Wagenrennen. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Delias Vater hatte Eintrittsmarken für die Rennen im Circus Maximus besorgt. Beim großen Zeus, was für ein Lärm, was für ein Spektakel! Ich glaube, ganz Italien hatte sich auf den Zuschauerrängen versammelt: Dort waren hunderttausend Menschen, vielleicht zweihunderttausend. Wenn man wie ich aus einer Kleinstadt kommt, ist man nicht gewohnt, so viele Menschen auf einem Haufen zu sehen. Wir hatten Mühe, zwischen all den Leuten unsere Plätze zu finden. Die Marken waren bestimmt nicht billig gewesen, wir saßen ganz weit unten, fast direkt an der Bahn, vor uns nur noch die Ehrenplätze für die wichtigen Leute: all die Senatoren mit ihren purpurverbrämten Togen.

Wir konnten wunderbar gucken. Das erste Rennen sollte in wenigen Augenblicken beginnen. An der Schmalseite des Circus, hinter den Startboxen, sahen wir die Gespanne, die schnaufenden Pferde, die ganz heiß darauf waren, über die Sandbahn zu jagen. Zwölf Wagen waren am Start, jeder von vier Pferden gezogen, auf jedem Wagen ein Auriga in den Farben seiner Mannschaft, der den Wagen lenkte.

Die Pferde schlugen mit den Hufen gegen das Gitter, das sie von der Rennbahn trennte. Die Leute schrien vor Begeisterung und schwenkten die Farben ihrer Mannschaft: Rot, Blau, Grün oder Weiß. Einige hatten Schals dabei, andere Halstücher, wieder andere Wimpel oder Fahnen. Wie bunt die Ränge aussahen! Und wie laut es war! Eigentlich interessieren mich Pferderennen nicht, aber in dem Moment, als der Praetor ein weißes Tuch in die Bahn fallen ließ, die Boxen sich durch einen wundersamen Mechanismus gleichzeitig öffneten und die zwölf Gespanne herausjagten, da hielt es mich nicht mehr auf dem Sitz. Ich sprang auf und feuerte zusammen mit Delia, die neben mir stand, die blaue Mannschaft an.

»A-ga-thon! A-ga-thon!«, rief Delia und hielt sich dabei die Hände wie einen Schalltrichter vor den Mund.

»Wer ist Agathon?«, fragte ich.

»Na, der blaue Auriga, der gerade in Führung gegangen ist.«

»Ach so, na dann… A-ga-thon! A-ga-thon!«

Wir hatten nur noch Augen für Agathon, der in wilder Fahrt auf seinem Wagen um die Wendemarken jagte, dicht gefolgt von einem Fahrer der Weißen. Die Hufe donnerten, die Peitschen knallten, Staub wirbelte auf, hunderttausend Kehlen brüllten und schrien, selbst einige Senatoren vor uns waren aufgesprungen – und was tat Delias Vater? Er holte seine Schreibtafeln aus einer abgewetzten Ledertasche und machte sich Notizen! Saß einfach da und kritzelte Buchstaben in das weiche Wachs. Ein total verrückter Kerl!

»Eine Idee!«, brüllte Delia mir ins Ohr.

»Was?« Ich konnte sie kaum verstehen.

»Papa hat eine Idee. Für ein Gedicht.«

»Ach so.«

Das Rennen ging weiter, sieben Runden lang. Wir johlten und klatschten und unterstützten, so gut es ging, den blauen Auriga, der sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit einem weißen Fahrer lieferte. Auf der Spina, dem Mittelstreifen in der Rennbahn, waren an einer langen Stange sieben große Delfine angebracht. Die waren aus Holz und bunt bemalt. Zuerst fragte ich mich, was diese komischen Holzdelfine dort sollten. Doch bald begriff ich: Jedes Mal, wenn eine neue Runde beginnt, klappt ein Sklave einen Delfin herunter, und wenn alle sieben Delfine unten sind, wird die letzte Runde gefahren. Man weiß also immer genau, in welcher Runde sich das Rennen gerade befindet.

In der vierten Runde gingen drei Wagen zu Bruch, einer hatte die Wendemarken zu eng genommen, zwei andere stießen auf der Geraden aneinander. Am Ende wurde es richtig knapp, sieben Wagen waren abgeschlagen, Agathon lag noch in Führung, doch der Weiße kam immer näher, hatte ihn schon fast eingeholt. Auf der Zielgeraden fegten die beiden dicht nebeneinander wie zwei Sturmwinde durch den Sand. Die Pferde glänzten vor Schweiß und rannten so schnell, dass ich ihre Beine nicht mehr auseinanderhalten konnte. Doch Agathon rettete seine Führung ins Ziel, er gewann mit einer halben Pferdelänge Vorsprung. Der Jubel in unserem Block war unbeschreiblich. Die Leute lagen sich in den Armen, einige hatten Tränen in den Augen vor Freude oder tanzten auf den Sitzen, andere machten sich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Weg in Richtung eines der Wettbüros, die sich in den Bretterbuden vor dem Circus befanden.

Nach der Siegerehrung gab es eine Pause. Unten auf der Rennbahn führten ein paar Spaßmacher ihre Kunststücke auf. Sie schlugen Saltos, ritten auf störrischen Eseln oder bewarfen sich gegenseitig mit Pferdeäpfeln. Delia und ich setzten uns wieder hin.

»Hört zu, Kinder, wie gefällt euch das?«

Delias Vater räusperte sich umständlich und las aus seiner Schreibtafel vor:

»Nicht soll dir entgeh’n der Wettstreit vornehmer Pferde.

Wer ein Liebchen sucht, findet im Circus sein Glück.«1

»Klingt ein bisschen schwülstig«, befand Delia. »Was soll das werden?«

»Was meinst du, Lycoris?« Ovid ignorierte seine Tochter und wandte sich mir zu. »Findest du es auch schwülstig?«

»Nun ja«, druckste ich, »das mit dem Liebchen klingt wirklich etwas, na ja, altmodisch.«

»Du hast recht«, murmelte er und wandte sich seiner Wachstafel zu. »Die Stelle muss ich ändern. Was könnte man stattdessen…?« Er versank in seinen Gedanken.

»Du darfst ihn jetzt nicht stören«, flüsterte Delia. »Ich kenne das. Lass ihn einfach schreiben.«

Ich musste grinsen. »Sind alle Dichter so?«

Delia zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ich kenn nur meinen Vater. Und der war schon immer so. Aber solange er seine Gedichte gut verkauft, soll’s mir recht sein. Oh…!«

Plötzlich breitete sich ein Strahlen auf Delias Gesicht aus. Ihre Wangen röteten sich. Ich wusste zunächst nicht, was mit ihr los war.

»Schau mal da!«, flüsterte sie und zeigte über die Köpfe einiger Leute hinweg in die Reihen der Senatoren. »Das ist er.«

»Wer? Wo?«

Ich hatte keine Ahnung, wen sie meinte, und versuchte, der Richtung ihres Fingers zu folgen.

»Na, da, neben unserem Nachbarn, dem Senator Metellus.«

»Ich kenne euren Nachbarn nicht.«

»Da, da, der dicke Mann mit dem kahlen Schädel.«

Tatsächlich konnte ich etwa fünf Reihen vor uns den glänzenden roten Kopf eines älteren Mannes erkennen.

»Was ist mit dem?«

»Das ist unser Nachbar, Senator Metellus. Aber den meine ich nicht. Der Junge daneben! Von dem ich dir erzählt habe!«

Jetzt sah ich den Jungen, der neben dem Senator saß. Er hatte lockiges braunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, war schlank und hoch aufgeschossen. Und im nächsten Moment war mir klar, wer das sein musste.

»Ist das…?«

»Ja, das ist er.« Delia schloss die Augen und nannte den Namen: »Myron!« Dann lehnte sie sich mit einem Seufzer zurück.

Ich war zusammen mit meinem Vater nach Rom gekommen. Er handelte mit Papyrus und hatte hier einiges zu erledigen. Während er ein paar Tage in der Stadt unterwegs war und seine Geschäfte abwickelte, durfte ich bei meiner Freundin Delia bleiben. Ich hatte sie vor einem Jahr kennengelernt, ihre Familie besaß eine Ferienvilla in meiner Heimatstadt. Dort hatten wir im letzten Sommer viel Zeit miteinander verbracht und uns seitdem immer wieder Briefe geschrieben.

Gleich nach meiner Ankunft hatte Delia mir von Myron erzählt, dem neuen Sklaven ihres Nachbarn. Ach was, erzählt – geschwärmt hatte sie! Myron hier und Myron da. Dabei kannte sie ihn gar nicht, hatte ihn nur ein paarmal gesehen. Und außerdem…

»Er ist ein Sklave!«

»Pah! Na und?« Delia verschränkte die Arme vor der Brust. »Deine Eltern waren auch einmal Sklaven.«

Das war gemein.

»Das ist lange her«, schnappte ich zurück. »Meine Eltern wurden freigelassen, schon vor langer Zeit. Und mein Vater ist ein angesehener Kaufmann, ein erfolgreicher Papyrushändler. Er beliefert sogar die Apollonbibliothek hier in Rom. Du bist die Tochter eines römischen Bürgers, und dieser, dieser Myyyyyron« – ich ahmte sie nach und erhielt dafür einen schmerzhaften Tritt gegen den Knöchel – »dieser Myron ist ein griechischer…«

»Deine Eltern stammen auch aus Griechenland.«

»Das hat damit nichts zu tun! Dieser Myron wohnt erst seit acht Tagen…«

»Seit zehn Tagen!«

»Dann eben seit zehn Tagen. Er lebt seit zehn Tagen im Haus eures Nachbarn, und du führst dich auf wie die unglückliche Echo, die für den schönen Narcissus dahinschmilzt.«

»Was hast du eben gesagt?« Delias Vater blickte von seiner Schreibtafel auf und schaute mich interessiert an. Delia legte den Finger auf den Mund und schüttelte den Kopf.

»Och, nichts Besonderes. Ich habe nur von Narcissus und Echo erzählt.«

Ovid warf die Stirn in Falten und kaute auf seinem Schreibgriffel. Fast hatte ich den Eindruck, als würde er durch mich hindurchschauen.

»Gute Idee«, murmelte er, »sehr gute Idee. Das muss ich mir gleich…« Und wieder wandte er sich seiner Schreibtafel zu und schien in eine andere Welt abzutauchen. Ich rückte ein wenig von ihm ab und zu Delia hinüber, damit er uns nicht hören konnte.

»Er ist ein griechischer Sklave«, zischte ich. »Und er gehört nicht dir, sondern diesem Senator da vorn, eurem Nachbarn. Und außerdem kennst du ihn gar nicht.«

»Ich habe ihn vom Balkon aus beobachtet, wie er im Garten irgendwelche Schreibarbeiten erledigt hat. Und ich hab ihm zugewinkt!«

»Oooh, na dann…«

»Und ich habe schon einmal mit ihm gesprochen.«

»Ein Mal? Bei der schönen Aphrodite!« Ich musste laut lachen.

»Was gibt’s denn da zu lachen? Das war gestern Morgen, kurz bevor ihr gekommen seid, du und dein Vater.«

»Wo war das?«

»Auf der Straße vor unserem Haus. Er hat Senator Metellus begleitet, hatte eine pralle Ledertasche um die Schulter hängen und etliche Schriftrollen auf dem Arm.«

»Und was hast du zu ihm gesagt?«

»Salve.«

»Bloß Salve? Fiel dir nichts Besseres ein? Was hat Myron darauf gesagt?«

»Auch Salve.«

»Das war alles?«

»Das war der Anfang.«

»Der Anfang von was?«

Delia lächelte versonnen und breitete die Arme aus. »Der Anfang eines großen, großen Abenteuers.«

»Du spinnst total«, sagte ich und schüttelte den Kopf.

In dem Moment wusste ich nicht mehr, ob sie es ernst meinte oder ob sie mich auf den Arm nehmen wollte.

»Du kennst ihn doch kaum.«

»Ja und? Dann werde ich ihn eben kennenlernen. Er wohnt ja gleich nebenan.«

»Wird das der Senator erlauben? Was werden deine Eltern dazu sagen?«

Delia zuckte mit den Schultern. »Nein und nein, fürchte ich. Aber Schwierigkeiten sind dazu da, um überwunden zu werden. Per aspera ad astra!2Findest du nicht?«

»Ich finde, wir sollten uns etwas zu trinken holen. Die Sonne brennt und ich habe Durst.«

»Wenn du meinst…« Delia beugte sich zu ihrem Vater hinüber. »Sollen wir dir etwas mitbringen?«

Ovid schrieb, ohne aufzuschauen, unablässig in seine Wachstafel und murmelte etwas für mich Unverständliches. Delia aber schien ihn verstanden zu haben und stand auf.

»Da hinten ist ein Getränkestand, ich hab ein paar As dabei. Komm mit.«

Ich folgte ihr die Sitzreihe entlang, bis wir die Stufen erreicht hatten, die hinauf zu den Verkaufsbuden führten. Natürlich waren wir nicht die Einzigen, die Durst oder Hunger hatten. Geschiebe und Gedränge, Geknuffe und Gepuffe. Wir mussten die Ellenbogen einsetzen, einmal sogar die Knie, um endlich an unsere Becher zu gelangen. Das tat gut: gekühlter Wein, mit Wasser verdünnt, mit Zimt und Lorbeer gewürzt – köstlich!

Wir wollten gerade wieder zurück zu unseren Plätzen gehen, als Delia plötzlich erstarrte. Als hätte Zeus sie mit einem Blitz getroffen, oder besser: Eros mit einem Pfeil. Steif wie eine Statue stand sie da, die Lippen aufeinandergepresst, die Augen weit aufgerissen. Eine Statue, die reden konnte.

»Da vorne!«, hauchte sie.

Mir war sofort klar, wen sie gesehen hatte. Und da kam er auch schon, der schöne Myron, die Treppen hinauf und – wusch! – war er an uns vorbeigehuscht, ohne auf Delia oder mich zu achten. Offenbar sollte er für seinen Herrn etwas zu trinken holen, denn er ging zu einer der Getränkebuden und mühte sich redlich, an einen gefüllten Becher zu kommen.

»Blöder Kerl!«, fauchte Delia.

»Wieso?«

»Er hat mich missachtet!«

»Das kann doch passieren. Bei all den Leuten hier. Vielleicht kann er sich auch gar nicht an dich erinnern.«

Manchmal merkt man genau in dem Moment, in dem man etwas sagt, dass man es besser nicht gesagt hätte.

»Was soll das denn heißen?« Funken sprühten aus Delias Augen. »Natürlich kann er sich an mich erinnern!«

»Natürlich!« Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. »Er hat dich einfach nur nicht gesehen. Außerdem ist er in Eile. Wollen wir zurück auf unsere Plätze? Das nächste Rennen wird gleich beginnen.«

»Nein, wir warten hier.«

»Du meinst… Und wenn er dich wieder…?«

»Das wird er nicht!«, zischte Delia, und ihre dunklen Augen funkelten. Sie warf den Kopf in den Nacken und stemmte die Hände in die Hüften. »Schließlich bin ich die Tochter des berühmten Dichters Publius Ovidius Naso… Oh, oh, beim Hercules, da kommt er!«

Myron musste sich sehr geschickt an die Theke durchgeschlagen haben, denn er war schon wieder auf dem Rückweg, einen großen tönernen Becher vorsichtig mit beiden Händen vor sich hertragend. Jetzt konnte ich ihn zum ersten Mal genauer betrachten. Und ich musste Delia recht geben, er sah wirklich gut aus. Er war vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, schlank, fast ein wenig schmächtig, er hatte ein schmales Gesicht mit einer krummen Nase und glänzenden schwarzen Augen. Sein lockiges braunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern.

»Narcissus!«, flüsterte ich Delia ins Ohr.

»Quatsch!«, fauchte sie. »Was soll ich denn jetzt tun?« Sie zappelte unruhig neben mir.

»Ihn ansprechen!«

»Und was soll ich sagen?«

»Dir fällt schon was ein.«

Myron hatte sich uns bis auf wenige Schritte genähert. Seine Augen waren fest auf den randvollen Becher geheftet und im nächsten Moment hätte er uns links liegen lassen, wenn nicht…

»Salve«, wisperte Delia, als er an uns vorbeiging.

Myron blieb stehen und schaute vorsichtig von seinem Becher auf. »Meinst du mich?«

Delia nickte nur, sie bekam kein Wort heraus. Ihre Wangen waren so rot wie reife Himbeeren.

»Kennen wir uns?« Myron runzelte die Stirn. »Bist du nicht…? Ja, natürlich, du bist das Mädchen aus dem Nachbarhaus. Die Tochter des Dichters, nicht wahr?«

»Hmm.«

Wahrscheinlich hatte Delia einen Krampf in der Zunge.

»Und dein Name ist…?«

Delia machte keine Anstalten, etwas zu sagen. Ich knuffte sie in die Seite.

»Delia«, wisperte sie.

»Ein schöner Name für eine Dichtertochter. Ich heiße Myron und bin, verzeih bitte, ziemlich in Eile. Mein Herr hat großen Durst.«

Delia lächelte verlegen. »Eigentlich heiße ich Aurelia. Aber meine Eltern nennen mich meistens Delia, es sei denn, sie schimpfen mit mir. Meine Freunde übrigens auch.«

Der Krampf in ihrer Zunge schien sich gelöst zu haben.

»Dürfen dich auch Sklaven Delia nennen?«, fragte Myron.

»Hmm!« Sie nickte, anscheinend war der Krampf zurückgekehrt.

»Und wie ist dein Name, wenn ich fragen darf?« Er wandte sich mit einem überraschend selbstsicheren Lächeln mir zu.

»Du darfst«, sagte ich und lächelte zurück. Ich konnte langsam verstehen, was Delia an ihm fand. »Ich heiße Lycoris.«

Myron strahlte: »Lykoris? Onoma Ellenikon. Oukoun patris sou he Hellas estin?«

»Ou deta«,sagte ich, »all’ egenomen en to Miseno. He Hellas de patris ton goneon mou.«3

»Was redet ihr da?« Delia zupfte an meiner Tunica. »Ich verstehe kein Griechisch. Mein Vater will’s mir immer beibringen. Aber ich weiß nicht, wozu das gut sein soll.«

»Du könntest dich mit vielen klugen Menschen unterhalten«, sagte Myron. »Und Homer lesen, Hesiod, Sophokles, Archilochos, Sappho, Aristophanes – all die wunderbaren Dichter! Aber ich muss jetzt wirklich…«

»Pah!«, machte Delia. »Mein Vater ist auch ein toller Dichter. Und der schreibt auf Latein.«

»Ich weiß«, sagte Myron. »Ich kenne seine Gedichte. Sie sind gut. Jedenfalls für einen Römer.«

»Was soll das denn nun wieder heißen?« Delia stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden. »Seit wann interessieren sich Sklaven für Gedichte?«

»Ich habe eine gute Ausbildung genossen zu Hause in Athen. Sklave zu sein, bedeutet nicht, dumm zu sein.« Er schaute Delia durchdringend an.

»So war das doch nicht gemeint…«

»Und wie bist du nach Rom gekommen?«, mischte ich mich ein.

Myron zuckte mit den Schultern. »Na, wie wohl? Ich bin verkauft worden. Vor drei Jahren. An einen ehemaligen Consul. Ich habe für ihn die Schreibarbeit erledigt. Seine Augen waren schlecht, er konnte kaum noch sehen. Ein feiner alter Herr. Leider ist er im letzten Monat gestorben.«

»Und dann?«

»Dann hat mich mein neuer Herr gekauft, Senator Metellus. Und jetzt erledige ich für ihn die Schreibarbeit, setze Briefe auf, kopiere Akten, schreibe Rechnungen. Oder hole ihm im Circus Maximus etwas zu trinken.«

»Behandelt er dich gut?«

Myron presste die Lippen zusammen. Ich hatte den Eindruck, dass ihm Delias Frage unangenehm war. Er druckste: »Tja, ich bin ja noch nicht lange in seinem Haus. Ich muss mich noch an vieles gewöhnen.«

»Wo sind deine Eltern?«, fragte ich ihn, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

»Ich weiß es nicht, ich habe sie nie kennengelernt. Sie waren auch Sklaven. Oder sind es immer noch. Ich wurde zum ersten Mal verkauft, als ich noch ein Baby war.«

»Wollen wir uns vielleicht mal treffen?« Delia schienen Myrons Eltern nicht weiter zu interessieren. »Du könntest mir Griechisch beibringen.«

Hatte sie nicht eben noch gesagt, dass sie Griechisch nutzlos fand?

»Treffen?« Myron war sichtlich verwirrt. »Wir uns treffen? Aber ich bin doch ein Sklave. Und du die Tochter eines berühmten Dichters.«

Delia zuckte mit den Schultern. »Ich rede doch auch mit anderen Sklaven. Also, was soll schon dabei sein?«

Myron lächelte verlegen. »Wenn du meinst… Aber ich muss erst meinen Herrn fragen. Und du deinen Vater. Wenn die nichts dagegen haben, können wir uns ja vielleicht wirklich mal sehen.«

Viel hätte in diesem Moment nicht gefehlt, und Delia wäre tatsächlich wie die arme Nymphe Echo dahingeschmolzen.

»Beim Herakles!«, rief Myron plötzlich. »Entschuldigt bitte, aber der Senator wartet auf seinen Wein.«

Im nächsten Augenblick war er, beide Hände fest um den Becher gelegt, auf der Treppe verschwunden, die hinunter zu den Ehrenplätzen führte. Ich war mir nicht sicher, wer in diesem Moment heller strahlte, Helios mit seinem Feuerwagen hoch oben auf der Himmelsachse – oder Delia.

Zur ersten Stunde an den Iden des Juli,

bei Sonnenaufgang am 15.Juli

Am Abend saßen Delia und ich noch lange auf dem Balkon vor ihrem Zimmer. Wir redeten über den Tag und über das, was wir in den nächsten Tagen in Rom unternehmen wollten. Und immer wieder schaute Delia hinüber in den Garten des Nachbarn und hoffte, dort Myron erblicken zu können. Vergeblich. Zu sehen war nur der Gärtner, der die Kühle der Dämmerung nutzte und im letzten Tageslicht an den Blumenbeeten herumwerkelte.

Als wir uns schließlich schlafen legten, ließen wir die Tür zum Balkon offen, damit die Grillen uns noch ein Gutenachtlied spielen konnten. Der Tag war lang und anstrengend gewesen, ich schlief bald ein und träumte von einem wilden Wagenrennen, an dem ich selbst als Auriga teilnahm. Ich träumte von Tausenden Zuschauern, die mir zujubelten und meine Farben schwenkten, von einem weißen Fahrer, der mir dicht auf den Fersen war – ich konnte seine Pferde schnaufen hören, spürte ihren heißen Atem im Nacken!–, von donnernden Hufen, glänzenden Pferderücken und von Myron, der aufgelöst vor mir stand und mir etwas erzählen wollte.

»Lycoris!«, rief er und sah ganz verzweifelt aus.

»Lycoris, wach auf!«

Er packte mich an den Schultern und rüttelte mich. Wieso sollte ich aufwachen? Ich war doch wach. Ich stand doch auf meinem Rennwagen.

Nein.

Ich stand nicht auf einem Rennwagen. Ich lag in meinem Bett – und Myron beugte sich über mich und rüttelte mich tatsächlich.

»Lycoris, so wach doch auf!«

»Was ist hier los?«