Kinder unterm Hakenkreuz – Wie wir den Nationalsozialismus erlebten - Frank Schwieger - E-Book

Kinder unterm Hakenkreuz – Wie wir den Nationalsozialismus erlebten E-Book

Frank Schwieger

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Beschreibung

Kinder im Nationalsozialismus Kinder stellen schon früh Fragen zum Nationalsozialismus. Wie können wir ihnen das Grauen jener Zeit vermitteln? Stellvertretend stellen sich hier zehn Kinder vor, die das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg ganz unterschiedlich erlebt haben. Flankiert werden diese Geschichten von Illustrationen, Fotos und Sachtexten, die die historischen Hintergründe auf behutsame Art und Weise erklären. Dieses Buch zeigt ganz konkret, wie Kinder damals mit Verfolgung und Ausgrenzung, mit Krieg und Flucht, aber auch mit Propaganda innerhalb der Familie umgingen. Heutige Kinder lernen daraus viel über Zivilcourage, Mut und Verzweiflung, Angst und Hoffnung.

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Seitenzahl: 332

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Über das Buch

Wie kamen die Nazis an die Macht?

Wie herrschten sie in Deutschland?

Was passierte in der Hitlerjugend?

Was waren Ghettos?

Und warum wurden Juden überhaupt verfolgt?

 

Kinder stellen schon früh Fragen zum Nationalsozialismus. In diesem Buch erzählen zehn Kinder aus verschiedenen Ländern, wie sie die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Begleitet werden diese Geschichten von Illustrationen, Fotos und Sachtexten, die die historischen Hintergründe auf behutsame Art und Weise erklären. Dieses Buch zeigt an konkreten Beispielen, wie Kinder damals mit Gewaltherrschaft und Verfolgung, mit den Schrecken des Krieges, mit Flucht und Vertreibung umgegangen sind.

 

Mit historischen Fotos, Infotexten und einer Einführung des Autors.

 

Von Frank Schwieger sind außerdem bei dtv lieferbar:

Ich, Herakles, und meine großen Heldentaten

Ich, Odysseus, und die Bande aus Troja

Ich, Kleopatra, und die alten Ägypter

Ich, Merlin, und die furchtlosen Ritter

Ich, Odin, und die wilden Wikinger

Ich, Zeus, und die Bande vom Olymp

Ich, Caesar, und die Bande vom Kapitol

Der Schiffsjunge der Santa Maria

Die Rache des Gladiators

Das Löwenamulett

Flucht aus Rom

Frank Schwieger

Kinder unterm Hakenkreuz

Wie wir den Nationalsozialismus erlebten

Mit Illustrationen von Friederike Ablang

Liebe Eltern,

 

für unsere Kinder scheint die Zeit des Nationalsozialismus fast so weit weg wie die Zeit der Wikinger oder der alten Römer. Da die NS-Zeit in der Schule erst in späteren Jahrgängen unterrichtet wird, ist das Wissen um diese Jahre bei Kindern sehr begrenzt und lässt sich vielleicht so zusammenfassen: »In Deutschland haben vor langer Zeit mal Hitler und die Nazis regiert. Die haben viele Menschen umgebracht, auch die Juden. Das war eine schlimme Zeit. Aber wie etwas so Schlimmes passieren konnte, kann ich mir gar nicht erklären.«

Wir Älteren wissen, dass die NS-Zeit gar nicht so lange her ist, auch wenn es nur noch wenige Zeitzeugen gibt, die sich an sie erinnern können. Aber die Herrschaft der Nationalsozialisten über Deutschland und weite Teile Europas von 1933 bis 1945 hatte so schwerwiegende Folgen wie kaum eine andere Zeit in der jüngeren Geschichte. Folgen, die bis in unsere Gegenwart hinein wirken. Da waren die etwa sechs Millionen Opfer des Völkermords am europäischen Judentum, die bis zu 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges, ein Großteil von ihnen Zivilisten, die zerstörten Städte, die unzähligen Menschen, die das Grauen überleben konnten – und bis an ihr Lebensende traumatisiert und kaum in der Lage waren, über die Ereignisse zu sprechen. Die Verschiebung von Grenzen, der Verlust der Heimat, Flucht und Vertreibung, die jahrzehntelange Spaltung Deutschlands und Europas – um nur stichwortartig die wichtigsten Folgen der NS-Herrschaft zu benennen und keinen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Ja, die Herrschaft der Nationalsozialisten hatte Folgen, die leider bis heute wirken.

 

In den letzten Jahren stellte ich als Geschichtslehrer und Vater immer wieder fest, dass das Interesse von Kindern und Jugendlichen an dieser scheinbar so fernen Zeit ungebrochen groß ist. Genauso groß und so zahlreich wie die vielen Fragen, die Kinder an diese Zeit haben. Diese Beobachtung hat zu diesem Buch geführt, welches das Ziel hat, möglichst viele Fragen zu beantworten und die Zeit des Nationalsozialismus für Kinder verständlicher zu machen. Ein Buch, das ganz bewusst die Perspektive von Kindern wählt, um heutigen Kindern den Zugang zu den damaligen Ereignissen zu erleichtern. Erfahrungsgemäß ergreifen uns Einzelschicksale, an denen wir teilhaben können, viel stärker als blanke Zahlen oder nüchterne Sachtexte. Auch diese gibt es in diesem Buch: kürzere Texte, die die wichtigsten Hintergründe der jeweiligen erzählten Geschichte erläutern, und längere Texte, die weiter in die Tiefe und in die Breite gehen und die Interessierte über den QR-Code auf Seite 287 erreichen können.

 

Ich würde mich freuen, liebe Eltern, wenn Sie Ihre Kinder mit diesem Buch nicht allein lassen und mit ihnen über die Geschichten sprechen. Und wenn Sie Ihren Kindern helfen, die Ereignisse und die Hintergründe zu verstehen. Der Geschichtslehrer hat sein Bestes gegeben, alles kindgerecht und verständlich zu erzählen, aber vielleicht können Sie ihm hier und da etwas helfen: Sie kennen Ihre Kinder ja besser als ich und können ihnen mit Hilfe der Geschichten und der Infotexte das ein oder andere sicherlich besser erklären, als ein geschriebener Text das kann. Vielleicht lernen Sie selbst noch etwas hinzu, dann würde ich mich freuen. Und wenn Sie und Ihr Kind am Ende der Lektüre denken »Gut, dass wir aus dieser schrecklichen Zeit gelernt haben. So etwas darf auf keinen Fall noch einmal geschehen!«, dann, ja dann würde ich mich nicht nur freuen, sondern dann hätte sich die Mühe, die ich in dieses Buch gesteckt habe, wirklich gelohnt.

 

Herzlich

Ihr FS

Einleitung

Von 1933 bis 1945 haben die Nationalsozialisten regiert – zunächst über Deutschland, ab 1939, als der Zweite Weltkrieg begann, dann über weite Teile Europas. Diese zwölf Jahre gehören zu den furchtbarsten, die es in Deutschland und Europa jemals gegeben hat. Die Nationalsozialisten und alle, die mit ihnen zusammengearbeitet haben, haben so viel Leid und Verzweiflung über die Menschen in Europa gebracht, so viele Millionen Menschen ermordet, dass ich bis heute immer wieder fassungslos werde, wenn ich mich mit dieser Zeit beschäftige – und so froh bin, dass ich in einem anderen, tausendmal besseren Deutschland leben darf.

Das Leid, das die Nationalsozialisten über Deutschland und Europa gebracht haben, wurde auch Millionen Kindern angetan. Das macht mich nicht nur fassungslos, sondern regelrecht wütend! Ich denke, du verstehst das: Kinder können sich doch am allerwenigsten wehren gegen das, was die mächtigen Männer (damals waren es wirklich ausschließlich Männer) in der großen Politik beschließen und durchführen. Sie sind meist wehrlose Opfer, die alles ertragen müssen, was die Erwachsenen anrichten.

Von diesen Kindern handelt dieses Buch – von dem Leid, das ihnen angetan wurde, und von dem Mut, mit dem sie sich gewehrt haben. Ich habe die zehn Kinder und Jugendlichen, die in diesem Buch ihre Geschichte erzählen, beim Schreiben richtig lieb gewonnen. Am liebsten hätte ich sie persönlich kennengelernt, aber das geht natürlich nicht. Dabei habe ich sie mir gar nicht frei ausgedacht! Nein, alle Geschichten lehnen sich an Personen an, die wirklich gelebt haben, und an Ereignisse, die so oder ganz ähnlich geschehen sind. Wenn du beim Lesen also vielleicht denkst: »Nein, das ist doch unmöglich!«, dann muss ich dir leider sagen: »Doch, das ist tatsächlich so passiert.«

Und wenn du am Ende dieses Buches denkst: »So etwas darf nie, nie wieder geschehen!«, dann würde ich mich sehr freuen. Bevor du die Geschichten liest, möchte ich dir noch ein wenig über die Zeit erzählen, bevor die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen.

Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg

Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg (1914–1918) verloren. Kaiser Wilhelm II. war am Ende des Krieges durch eine Revolution gestürzt worden und Deutschland hatte sich in den folgenden Monaten zu einer Demokratie gewandelt, in der nicht mehr der Kaiser und andere Fürsten das Sagen hatten, sondern frei gewählte Politiker. Doch es gelang den demokratischen Politikern nicht, die neue freiheitliche Ordnung in Deutschland zu sichern. Sie hatten mit riesigen Problemen zu kämpfen, die sich kaum alle gleichzeitig lösen ließen: Millionen Soldaten kehrten aus dem Krieg zurück und suchten eine Arbeit. Viele waren verwundet und von den Kriegserlebnissen völlig verstört. Dazu kam, dass Deutschland Teile des Landes an die Sieger abtreten musste. Und es musste viel Geld als Entschädigung für Zerstörungen in den anderen Ländern bezahlen. All das führte dazu, dass das damalige deutsche Geld, die Reichsmark, immer weniger wert war, sodass 1923 zum Beispiel ein Laib Brot mehr als eine Million Reichsmark kostete! Das größte Problem aber war, dass damals in Deutschland bei Weitem nicht alle Menschen von der Demokratie überzeugt waren.

Diese schwierige Zeit verunsicherte viele Menschen. Sie glaubten, dass nur besonders radikale Parteien, die alles ganz anders machen wollten und auf keinen Fall demokratisch waren, die Lage in Deutschland verbessern könnten. Viele trauerten der »guten alten Kaiserzeit« nach und sehnten sich nach einem »starken Mann«, der alle Probleme beseitigte.

Die NSDAP und Adolf Hitler

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in München die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) gegründet. Sie lehnte die neue Demokratie in Deutschland ab. Anfangs war die Partei bedeutungslos. Doch in der Krisenzeit erregte sie bald Aufsehen und zog immer mehr Menschen an, die den radikalen Ideen ihrer Redner und ihres Parteiprogramms Glauben schenkten – zunächst in München, dann in Bayern, dann auch im übrigen Deutschland. Die NSDAP wollte einen starken Staat unter der Führung eines starken Mannes, der alle demokratischen Parteien beseitigen und Deutschland zu neuer Größe führen würde.

Seit 1921 war Adolf Hitler Vorsitzender der NSDAP. Er stammte aus Österreich, hatte dort die Schule ohne Abschluss verlassen, sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen und war 1913 nach München gezogen. Als 1914 der Erste Weltkrieg begann, hatte er sich freiwillig als Soldat gemeldet und dann vier Jahre lang in Belgien und Frankreich an der Westfront gekämpft. Nach Kriegsende war er nach München zurückgekehrt und bei einer kleinen Veranstaltung auf die NSDAP aufmerksam geworden, in der er schnell zum Vorsitzenden aufstieg. Mit seinen Reden schaffte er es immer wieder, die Menschen mitzureißen und sie von den Ideen seiner Partei zu überzeugen. Er versprach dabei meist einfache Lösungen für komplizierte Probleme.

Das Parteisymbol der Nationalsozialisten war ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis vor einem roten Hintergrund. Anhänger und Mitglieder der NSDAP wurden in Deutschland meist als »Nazis« bezeichnet. Dieses Wort klingt eigentlich viel zu niedlich, wenn man an all die Verbrechen denkt, die die Nationalsozialisten begangen haben. Hitler und die Anhänger der NSDAP versuchten, die Menschen zu überzeugen, dass die Juden an allen Problemen in Deutschland schuld seien: schuld an der Niederlage im Krieg, an der Wirtschaftskrise, an dem immer geringeren Wert des Geldes und an der Arbeitslosigkeit. Viele Menschen haben ihnen das geglaubt. Dabei behaupteten die Nationalsozialisten, dass alle Juden zu einer Rasse gehörten, die ein andersartiger, schädlicher Fremdkörper innerhalb Deutschlands sei, der ausgeschieden werden müsse, um die Deutschen zu schützen. Damals glaubten tatsächlich viele, dass die Menschheit in verschiedene Rassen eingeteilt werden kann. Heute wissen wir, dass es bei allen Unterschieden in der Hautfarbe, der Größe oder der Religion nur eine einzige menschliche Rasse gibt.

Die Judenfeindschaft (Antisemitismus) war ein grundlegender Bestandteil des Parteiprogramms der Nationalsozialisten. Sie machten sich schon gleich nach ihrem Machtantritt 1933 daran, es umzusetzen – mit furchtbaren Folgen für die jüdischen Menschen in Deutschland.

Ein mutiges Kind

Die Geschichte spielt im Frühjahr 1933 in Deutschland

»Ich habe euch doch gesagt, dass die es ernst meinen!«, schimpfte Papa. Er knallte die Zeitung wütend auf den Tisch. »Sie wollen die jüdischen Geschäfte boykottieren.«

»Ach, Gustav«, sagte meine Mutter und legte ihre Hand auf Papas Arm. »Wir wollen nicht schon wieder über Politik reden. Nicht beim Mittagessen. Und nicht vor den Kindern.«

»Das ist aber wichtig«, knurrte Papa. »Die Kinder sind alt genug. Die müssen wissen, was gerade in Deutschland passiert. Jürgen ist schon fünfzehn, Erna elf. Und beide sind nicht auf den Kopf gefallen.«

»Was heißt denn boykottieren?«, fragte ich kauend und legte meinen Löffel auf den Tisch. Eben hatte ich die letzten Kartoffelstückchen aus dem Teller gekratzt. Mittwoch war Eintopftag in unserer Familie. Und Mamas Eintopf ist der leckerste der Welt. Aber jetzt war ich satt und wollte wissen, worüber Papa sich schon wieder so aufregte. »Und was sind jüdische Geschäfte?«

»Bist du doof!«, schnaufte mein Bruder Jürgen. Er saß neben mir am Esstisch. »Das sind Geschäfte, die Juden gehören.«

»Ach so«, sagte ich. »Aber woher weiß man denn, wer ein Jude ist?«

»Mensch, bist du blöd«, sagte Jürgen. »Das sind die Leute, die am Sonntag in der Königstraße in die Synagoge gehen.«

»Am Sonnabend«, verbesserte ihn meine Mutter. »Die Juden feiern am Sonnabend ihren Gottesdienst.«

»Von mir aus«, brummte Jürgen.

»Und denen gehören Geschäfte?«, fragte ich.

»Drei«, sagte Papa. »In unserer kleinen Stadt gibt es nur drei Geschäfte, deren Inhaber Juden sind. So steht es jedenfalls hier in der Zeitung.«

»Und welche sind das?«

»Die Wäscherei Meyer in der Moltkestraße, Lilienthals Kurzwarenladen im Bäckergang und Blümchens Schuhgeschäft.«

»Blümchen?«, fragte ich überrascht. »Seit wann ist Blümchen denn ein Jude?«

»Eine Jüdin«, korrigierte mich Mama.

»Das wusste ich gar nicht. Sie geht doch nie in die Synagoge, oder?«

»Nein, das tut sie nicht«, sagte Mama. »Sie hat mit Religion nicht viel am Hut. Aber ihre Eltern waren Juden. Und daher ist sie auch eine Jüdin.«

»Komisch«, sagte ich. »Kann eine Religion vererbt werden?«

»Für die Nazis ist das Judentum keine Religion«, erklärte Papa, »sondern eine Rasse. Auf jeden Fall soll Blümchens Laden am Sonnabend boykottiert werden. Und die beiden anderen Läden auch.«

»Was heißt denn das?«

»Niemand soll die Läden betreten. Niemand soll dort einkaufen. Wahrscheinlich werden sich ein paar Nazis vor die Geschäfte stellen und keinen reinlassen.«

»Aber was soll das? Blümchen hat doch nichts Schlimmes getan!«

»Ich hab doch gesagt, dass sie zu doof ist.« Jürgen stand grinsend auf. »Vielen Dank für den leckeren Eintopf, Mama. Ich muss wieder zur Arbeit.«

Er nahm Jacke und Mütze, die über der Stuhllehne hingen, und war schon im nächsten Moment aus unserer Wohnung verschwunden. Jürgen war Lehrling bei Klempnermeister Otto, der ein paar Straßen weiter seine Werkstatt hatte. Wenn es die Arbeit und sein Meister erlaubten, kam er in der Mittagspause nach Hause. Unser Vater war auch Klempnermeister. Er hatte eine kleine Firma. Die Werkstatt lag im Erdgeschoss unseres Hauses. Darüber war unsere Wohnung. Irgendwann sollte Jürgen Papas Firma übernehmen, doch dafür musste er das Klempnerhandwerk ja erst einmal gründlich lernen. Und das tat er besser in einem anderen Betrieb. Er hätte ja auch bei Vater lernen können, aber das hätte bestimmt oft Streit gegeben.

Blümchens richtiger Name war Esther Blum. Sie war so etwas wie eine Oma für mich. Im Haus direkt gegenüber führte sie im Erdgeschoss ein kleines Schuhgeschäft, in dem so ziemlich jeder aus unserem Viertel seine Schuhe kaufte. Blümchen war alleinstehend, sie hatte nie geheiratet oder Kinder bekommen. Das Schuhgeschäft hatte sie von ihren Eltern übernommen. Die habe ich selbst nicht mehr kennengelernt, sie waren schon vor meiner Geburt gestorben. Blümchen war eine ältere Dame, bestimmt schon über fünfzig Jahre alt. Und sie war im ganzen Viertel beliebt, besonders bei uns Kindern. Kinder müssen ja ziemlich oft neue Schuhe bekommen und die kauften die Eltern aus dem Viertel natürlich im Schuhgeschäft Blum. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich bei Blümchen neue Schuhe anprobiert habe. Und wie viele Himbeerbonbons sie mir zugesteckt hat – beim Schuhkauf oder einfach nur so, wenn ich am Nachmittag nach der Schule in ihren Laden spazierte, um ein bisschen mit ihr zu plaudern. Natürlich nur dann, wenn keine Kunden im Laden waren, um die sie sich kümmern musste. Wie gesagt, sie war wie eine Oma für mich, bei der ich mich auch mal über meine strengen Eltern oder meinen blöden Bruder ausheulen konnte.

Als Jürgen gegangen war, begann Mama, das Geschirr abzuräumen. Sie stapelte es neben der Spüle. Ich würde ihr gleich beim Abwasch helfen. Aber vorher wollte ich noch etwas wissen.

»Wie wollen die Nazis das denn machen, Papa?«, fragte ich. »Ich meine, dieses Boykottieren. Die können den Leuten doch nicht verbieten, bei Blümchen einzukaufen.«

Papa legte die Zeitung zusammen und gab Mama seinen leeren Teller.

»Sie können Gesetze machen«, sagte er. »Die Nazis sind unsere neue Regierung, Adolf Hitler ist Reichskanzler. Die werden noch ganz andere Dinge tun, fürchte ich, als jüdische Geschäfte zu boykottieren.«

»Gibt es denn ein Gesetz, das das Einkaufen bei Juden verbietet?«

»Nein, das gibt es nicht. Noch nicht. Aber das wird kommen, ganz bestimmt. Du weißt ja, wie die Nazis zu den Juden stehen.«

Ja, das wusste ich, das hatte Papa mir schon oft erzählt. Die Nazis mochten die Juden nicht. Die Juden seien an allem schuld, sagten sie immer. An dem Krieg, in dem Papa gekämpft hatte. An der hohen Arbeitslosigkeit, überhaupt an allen Problemen in Deutschland. Bei allen Übeln hätten die Juden ihre Finger im Spiel, behaupteten die Nazis. Darum müsse man etwas gegen sie unternehmen, sagten sie. Ich verstand das nicht, um ehrlich zu sein. Was hatte Blümchen mit dem Krieg oder den vielen Arbeitslosen zu tun? Oder die anderen Juden, die hier in unserer Stadt lebten und am Sonnabend in die kleine Synagoge gingen?

»Du und deine Politik«, schimpfte Mama, als sie den Warmwasserboiler über der Spüle anstellte. »Du sollst Erna keine Angst machen. Die Nazis werden sich schon beruhigen. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Auch nicht mein Eintopf. Mach dir keine Sorgen um Blümchen, Erna. Den Boykott wird sie überstehen, die Nazis wollen sie ja nicht umbringen. Nicht wahr, Gustav?«

»Wir werden sehen«, knurrte Papa und stand auf. Auch er musste wieder an die Arbeit. »Kann heute später werden, Magda. Warte nicht mit dem Abendessen auf mich. Ich treff mich nach der Arbeit noch mit ein paar Genossen im ›Engelbrechts‹.«

Ich sah die Sorgenfalten auf Mamas Gesicht, als Papa die Küche verließ.

Papa war ein Genosse. So nannten sich die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei, der SPD. Papa war sogar Mitglied im Rat unserer kleinen Stadt. Der wurde alle paar Jahre von den Bürgern, den Männern und Frauen in der Stadt, gewählt. Zusammen mit dem Bürgermeister regelte er wichtige Dinge, die unsere Stadt betrafen. Die letzte Wahl hatte erst vor gut zwei Wochen stattgefunden. Mein Papa war einer von insgesamt vier Genossen, die in den Stadtrat gewählt worden waren. Neben den vier SPD-Männern gab es drei Stadträte, die einer kleineren Partei angehörten – und zwölf Nazimänner. Die Männer der kleineren Partei arbeiteten mit den Nazimännern zusammen. Es war klar, dass Papa und seine Genossenfreunde bei keiner Abstimmung eine Chance hatten. Auf den ersten Sitzungen des neuen Rats hatte es heftige Streitereien gegeben, wie Papa uns erzählte. Er und seine Genossen lehnten die Ideen und die Ziele der Nazis total ab und bekämpften sie heftig und umgekehrt war es genauso. Blöd nur, dass die Nazis jetzt eine so große Mehrheit im Stadtrat hatten. Obendrein war ihr Führer Adolf Hitler seit ein paar Wochen sogar Reichskanzler, also der mächtigste Mann in unserem Land. Gut, der war weit weg, in der Hauptstadt Berlin, aber er war immerhin der Mann in Deutschland, der alle wichtigen Dinge bestimmen konnte. Darum hatte Papa auch seit Wochen schlechte Laune, genauer gesagt seit dem 30. Januar 1933. An diesem Tag nämlich hatte der alte Reichspräsident Hindenburg den Nazianführer Hitler zum Reichskanzler ernannt. Papa hatte in den Tagen danach furchtbar schlecht geschlafen, war nachts immer wieder aufgestanden und vor sich hin schimpfend durch unsere Wohnung gestapft. Tagsüber behielt er seinen Ärger meistens für sich, aber es war ihm doch anzusehen, dass diese Nazis ihm schwer zu schaffen machten, die in unserer kleinen Stadt, aber auch die Obernazis in Berlin. Das »Engelbrechts« in unserem Viertel war eine kleine Kneipe. Einmal in der Woche trafen sich Papa und die anderen Mitglieder seiner Partei, um sich dort zu besprechen.

Im Boiler blubberte das kochende Wasser. Mama ließ es in die Spüle laufen. Dann drehte sie den Hahn auf, ließ kaltes Wasser dazu, kippte Spülsoda hinein und reichte mir ein Handtuch: »Komm, Erna, hilf mir beim Abwasch.«

Am Nachmittag ging ich in Blümchens Laden. Sie hatte alle Hände voll zu tun. Drei Kunden waren da, zwei Männer und eine Frau. Blümchen war freundlich und hilfsbereit wie immer, während sie die Leute beriet und immer wieder neue Schuhe aus dem Lager zum Anprobieren nach vorne holte. Ich setzte mich auf einen Hocker, hinter mir ein Regal voller Damenschuhe, und tat so, als würde ich in einer alten Zeitschrift lesen, die auf dem Hocker gelegen hatte. In Wahrheit schaute ich aber immer wieder zu Blümchen. Sie war klein und etwas rundlich. Ihre grauen Haare hatte sie wie immer zu einem Dutt hochgesteckt. An diesem Tag hatte sie einen dunkelblauen Faltenrock und eine hellblau-weiß gestreifte Bluse an. Bildete ich mir das nur ein oder klang ihre Stimme heute irgendwie belegt?

»Hallo, Erna«, begrüßte sie mich, als der letzte Kunde den Laden verlassen hatte. »Hast du schon alle Hausaufgaben gemacht?«

Ich legte die Zeitschrift auf das Tischchen vor mir und nickte. »Wir hatten nicht viel auf.«

Blümchen runzelte die Stirn. »Dich bedrückt doch etwas. Wieder Ärger mit Jürgen?«

»Nee«, druckste ich. »Es ist … Hast du von diesem Boykott gehört? Am Sonnabend?«

Blümchen nickte und zupfte verlegen an ihrer Bluse. »Es wird schon nicht so schlimm werden. Hier in unserer kleinen Stadt ist die Welt doch noch in Ordnung, oder? Was soll schon passieren? Vielleicht kommen Sonnabend ein paar Kunden weniger, weil sie Angst vor den Nazis haben. Aber das wird es auch gewesen sein.«

»Du musst ja nicht öffnen«, sagte ich. »Lass deinen Laden doch einfach zu und bleib oben in der Wohnung.«

»Na, so weit kommt es noch!«, schimpfte Blümchen. »Ich habe mein ganzes Leben in diesem Geschäft verbracht. Meine Eltern haben es aufgebaut und ich bin hier groß geworden. Hab schon als kleiner Stöpsel hier beim Verkauf geholfen. Da lass ich mich doch nicht von ein paar Dummköpfen einschüchtern.«

Blümchen stemmte die Hände in die Hüften. Was für eine tapfere Frau, dachte ich in diesem Moment. Doch was würde sie tun, wenn sich am Sonnabend tatsächlich Nazikerle vor ihrem Geschäft aufbauten und den Kunden den Zutritt versperrten?

Am nächsten Tag war mein Bruder schon gegen fünf Uhr zu Hause. Er hatte seinen Freund Werner mitgebracht. Die beiden kannten sich seit der Sandkiste. Werners Familie wohnte in unserer Straße nur drei Häuser weiter. Er war Lehrling im zweiten Lehrjahr, genau wie Jürgen, allerdings bei einem Dachdecker. Ich saß in meinem kleinen Zimmer am Schreibtisch und machte Hausaufgaben. Herr Albrecht, unser Religionslehrer, hatte uns aufgegeben, die Geschichte von Josef und seinen Brüdern zusammenzufassen. Das war eine ziemlich lange Geschichte! Ich hatte gerade die dritte Seite vollgeschrieben, als Jürgen und Werner die Küche betraten. Außer uns war niemand zu Hause. Papa war noch auf einer Baustelle, Mama einkaufen. Die beiden Jungen sprachen so laut, dass ich jedes Wort verstehen konnte. Jürgen dachte wohl nicht daran, dass ich in meinem Zimmer sein könnte. Ich hörte, wie sie sich an den Tisch setzten und zwei Flaschen zischend geöffnet wurden. Tranken die etwa Limonade? Die mussten sie mitgebracht haben, wir hatten keine Limonadeflaschen im Haus.

»Prost«, hörte ich Werners Stimme. Es folgte so etwas wie ein Klirren und ein lautes »Aaah!«

»Hab ich aus dem Keller gemopst«, sagte Werner. »Papa wird nicht merken, dass zwei Flaschen fehlen. Der Kasten war eh halb leer.«

»Schmeckt ganz schön bitter«, sagte Jürgen.

»Man gewöhnt sich daran. Nach der dritten Flasche findest du es lecker.«

»Wenn du meinst.«

Limonade schmeckt doch nicht bitter, dachte ich. Was tranken die da?

»Was ist jetzt mit dir?«, fragte Werner. »Bist du Sonnabend dabei?«

»Ich weiß nicht«, druckste mein Bruder. »Ich muss doch arbeiten. Mein Chef zieht mir die Hammelbeine lang, wenn ich einfach blaumache.«

»Mit meinem Chef habe ich das schon geklärt«, sagte Werner. »Der gibt mir dafür gerne frei. Der ist ja auch in der Partei.«

»Mein Chef würde das nie erlauben, der ist Genosse, genau wie Papa.«

»Es geht um die nationale Erhebung, Jürgen. Verstehste? Um eine ganz große Sache. Wir Deutschen können uns von diesem Judenvolk doch nicht alles gefallen lassen. Wir müssen uns wehren und denen die Grenzen aufzeigen. Das hat der Führer immer wieder gesagt. Und Sonnabend fangen wir auch hier damit an.«

»Nee, lass mal«, sagte mein Bruder. »Mir hat keiner von denen was getan. Blümchen, also die Frau Blum von gegenüber, ist eine nette Frau. Die verkauft nur Schuhe und kann keiner Fliege was zuleide tun.«

»Es geht ums große Ganze, Jürgen. Da dürfen wir auf den einen oder anderen netten Juden keine Rücksicht nehmen. Und lass dich nicht täuschen: Juden sind verschlagen und heimtückisch.«

»Frau Blum nicht. Ihr kauft doch auch eure Schuhe bei ihr.«

»Nicht mehr lange«, schnaufte Werner. »Ich habe schon mit Papa darüber gesprochen. Es gibt ja noch andere Schuhgeschäfte hier in der Stadt.«

Es entstand eine Pause, dann wurden zwei Flaschen geräuschvoll auf den Tisch gestellt.

»Wir treffen uns heute Abend um acht«, fuhr Werner fort, »um für Sonnabend alles durchzusprechen. Du weißt ja, wo du uns finden kannst. Wir brauchen kräftige Kerle wie dich, Jürgen, die zupacken und hinlangen können.«

»Ich werd’s mir überlegen«, sagte Jürgen. »Du solltest jetzt besser gehen. Mama könnte bald zurück sein. Wenn die uns hier mit den Bierflaschen erwischt, gibt es großen Ärger. Ich komm mit runter.«

Damit verschwanden die beiden aus unserer Küche. Ich hatte Josef und seine Brüder komplett vergessen und ich wusste nicht, worüber ich mich mehr aufregen sollte: Darüber, dass Werner und Jürgen in unserer Küche Bier getrunken hatten, oder darüber, dass Werner meinen Bruder zu dieser schrecklichen Boykottsache überreden wollte. Werners Papa war ein Nazi, irgendwann im letzten Jahr in die Partei eingetreten. Das hatte er im ganzen Viertel stolz herumerzählt – und erst vor ein paar Wochen ein neues Paar Schuhe bei Blümchen gekauft. Ich hatte ihn aus dem Laden kommen sehen. Werner selbst war seit letztem Jahr in der Hitlerjugend. Da trafen sich einmal die Woche ein paar etwas ältere Jungen aus unserer Stadt. Was die bei ihren Treffen machten, wusste ich nicht genau: über Politik reden, Lieder singen, durch die Gegend marschieren, im Sommer zum Zelten fahren – irgendwie solche Sachen. Werner hatte schon öfter versucht, meinen Bruder zum Mitmachen zu überreden. Er sollte auch in die Hitlerjugend eintreten. Die Stimmung dort sei prächtig und die Kameradschaft ebenso. Aber Jürgen hatte bisher immer abgelehnt. Ob aus Rücksicht auf Papa (der hätte ihm das nie verziehen!) oder weil er es selbst nicht wollte, da war ich mir nicht ganz sicher.

Ich ließ meine Hausaufgaben liegen, ging in die Küche und schaute durch das Fenster hinunter auf das Schuhgeschäft im Haus gegenüber. Eben kam eine Frau heraus, einen Schuhkarton unter dem Arm. Blümchen verabschiedete sie freundlich, blickte nach oben und sah mich am Fenster stehen. Sie winkte mir lächelnd zu.

Am Sonnabend ging ich wie jeden Werktag in die Schule. Die erste Stunde begann um acht Uhr. Die Schule lag nur zehn Minuten Fußweg von unserer Straße entfernt. In der Nacht zuvor hatte ich schlecht geschlafen, das Frühstück kaum hinunterbekommen. Ich machte mir Sorgen um Blümchen. Als ich unser Haus verließ, sah ich Licht in ihrer Wohnung. Ihr Geschäft war noch geschlossen, das würde sie wie jeden Tag erst um neun Uhr öffnen. Oder doch nicht? Irgendwie hoffte ich, dass sie auf meinen Rat hören würde. Unsere Straße war ruhig wie an jedem Morgen um diese Zeit. Von irgendwelchen Nazis, die sich vor Blümchens Geschäft stellen wollten, war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht war in unserer kleinen Stadt die Welt ja doch noch in Ordnung, wie Blümchen gesagt hatte.

Nein.

Das war sie leider nicht.

Als ich mittags von der Schule nach Hause kam, sah ich sie schon von Weitem. Ich konnte es nicht fassen: Sechs junge Männer hatten sich vor dem Schuhgeschäft Blum aufgebaut, kaum einer älter als zwanzig Jahre. Werner erkannte ich sofort. Er stand breitbeinig und mit verschränkten Armen vor der Eingangstür. Das sah fast lächerlich aus, vor allem diese komische braune Uniform, die er trug. Die anderen trugen Mützen und lange dunkle Mäntel, die ihnen bis über die Knie reichten. Zwei von ihnen hatten einen Schlagstock am Gürtel. Ich merkte, wie meine Beine ganz weich wurden, als ich mich ihnen näherte. Das konnte doch nicht wahr sein!

Nein, nach Lachen war mir nicht zumute, obwohl diese Kerle wirklich lächerlich aussahen. Ich hielt vor unserem Hauseingang an und stand ihnen jetzt direkt gegenüber, nur die schmale Straße mit ihrem Kopfsteinpflaster trennte mich von Werner und seinen Kameraden.

»Was glotzte denn, Mädel?«, fragte der Mann, der ganz rechts stand, direkt vor Blümchens Schaufenster. Er hatte sich ein großes Schild um den Hals gehängt, darauf stand mit schwarzen Buchstaben Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!

»Geh ins Haus, Ernachen!«, sagte Werner. »Hier gibt es nichts zu gucken. Wir tun nur unsere nationale Pflicht.«

»Unsere Pflicht als Deutsche!«, rief ein dritter Mann und schlug dabei die Hacken seiner schwarzen Stiefel knallend zusammen.

Mir wurde übel, so richtig übel. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten hätte ich jedem einzelnen dieser Kerle die Augen ausgekratzt. Dass mein Bruder Jürgen nicht bei ihnen stand, war nur ein schwacher Trost. Ich drehte mich wortlos um, schloss unsere Haustür auf, ging die Treppe hinauf, öffnete die Wohnungstür, warf meinen Schulranzen auf den Boden und stürmte in mein Zimmer. Dort ballte ich die Fäuste und hätte am liebsten laut losgeheult, so wütend war ich. Aber was hätte das genutzt? Mein Blick fiel auf das kleine Regal am Fußende meines Bettes. Dort standen Bücher, allerlei Krimskrams – und mein rosarotes Sparschwein. Ich atmete tief durch. Jetzt wusste ich, was ich tun musste. Ich nahm mir das Sparschwein und stürmte aus der Wohnung.

Drei Augenblicke später stand ich einen Schritt vor Werner, der immer noch mit verschränkten Armen den Eingang zu Blümchens Laden blockierte. Er schaute mich mit großen Augen an.

»Was soll das denn werden?«, fragte er verwundert.

»Ich brauche neue Schuhe«, sagte ich – und ärgerte mich sofort darüber, dass meine Stimme zitterte.

»Heute gibt es hier nichts zu kaufen«, blaffte mich ein Kerl von der Seite an. Ich beachtete ihn nicht, starrte stattdessen Werner unverwandt an. Und ich merkte, wie seine Selbstsicherheit plötzlich Risse bekam.

»Geh nach Hause, Ernachen«, sagte er. »Heute ist Boykott, das siehste doch.«

»Und wenn ich jetzt einfach an dir vorbeigehe, Werner? Was willst du dann machen? Mich festhalten? Was wollt ihr anderen dann machen?« Ich schaute wütend nach links und nach rechts. Mir schossen Tränen in die Augen, aber das war mir in diesem Moment egal. »Wollt ihr mich verprügeln? Sechs Kerle gegen ein elfjähriges Mädchen?«

Zwei oder drei von diesen Nazis schauten beschämt auf den Boden. Keiner sagte ein Wort.

»Ihr solltet euch schämen!«, fauchte ich und schob mich an Werner vorbei zur Ladentür. Sie klingelte, als ich sie öffnete und das Schuhgeschäft betrat.

»Erna!«, rief Blümchen und kam hinter dem Tresen hervor. Sie hatte rot geweinte Augen. »Was machst du hier?«

»Ich wollte Schuhe kaufen«, sagte ich und wischte mir mit der Hand die Tränen aus dem Gesicht. Dann streckte ich ihr mein Sparschwein entgegen. »Ich hoffe, das reicht.«

»Aber du kannst doch nicht …« Blümchen stockte und schaute über mich hinweg auf ihre Ladentür. Ich drehte mich um. Wir sahen, wie die sechs Kerle sich lautstark stritten.

Blümchen und ich schauten uns verblüfft an. Ich merkte, wie mir ganz schwindelig wurde und meine Knie nachgaben. Ich musste mich auf den Hocker vor den Damenschuhen setzen. Blümchen ging vor mir auf die Knie und strich mir über die Wange.

»Du bist ein mutiges Kind, Ernachen«, sagte sie. Dann kramte sie in der Tasche ihrer grauen Wolljacke, die sie über der Bluse trug, zog einen großen Himbeerbonbon hervor und hielt ihn mir entgegen. »Mutige Kinder brauchen Bonbons. Und warmen Kakao. Ich mach uns schnell einen. Magst du noch ein bisschen bei mir bleiben und mir Gesellschaft leisten?«

»Gerne, Blümchen«, sagte ich. »Sehr gerne sogar.«

Der 30. Januar 1933

Im Herbst 1929 begann eine schlimme Wirtschaftskrise, die in Deutschland und vielen anderen Ländern dazu führte, dass Millionen Menschen arbeitslos wurden. In dieser großen Krise mit vielen verzweifelten Menschen erhielt die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bei den Wahlen in Deutschland immer mehr Stimmen. Im Juli 1932 bekam sie über 37 Prozent der Stimmen und wurde damit die stärkste Partei im Reichstag in Berlin.

Der Reichstag, das damalige Parlament, schaffte es ab 1930 nicht mehr, eine Mehrheit für eine Regierung zustande zu bringen und einen Reichskanzler zu wählen, weil die radikalen Parteien, die die Demokratie bekämpften, vor allem die Nationalsozialisten und die Kommunisten, zu stark und die demokratischen Parteien zu schwach geworden waren. Darum ernannte von 1930 bis 1933 Reichspräsident Hindenburg den Reichskanzler, der dann zusammen mit seinen Ministern Deutschland regierte.

Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident den »Führer« der NSDAP, Adolf Hitler, zum neuen Reichskanzler. Hitler sollte die Regierung übernehmen und Deutschland aus der Krise führen. In den nächsten Monaten machte er sich daran, seine Macht ohne Rücksicht auf demokratische Regeln auszubauen. Er verwandelte Deutschland innerhalb kurzer Zeit von einer Demokratie in eine Diktatur, in der er selbst die absolute Macht besaß.

Adolf Hitler hält eine Rede

Der Judenboykott vom 1. April 1933

Für den 1. April 1933 hatte die neue Reichsregierung unter Adolf Hitler eine Aktion gegen von Juden geführte Unternehmen beschlossen. Über Radio und Zeitungen wurde dazu aufgerufen, an diesem Samstag kein jüdisches Geschäft, keine jüdische Arztpraxis, Bank oder Anwaltskanzlei zu betreten.

Um das durchzusetzen, stellten sich überall Nationalsozialisten mit Schildern, auf denen zu dem Boykott aufgerufen wurde, vor die jüdischen Geschäfte. Viele Schaufensterscheiben wurden an diesem Tag beschmiert. Für die Ladeninhaber und alle anderen Juden in Deutschland war dies ein großer Schock: Die Staatsmacht, die sie eigentlich schützen sollte, rief offen dazu auf, sie zu boykottieren, und duldete dabei auch noch Gewalt. Damit wurde die Judenfeindschaft der Nationalsozialisten zum ersten Mal mit einer großen Aktion in die Tat umgesetzt.

Nationalsozialisten vor einem jüdischen Geschäft am 1. April 1933

Gemeinschaft

Die Geschichte spielt im Frühjahr und Sommer 1936 in Deutschland

Eigentlich brauchte ich es in der Schule ja nicht, aber an diesem besonderen Tag wollte ich mein neues Fahrtenmesser unbedingt dabeihaben. Es sollte an meinem Gürtel hängen, sodass jeder sehen konnte, dass ich die Probe bestanden hatte. Erst nach dieser Prüfung war ich ein richtiger Jungvolkjunge, erst jetzt gehörte ich richtig dazu. Wie stolz ich darauf war! Und meine Eltern erst! Mama hatte mir letzte Woche ein neues Uniformhemd gekauft und es am Wochenende gewaschen und gebügelt, damit ich an diesem Montag wirklich tadellos aussah.

Das Deutsche Jungvolk gehörte zur Hitlerjugend, wir sagten auch einfach HJ. Doch richtig mitmachen durfte da erst, wer fünfzehn oder älter war. Aber ich war in diesem Frühjahr erst elf Jahre alt. Die Zehn- bis Vierzehnjährigen gingen zum Jungvolk, so wie ich. Wir Jungvolkjungen hießen Pimpfe. Und um ein echter Pimpf zu werden, musste man eine Prüfung bestehen, die hieß Pimpfenprobe. Dafür hatte ich in den letzten Wochen ganz viel geübt und sie am Sonnabend, also vorgestern, endlich bestanden. Ich musste siebzig Meter unter fünfzehn Sekunden laufen, das habe ich locker beim ersten Versuch geschafft. Dann dreieinhalb Meter weit springen und einen Ball fünfundzwanzig Meter weit werfen. Auch das war kein Problem. Für die dreieinhalb Meter habe ich allerdings ein paar Versuche gebraucht, erst beim vierten Mal hat es geklappt. Ich bin kein besonders guter Springer. Danach musste ich noch eine Minute lang die Luft anhalten, kein Problem, und drei Lieder vorsingen. Die Lieder kenne ich schon lange auswendig: das Deutschlandlied, das Horst-Wessel-Lied und das Lied der Hitlerjugend: Unsre Fahne flattert uns voran. In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann. Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.

Dann musste ich noch den Lebenslauf unseres Führers Adolf Hitler aufsagen, den kannte ich natürlich von unseren Heimnachmittagen in- und auswendig, und ganz zum Schluss laut diese Sätze sagen: Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu. Jungvolkjungen sind Kameraden. Des Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre. Als ich das alles geschafft hatte, hat mir Wolfgang, unser Jungenschaftsführer, mein Fahrtenmesser überreicht. Das bekommt ein Pimpf nämlich, wenn er die Probe bestanden hat. Und dieses Messer habe ich heute Morgen an meinem Gürtel befestigt und bin in meiner Pimpfenuniform zur Schule gegangen. Genauso wie alle anderen Jungen meiner Klasse, na ja, wie fast alle anderen.

Es war nämlich ein besonderer Tag in Deutschland, der Geburtstag unseres Führers Adolf Hitler. An diesem Tag kamen wir Pimpfe und die älteren Jungen von der HJ alle in Uniform in die Schule und alles war ganz feierlich. Unser Klassenlehrer Dr. Loose hatte auch sein Braunhemd angezogen, er war in der SA. Wir mussten uns auf dem Flur vor unserem Klassenraum in Reih und Glied aufstellen. Dr. Loose kontrollierte bei jedem Einzelnen, ob die Haare gekämmt, die Schuhe geputzt und das Uniformhemd frei von Flecken war. Auch die Kniestrümpfe mussten ordentlich sitzen. Wehe, einer hatte sie bis auf die Knöchel herunterfallen lassen! Da konnte Dr. Loose ganz ungemütlich werden. »Wenn das der Führer wüsste!«, sagte er dann und wies den Jungen mit den hängenden Kniestrümpfen scharf zurecht.

Danach ging es im Gleichschritt hinunter auf den Schulhof. Dr. Loose voran, wir in Zweierreihen hinterher. Auch die anderen Klassen marschierten auf den Schulhof. Dort stellten wir uns, geordnet nach Klassen, vor unserem Direktor auf. Die Kleineren ganz vorn, die Größeren weiter hinten. Der Direktor trug wie immer bei solchen Gelegenheiten eine Hakenkreuzbinde am linken Oberarm, das Parteizeichen der Nationalsozialisten. Ich wusste, dass er ein Mitglied der nationalsozialistischen Partei war, also der NSDAP. Er war schon eingetreten, bevor sie die stärkste Partei in Deutschland wurde und die Regierung übernehmen konnte, darauf war er besonders stolz und wies daher bei jeder Gelegenheit darauf hin.

»Heil Hitler!«, begrüßte der Direktor uns und hob dabei den rechten Arm zum deutschen Gruß, so nannten wir das.

»Heil Hitler!«, antworteten wir alle gleichzeitig und hoben dabei auch den rechten Arm. Ich stand an diesem Tag ganz am Rand des großen Schülerblocks, neben mir mein Freund Fritz.

»Deutsche Jungen und deutsche Mädchen«, begann unser Direktor, »wir haben uns heute an diesem herrlichen Frühlingstag hier versammelt zu Ehren eines Mannes, den uns die Vorsehung geschenkt hat. Ich spreche von unserem hochverehrten Führer und Reichskanzler Adolf Hitler. Seit über drei Jahren lenkt er nun die Geschicke unseres geliebten Vaterlandes. Er hat es aus dem tiefsten Jammertal zu neuem Glück, zu Wohlstand und Freiheit geführt. In wenigen Wochen beginnen, wie ihr alle wisst, in der Reichshauptstadt Berlin die Olympischen Spiele. Da kann sich der Rest der Welt davon überzeugen, wie es mit Deutschland bergauf gegangen ist, seitdem der Führer hier das Ruder übernommen hat. Das Glück unserer Tage verdanken wir nur diesem einzigen Mann, nur dieser einzigen Partei, deren Mitglied ich seit vielen Jahren bin. Damals, als wir noch eine kleine Partei waren, da hätte außer uns Nationalsozialisten wohl niemand damit gerechnet. Da haben wir …«

Das war die Stelle in den Reden unseres Direktors, an der ich meistens abschweifte. Da erzählte er nämlich immer davon, wie schwer es doch gewesen war in der Zeit vor 1933. Wie ungerecht alles zuging in Deutschland. Und wie alle auf die Nationalsozialisten eingedroschen haben, besonders die Juden, die Sozialdemokraten und die Kommunisten. Aber mit denen hatte der Führer ja aufgeräumt und dieses Unkraut gnadenlos mit Stumpf und Stiel ausgerottet, so sagte der Direktor dann immer wieder.

Ich schaute hinüber zum Schulgebäude. Dort mussten doch irgendwo … Ja, ich sah sie, Michael und Otto. Eigentlich musste Otto da nicht stehen, abseits von allen anderen. Er hätte auch zu uns kommen können. Aber er war ein Querkopf, genau wie sein Vater. Das jedenfalls hatte uns Dr. Loose erzählt. Ottos Vater war Kommunist, das wusste in unserer kleinen Stadt jeder. Natürlich gab es diese Partei nicht mehr. Der Führer hatte sie schon vor drei Jahren verboten, genau wie alle anderen Parteien außer der NSDAP. Die Kommunisten hatten ja den Reichstag in Berlin in Brand gesetzt. Und sie wollten eine Revolution starten und alles ganz anders machen, kaum dass der Führer Reichskanzler geworden war. Aber das hatte er verhindert und diese Verbrecherpartei verboten. Viele Kommunisten wurden damals wohl auch verhaftet, hat mir Papa erzählt. Einige von denen hat man seitdem nicht mehr gesehen. Die haben Deutschland verlassen, denke ich. Geschieht ihnen recht. Sollen sie doch in Frankreich oder in Russland ihre Ideen verbreiten. Aber ganz bestimmt nicht in unserem schönen neuen Deutschland! Auf jeden Fall waren Otto und sein Vater unbelehrbar. Otto war nicht beim Jungvolk, er trug kein braunes Uniformhemd, sondern einen schäbigen grauen Pullover und eine abgewetzte Lederhose. Wahrscheinlich hatten seine Eltern kein Geld, ihm bessere Sachen zu kaufen. Der Vater fand wohl keine Arbeit, hatte Fritz mir erzählt.

Doch Otto hätte nicht dort an der Wand stehen müssen. Er hätte zu uns kommen können, auch wenn er kein braunes Hemd trug. Aber er wollte nicht.

»Ich bleib bei Michael«, hatte Otto schon letzte Woche gesagt. »Damit der etwas Gesellschaft hat bei der schönen Feierstunde.«