Das Meer von Mississippi - Beth Ann Fennelly - E-Book

Das Meer von Mississippi E-Book

Beth Ann Fennelly

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

1927, im Süden der USA. Es regnet seit Tagen, und der mächtige Mississippi droht über die Ufer zu treten, als die Prohibitionsagenten Ingersoll und Johnson die kleine Ortschaft Hobnob erreichen. Sie sind auf der Suche nach zwei verschwundenen Kollegen, die einem örtlichen Schwarzbrenner auf der Spur waren. Am Schauplatz eines Verbrechens finden sie ein schreiendes Baby, das Ingersoll nicht zurücklassen will. Bei Dixie Clay Holliver, einer jungen Frau aus dem Ort, findet er ein Zuhause für das Kind. Die beiden mögen sich auf Anhieb, doch Ingersoll weiß nicht, dass Dixie Clay die beste Schwarzbrennerin des Landes ist und etwas mit den vermissten Ermittlern zu tun haben könnte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 526

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


ZUMBUCH

1927, tief im Süden der USA. Es regnet seit Tagen, als die beiden Agenten Ted Ingersoll und Ham Johnson die kleine Ortschaft Hobnob im Bundesstaat Mississippi erreichen. Sie sind auf der Suche nach zwei spurlos verschwundenen Ermittlern, die einem örtlichen Schwarzbrenner auf der Spur waren. Inmitten der Ortschaft werden sie Zeuge eines Verbrechens und stoßen auf ein schreiendes Baby. Ingersoll, der selbst ein Waisenkind war und von Nonnen großgezogen wurde, will das Baby nicht zurücklassen. Bei Dixie Clay Holliver, einer jungen Frau aus dem Ort, findet er ein Zuhause für das Kind. Ingersoll und Dixie Clay fühlen sich vom ersten Augenblick an zueinander hingezogen. Ingersoll weiß jedoch nicht, dass Dixie Clay die beste Schwarzbrennerin des Landes ist und in den Fall der vermissten Ermittler verwickelt ist.

»Der Regen tropft förmlich von den Seiten, so lebendig ist diese Geschichte geschrieben. Auch die Figuren scheinen aus Fleisch und Blut und sind von einer beindruckenden Tiefe. Ein Roman, den man nicht so schnell vergisst.« The Observer

ZURAUTORIN/ZUMAUTOR

Beth Ann Fennelly, 1971 in New Jersey geboren, hat drei Gedichtbände und ein Sachbuch veröffentlicht. Sie leitet den Studiengang Kreatives Schreiben an der Universität von Mississippi. Tom Franklin wurde 1963 in Dickinson, Alabama geboren. Für sein literarisches Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2019 mit dem Deutschen Krimipreis. Beth Ann Fennelly und Tom Franklin sind seit 1998 verheiratet und leben mit den gemeinsamen Kindern in Oxford, Mississippi.

BETH ANN FENNELLY

TOM FRANKLIN

DAS MEER

VON

MISSISSIPPI

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Eva Bonné

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Tilted World

bei William Morrow, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm,

den monatlichen Newsletter sowie alles rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter www.heyne.hardcore.de/facebook

   

@heyne.hardcore

Copyright © 2013 by Beth Ann Fennelly und Tom Franklin

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Eva Wagner

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com

(Konoplytska, neenawat khenyothaa)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-25652-4V001

www.heyne-hardcore.de

Für Nolan

und für Nat und Judith

VORBEMERKUNG

Vom Winter 1926 bis Frühjahr 1927 stellten Rekordregenfälle die mangelhaft gesicherten Dämme entlang des Mississippi und seiner Nebenflüsse auf die Probe – und die Dämme versagten. Es kam zu vielen kleineren Überflutungen und vielen Todesopfern, und der Regen wurde immer schlimmer. Im März 1927 drohten die Deiche zwischen Cairo, Illinois und dem Golf von Mexiko auf einer Strecke von über tausendfünfhundert Kilometern zu brechen. Tausende Anwohner flüchteten sich in provisorische Zeltlager, und entlang des gesamten Flusses wurden bewaffnete Wachtposten aufgestellt, um die Fluten und die Saboteure unter Kontrolle zu bringen.

Doch nichts hätte die Menschen auf das große Hochwasser vom Karfreitag des Jahres 1927 vorbereiten können. Bei Greenville in Mississippi brach der Deich von Mound Landing, und eine dreißig Meter hohe Flutwelle ergoss sich mit der doppelten Wucht der Niagarafälle ins Mississippi-Delta. Auf einer Fläche von siebzigtausend Quadratkilometern begruben die Wassermassen fast eine Million Häuser unter sich, teilweise zehn Meter tief, und flossen dann vier Monate lang nicht ab. Über dreihundertdreißigtausend Menschen wurden von Bäumen, Dächern und Deichen gerettet. Zu einer Zeit, als der Staatshaushalt der USA sich auf etwa drei Milliarden Dollar belief, verursachte das Hochwasser Sachschäden in Höhe von einer geschätzten Milliarde.

Abgesehen davon, dass sie die Landschaft der Südstaaten dauerhaft veränderte, prägte die Große Flut von 1927 die amerikanische Politik und das Verhältnis zwischen den Ethnien nachhaltig. Hunderttausende Afroamerikaner siedelten in den Norden des Landes um, Herbert Hoover wurde ins Weiße Haus gewählt, und ganz allgemein setzte sich die Ansicht durch, der Staat – der nichts getan hatte, um den Flutopfern zu helfen – brauche endlich eine Behörde, die Naturkatastrophen vorbeuge und Nothilfe leiste. Trotz dieser Altlast und obwohl sie als schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte der USA gilt, ist die Große Flut von 1927 heute größtenteils in Vergessenheit geraten.

Das Meer von Mississippi ist ein Versuch, diese Epoche ins kollektive Bewusstsein zurückzuholen. Die Autoren haben sich bemüht, die historischen Hintergründe so akkurat abzubilden wie möglich, aber die Stadt Hobnob und die darin lebenden Figuren sind reine Fiktion.

PROLOG

4. April 1927

Dixie Clay stapfte am Ufer des angeschwollenen Bachs durch den schmatzenden Schlamm und verscheuchte mit ihrem Hut die Mücken, als sie einen Kindersarg im Wasser dümpeln sah. Er hatte sich an einem Platanenstumpf verfangen. Bei dem Gedanken, ihr Sohn Jacob, den sie vor zwei Jahren begraben hatten, könnte zurückgekehrt sein, gaben ganz kurz ihre Knie nach. Aber dann ließ sie Hut und Gewehr fallen und warf sich in den Bach.

Sie kam erst wieder zu Sinnen, als sie schon hüfttief im schäumenden kaffeebraunen Wasser stand. Das war nicht Jacob in dem Sarg. Genau genommen war es nicht einmal ein Sarg. Dixie Clay stutzte, watete näher heran und sah, dass die hölzerne Kiste von Nieten und Metallbändern zusammengehalten wurde. Sie hatte einen Schiffskoffer für Hüte vor sich.

In den dicht bewaldeten Schluchten trug der Schall manchmal kilometerweit und erzeugte das seltsamste Echo, doch niemals hätte sie hier mit Männerstimmen gerechnet. Sie waren über das Rauschen und Brodeln hinweg zu hören, was bedeutete, dass irgendwo in der Nähe herumgebrüllt wurde. Eigentlich war Dixie Clays Mann Jesse heute Nachmittag gar nicht zu Hause. Sie machte kehrt, kämpfte sich ans Ufer zurück und kletterte aus dem wirbelnden Bach, die Watstiefel voll Wasser.

Das Haus war etwa einen halben Kilometer entfernt. Dixie Clay legte die Strecke im Laufschritt zurück und war froh, ausgerechnet heute eine von Jesses alten Hosen zu tragen und die Winchester dabeizuhaben. Sie war eine leichtfüßige Frau, aber der Regen hatte ihre vierzig Hektar Land überflutet, und der knöcheltiefe, schlürfende Schlamm zerrte schmatzend an ihren Stiefeln. Sie duckte sich unter Kiefernästen durch und schlug einen Bogen um ein Brombeergestrüpp, als sie plötzlich Jesse hörte. Was er sagte, konnte sie nicht verstehen, aber da waren auch noch fremde Stimmen, mindestens zwei. Bis vor ein paar Jahren waren die Kunden zu ihnen nach Hause gekommen, aber Jesse wollte das nicht mehr. Er hatte etwas dagegen, dass sie mit anderen Männern sprach. Doch diese Fremden klangen ohnehin nicht wie Kunden.

Sie erreichte die Hügelkuppe und ließ sich auf den Bauch fallen. An der Hintertür war niemand zu sehen – die Männer mussten irgendwo vor dem Haus sein. Dixie Clay machte sich an den Abstieg und schreckte zusammen, als sie im nassen Laub ausrutschte und eine kleine Lawine aus Geröll und Kiefernzapfen lostrat. Mit mehr Vorsicht schlich sie im dunklen Baumschatten zur Hausecke. Die Stimmen waren jetzt deutlicher zu hören, die Männer aber immer noch außer Sicht. Sie war jetzt noch etwa zweihundert Meter entfernt. Um näher heranzukommen, würde sie ihre Deckung verlassen und hinter die Tulpenbäume am Ende der Wäscheleine laufen müssen. Sie duckte sich, rannte los und hatte schon den halben Weg geschafft, als ein Schuss fiel.

Sie warf sich hinter die Bäume und kauerte atemlos im Gras.

Eine fremde Stimme ertönte. »Du willst wohl, dass ich dich einfach erschieße?«

Die Antwort war nur ein Murmeln.

»Dann halt das Maul.«

Dixie Clay musste unbedingt näher heran. Sie hörte ein ratterndes Stakkato – eine Klapperschlange? Doch es war Anfang April und die Klapperschlangen noch unter der Erde. Es sei denn, der Regen hätte sie herausgespült? Sie atmete tief durch und zwang sich, nach unten zu schauen. An ihren zitternden Fingern schlug der Ehering gegen den Lauf der Winchester. Dix, sagte sie zu sich selbst. Dixie Clay Holliver. Immer mit der Ruhe.

Sie schob sich zwischen den glatten Baumstämmen durch und duckte sich wieder. Ihr Blick wanderte zu dem Graben, wo die mickrigen Rosensträucher ertrunken waren, und weiter bis zur Veranda. Und da war Jesse. Er saß im Schaukelstuhl, neben ihm standen zwei Männer. Der eine war Anfang zwanzig, glatt rasiert und gerade dabei, seine Pistole ins Schulterhalfter zurückzustecken. Der andere, älter und mit Vollbart, trug einen Homburger und lehnte am Handwagen, auf dem sich die Whiskeykisten stapelten.

Zuerst erkannte sie die Männer nicht wieder, aber dann fiel ihr ein, wie sie vor ein paar Tagen am Tresen von Amitys Laden die Stärke der verschiedenen Seile geprüft hatte, als neben ihr ein Mann aufgetaucht war. Sie hatte ihn gar nicht beachtet. »Ich frage mich, ob man damit eine kaputte Reisetasche verschnüren könnte«, sagte er und ließ ein Stück Seil zwischen den Händen schnappen. Sie tat so, als fühlte sie sich nicht angesprochen, ging zu den Angelködern weiter und überließ Amity das Reden. Trotzdem hatte sie die Blicke des Fremden auf sich gespürt. Sie war eine kleine Frau, das mochten die Männer. Sie mochten auch ihre braunen Locken und das Sternbild aus Sommersprossen auf ihrer Nase. Doch Dixie Clay konnte sich nicht darüber freuen. Lange war es her, dass sie ihre Beine zu etwas anderem gebraucht hatte, als zur Destille zu laufen, oder ihre Arme zu etwas anderem als zum Rühren von Maische.

Als sie an jenem Tag aus dem Laden auf die Straße getreten war, hatte sie den Fremden noch einmal gesehen. Er hatte an einem Auto gelehnt und sich mit einem zweiten Mann unterhalten – über sie, das war offensichtlich. Vielleicht wäre ihr, wenn sie – statt davonzueilen – einen zweiten Blick riskiert hätte, klar geworden, wer diese Männer wirklich waren. Aber Dixie Clay hatte keinen zweiten Blick riskiert. Der Regen hatte viele seltsame Typen in die Stadt gespült. Manche schleppten Sandsäcke, andere waren Ingenieure oder Reporter, wieder andere patrouillierten als Nationalgardisten auf den Deichen und hielten die Saboteure fern.

Und jetzt hatte der Regen ihnen also diese beiden Prohibitionsagenten gebracht. Dixie Clay hockte mit klopfendem Herz im Gras und spähte durch die kümmerlichen Azaleen am Fuß der Tulpenbäume. Jesse wirkte sehr klein, wie ein ungezogener Schuljunge. Seine Arme waren auf den Rücken gebogen und steckten zwischen den Streben der Schaukelstuhllehne. Vermutlich trug er Handschellen. Sie hatten ihn gefesselt, aber nicht erschossen. Sein zitronengelbes Hemd steckte noch im Hosenbund.

»Wie wäre es«, sagte der jüngere Agent und klopfte eine Lucky Strike aus dem Päckchen, »wenn wir später wiederkommen und einen Reporter von der Zeitung mitbringen?« Der ältere Mann schüttelte den Kopf, doch der jüngere sprach weiter. »Wie haben diese Typen aus Jackson es denn angestellt, dass ihr Foto in der Zeitung abgedruckt wurde? Hast du dich das mal gefragt?« Er hielt inne, schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und entzündete ein Streichholz. »Sie haben vorher bei der verdammten Zeitung angerufen. So läuft das nämlich.« Er blies den Rauch aus und ließ das Streichholz auf die Holzplanken der Veranda fallen. »Sie fahren nicht in die Pampa und hacken auf Fässer voller Feuerwasser ein, ohne dass jemand danebensteht. Nein, Sir. Vorher rufen sie bei der Zeitung an, binden sich eine Krawatte um und schmieren sich Pomade ins Haar. Und erst wenn das Stativ steht, machen sie einen auf Jack Dempsey.«

Dixie Clay hoffte, Jesse würde in ihre Richtung sehen und ihr irgendwie vermitteln, was sie jetzt tun sollte. Aber falls er ahnte, dass sie in der Nähe war, ließ er sich nichts anmerken. Er starrte stur geradeaus, mit erhobenem Kinn. Aus dieser Entfernung wirkten seine Augen schwarz, ganz anders, als sie eigentlich waren: das rechte blau und das linke grün.

Der ältere Mann verschränkte die Arme, stützte sie auf den Griff des Handwagens und stellte einen Fuß auf die Metallstange. Er trug Brogans, keine Stiefel, was bedeutete, dass er keine Waffen an den Knöcheln trug, und ein Schulterhalfter konnte Dixie Clay auch nicht erkennen. Neben der Haustür lehnte eine Schrotflinte – möglicherweise seine einzige Waffe. »Warum willst du deine Visage unbedingt in der Zeitung sehen?«

»Du denn nicht?«, fragte der jüngere Agent zurück. »Möchtest du denn nicht, dass deine Frau bei den Abstinenzlerinnen was zum Prahlen hat? Außerdem wäre es gut für den Wahlkampf. Und wir kriegen eine Gehaltserhöhung, jede Wette.« Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und sah seinen Partner fragend an. »Stell dir doch mal vor, wie wir da hinten stehen« – er wedelte mit der Zigarette zur Brennerei hinüber – »und die Axt schwingen, dass der Whiskey nur so aus den Fässern spritzt. Die Destille ist groß, noch größer als die, die sie neulich in Sumner hochgenommen haben, das garantiere ich dir. Und im letzten Monat hatten wir so wenige Verhaftungen, dass wir uns nicht mal ein Steak im Restaurant leisten konnten.«

»Hier draußen gibt es kein Telefon. Wir müssten in die Stadt zurückfahren, die Zeitung anrufen und wieder herkommen. Das würde fast eine Stunde dauern.«

»Dann sollten wir uns auf den Weg machen, bevor es dunkel wird. Ich hole das Auto.«

Zum ersten Mal sagte Jesse etwas. »Meine Herren …«

Der ältere Mann wirbelte augenblicklich herum und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, so heftig, dass der Schaukelstuhl sich auf den Kufen wiegte, für eine Sekunde auf der gebogenen Spitze innehielt und dann wieder nach vorn kippte.

Dixie Clay hatte nicht gezielt, sie hatte nicht einmal schießen wollen, aber plötzlich zischte eine Gewehrkugel über das Hausdach hinweg. Die Männer zuckten zusammen und warfen sich zu Boden, so wie Dixie Clay selbst. Der Bärtige kroch hinter die Whiskeykisten, der andere hinter Jesses Schaukelstuhl. Dixie Clay starrte erschreckt nach unten, auf die Winchester. Nun würden sie bestimmt noch größeren Ärger bekommen, denn auf keinen Fall würde sie zwei Prohibitionsagenten erschießen, nur um Jesse zu retten. Ehrlich gesagt träumte sie manchmal davon, Jesse zu erschießen. Nun ja, vielleicht nicht gerade zu erschießen, aber loszuwerden. Er sollte einfach so verschwinden, unblutig und in weite Ferne.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, brüllte Jesse plötzlich in die unheimliche Stille – selbst die Vögel waren verstummt – hinaus:

»Jungs! Noch nicht schießen! Ich weiß, ihr habt sie im Fadenkreuz« – Dixie Clay sah, wie die beiden Agenten einen Blick tauschten – »aber tötet sie erst, wenn sich die Angelegenheit nicht friedlich klären lässt.« Er drehte den Kopf zu dem Mann um, der ihn als Deckung benutzte. »Wenn Sie Ihr Foto wirklich jemals im Delta Democrat sehen wollen, sollten Sie jetzt die Waffe hinlegen und meine Handschellen aufschließen. Es sei denn, Sie sind mit einem Nachruf zufrieden.«

Der ältere Mann lag am anderen Ende der Veranda und beäugte die Schrotflinte neben der Tür. Sie war vielleicht zwei Meter von den Whiskeykisten entfernt, hinter denen er sich verschanzt hatte.

Jesse bemerkte seinen Blick und redete schnell weiter. »Von euch ist nur einer bewaffnet, aber ich habe vier gottlose Schnapsbrenner, die jetzt, in diesem Augenblick, auf eure Kronjuwelen zielen. Also lasst die Waffe fallen und macht mich los.«

Stattdessen tauchte hinter dem Schaukelstuhl der Ellenbogen des jüngeren Agenten auf, eine Pistole wurde in die Höhe geschoben und von unten in Jesses Kiefer gedrückt. Der Agent brüllte:

»Ergebt euch! Sonst schicke ich ihn zur Hölle, denn ehrlich gesagt steht mir genau danach der Sinn. Wir werden euch jetzt alle festnehmen, schön langsam und einen nach dem anderen.«

Jesse warf den Kopf in den Nacken. Anscheinend fand er die Vorstellung zu komisch. »Na los doch«, gluckste er. »Eure Drohungen sind weniger wert als ein Köttel Waschbärenscheiße. Den Kerlen ist doch egal, ob ihr mich erschießt. Damit würde ihr Stück vom Kuchen nur noch größer. Und ihr …« Jesse schnalzte dreimal in schneller Folge mit der Zunge. »… ihr seid für sie doch nur eine willkommene Schießübung.«

Er begann zu schaukeln, als wäre heute ein friedlicher Sonntagnachmittag und als hätte er nichts Besseres zu tun, als ein paar Erbsen zu pulen. Hinter ihm flog eine Faust in die Höhe und hielt den Schaukelstuhl fest. Die Bewegung war unterbrochen, aber Jesse wirkte trotzdem gelöst und schlug die Füße in den zweifarbigen Stiefeln übereinander.

»Jawohl«, fuhr er fort, streckte einen Fuß aus und ließ ihn im Sprunggelenk kreisen. »Die langweilen sich, außerdem sind sie von der streitlustigen Sorte. Ehemalige Scharfschützen aus dem Krieg, jawohl, die sind hier und arbeiten für mich. Wahrscheinlich juckt es sie geradezu in den Fingern, ein bisschen Blei zu verspritzen.« Jesse hob das Kinn und rief in den Wald: »Hey, Clay! Zeig ihnen, wie du den deutschen Kaiser besiegt hast!« Er hielt inne und sah sich auf der Veranda um. »Ziel auf den Kuchenteller!«

Vom Verandadach hing ein Kuchenteller aus Blech an einer Schnur. Dixie Clay hatte ihn mit Vogelfutter gefüllt. Nun hob sie die Winchester und zielte.

Clay. Dixie Clay. Du schaffst das. Bist du nicht das Mädchen, das beim Tontaubenschießen das Blaue Band gewonnen hat, damals, als du noch Zöpfe getragen hast? Sie erinnerte sich an die vielen Jahre, in denen sie mit ihrem Vater auf die Jagd gegangen war, und daran, wie sie einmal aus einem Eichenwäldchen heraus einen Puma erlegt hatte. Sie besann sich auf jenen Schuss, und dann besann sie sich auf diesen und drückte den Abzug. Der Kuchenteller schepperte und zappelte an der Schnur, das Vogelfutter zerstob in der Luft und regnete prasselnd zu Boden.

Dixie Clay nutzte die Ablenkung und krabbelte hinter den Sassafrasbaum, die letzte Deckung auf der abschüssigen Böschung. Nun trennten sie noch zehn, zwölf Meter von der Veranda.

»Ha!«, rief Jesse und schaute zu, wie der Kuchenteller an der Schnur schwankte. »Jetzt wird es lustig. Ich sag euch was«, wandte er sich an die Prohibitionsagenten und fing erneut zu schaukeln an, »wie wäre es mit einer kleinen Vorführung? Hurra! Als Nächstes ist Vier-Finger-Fred an der Reihe.« Eine Sekunde lang war Dixie Clay von Jesses Gerede so gefesselt, dass sie erwartete, Freds Phantom neben sich zu sehen.

Jesse sprach weiter: »Freddie, du Spatzenhirn! Versuch mal, die Lucky Strikes da hinten zu treffen.«

Die Prohibitionsagenten starrten auf die Zigaretten, die immer noch dort lagen, wo der jüngere sie fallen gelassen hatte. Dixie Clay zielte auf den roten Kreis in der Mitte des grünen Päckchens. Sie wurde ganz ruhig und spürte abermals die elektrisierende Verschmelzung von Blick und Ziel, gerade so, als feuerte ihr Auge den Schuss ab, nicht ihr Finger am Abzug. Sie schoss, aber die Konfettiwolke blieb aus. Sie hatte zu tief gezielt. Immerhin war das Einschussloch in den Holzplanken kaum zwei Fingerbreit von dem Päckchen entfernt. Kein übler Schuss, alles in allem.

»Fred, Fred, Fred. Ich schätze, für den Schuss hättest du wohl einen fünften Finger gebraucht. Ziemlich schlampig, Fred. Das war wohl eher ein unlucky strike. Tja, Bill, jetzt liegt es an dir.« Jesse hielt demonstrativ nach möglichen Zielen Ausschau. »Ich sag dir was, Bill. Ich sage dir, was ich will. Ich kann diesen Homburg nicht leiden.«

Dixie Clay hielt nach dem Hut des älteren Agenten Ausschau, der knapp über die gestapelten Whiskeykisten ragte. Jesse fuhr fort: »Also, dieser Knick in der Mitte gefällt mir gar nicht. Heutzutage sind weiche, runde Bowlerhüte in Mode, das weiß doch jeder. Bill, tu unserem Freund einen Gefallen und schieß ihm die Falte aus dem Hut.«

Dixie Clay hinter dem Sassafrasbaum rührte sich nicht. Dem Mann den Hut vom Kopf schießen? Sicherlich wollte Jesse nicht, dass …

Doch Jesse redete schon weiter, immer noch in belustigtem Tonfall. Seine Anspannung konnte Dixie Clay nur heraushören, weil sie seit sechs Jahren mit ihm verheiratet war.

»Jawohl, dieser Gentleman, der die Mode der letzten Saison trägt und zitternd hinter dem von uns so mühselig gebrannten Fusel hockt, braucht Hilfe vom Herrenausstatter. Tu es für mich, Bill, und anschließend könnte dein Bruder Joe ihm vielleicht noch ein bisschen den Bart stutzen.« Jesse verzog den Mund und flüsterte dem jüngeren Agenten, der ihm noch immer die Pistole in den Unterkiefer drückte, theatralisch laut zu: »Ein gepflegtes Erscheinungsbild ist für einen Prohibitionsagenten unheimlich wichtig.« Dann wandte er sich wieder dem Wald zu: »Jetzt, Bill!«

»In Ordnung!«, knurrte der Bärtige. »Du hast gewonnen.« Er nickte seinem Partner zu.

Der junge Agent warf seine Waffe weg, sodass sie über die Holzplanken schlitterte. Dann rief er in Dixies Richtung: »Ich hole nur die Schlüssel raus, okay?«, und beugte sich zu Jesses gefesselten Händen hinter der Lehne hinunter.

Jesse sprang auf, bückte sich nach der Pistole, ging zur Tür und nahm die Schrotflinte an sich. Er richtete die Waffen auf ihre Besitzer. Einen Moment lang standen die drei so reglos da wie Schauspieler, die darauf warten, dass der Vorhang fällt.

»Tja, dann.« Jesse grinste, die weißen Zähne unter den Flügeln seines schwarzen Schnurrbarts blitzten. »Ich bringe die Agenten in die Stadt zurück. Mal sehen, ob wir uns einigen können. Falls es hier irgendwelche Scherereien gibt, habt ihr meine Erlaubnis zu schießen. Abgesehen davon läuft alles weiter wie gehabt.«

Er setzte einen Fuß auf den Getreidebehälter neben der Tür und verstaute die Pistole in seinem Stiefelschaft. Dann richtete er die Schrotflinte auf die beiden Agenten und deutete zur Verandatreppe. Sie stiegen hinunter, während Jesse hinter den Schaukelstuhl trat, wo die Handschellen immer noch von den Streben der Rückenlehne baumelten. Er zog sie heraus, steckte sie ein und folgte den Männern.

»Also dann«, sagte er, während sie durch den Matsch vor dem Haus wateten. »Wo habt ihr eure Klapperkiste versteckt?«

Dixie Clay konnte die Antwort nicht hören, aber sie sah, dass Jesses dunkel glänzender Haarschopf sich neigte wie bei einem Nicken, und dann wandte er sich nach Westen und trieb die Männer auf der Straße nach Seven Hills vor sich her. Die Sonne stand als orangegrauer Schmierfleck hinter den Wolken über dem Bergrücken, und Dixie Clay blickte dem Trio nach, bis es ebenso verschwunden war wie die Farben am Himmel. Dann würde Jesse sie also bestechen, und damit wäre die Sache erledigt. Nichts würde sich ändern. Sie lehnte die Stirn an die schuppige Rinde des Sassafrasbaums und stieß einen langen, zittrigen Atemzug aus. Die feuchte Borke roch nach Root Beer – Dixie Clay hatte es ganz vergessen. Eine Schweißperle lief ihr zwischen den Schulterblättern durch und an der Wirbelsäule hinunter. Sie lehnte dort an dem Baum, bis die Laubfrösche ringsum ihr Abendlied anstimmten.

Dann stieß sie sich vom Baumstamm ab und beschloss, noch einmal zum Bach zurückzukehren, um ihren Hut zu holen und nach dem Schiffskoffer zu sehen. Halb stolpernd, halb rutschend legte sie die restlichen Meter zum Haus zurück, setzte sich auf die Verandastufen und zog sich die Watstiefel von den Beinen. Sie stand auf und drehte den Schaukelstuhl, bis er wieder im richtigen Winkel zur Hauswand stand. Dann ging sie hinein und holte eine Laterne, jeden Schlüssel, den sie finden konnte, die kleine Fuchsschwanzsäge von Disston und eine Kneifzange. Sie aß einen Brotkanten und ein hart gekochtes Ei, und nachdem sie das Maultier gefüttert hatte, erklomm sie abermals den Hang, schlug sich zum Bach durch und suchte ihren Hut.

Der Koffer hing immer noch an dem Platanenstumpf fest. Sie zerrte ihn ans Ufer, wobei sie sich die Oberschenkel stieß und abermals vollkommen nass wurde. Inzwischen war es dunkel. Sie stellte die Laterne auf den Koffer und probierte alle mitgebrachten Schlüssel aus in der Hoffnung, einer davon könnte die magische Silhouette haben, doch Schlüssel für Schlüssel versagte. Genauso wenig gelang es ihr, das Schloss mit der Zange zu knacken. Sie wollte fast schon zur Säge greifen, als sie einen letzten Schlüssel ganz unten im Beutel bemerkte, ihn ins Schloss schob und die Riegel schnappen hörte.

In dem Koffer lag ein trockener Sack aus Gämsenleder. Dixie Clay lockerte den Kordelzug, und zum Vorschein kam eine Mandoline. Ein Prachtstück aus Mahagoni mit gerundetem Korpus.

Sie ließ den geöffneten Schiffskoffer im Uferschlamm stehen und nahm nur die Mandoline mit. Beim Gehen zupfte sie die Saiten und fragte sich, wie viel das Ding wohl wert wäre. Doch in Wahrheit hatte sie gar nicht vor, es zu verkaufen, obwohl weder sie noch Jesse spielen konnten.

Sie wünschte sich, Jesse würde nach Hause kommen und ihr erzählen, dass er die Angelegenheit mit den beiden Prohibitionsagenten einvernehmlich geregelt hatte. Dass sie Angst haben könnte, kam ihm wahrscheinlich nicht einmal in den Sinn. Alles, hatte er gesagt, solle weiterlaufen wie gehabt. Und weil ihr Geschäft das nächtliche Schnapsbrennen war und die Nacht gerade anbrach, war es wohl an der Zeit, zur Destille zu gehen.

1

KAPITEL

18. April 1927

Das Vordach des Gemischtwarenladens, unter dem die Prohibitionsagenten Ham Johnson und Ted Ingersoll ihre Pferde festbanden, bestand aus Blech, deswegen hörten sie zunächst nichts als den Regen, ein endloses Prasseln wie von endlos fallenden Murmeln. Sie beeilten sich und hielten den Kopf gesenkt, während ihnen das Wasser von den Hutkrempen lief. Und selbst als sie schon die Vortreppe hinaufstiegen und das leise Heulen hörten, gingen sie dem Geräusch nicht gleich nach, denn im selben Moment erkannten sie mit Schrecken, dass die Mehlsäcke, die sie schon von Weitem auf der Veranda hatten liegen sehen, Stiefel trugen. Das waren gar keine Mehlsäcke auf einer schwarzen Plane, sondern zwei Leichen in einer breiten, dunklen Blutlache.

Mit gezogenen Waffen sprangen sie die letzten Stufen hoch, und fast wäre Ingersoll, der einen halben Schritt hinter Ham ging, im Blut ausgerutscht. Die Leichen lagen mit dem Gesicht nach unten. Ham kickte ihre Waffen von der Veranda, und dann drückten er und Ingersoll sich rechts und links der Tür rücklings an die Holzverkleidung. Auf ein Nicken von Ham stürmten sie hinein und fanden sich in einem trüb beleuchteten Ladenraum mit Regalgängen wieder. Zu ihrer Linken stand ein Verkaufstresen mit Glasabdeckung.

Ingersoll übernahm den einen Gang und Ham den anderen. Sie schlichen in gebückter Haltung weiter und trafen sich am hinteren Ende vor einer Reihe von Fässern wieder.

Was immer sie gehört hatten, war verstummt. Ingersoll drehte sich um und entdeckte eine Tür zu einem Lagerraum. Und da hob das Geräusch von Neuem an und steigerte sich wie ein heulender Wind.

»Hoffentlich nur eine Katze«, sagte Ham.

Das Baby lag in der Mitte des Lagerraumes auf dem Rücken. Es heulte und strampelte und ruderte mit den Armen. Wenige Schritte dahinter lag eine Gestalt vor einem Kartonregal, mit dem Gesicht zur Wand und auf der Seite. Das dunkle Y der Hosenträger zog sich über einen weißen blutbefleckten Hemdrücken, die durchtränkten Schürzenbänder waren schwarz vor Blut. Ingersoll richtete seinen Colt auf den Vordereingang, während Ham zu der Gestalt ging, einen Fuß unter ihre Schulter schob und sie auf den Rücken rollte. Mit einem dumpfen Schlag landete der Hinterkopf auf dem Holzboden. Es war ein Junge von vielleicht siebzehn Jahren. Ein Stück neben ihm lag ein Gewehr. Ham machte sich nicht die Mühe, es außer Reichweite zu schieben, denn als sich die Augen hinter der verbogenen, mit Blut besprenkelten Brille öffneten, konnte er gleich sehen, dass der Junge erledigt war. Ingersoll ließ den Blick durch Laden und Lagerraum schweifen. Kaum zu glauben, wie viel Blut aus einem Körper herauslief, wenn die Hülle einmal durchbohrt war. Es hatte sich in einer Lache gesammelt, die längst die Hintertür erreicht hatte und nun im Spalt darunter verschwand. Ein Nebenarm kroch in Richtung des Babys, das immer noch am Boden lag und schrie. Ingersoll kam näher, den Colt stets auf den Vordereingang gerichtet.

»Junge«, sagte Ham und beugte sich über den Verletzten. »Was ist hier passiert?«

Der Blick des Jungen wanderte langsam zu Ingersoll und dann zurück zu Ham. »Plünderer«, hauchte er. Er sprach mit Akzent, vielleicht Schottisch.

»Wie heißt du?«

»Colin … Stewart.«

»Colin, wir werden dich und dein Baby nach Greenville bringen, ins Krankenhaus.«

»Nicht mein Baby.«

»Alles okay, deinem Baby geht es gut. Wir nehmen es mit, wir werden drauf achtgeben und es untersuchen lassen …«

»Nicht mein Baby. Plünderer. Plündererbaby. Ich hab sie erschossen. Die Plünderer.«

Ham und Ingersoll tauschten einen Blick, und als sie sich wieder dem Jungen zuwandten, bebte seine Unterlippe. Er spuckte unverständliche Laute aus, blutiger Schaum lief ihm übers Kinn.

»Jesus«, sagte Ham, steckte seine Waffe ein und schob dem Jungen beide Hände unter die Schultern.

Ingersoll bückte sich und packte die Fußgelenke. Er fühlte sich seltsam leicht an, irgendwie entleert. Ingersoll schaute hinter sich, manövrierte sie um das Baby herum und durch den Laden, Blutstropfen klatschten auf den Boden, und dann standen sie wieder auf der Veranda mit dem lärmenden Vordach und den toten Plünderern.

Ingersoll steuerte schon die Treppe an, als Ham seinen Namen sagte. Er drehte den Kopf und sah, dass der Junge gestorben war. Er hatte den Tod oft genug gesehen, um ihn auf Anhieb zu erkennen. Der Leichnam hing schlaff zwischen ihnen. Sie legten ihn neben die anderen beiden auf die Verandaplanken.

»Um Himmels willen«, sagte Ham, nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch das buschige rotblonde Haar. Sein blutverschmierter Handballen hinterließ einen Fleck auf seiner Stirn, der Ingersoll an Aschermittwoch denken ließ, an das Aschekreuz. »Was zum Teufel sollen wir Hoover sagen?«, fragte Ham und blickte in die Welt hinaus, die von dem überfließenden Wasser aus der Regenrinne in nadeldünne Streifen zerteilt wurde.

Ihren aktuellen Auftrag hatten sie erst vor wenigen Stunden erhalten. Eigentlich hätten sie heute freigehabt, aber dann hatte ihnen Handelsminister Herbert Hoover, der mittlerweile auch für das Rote Kreuz und Präsident Coolidges Hochwassernothilfe zuständig war, den freien Tag gestrichen. Hoovers Leute hatten im Edison-Walthall-Hotel in Jackson angerufen, kurz nachdem Ham und Ingersoll eingecheckt hatten, und sie zum Bahnhof bestellt. Hoover war in einem Pullman-Waggon im Hochwassergebiet unterwegs, verteilte Hilfsgelder und ließ sich bei jedem Halt von der Presse ablichten. Den auf Rekordstand angeschwollenen Mississippi zu kontrollieren – beziehungsweise so zu tun, als wäre das überhaupt möglich – war eine Mammutaufgabe. Vor zwei Tagen hatte der Damm bei Dorena, Missouri, auf einer Länge von dreihundertsechzig Metern nachgegeben, dreißigtausend Hektar Land standen unter Wasser. Um den Rest der Nation zu beruhigen, hatte die Flusskommission die Schuld der Stadt zugeschoben und unterstellt, der Damm sei schlampig gebaut worden und schlechter als anderswo: »Bei keinem einzigen der nach staatlichen Vorgaben errichteten Dämme hat es einen Bruch gegeben, kein einziger Hektar Land wurde überflutet.« Doch die Dämme waren gebrochen, und weitere würden brechen. Um das zu wissen, reichte ein Blick auf den Fluss.

Also waren Ham und Ingersoll zum Bahnhof gegangen, wo ein schwarzer Träger in weißer Livree und passender Mütze ihnen den Wartesaal gezeigt und gesagt hatte, sie sollten warten. Nach einer Weile, gefühlt nur ein paar Minuten, hatte er Ingersoll wach gerüttelt: Der Zug war eingefahren. Ingersoll und Ham wurden zu Hoovers Pullman geführt und stiegen ein.

Den meisten Platz in dem Waggon beanspruchte ein auf Hochglanz polierter Mahagonischreibtisch. Sie standen unschlüssig davor, lehnten höflich einen Drink ab und beobachteten das hektische Ein- und Ausladen draußen auf dem Bahnsteig. Ingersoll hatte Hoover noch nie persönlich getroffen, aber er hatte – wie der Rest der Nation – das Zeitungsfoto gesehen, das Hoover bei der ersten öffentlichen Sendung des Fernsehens zeigte. Er hatte in seinem Büro in Washington gesessen und eine Ansprache gehalten, und im dreihundert Kilometer entfernten New York hatten die Angestellten der Bell Telephone Laboratories vor einem Glaskasten gestanden und Hoover in einem schwarzen Zweireiher gesehen, und als seine Lippen sich bewegten, hatten sie auch seine Stimme gehört: »Menschliches Genie hat das Hindernis namens Entfernung zerstört.«

Ham nahm eine zusammengefaltete Zeitung vom Schreibtisch und zeigte sie Ingersoll. Unter den Schlagzeilen »Chaplin reicht Scheidung ein« und »Nation fürchtet Flut« war ein Foto von Hoover abgebildet, aufgenommen am Vortag in Memphis. Der Flusspegel im Hintergrund stand auf Rekordniveau. »Hoover versichert: Deiche werden halten.«

»Er wird unser nächster Präsident«, sagte Ham. Ingersoll hatte fast dasselbe gedacht.

Sie waren seit acht Jahren Kollegen. Im Krieg war Ham sein vorgesetzter Offizier gewesen. Sie hatten sich recht gut verstanden, trotzdem war der Kontakt später abgerissen. Ingersoll hatte sich durch New York treiben lassen und mit verschiedenen Bands in Harlem gespielt, auch wenn der Blues dort nicht annähernd so spannend war wie das, was er aus Chicago kannte.

Eines Tages – er war ungefähr seit einem Jahr dabei – kam Ham in seinen Club spaziert. Rein zufällig, wie er beteuerte: Er sei die 142nd Street hinuntergeschlendert und habe plötzlich den Sirenengesang von Ingersolls a-Moll-Gitarrenriff aus dem De Luxe gehört.

»Lass uns Partner sein«, hatte Ham vorgeschlagen, als sie nach einem Dutzend Pints pinkelnd auf der Straße standen und in den Sonnenaufgang blickten. Ingersoll konnte sich nicht erinnern, eingewilligt zu haben, doch er war noch am selben Tag mit Ham mitgegangen, nicht zuletzt weil eine der Tänzerinnen für ihn schwärmte und ihr Freund, der Clubbesitzer und ehemalige Schwergewichts-Champion Jack Johnson, angeblich vorhatte, ihm einen Besuch abzustatten.

Das war im Winter 1919/20 gewesen, als das »ehrenwerte Experiment« namens Prohibition noch jung war und seine Agenten edle Helden. Im Januar 1920 waren tausendfünfhundertzwanzig Prohibitionsagenten zu einem Wochenlohn von fünfzig Dollar angeheuert worden. Aber nicht einmal tausendfünfhundertzwanzig nüchterne Agenten waren in der Lage, dreißigtausend Meilen Küste und Grenze zu sichern. Abgesehen davon blieben die meisten nicht lange nüchtern. Was wiederum dazu führte, dass der Oberste Prohibitionskommissar auf die Idee kam, mobile Agentenduos einzusetzen, die kein festes Revier hatten und demnach nicht in Versuchung kommen würden, sich mit dem Mob anzufreunden. Der Kommissar begann mit Ham, den er im Krieg kennengelernt hatte und der in seinen Augen so »sauber wie ein Hundezahn« war, wenigstens hatte Ham es Ingersoll so erzählt. Wann immer die Dinge irgendwo außer Kontrolle gerieten, wurde das Duo losgeschickt – mysteriös, rücksichtslos, unbestechlich.

Aber im Laufe der Jahre waren sie müde geworden. Tatsächlich war die ganze Nation es leid zu sehen, wie das Volstead-Gesetz für immer mehr Alkohol, immer höhere Kriminalitätsraten und immer einflussreichere Gangster sorgte, die ihre Finger inzwischen nach Opium und Kokain ausstreckten. Obwohl Ham und Ingersoll mittlerweile hundert Dollar pro Woche verdienten, sehnten sie sich danach, endlich auszusteigen. Sie hatten sogar ein paar Nachwuchsagenten ausgebildet. Doch sobald irgendwo eine Razzia schieflief oder ein Undercover-Agent enttarnt wurde, verlangte der Kommissar ihren persönlichen Einsatz. Und jetzt hatte er sie offenbar an Hoover ausgeliehen.

Dieser Tage war Hoover in den Nachrichten allgegenwärtig. Ham war der Ansicht, er wolle von dem Erfolg profitieren, den ihm die Versorgung der hungernden belgischen Zivilbevölkerung eingebracht hatte. Eine Naturkatastrophe in der Heimat komme ihm gerade recht, um sich einen Namen zu machen. Im März hatte Hoover es tatsächlich geschafft, von Coolidge zum Vorsitzenden eines Sonderausschusses von fünf Ministern ernannt zu werden und alle Rettungsaktionen und die Nothilfe zu koordinieren – ein Posten, der es ihm sogar erlaubte, Armee und Marine zu befehligen. Er hatte unverzüglich begonnen, die Presse zu bearbeiten, ließ sich bei jeder Gelegenheit fotografieren und sorgte dafür, dass sein Führungsstil von unterschiedlichen Quellen gelobt wurde. Wenige Wochen nach seinem Amtsantritt hatte er behauptet, es habe seither keine Flutopfer mehr gegeben, keine Deichsabotage, keine Plünderungen und keine Unruhen in den Flüchtlingslagern; kein einziger schwarzer Dammarbeiter sei erschossen worden, und abgesehen davon werde es, bei Gott, keine große Flut geben. Was alles entweder unwahr war oder unwahrscheinlich.

Die Lokomotive stieß zum Zeichen der Abfahrt einen gellenden Pfiff aus, und im selben Moment trat Hoover ein. Er trug eine bordeauxfarbene Hausjacke mit Schärpe, von der Troddeln baumelten. Er sagte den Männern, sie sollten Platz nehmen, denn sie gingen mit auf die Reise.

»Aber, Sir«, protestierte Ham und ließ sich gleichzeitig in einen ledernen Clubsessel vor dem Schreibtisch sinken. »Unsere Sachen sind immer noch im Hotel in Jackson.«

»Ja, ja. Sie werden dafür entschädigt.«

Ingersoll zweifelte nicht daran, dennoch musste er an seine Gitarre denken, die in einem Schließfach des Peabody Hotel in Memphis lag, wo er sie vor drei Einsätzen zurückgelassen hatte. Er hatte so lange nicht gespielt, dass seine Fingerspitzen ihre Schwielen verloren.

»Es gibt da eine Stadt«, sagte Hoover und drehte sich im Sessel zu einem kleinen Bücherregal um, das mit einer Kette an der Wand befestigt war, »eine kleine Stadt in einer Flussbiegung.« Er zog ein großes, in Leder gebundenes Buch heraus und drehte sich wieder zu den Agenten um. »Hobnob Landing.« Er balancierte das Buch auf der linken Handfläche, leckte sich den rechten Zeigefinger, blätterte ein paar Seiten um und hielt dann inne, um sich eine Brille aufzusetzen. »Hobnob ist eine bescheidene Stadt, etwa dreitausend Einwohner«, fuhr er fort, strich die Seite glatt und überflog sie. »Kleine Farmen, hauptsächlich Maisanbau. Wenig Flusshandel, ein paar Geschäfte via Eisenbahn. Viele Hügel, ungünstig für Baumwolle.« Er warf ihnen über den Brillenrand hinweg einen Blick zu. Ungünstig für Baumwolle war gleichbedeutend mit günstig für illegale Schnapsbrennereien.

Hoover schnalzte leise mit der Zunge, stieß mit dem Finger auf die betreffende Stelle nieder und drehte das Buch zu ihnen um. »Da. Genau dort sind zwei unserer Agenten verschwunden.«

»Wann?«, fragte Ham.

»Vor zwei Wochen.«

»Du liebe Güte.« Ham schüttelte den Kopf. »Wer?«

»Little und Wilkinson. Kennen Sie sie?«

»Ja«, sagte Ham. Er und Ingersoll hatten Wilkinson ausgebildet, den Jüngeren der zwei. Ein Hitzkopf, aber zuverlässig.

»Haben sie sich möglicherweise kaufen lassen?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Ham hielt inne, als müsste er sich erinnern. »Nein.«

»Nun, sie sind entweder gekauft oder tot.«

Weder Ingersoll noch Ham antworteten.

»Wissen Sie, das Problem ist, dass ich jetzt für diesen Bereich verantwortlich bin, und ich kann mir keine schlechte Presse leisten.« Hoover schwang im Sessel herum, schob den Atlas zurück in die Lücke und wandte sich wieder den Männern zu. »Diese Agenten haben Frauen, und die Frauen haben Fragen. Ich kann die Angelegenheit nicht ewig unter Verschluss halten. Irgendwann werde ich bekannt geben müssen, dass die Agenten umgekommen sind.«

Ham nickte.

»Und da gibt es nur eine Sache, die es besser machen könnte.«

»Gleichzeitig bekannt zu geben, dass die Mörder gefasst sind?«

»Bingo«, sagte Hoover. »Hören Sie, die beiden waren an etwas Großem dran. Wir wissen nicht genau, was es war, aber angeblich hat Wilkinson seiner Frau erzählt, sein Name würde demnächst in der Zeitung stehen. Er hatte wohl vor, eine Brennerei hochzunehmen. Leider hat er ihr nicht verraten, wo das verdammte Ding steht. Und deswegen müssen Sie beide jetzt dort hinfahren und sie finden. Mehr noch: Sie müssen in Erfahrung bringen, wer mit wem zusammenarbeitet. Besorgen Sie mir Namen – von Käufern, Händlern, korrupten Polizisten, von allen Beteiligten. Ich brauche eine große Geschichte, so groß, dass die beiden toten Agenten zur Randnotiz verkommen. Verstanden?«

Sie nickten.

»Und raten Sie mal, was ich auf keinen Fall gebrauchen kann? Vier tote Agenten. Seien Sie also vorsichtig«, fuhr Hoover fort. »Die Lage ist angespannt, und das nicht nur, weil alle, die etwas mit der illegalen Brennerei zu tun haben, Angst bekommen haben. Die Stadt ist gespalten. Anscheinend haben ein paar Bankiers aus New Orleans, reiche Baumwollfarmer, Hobnob ein hübsches Sümmchen angeboten. Sie haben sich an die Deichkommission gewandt und versucht, Hobnob zu kaufen.«

»Zu kaufen?«

»In der Tat. Sie haben fünfzig Riesen geboten dafür, dass der Deich gesprengt wird. Hobnob ist gefährdet, weil es in einer großen Flussschleife liegt und die Dämme jederzeit nachgeben könnten. Wenn man sie sprengt, würde der Druck von den Deichen im Süden genommen, und damit wären die großen Anwesen im Garden District gerettet.«

Ham grunzte.

»Das Ganze begann als simple Geschäftsvereinbarung«, fuhr Hoover fort. »Wir sprengen euren Deich, der sowieso bald weggeschwemmt wird, und dafür könnt ihr alle noch mal von vorn anfangen.«

»Und wie ging es aus?«

»Allzu menschlich. Die Einwohner von Hobnob waren von dem Angebot begeistert, aber dann konnten sie sich nicht einigen, wie das Geld verteilt werden sollte. Einige besitzen mehr Land als der Rest. Andere besitzen besseres Land. Manche besitzen gar kein Land. Sie können sich die Streitigkeiten vorstellen. Am Ende konnten sie sich nicht einigen, und die Bankiers zogen das Angebot zurück.« Der Minister nahm seine Brille ab und legte sich Daumen und Zeigefinger an den Nasenrücken. »Und jetzt fürchten wir einen Sabotageakt.«

»Wie in Marked Tree.«

Es war das erste Mal, dass Ingersoll auch etwas sagte, aber vielleicht hätte er den Mund halten sollen, denn Hoover starrte ihn über das Spitzdach seiner aneinandergelegten Finger hinweg an. Vier Saboteure hatten auf die Seite von Arkansas übergesetzt und wollten Dynamit platzieren, und dabei waren sie erschossen worden. Plötzlich kam Ingersoll die Idee, Hoover könnte versucht haben, die Geschichte aus der Presse zu halten.

»Ja«, sagte Hoover. »Genau wie in Marked Tree.«

Er stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus, während die Männer die Informationen verarbeiteten. Der Zug nahm Fahrt auf und begann zu schaukeln.

»Das Corps hat Männer nach Hobnob entsandt, Ingenieure und Deichwächter. Was Ihnen den Einstieg erleichtert: Sie sind einfach bloß Ingenieure, die geschickt wurden, um den Damm zu sichern. Die Leute zum Reden zu bringen wird sich hingegen schwieriger gestalten. Die sind sehr misstrauisch.«

Sie nickten, obwohl Hoover ihnen den Rücken zukehrte. Es regnete jetzt so heftig, dass das Wasser über die Innenseite der Fensterscheibe rann. Hoover zog ein Einstecktuch heraus und wischte einen Streifen frei. Draußen flog die ertränkte Landschaft mit ihren langen Reihen aus abgestorbener, von Regenschauern gewellter Baumwolle vorbei. »Fackeln Sie nicht lange. Sie hören sich um, rufen mich an, sobald Sie grünes Licht brauchen, nehmen die Brennerei hoch und verschwinden wieder.« Er drehte sich um. »Ich gebe Ihnen eine Woche. Spätestens dann muss ich den Verlust der Agenten bekannt geben. Enttäuschen Sie mich nicht.«

»Nein, Sir.«

Hoover ging zu einem Garderobenständer, legte die Schärpe ab, zog die Hausjacke aus und schlüpfte in einen Armeemantel. Während er die Knöpfe durch die Löcher schob, fügte er hinzu: »Wir werden bald in Greenville ankommen, aber Sie dürfen nicht zusammen mit mir aussteigen – nicht wenn da draußen die Zeitungsleute mit ihren Blitzlichtern stehen. Da würde Ihre Tarnung sofort auffliegen.«

»Und wie kommen wir in die Stadt?«, fragte Ham.

Hoover zuckte mit den Achseln. »Sie sind doch einfallsreiche Menschen. Ich nehme an, Sie können irgendwo zwei Pferde auftreiben.«

Beide Agenten schwiegen.

»Und?«

»Ziemlich nass zum Reiten«, sagte Ham.

Hoover streckte die Hand nach einer goldenen Kordel aus, die wie eine Girlande oberhalb der Fenster gespannt war, und zog daran. Ein Summer ertönte, der Schaffner öffnete die Tür.

»Oliver, die Herren möchten sich verabschieden.«

»Hier?«, fragte Ham ungläubig. Sie waren nicht einmal in der Nähe einer Siedlung.

Der Schaffner drehte sich um und verschwand. Kurz darauf quietschten die Bremsen des Zuges wie ein gestochenes Schwein.

Hoover zog eine Schublade auf, holte zwei cremeweiße Umschläge heraus und legte sie auf die lederne Schreibtischunterlage. Weil keiner der beiden Männer sich rührte, erhob er sich, kam um den Schreibtisch herum, drückte Ingersoll einen Umschlag in die Hand und klopfte ihm auf den Rücken. Mit Ham tat er dasselbe.

»Sie haben in Frankreich gedient«, sagte er, woraufhin beide Männer den Kopf hoben. »Letztendlich ist das hier nur ein weiterer Krieg. Ein Krieg gegen Verbrecher, die glauben, sie stünden über dem Gesetz. Und ein Krieg gegen Mutter Natur.«

Die Tür öffnete sich wieder. Hoover setzte sich die Brille auf, nahm einen Brief von dem Poststapel auf dem Schreibtisch und wendete ihn um, als müsse er den Absender überprüfen. »Wir wären dann so weit.«

»Gepäck, Sir?«, fragte der Schaffner.

»Kein nennenswertes.« Er schob einen Brieföffner aus Messing unter den Umschlagfalz. »Dieser Krieg«, sagte er und riss den Brief auf, »wird mich bis ins Weiße Haus tragen.« Er sah Ham über die Brille hinweg an. »Und meine Freunde werde ich mitnehmen.«

Ham nickte und stand auf. Ingersoll folgte ihm, drehte sich noch einmal um und sah, wie Hoover ein Blatt entfaltete. Der Schaffner hielt ihnen die Tür auf, und sie traten auf das Metallgitter zwischen den Waggons hinaus. Der Seitenwind war so stark, dass sie ihre Hüte festhalten mussten. Das Klackern unter ihren Füßen verlangsamte sich stetig, und nach einer Weile waren die verschwommenen Felder deutlicher zu erkennen. Wo Baumwolle hätte stehen sollen, ragten verschrumpelte braune Krallen aus der Erde. Ham grunzte und sprang als Erster ab, Ingersoll folgte ihm, und dann fanden sie sich im Schlamm der nassen Welt wieder, die eben noch an ihnen vorbeigerauscht war.

An der erstbesten Farm fragten sie, wo sie zwei Pferde kaufen könnten, und der Farmer hatte geantwortet: »Ich verkaufe Ihnen zwei Pferde, und ich lege sogar noch eine Farm obendrauf, damit Sie eine Weide zum Draufstellen haben.« Nein, hatte Ham gesagt, nur die Pferde. Nachdem sie die beiden mageren rotgrauen Klepper bezahlt hatten, waren Hoovers Umschläge kaum leichter als zuvor.

Und nun standen sie auf der Veranda. Ham betrachtete die drei Leichen: den Ladenjungen, der auf dem Rücken lag, und die beiden bäuchlings ausgestreckten Plünderer. Er schüttelte den Kopf. »Verdammt nochmal. Sie wollten bloß die Stiefel.«

Neben dem größeren Plünderer stand eine deckellose Pappschachtel mit Stiefelleisten. Das Blut hatte den Boden der Schachtel durchtränkt und stieg an den Seiten hoch.

Ingersoll kniete nieder und drehte die kleinere Leiche um. Eine Frau. Die Mutter des Babys. Sie trug Hosen, ihre dunklen Haare steckten unter einem Männerhut. Ihr Mund stand offen, ihr fehlten ein paar Zähne. Und ihr Bauch war ebenfalls offen, dort, wo die Kugel eingetreten war. Neben ihr lag eine Tüte im Blut, durch das gerissene Papier war eine Puffweizenschachtel zu erkennen.

»Wahrscheinlich waren sie betrunken«, sagte Ham, aber er klang wenig überzeugt. Die Flut ließ die normalen Leute verzweifeln und machte die Verzweifelten rücksichtslos. Rücksichtslos, arbeitslos, hoffnungslos. Niemand findet einen Job als Maisschäler, wenn der ganze Mais abgesoffen ist.

»Wir informieren die Polizei, sobald wir in Hobnob sind«, sagte Ham und klopfte erst die Hosentaschen des Mannes und dann die der Frau ab. Er richtete sich auf. »Keine Papiere, keine Brieftaschen. Ich glaube nicht, dass sie von hier sind. Streuner, schätze ich.«

Wieder hörte Ingersoll das Baby weinen. Das Geräusch war furchtbar. Er stand auf.

Wie um alle verrückten Überlegungen im Keim zu ersticken, sagte Ham: »Lass uns verschwinden, Ing. Wir haben auch so schon zu viel Zeit verloren.«

»Ham.«

»Lass uns verschwinden. Sofort. In Hobnob gibt es ein Telefon.«

»Ham, wir können es nicht hier zurücklassen.«

»Ja, aber mitnehmen können wir es auch nicht. Du hast Hoover doch gehört. In einer Woche müssen wir die Destille gefunden haben.«

»Du willst ein Baby zurücklassen?«

»Was sonst? Sollen wir Babysitter spielen, während der Mörder entkommt?«

»Nein, aber …«

»Das Baby ist nicht unser Problem, Ing.«

»Es ist jetzt ein Waisenkind, Ham.«

Ingersoll sah ins Hams graue Augen, bis sein Partner nachgab. »In Gottes Namen, okay. Gut. Aber es gefällt mir nicht.«

Ingersoll drehte sich um und verschwand im Laden, Ham ging hinterher. Sie folgten ihren blutigen Fußabdrücken bis in den Lagerraum und blieben vor dem Baby stehen. Es trug eine zerlumpte Windel, hatte aufgehört zu weinen und stieß jetzt zittrige, röchelnde Atemzüge aus. Die Männer beugten sich darüber.

»Was meinst du, was wir mit ihm machen sollen?«, fragte Ham.

»Mit ihm machen?« Sie schauten zu, wie das Baby mit den Beinen strampelte. »Ich finde, wir sollten es hochnehmen.«

»Bitte sehr.«

Ingersoll zögerte, dann hockte er sich hin, legte die Waffe ab, die er vorübergehend vergessen hatte, rieb sich die Hände an den Oberschenkeln sauber, bewegte sich mit knackenden Knien vorwärts und schob die großen Hände unbeholfen unter das Baby. Die Windel war nass – kein Wunder, dass das arme Ding so unglücklich war.

»Ham«, sagte er, »geh und hol mir eine Windel. Hier muss es doch irgendwo welche geben.«

»Mein Gott, Ingersoll, hol sie dir doch selbst«, sagte Ham, aber er war schon auf dem Weg zur Tür.

Ingersoll legte sich das Baby an die Schulter. Sie waren beide so durchnässt, dass es jetzt auch keine Rolle mehr spielte.

»Bingo!«, rief Ham.

Eine blaue Box segelte durch den Raum und landete vor Ingersolls Füßen. Er hob sie auf, drehte sie um und las den kleinen Aufdruck: Kotex.

»Die tun es genauso«, rief Ham.

»Gib dir mehr Mühe«, rief Ingersoll zurück.

Nach einer Weile meldete Ham sich wieder: »Warte, hier sind sie.«

Ingersoll hob den Arm rechtzeitig, um das Paket mit den Windeln zu fangen. Er legte das Baby ab, und es heulte sofort los. Unter Mühen löste Ingersoll das feuchte Tuch und zog fluchend die winzigen Sicherheitsnadeln heraus, während Ham danebenstand, Toffee kaute und das Schauspiel grinsend verfolgte. Die schwere Windel rutschte zu Boden wie eine Platte. Das Baby streckte unter Gebrüll die kleinen Beine durch, dazwischen erhob sich ein winziger wutroter Penis.

»Wenigstens wissen wir jetzt, dass es ein Junge ist«, sagte Ham.

Ingersoll zog eine Windel aus der braunen Verpackung und unternahm mehrere Versuche, sie dem Kind durch die Beine zu ziehen. Als es ihm halbwegs gelungen war, steckte er den Stoff locker fest. Er hob das Baby hoch und hielt es auf Brusthöhe von sich, mit gestreckten Armen.

»Und jetzt?«, fragte Ham. »Du bist hier der Experte.«

Sie wurden sich schnell einig. Ham erklärte sich bereit, nach Hobnob zu reiten, ihnen eine Unterkunft zu suchen und den Schwarzbrenner aufzuspüren, während Ingersoll nach Greenville zurückkehren würde. Er würde das Baby in einem Waisenhaus abgeben. In einer Stadt mit fünfzehntausend Einwohnern sollte es doch sicher irgendwo eines geben. Aber zuerst würde er zur Polizei gehen – besser dort als in Hobnob, das passte besser zur Legende der Deichingenieure.

»Ich werde sagen, dass wir zwei ganz normale Kerle sind, die auf der Suche nach Kautabak waren und das Pech hatten, kurz nach einer Schießerei am falschen Ort zu sein«, sagte Ingersoll.

»Wenn du ihnen so kommst, werden sie sofort wissen, dass du ein Bundesagent bist«, unterbrach ihn Ham. »Die meisten Leute würden so ein Timing als Glück bezeichnen.«

Sie nahmen ein paar Vorräte mit. Ingersoll füllte seine Satteltasche mit zwei Dosen Kondensmilch für das Baby und einer Tüte frittierte Schweineschwarten, Nehi-Soda und zwei Büchsen Thunfisch für sich selbst. Sie verließen den Laden, gingen an den Toten vorbei und sammelten ihre Waffen ein. Ham warf seine Satteltasche über den Pferderücken, ergriff die Zügel und wuchtete sich grunzend hinauf.

»Sieh zu, dass du es schnell loswirst«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf das Baby, »und dann komm nach Hobnob. Ich weiß, du magst diese Schwarzenmusik, aber für ein Saufgelage in Greenville hast du keine Zeit. Das Einzige, was die armen Teufel dieser Tage in die Hand nehmen, sind Schaufeln und Hacken.«

Er gab dem Pferd die Sporen, es trabte los und schleuderte Halbmonde aus Matsch in die Höhe. Ingersoll drehte sich reflexartig zur Seite und fing sie mit der Schulter ab, um das Baby zu schützen. Er schaute dem davonreitenden Ham nach, klopfte dem Baby im Rhythmus der Hufschläge auf den Rücken und fühlte sich plötzlich wie eine sitzen gelassene Frau, deren Mann in Hoovers Krieg zieht.

2

KAPITEL

Dixie Clay betrat die überdachte Veranda der Mühle von Hobnob, schlüpfte aus ihrem Regenmantel, löste die Schnüre ihres Huts und hielt das tropfende Ding von sich weg. Sie hämmerte gegen die Tür, doch der lärmende Regen verschluckte alle Geräusche, also schob sie die von der Nässe verzogene Tür mit der Schulter auf. Die Tür gab nach, und Dixie Clay stolperte ins Halbdunkel. Kleine Wolken aus Mehlstaub stoben in die Höhe. Die Frauen saßen grüppchenweise um das Walzwerk herum. Sie blickten auf, aber keine grüßte. Stattdessen wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Dixie Clay schob die Tür wieder ins Schloss, um das Dröhnen des Regens auszusperren, ließ den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte zu ihrer Rechten den unverwechselbaren Rücken von Amity Tidwell, der sich durch die Streben ihrer Stuhllehne drückte. Zusammen mit drei anderen saß sie um eine Palette mit Maismehlsäcken herum, auf denen Äste und Zweige lagen. Dixie Clay hängte Mantel und Hut an einen Nagel und stellte sich wortlos hinter Amity, die sich nur deswegen umdrehte, weil die anderen Frauen plötzlich verstummt waren.

»Dixie Clay!«, sagte sie. »Viele Hände machen der Arbeit schnell ein Ende. Hol dir einen Stuhl.«

Aber es gab keine freien Stühle mehr. Also schleppte Dixie Clay einen leeren Getreidekasten heran, drehte ihn um, setzte sich darauf und fühlte sich sofort unwohl: Sie war jetzt einen Kopf kleiner als die anderen und kam sich vor wie ein Kind, das ausnahmsweise bei den Erwachsenen sitzen darf und sie durch seine Anwesenheit vom Tratschen abhält.

Amity wies sie an, aus dem Haufen von Weidengeäst ähnlich große Gerten herauszusuchen und durch die dickeren, bereits auf der Palette liegenden Zweige zu weben. Die Frauen stellten Reisigmatten her, um die Uferhänge zu verstärken und die Wucht der Wellen zu dämpfen, die in Hobnobs berühmter Flussschleife gegen den Deich schlugen. Dixie Clay beobachtete Amitys dralle, von Ringen geschmückte Finger und tat es ihr mit ihren eigenen kleinen geschickten Händen gleich.

Das Gespräch, das bei Dixie Clays Ankunft verstummt war, kam allmählich wieder in Gang. Die Frauen unterhielten sich über die Überschwemmung in Arkansas. In Forest City waren fünftausend Menschen obdachlos, in Helena gab es sechstausend Flüchtlinge. Die regionalen Zeitungen hatten Anweisung, die Flut herunterzuspielen, aber in der vergangenen Woche war jemand nach Memphis gefahren und hatte sich die New York Times besorgt, die nun in der Mühle von Hand zu Hand ging. Als Dixie Clay endlich an der Reihe war, las sie: »Mississippi-Flut fordert sieben weitere Todesopfer … Heute sind sowohl in Missouri als auch in Illinois die Zusatzdeiche gebrochen … In Memphis wurde ein ganzes Haus auf dem Fluss gesichtet, unterwegs zum Golf von Mexiko.« Dixie Clay reichte die Zeitung schnell weiter.

Nach einer Weile ging es mit Klatsch aus Hobnob weiter, mit dem Alligator, der im Hühnerstall der Neills gewütet hatte, und mit der Eiche, die auf das Dach von David Gavins Haus gestürzt war. Zuletzt kam das Gespräch auf die Mühle. Die Farmer brachten keinen Mais mehr, der sich zu Mehl mahlen ließe. An einen so verregneten Sommer wie den letzten konnte sich niemand erinnern. Es hatte den ganzen März geregnet, sodass die Farmer nur wenig Saat ausgebracht hatten, und den ganzen Juni, sodass sie kaum etwas ernten konnten. Der Müller arbeitete jetzt als Sandsackschlepper auf dem Deich. Sehnsüchtig erinnerte Dixie Clay sich daran zurück, wie er mit in die Seiten gestemmten Fäusten neben den Mühlsteinen gestanden hatte, die Augenbrauen und den Schnurrbart voller Maismehlstaub.

Nach einer Weile sprachen sie über ihre Männer, die jetzt die schweren, regennassen Sandsäcke den Damm hochschleifen mussten. Dixie Clay hatte zu dem Thema nichts beizutragen. Was aber auch niemand von ihr erwartete – alle wussten, dass der warme, feuchte Sack Maismehl, der beim Heimritt auf ihrem Sattelknauf liegen würde, nicht zu Maisbrot verarbeitet oder als Hühnerfutter gebraucht wurde. »Mais mag ich am liebsten aus dem Glas«, pflegte Jesse zu sagen. Viele dieser Frauen hassten Dixie Clay, weil sie mit einem Schwarzbrenner verheiratet war. Dabei stimmte das gar nicht. Dixie Clay war nicht mit einem Schwarzbrenner verheiratet – sie brannte selbst. Am liebsten hätte sie es ihnen verraten, nur um ihr gestammeltes Erschrecken zu genießen.

»Das letzte Mal habe ich Weidenruten geflochten«, erzählte Lettie Ball, Organistin der Baptistengemeinde, »um meinen missratenen Sohn zu schlagen, weil er …«

»Welchen?«, fragte Dorothy Worth. »Eli oder Arlis?«

»Meine Güte, Dorothy, du weißt doch, dass mein kleiner Eli so zuckersüß ist, dass man schon bei seinem Anblick Zahnschmerzen bekommt! Nein, ich spreche von Arlis. Er ist so wild wie ein tollwütiger Hund. Erinnert ihr euch an den Tag, kurz bevor der Jahrmarkt in Washington County eröffnet wurde, letztes Jahr am ersten Juli, und …«

Die Stimmen verwoben sich über Dixie Clays Kopf wie die Ruten in ihren Fingern. Sie hatte ganz vergessen, wie beruhigend diese Frauengespräche waren. Sie erinnerte sich an das Pianola im Haus des Bürgermeisters von Pine Grove in Alabama. Auf der Weihnachtsfeier hatte es einen Ragtime gespielt, die schwarzen und weißen Tasten wurden niedergedrückt wie von Geisterfingern.

Als Nächstes erzählte Dorothy von ihrem Sohn, der für den Brückenwärter arbeitete. Während Wind und Regen heulten, waren Dorothys Stimme und das bestätigende, einlullende »M-hmmm« der Frauen wie die Stanzlöcher in der Notenrolle, die sich im Innern des Pianolas drehte und die Musik vorantrieb. Dixie Clay hatte nie richtig Klavier spielen gelernt, obwohl ihre Mutter kurz vor ihrem Tod angefangen hatte, ihr Unterricht zu geben. Da war Dixie Clay zehn Jahre alt gewesen. Weil die Familie danach nur noch aus ihr, ihrem Vater und ihrem Bruder Lucius bestanden hatte, waren bestimmte Aspekte der Erziehung einfach weggefallen, was sie aber nie als Mangel empfunden hatte. Die irische Nachbarin, Bernadette Capes, hatte sie ein paarmal im Jahr zu sich bestellt, wenn es Zeit zum Einmachen oder zum Handarbeiten war. Von ihr hatte Dixie Clay viel gelernt. Den Rest hatte sie in Büchern nachgelesen.

Eine weitere Frau kam herein, zusammen mit einer nassen Windbö. Sie hob sich die tropfende Regenhaube vom Kopf und hielt sie auf Armlänge Abstand, begrüßte Amity mit einem flüchtigen Kuss und ging dann um den Tisch herum. Die Frauen hatten ihre Plätze mit Bedacht ausgewählt, denn das Angebot, den Damm zu sprengen und die Stadt zu überfluten, hatte die Einwohner in zwei Fraktionen unterteilt: die Fluter und die Aussitzer.

Dixie Clay hatte von dem Angebot erst erfahren, als es schon wieder zurückgezogen worden war, nur Jesse war wie immer mittendrin gewesen. Er hatte Freunde und Kunden in New Orleans – genau genommen war er derjenige gewesen, der den Vorschlag der Bankiers in die Gemeindeversammlung getragen hatte. Später hatte sie Jesse gefragt, zu welcher Entscheidung er tendiert habe, als das Angebot noch auf dem Tisch lag. Er hatte seine halb volle Flasche Black Lightning angehoben und gesagt:

»Glaubst du, ich würde freiwillig meine Gelddruckfabrik in die Luft jagen?«

Auch Dixie Clay wäre, hätte jemand sie nach ihrer Meinung gefragt, auf der Seite der Aussitzer gewesen. Natürlich fand sie den Gedanken an einen Neuanfang reizvoll, ihretwegen sollte Hobnob ruhig absaufen. Doch Jacobs Grab war hier, und das aufzugeben konnte sie sich nicht vorstellen.

Wieder öffnete sich die Tür – die Gespräche verstummten, und der Regen rauschte, bis sie wieder geschlossen wurde. Bess Reedy war hereingekommen, eine Aussitzerin, die Dixie Clay behandelte wie Luft. Vor etwa zwei Jahren hatte Bess’ Mann im Vollrausch in den Fluss pinkeln wollen, aber dann war er hineingefallen und ertrunken. Er hatte Black Lightning getrunken, den er bei Jesse gekauft hatte.

»Wo steht der Pegel?«, fragte eine andere Aussitzerin.

»Fast sechzehn Meter.«

»Und der Scheitelpunkt der Flut ist immer noch flussaufwärts.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie lange noch, bis er Hobnob erreicht?«

»Angeblich in zwei Wochen. Herr, hilf uns allen.«

Bess berührte Amitys Schulter im Vorübergehen.

Nun – wenn Hobnob Dixie Clay schnitt, würde Dixie Clay Hobnob ebenfalls schneiden. Kurz nach der Heirat mit Jesse war sie noch ab und zu in die Stadt geritten. Nach einer Weile war sie es leid gewesen, auf das ersehnte Baby zu warten. Sie hatte sich von Jesse ins Schnapsbrennen einführen lassen und war seither einfach zu beschäftigt. Sie stellte den Whiskey her, und Jesse verkaufte ihn, was eine Zeit lang gut funktionierte. Und dann war Jacob auf die Welt gekommen. Jacob mit dem süßen Duft. Jacob mit dem Milchatem. Dixie Clay brannte keinen Schnaps mehr, aber in die Stadt ritt sie trotzdem nicht. Wozu auch? Sie hatte Jacobs winzige, geblähte Nasenflügel, sie hatte seine zarten Schläfen, an denen sein Puls sichtbar puckerte, sie hatte seine Zehen, ein jeder so winzig und köstlich wie eine Erbse in der Schote.

Doch Jacob hatte keine drei Monate überlebt. Sie packte seinen winzigen Körper ein – so rot wie von der Sonne verbrannt, der Scharlachausschlag auf seinen Armen und Beinen so rau und körnig wie Schleifpapier, besonders in den Kniekehlen, und die Knie selbst so klein, dass sie sie mit Daumen und Zeigefinger umfassen konnte –, sattelte Chester und ritt nach Hobnob. Doch Jesse war verschwunden, nach Greenville, sagte der chinesische Gemüsehändler, der einer ihrer Kunden war. Greenville lag knapp sechzig Kilometer nördlich. Dixie Clay konnte sich bis heute nicht erinnern, wie sie von Hobnob nach Greenville gekommen war. Vermutlich hatte jemand sie in seinem Auto mitgenommen. Die Zeit nach Jacobs Tod war voller Löcher.

Sie konnte sich nur daran erinnern, wie sie an die grellbunt lackierte Tür von Madame LeLoups Etablissement geklopft hatte. Eine hellhäutige Schwarze in einem blauen, knielangen Flapper-Kleid hatte ihr geöffnet.

Dixie Clay war klar, dass sie etwas sagen musste. Plötzlich kam es ihr vor, als hätte sie tage-, wenn nicht gar wochenlang mit niemand anderem außer Jacob gesprochen.

»Ich suche Jesse Swan Holliver.«

»Nie von ihm gehört«, sagte die Frau.

»Jesse Swan Holliver. Mein Mann. Er hat verschiedenfarbige Augen.«

»So einen gibt es hier nicht. Gab es nie.«

»Bitte«, sagte Dixie Clay, und als die Frau sich anschickte, die Tür zu schließen, rief sie: »Bitte!«, und hielt das Bündel in die Höhe. Sie hatte Jacob in ein Taufkleidchen gewickelt, das sie aus ihrem Hochzeitskleid genäht hatte. Der Junge war noch nicht getauft worden.

»Du lieber Himmel«, sagte die Frau. »O Gott.« Sie bekreuzigte sich und sagte, sie werde den Ehemann sofort herunterholen. Und das hatte sie dann auch getan.

Dixie Clay zuckte zusammen, als sie eine Hand auf der Schulter spürte. Amitys warme Finger holten sie in die Gegenwart zurück. Amity beugte sich zu ihr und sprach sie im Flüsterton an, während das Gespräch am anderen Ende des Tischs weiterging.

»Weiß Jesse, dass du hier bist?«, fragte sie leise.