Das Neandertal-Gen - Thomas Friedrich-Hoster - E-Book

Das Neandertal-Gen E-Book

Thomas Friedrich-Hoster

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Beschreibung

Als Branko, ein in Frankfurt lebender Pizzakurier, einem alten Mann hilft, sich gegen eine Rockerbande zu verteidigen, verspürt er plötzlich übernatürliche Fähigkeiten. Eine junge Wissenschaftlerin am Institut für Evolutionäre Anthropologie findet bei der Untersuchung von Proben eine unerwartete Anomalie von hoher Brisanz. Während einer Ermittlung stolpert Kommissar Kramer über merkwürdige Auffälligkeiten, die er sich nicht erklären kann. Nachdem bei einem Umsturzversuch in der BRD rechtsradikale Kräfte an die Macht kommen, glaubt Lonsky, dass er seine Ziele erreicht hat. Und dann droht ein uraltes Virus aus dem Permafrostboden das gefährlichste Lebewesen der Erde auszurotten. Dabei geht es jedoch nicht nur um Homo Sapiens ... Wird es gelingen, das Virus zu bekämpfen und die Menschheit vor dem Aussterben zu bewahren? Oder verhindern Ignoranz und Eigeninteressen die Fähigkeit, rational zu handeln? Thomas Friedrich-Hoster hat in seinem in der nahen Zukunft spielenden Roman ein spannendes und temporeiches Szenario gezeichnet, in dem die Protagonisten die eigenen Überzeugungen hinterfragen müssen, um zu überleben.

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Des Menschen Sinn für Menschlichkeit und Miteinander macht Zivilisation und Kultur möglich.

Des Menschen Drang zur Unmenschlichkeit und Zerstörung macht Zivilisation und Kultur notwendig.

frei nach Reinhold Niebuhr

Inhalt

Prolog

1. Wenn der Wind weht

1. Traum - Orm

2. Branko - Der alte Mann

3. Kerstin - Gefunden

4. Branko - Max

5. Mai Feng - Das Geschenk

2. Auffälligkeiten

6. Kramer - Jens im Baum

7. Branko - Pizza

8. Kerstin - Dreck im Präparat

9. Branko - Der Belgier

10. Carola - Der Fremde

11. Mai Feng - Tod des Erdhörnchens

3. Erkenntnisse

12. Traum - Karl

13. Sonja – Der Sinn der Ens

14. Carola - Auf der Suche

15. Kramer - Beton

16. Kerstin - Die Schmarotzer-Theorie

4. Bedrohung

17. Traum - Mag

18. Marina - Grün

19. Branko - Max Tod

20. Kerstin - Das Genom

21. Mai Feng - Die Seuche

5. Verbreitung

22. Kramer - Harms

23. Marina - Väter

24. Kramer - Aufklärung

25. Sonja - Max Liebe

26. Kerstin - Das Neandertal Gen

27. Liu Lu - Das Virus

28. Kerstin - Die Proben

29. Jackson - Erkältung

30. Lonsky - Das World-Wide-Genom-Projekt

6. Der Sturm beginnt

31. Kerstin - Der Angriff

32. Kramer - Das Telefonat

33. Liu Lu - Große Kommunikation

34. Branko - Kontakt

35. Sonja - Max Plan

36. Kramer - Eine Ungleichung

37. Kerstin - Flucht

38. Kramer - Im Institut

39. Sonja - Das Café

40. Liu Lu - Du sollst nicht denken

41. Kramer, Kerstin, Sonja - Umsturz

42. Jackson - New York

43. Kerstin - Tödliches Unheil

44. Kramer - Interessenskonflikt

45. Lonsky - Wut

7. Perspektivwechsel

46. Traum - Moga

47. Branko - Ens und Sap

48. Kerstin - Grenzüberschreitung

49. Liu Lu - Sorgen

50. Kramer - Unterwegs

51. Kerstin - Mendels Gesetze

52. Lonsky - Mord

53. Stenmark - Stenkullen

54. Kramer - Kramers Entscheidung

55. Jackson - Roscoe

56. Kerstin - Streit

8. Widerstand

57. Stenmark - Pamelas Not

58. Kerstin - Eine bittere Wahrheit

59. Lonsky - Die Schwester

60. Jackson - Fuji Sen

61. Kerstin - Die Tragödie der Ens

62. Kramer - Eisen 7

63. Branko - Horst

64. Stenmark - Ein heikles Thema

65. Kerstin, Branko, Harms - Der Sequenzierer

66. Liu Lu - Hoffnung

67. Kerstin - Tee mit Branko

68. Kramer - Das Boot

9. Silver Lining

69. Traum - Aru

70. Kerstin - Die Genschere

71. Jackson - NTV

72. Kerstin - Harms Sorgen

73. Lonsky - Der Besuch

74. Kerstin - CRISPR-CAS

75. Traum - Hatori Fu

76. Pamela - Ausweg

10. Auf dem Weg

77. Kerstin - Der Postmann

78. Stenmark - Nina

79. Kramer - Alphatiere

80. Bruckmeier - Die e-mail

81. Peters - Im Bundestag

82. Traum - Die Ahnen

83. Kerstin - Erfolg

84. Jackson - Gesund

85. Lonsky - Besoffen

11. Tsunami

86. Traum - Bro

87. Carola - Der Überfall

88. Kerstin - In die Gülle

89. Branko - Die Katastrophe

90. Carola - In Sicherheit

91. Gesine - Frust und Lust

92. Branko - Ein Schlachtfeld

93. Lonsky - Gemischte Gefühle

12. Reset

94. Zeitung 1

95. Kramer - FärÖer

96. Traum - Smol

97. Lonsky - Im Hauptquartier

98. Svenja - Kramers Spiel

99. Kerstin - Gefangen

100. Bruckmeier - Anarchie

101. Carola - Benjamin

102. Liu Lu - Der Transfer

13. In Feindesland

103. Zeitung 2

104. Svenja - Kramers Angebot

105. Kerstin - Ausgeliefert

106. Liu Lu - Die Rettung der Sippe

107. Branko - Die Falle

108. Lonsky - Rausgeworfen

109. Kerstin - Break Down

110. Branko - Ruhestörung

111. Carola - Im Mauseloch

14. Showdown

112. Zeitung 3

113. Lonsky - Die SMS

114. Branko - Ein Team

115. Lonsky - Machtübernahme

116. Carola - Bruch mit den Ahnen

117. Stenmark - Glück gehabt

118. Kerstin - Count Down

119. Kramer - Eine wichtige Information

120. Kerstin - Endspiel

Epilog

Die Welt

FärÖer

Schweden

USA -

China

BRD -

Prolog

Es regnete. Hai Sun war genervt. Sein Chef hatte ihn und seinen Kollegen Tao Tan losgeschickt, um die Messungen turnusgemäß durchzuführen und jetzt diese Schweinerei. Nach langer Fahrt durch Matsch und Schnee hatten sie den Platz erreicht. Mehrere Wochen waren sie nicht dort gewesen und Hai Sun staunte. Ein Erdrutsch hatte ein riesiges Lager Mammutknochen freigelegt. Er war beunruhigt. Der Permafrostboden taute in diesem Jahr schneller als in sämtlichen Jahren zuvor. Hai Sun verstand seinen Chef durchaus, dass er ihn und Tao Tan losgeschickt hatte. Die Messungen waren wichtig. Sie bewiesen die Klimakatastrophe eindeutig. Er seufzte. Die Regierung seines Landes war unfähig, die Zeichen zu erkennen und die Forschungsergebnisse einzuordnen. Seit Jahrzehnten machten die Forscher in aller Welt auf die Katastrophe aufmerksam, aber die Welt hörte nicht hin.

„Es müsste mal etwas passieren,“ dachte er unwillkürlich. Er schaute zu Tao Tan, der bereits zur Station, wo die Messinstrumente standen, hinaufgeklettert war. Auf einmal winkte er heftig.

„Komm rauf,“ rief er. „Sieh dir das mal an.“ Wenig später standen die beiden Männer oben an der Station. Der Permafrost hatte nicht nur die Mammutknochen, sondern auch eine große Anzahl der dazugehörigen Kadaver konserviert.

„Sie tauen jetzt bestimmt auf,“ überlegte Hai Sun. Als er zu einem der Kadaver trat, um mit seinem Messer eine Probe zu nehmen, stob eine Wolke winziger Fliegen auf.

„Noch stinkt es gar nicht,“ rief er Tao Tan zu. „Das Fleisch ist ganz trocken. Kein bisschen vergammelt.“ Die Kadaver waren unglaublich gut erhalten. Hai Sun hatte den Eindruck, als habe die Gruppe der Mammuts am Vortag noch gelebt, so gut sahen die Kadaver aus. Er fotografierte die Tiere und schnitt mit seinem Messer einige große Proben aus dem Bein eines der Mammuts. Wenig später hatten sie die Messwerte genommen und waren mit ihrem Snowmobil wieder auf dem Rückweg zur Forschungsstation.

Nachdem die Wissenschaftler einige Tage später die Proben untersucht hatten, wurden die Reste an die Versuchstiere, Frettchen, Mäuse, Erdhörnchen und andere Kleinraubtiere oder Nager verfüttert. Was sollte man sonst auch damit machen?

Eine Erklärung für den guten Zustand der Mammuts fanden die Wissenschaftler nicht. Auffällig war das völlige Fehlen parasitärer oder bakterieller Krankheitserreger in den Kadavern. Erst mehrere Wochen nach dem Fund gingen die Kadaver in die natürliche Verwesung über.

Doch da war es aus dem langen Winterschlaf bereits erwacht. Die Katastrophe hatte begonnen.

Hai Suns unschuldiger Wunsch sollte in Erfüllung gehen.

1. Wenn der Wind weht

1. Traum - Orm

Er hatte die Gefahr nur wenige Sekunden zu spät bemerkt. Jetzt war er bereits losgerannt, bevor der Leopard aus dem Waldrand heraus auf die große Wiese trat und begann, ihn mit großen Sprüngen zu verfolgen. Trotzdem würde er es nicht schaffen, dem Raubtier zu entkommen.

Orm war unbewaffnet. Sein Speer steckte in einem großen Hirsch, der inzwischen zusammengebrochen war und nur wenige hundert Meter entfernt im Wald lag.

Orm lief so schnell er konnte, aber ihm war klar, dass der Leopard ihn gleich erreichen würde. In diesem Augenblick spürte er in seinem rechten Arm, ...

dass Gal seinen Speer geworfen hatte. Ssssssssss … klar und gerade schoss er durch die Luft, direkt auf Orm zu.

„Uhh … schnell …“ Gedankenfunken blitzten in seinem Kopf und schon warf er sich auf den Boden. Genau im richtigen Moment, als der Speer über ihn hinwegsauste. Er rollte ab, sprang auf und hatte sein Steinbeil in der Hand.

Aber gleichzeitig wusste er, dass er gerettet war. Der Leopard war mitten in die Brust getroffen worden und lag zappelnd hinter ihm im Gras. Gal war ein guter Jäger. Orm besorgte den Rest und schlug ihm mit seinem Steinbeil zwischen die Augen.

Wie immer spürte er den Schmerz des Tieres, als er es tötete. Wie immer war es in Ordnung. Er reckte die Hände in die Höhe und schrie laut. Wenige Minuten später waren Gal und Balo bei ihm.

„Zu spät bemerkt, weiß nicht warum,“ murmelte Orm. Gal zog wortlos seinen Speer aus der Brust des Leoparden. Wachsam standen sie regungslos auf der Wiese. Die Augen geschlossen, das Kinn nach vorne gereckt, als schnupperten sie. Ihr Sinn durchsuchte die Gegend. Erst nach einigen Minuten bewegten sie sich wieder.

„Ist sicher,“ sagte Gal jetzt. „Holen wir Hirsch.“ Gal legte sich den Leoparden über die Schultern und gemeinsam liefen sie schnell durch das Gras. Kurze Zeit später fanden sie den von Orm erlegten Hirsch. Orm zog den Speer aus dem Körper und lud sich das schwere Tier auf die Schultern.

„Nach Hause,“ sagte er. Wortlos liefen sie durch den Wald. Balo, der jüngste von ihnen, lief als letzter und beobachtete, wie schnell sich die Männer trotz ihrer schweren Lasten fast lautlos durch den Wald bewegten. Eine Stunde später kamen sie in der Höhle an.

„Weißt, warum du nicht rechtzeitig bemerkt hast den Leo?“ fragte die Älteste Orm.

Katla wusste längst über den Verlauf der Jagd Bescheid. Ihr Sinn war der stärkste in der Sippe. Mit ihm hatte sie ständig Kontakt mit den Jägern gehabt. Orm schüttelte den Kopf.

„Ich erst bemerkt, als aus dem Wald kam. So drei Speerwürfe entfernt. Vielleicht zu weit weg, vielleicht anderes mich abgelenkt.“ Da fiel es ihm plötzlich ein. „Große Bedrohung gespürt, ganz kurz. Weiß nicht, was war.“

Die Älteste schaute ihn lange an.

„Ich ebenfalls Bedrohung gespürt. Keine Ahnung. Auch Ahnen wissen nicht ... noch nicht. Scheint Neues zu sein. Was wir nicht kennen, sonst wüssten Ahnen. Jedenfalls fremd.“

„Müssen warten, bis klar wird. Was meinst du?“ Gal hatte dem Gespräch zugehört. Katla nickte.

Plötzlich zuckte sie zusammen und blickte Orm intensiv an.

„Jemand bei uns, unsere Leute, beobachtet uns, spürst du? Nur du ihn sehen kannst. Streng dich an.“ Die Alte hob beschwörend ihre Arme in die Höhe.

Orm drehte sich um und schaute ihn jetzt direkt an. Nicht die Alte ... nein … ihn, Branko, schaute er an. Er näherte sich und streckte seine Hand aus. Immer näher kam seine Hand.

Orm sagte kein Wort, aber Branko wusste auf einmal, dass er ihn fragte, „Wer bist du?“

… und dass mit dieser Frage viel mehr verbunden war als einfach so seinen Namen zu sagen. Branko wusste in diesem Augenblick, dass sich alles ändern würde und dass er eine Rolle dabei spielen müsste.

Er bekam Angst.

2. Branko - Der alte Mann

Branko schoss schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Sein Herz raste und er zitterte am ganzen Körper. Nein, er würde nie mehr wieder so viel saufen wie am letzten Abend.

Mit seinen Kumpels hatte er sich in der kleinen Kneipe in Sachsenhausen getroffen und auf einmal waren einige Mädels erschienen. Eins war zum anderen gekommen und am Ende war er so betrunken gewesen, dass er kaum seinen Heimweg gefunden hatte. Mit dem Mädel, das er sich ausgesucht hatte, war es nichts geworden, wie meistens. Einer seiner Kumpels hatte sie abgeschleppt. Er war einfach kein Frauentyp. Er sah zwar nicht schlecht aus, aber er war nicht charmant. Und er konnte nicht elegant reden wie die anderen Männer seines Alters. Die konnten das. Über alle möglichen Themen Autos, Fußball, Mode, Musik, Filme - egal was. Reden wie seine Kumpels, wie alle anderen, das wäre was. Und sein kleiner Sprachfehler. Das „S“. Man konnte es kaum hören, dass er mit seiner Zunge anstieß. Aber er wusste es und das genügte, um nicht gerne zu reden.

Lange hatte Branko darunter gelitten. Erst in der letzten Zeit fing er an, sich damit abzufinden. Das meiste Geld, das er mit seiner Arbeit beim Pizzaservice verdiente, trug er inzwischen zu Sonja, Chantal, Theresa und wie sie alle hießen, die Damen vom Straßenstrich in Frankfurt. Eher durch einen Zufall hatte er sie kürzlich kennengelernt, als er auf einer Party der rustikalen Art, - so nannte er es, wenn es hauptsächlich um Sex ging, - Pizza liefern musste. Sonja war es gewesen, die ihn damals so durchdringend angeschaut hatte, wie noch nie eine Frau es getan hatte. Wenig später hatte er sie getroffen und sie und ihre Freundinnen kennengelernt.

„Ich kann dich sehen,“ hatte Sonja damals gesagt. „Du bist es. Lass uns zusammenbleiben.“

Er hatte nichts verstanden von dem, was sie da geredet hatte. Aber aus irgendeinem Grund, den er bis jetzt nicht herausgefunden hatte, war ihm völlig klar gewesen, dass dieses Zusammenbleiben nichts mit einer Beziehung oder Liebe zu tun hatte. Es war etwas anderes. Trotzdem schien es richtig zu sein. Aber als er Sonja gefragt hatte, war sie stumm geblieben und hatte ihn angeschaut, als verstünde sie ihn nicht. Oder er sie nicht. Seit dieser Zeit hatte er regelmäßig Sex mit ihr gehabt.

Sein Kopf schmerzte immer noch fürchterlich. Wegen der Kopfschmerzen war er vorzeitig von der Arbeit nach Hause gegangen und hatte sich früh ins Bett gelegt. Und jetzt hatte ihn dieser Traum geweckt. Auch das noch.

Wenn er die Augen schloss, sah er noch die Reste seines Traumes vor sich. Nur war alles auf einmal in ein helles Blau getaucht. Immer noch kam dieser komische Typ - er wusste sogar noch seinen Namen - dieser Orm - langsam auf ihn zu. So, als wolle er ihn festhalten, in seinen Traum hineinziehen. Er blinzelte. Die Bilder verschwanden endlich und sein Puls wurde langsam wieder ruhiger.

„Fuck,“ was war das für ein Alptraum gewesen! Er stand auf, ging zu dem kleinen Kühlschrank, der hinter seinem Bett stand und nahm eine Flasche Sprudel heraus. Mit einem Zug trank er sie aus. Langsam fühlte er sich besser.

Klick - nein, ein Klick war es nicht. Eher ein Brummen in seinem Kopf. Aber es begann wie ein Klick. So, wie wenn man eine starke Stereoanlage einschaltete und der Klick in den Lautsprechern satt hörbar war und danach das Summen des Wechselstroms blieb. Und jetzt brummte es genauso in seinem Kopf. Genauer gesagt in seinem Hinterkopf. Sehr leise, aber zwingend. Was passierte gerade mit ihm? Branko trank noch eine Flasche Wasser auf einen Zug aus. Nein, er würde nie mehr so viel trinken wie an diesem Abend. Wenn nur dieses Brummen endlich verschwinden würde. Es nervte.

Kaum hatte er diesen Gedanken gedacht, verschwand es wirklich. Es wurde einfach ausgeschaltet. Im nächsten Augenblick war sein Kopf so klar, wie er noch niemals gewesen war. Er sah seine Umgebung gestochen scharf und konnte jede kleinste Einzelheit wahrnehmen. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Alles war auf einmal klar. Glasklar.

Jemand rief ihn. Und es war Gefahr. Jemand von seinen Leuten war in Gefahr? Aber wer zum Teufel waren seine Leute? Und wo hatte er das schon einmal gehört?

Er hatte keine Zeit, sich darum Gedanken zu machen und tat es auch nicht. Rasch zog er sich an und verließ die Wohnung. So schnell er konnte, rannte er durch die Stadt. Er wusste nicht, wohin er lief, aber …

er spürte genau, wohin er laufen sollte.

Nach wenigen Minuten stand er vor einer kleinen Kneipe. Er war angekommen. Dort drinnen würde er den Mann finden, der ihn gerufen hatte. Er trat ein. Noch bevor er sich nach ihm umgeschaut hatte ...

wusste Branko bereits, wo er saß.

Eine zarte Aura schien den alten Mann zu umgeben, der still auf sein Bierglas starrte.

„Wie elektrisch,“ fuhr es Branko durch den Kopf.

„Gut, du bist wach,“ spürte Branko die Gedanken des Mannes und trat in die wortlose Kommunikation ein.

„Was ist los?“

„Warte ein wenig.“

Branko spürte die Gefahr, die draußen auf den alten Mann wartete. Sie schien ihm aber keine Angst zu machen. Vier Männer hatten den Alten verfolgt und planten ihn niederzuschlagen und auszurauben, vielleicht Schlimmeres. In Sekundenbruchteilen hatte Branko dieses Szenario erfasst.

„Hast du mich deswegen geholt?“

„Nein, es ist wichtig, dass wir uns treffen Hab etwas Geduld.“

Der Mann lächelte, als er seine Botschaft sendete. Er stand auf, nahm seinen Stock, der am Tisch gelehnt hatte und ging Richtung Kneipentür.

„Pass gut auf alter Opa,“ rief ihm ein in Leder gekleideter Kerl hinterher. „Alte Kerle wie du gehören längst ins Bett oder auf den Friedhof.“ Das Gelächter seiner Mittrinker begleitete den alten Mann, als er die Kneipe verließ. Branko hatte den Impuls, dem Großmaul in Leder auf die Nase zu hauen, aber die Botschaft, es zu lassen, die der Alte ihm schickte, bremste ihn. Wenige Meter hinter dem alten Mann kam Branko auf die Straße.

Plötzlich wusste er genau, wo die Angreifer waren.

„Der Leopard …“ traf ihn der Gedanke.

„Wir töten sie nicht. Ich zeige dir, wie es geht. Du bist noch nicht kampferfahren.“

Der Mann schaute Branko kurz mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dabei drehte er den Mülltonnen, hinter denen sich die Angreifer versteckt hatten, den Rücken zu. Siegessicher kamen die vier Männer heraus. Sie trugen die gleichen Lederklamotten wie einige der Männer in der Kneipe. Eine Rockerbande also. Anscheinend war es ein geplanter Überfall. Sie näherten sich dem Alten in einem Halbkreis. Branko beachteten sie nicht.

„Dein Geld, Alter. Wir wissen, dass du viel eingesteckt hast. Her damit. Wir haben dich beobachtet am Geldautomaten. Da hast du nicht aufgepasst. Dummer Fehler.“ Die Männer lachten laut, als sei ihnen ein besonders guter Witz gelungen. Der Anführer näherte sich dem Mann. Da passierte es.

„Im Film geht jetzt immer die Zeitlupe an,“ dachte Branko noch in dem Moment, als es begann.

Mit unglaublicher Geschwindigkeit hatte der Alte die Hand des Angreifers gepackt und brach mit einer beinahe elegant aussehenden Bewegung den Unterarm des Kerls so leicht, als sei er eine Salzstange. Die Eisenstange, die der Angreifer in der Hand gehabt hatte, fiel klirrend zu Boden. Wütend stürzten sich die anderen Männer auf den alten Mann. Dieser rammte dem ersten Angreifer seinen Stock in den Oberschenkel. Dem zweiten knallte er den Ellenbogen ins Gesicht und dem dritten brach er in bereits bekannter Art und Weise den rechten Unterarm. Brüllend wälzten sich die Männer auf dem Boden.

Hinter Branko öffnete sich die Kneipentür und die Männer um das Großmaul in der Kneipe kamen heraus. Erstaunt schauten sie auf die Szene, die sich ihnen bot. Branko spürte, dass sie erwartet hatten, den alten Mann auf dem Boden zu sehen.

„Na, hast du Lust?“

Ja, hatte er.

Branko drehte sich um und begann zu kämpfen gegen die fünf Männer aus der Kneipe. Obgleich er noch nie ernsthaft gekämpft hatte, wusste er auf einmal genau, was er zu tun hatte. Nein, sein Körper wusste das. Es kam aus ihm heraus, als habe es jahrelang geschlafen. Und es kam mit großer Kraft.

Der Kampf dauerte nicht lange. Branko war erstaunt, wie leicht es für ihn war, einen Unterarm zu brechen. Dieses Gefühl war beinahe stärker als das Gefühl, einen Kampf gegen fünf kräftige Rocker gewonnen zu haben. Er drehte sich zu dem alten Mann um.

In diesem Moment spürte er die drohende Gefahr, sah alles.

In seinem Rücken war einer der Rocker aufgestanden, hatte die Eisenstange gepackt und näherte sich ihm von hinten. In wenigen Sekunden würde sie auf Brankos Kopf niedersausen.

„Nicht töten …“

Branko änderte die Richtung seiner Hand im letzten Moment, bevor sie den Hals des Mannes getroffen und seine Luftröhre zerschmettert hätte. So traf sie lediglich sein Brustbein. Es knackte trocken, als es brach. Der Mann fiel in sich zusammen.

„Gefährlich. Das Herz.“

Der alte Mann beugte sich zu dem am Boden liegenden Rocker hinunter. Er tastete geübt den Puls des Mannes.

„Glück gehabt. Schlägt rhythmisch. Das Herz hat nichts abgekriegt. Lass uns gehen.“

Bisher hatte der alte Mann noch kein Wort mit Branko gewechselt und doch hatte dieser das Gefühl, den Alten gut zu kennen. Der Mann drehte sich ein letztes Mal zu den am Boden liegenden Rockern herum. Keine Gefahr mehr

„Ok, gehen wir,“ meinte Branko und nickte zustimmend.

Gemeinsam gingen sie ins Dunkel der Nacht hinein. Zum ersten Mal begann der Mann zu sprechen. Seine Stimme war leise und Branko wurde klar, dass der alte Mann sehr erschöpft sein musste.

3. Kerstin - Gefunden

Kerstin war irritiert. Sie musste zu einer Entscheidung kommen. Schon zum dritten Mal hatte sie das Präparat überprüft. Aber an ihrer Analyse änderte sich nichts. Trotzdem traute sie sich nicht, damit zu ihrem Chef zu gehen und es mit ihm zu besprechen. Es war einfach zu ungewöhnlich. Andererseits - was sollte sie stattdessen tun? Kerstin stand auf und ging ein paar Schritte auf und ab.

Sie befürchtete eine unangenehme Kritik ihres Chefs. Schließlich war sie erst seit wenigen Wochen am Max Planck Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Es war ihre Traumstelle gewesen, nach dem Studium der Biologie und ihrer Zeit bei Cure-Vac. Sie war genommen worden, was sie nicht erwartet hatte. Zu viele Bewerbungen hatte es für diese Arbeitsstelle gegeben. Aber Sven Stenmark hatte gefallen, dass sie Schwedisch konnte. Natürlich wäre ihr ein „rein fachlicher“ Grund lieber gewesen, beispielsweise ihre Promotion über die „Unterschiede im Genom von Gibbons und Schimpansen“ oder ihre Mitarbeit an der Entwicklung der neuen Genschere bei Cure-Vac aber das hatte Stenmark alles nicht interessiert. Ihm hatte gefallen, dass ihre Mutter aus Norrköping kam.

Die Proben, die ihr Probleme bereiteten, waren erst vor wenigen Tagen angekommen. Im Rahmen des weltweiten Genom-Projekts kamen ständig Proben aus aller Welt ins Institut für Evolutionäre Anthropologie. Dort wurden die Genome sequenziert. Seit der „Erfindung“ der Genomsequenzierung vor vielen Jahren war es inzwischen durch die wesentlich verbesserte EDV-Technologie nicht mehr besonders aufwendig, Genome zu untersuchen.

Kerstins Aufgabe war es, menschliche Gene zu identifizieren, die ursprünglich zum Genom der sogenannten Neandertaler gehört hatten und deren Funktion zu bestimmen. Sie widmete sich mit Begeisterung dieser Herausforderung Die niemals ansatzweise beantwortete Frage lautete, wie es den Neandertaler-Menschen gelungen war, über 70 000-Jahre in schwierigsten Bedingungen zu überleben, obgleich sie anscheinend niemals eine sehr große Population geworden waren. Und warum waren sie dann ausgestorben, als das Leben in Europa begann, einfacher zu werden?

Kerstin war keine Anhängerin der „Homo-Sapiens-Theorie“, die postulierte, die modernen Menschen hätten die Neandertaler einfach ausgerottet. Sie seien besser, geschickter, klüger gewesen als die Neandertaler. Der Ansatz war ihrer Meinung nach viel zu vordergründig gedacht, da er das Postulat der geistigen Überlegenheit von Homo sapiens nicht hinterfragte. Wie wäre zu erklären, dass die Neandertaler das größte Gehirn der Menschheitsgeschichte besaßen und blöde gewesen sein sollten? Darauf gab es keine befriedigende Antwort.

Kerstin holte sich einen Kaffee.

Bisher hatte gegolten, dass im Genom eines einzelnen Menschen in Europa bis zu 4% Genmasse der Neandertaler sein konnte. Das war wissenschaftliche Evidenz. Die Gesamtheit aller Frühgene in Europa war mindestens um den Faktor 10 höher, was nichts anderes bedeutete, als dass etwa die Hälfte des Genoms der Neandertaler noch existierte. Von diesen Zahlen war sie immer ausgegangen und ihr Hauptaugenmerk hatte sich darauf fokussiert, herauszufinden, wo diese Gene lokalisiert waren und welche Merkmale und Eigenschaften sie codierten, also was ihre Aufgaben waren. Dies war eine äußerst mühselige Arbeit, da es keinerlei Ansatzpunkte gab, von denen man ausgehen konnte.

„Mist.“ Sie zuckte erschrocken zurück. Der Kaffee war zu heiß. Sie pustete in den Becher bis ihre Brille beschlug.

Und jetzt hatten sie in Sibirien in einer Höhle Fossilien entdeckt, die den gesamten wissenschaftlichen Turm zu Babel erheblich ins Wackeln gebracht hatten. Sie hatten Frühmenschen gefunden, nein, keine „echten“ Neandertaler. Aber es waren eindeutig Nachkommen der Neandertaler gewesen, die noch bis vor 3000 Jahren dort gelebt haben mussten. Bisher bestand die wissenschaftliche Meinung, dass alle Neandertaler vor 39 000 bis 40 000 Jahren ausgestorben waren. Und jetzt? Seit einigen Monaten stand die wissenschaftliche Welt diesbezüglich auf dem Kopf.

Aber wirklich interessieren tat dies niemanden. Zu dringend waren die aktuellen Sorgen dieser Welt. Die große Corona-Pandemie war inzwischen zwar ausreichend kontrolliert, aber ihre Wirkungen auf die demokratischen Systeme der Welt erreichten neue dramatische Höchstwerte. In einigen demokratisch regierten Ländern gab es bereits Umsturzversuche. Die autokratisch regierten Länder unterstützten diese Tendenz. Die Welt schien sich mit hoher Geschwindigkeit zu destabilisieren.

Schlechte Gedanken. Kerstin scheuchte sie davon.

Vor einigen Tagen hatte sie sich einmal zu Hause hingesetzt und sich Gedanken zu den Neandertalern gemacht. Auf einem großen Zettel hatte sie aufgeschrieben:

Worum geht es?

Fakten:

Kleine Population

Mächtige Natur

Ewiges Überleben

Großes Gehirn

Dann hatte sie sich einen dicken Joint gedreht und sich lange, lange, lange mit nichts beschäftigt. Als sie einige Stunden später extrem hungrig und durstig aufgewacht war, hatte sie festgestellt, dass jemand - das war natürlich sie selbst gewesen - etwas auf ihren Zettel geschrieben hatte.

Worum geht es - Überleben der Spezies.

Fakten:

Kleine Population –

Kommunikation zur Unterstützung. Wie?

Regelmäßige Treffen zur Paarung, Vermeidung Inzest.

Mächtige Natur –

Leben im Einklang mit der Natur, beste Anpassung.

Ewiges Überleben –

Schutz des essenziellen Genpools über Jahrtausende,

keine Mutation?

Großes Gehirn –

Denken, wie es uns niemals verständlich sein kann.

Was konnten die Neandertaler mit ihrem Gehirn?

Was können wir nicht?

Das muss der Schlüssel zur Lösung sein.

Sie war selbst erstaunt gewesen über ihre Erkenntnisse. Interessanterweise gab es eine echte Logik und Schlüssigkeit, auch in drogenfreiem Zustand. Nicht für alle Fragen auf ihrem Zettel aber zumindest, was die Frage des genetischen Überlebens anging.

Unter dem stetigen Druck der Gefahr der Ausrottung über die Jahrtausende hätte es theoretisch sein können, dass die Spezies einen Schutz bestimmter Gene sozusagen „erfand“. Mit diesen Genen hätten sie sich mit anderen Arten mischen können, ohne den essenziellen Genpool jemals zu verlieren.

Während Homo sapiens die beste Waffe in der Natur, nämlich sein sensationelles Gehirn entwickelte, hätte der Neandertaler sich quasi als eine Art Schmarotzer oder Trittbrettfahrer genetisch in die angeblich „überlegene“ Menschenart eingeschlichen.

Kerstin hatte ihre Idee richtig gut gefunden.

Und jetzt hatte sie Bohrkerne aus den Knochen dieser Neandertaler aus Sibirien vor sich auf dem Schreibtisch liegen.

Und sie hatte etwas gefunden.

4. Branko - Max

Sie gingen langsam durch die dunklen Straßen Frankfurts.

„Es ist gut, dass du mich gefunden hast.“, begann der Mann das Gespräch.

„Was meinst du damit? Wegen der Schläger?“

„Nein. Du gehörst zu uns.“

„Verstehe ich nicht. Was meinst du?“ Branko befiel eine seltsame Unruhe. Das geheimnisvolle Gerede des Mannes irritierte ihn. Er wollte endlich wissen, was mit ihm passiert war. Der Mann war stehen geblieben.

„Hier ist es.“ Er holte einen Schlüssel aus seinem Mantel und öffnete die Tür eines Mietshauses. Branko folgte ihm, als er hineinging und den Aufzug holte. Etwas später standen sie gemeinsam in einem kleinen Appartement. Max …

Branko wusste auf einmal, dass der alte Mann Max hieß.

… bot ihm einen Tee an.

„Was ist mit mir los? Seit heute Nacht?“ fragte er.

Max wirkte auf einmal merkwürdig erschöpft. Er hatte sich in einen Sessel gesetzt und nahm einen Schluck Tee.

„Du hattest einen merkwürdigen Traum, stimmts?“

Woher wusste der Alte das?

„Willst du ihn mir erzählen?“

Branko zögerte einen Moment. Warum sollte er einem Fremden seinen Traum erzählen? Aber er war neugierig geworden. Und er würde nur dann mehr erfahren, wenn er das Spiel des Mannes mitspielte. Er entschied sich und berichtete in kurzen Worten von dem Traum. Max lächelte.

„Ein schöner tiefer Traum. So nennen wir einen Traum, wie du ihn hattest. Er hat dir die Tür zu dem Gedächtnis deiner Ahnen geöffnet. Das trägst du in dir. Wenn ich von deinen Ahnen rede, meine ich alle deine Vorfahren. Als es mit unserer Art angefangen hat, hat es auch mit dem Gedächtnis und den Träumen angefangen. Es …“

„Was redest du da? Welche Ahnen und welches Gedächtnis?“ unterbrach Branko den Alten ungeduldig.

„Die Ahnen. Sie sprechen mit uns in den Träumen. Auf ihre Weise führen sie uns. In ihrem Gedächtnis befinden sich alle Erfahrungen, die sie jemals gemacht haben. Alle Figuren, die du in einem tiefen Traum triffst - wie bei deinem Traum deinen Vorfahr Orm - haben wirklich gelebt und die Szene hat so stattgefunden.“

„Hast du das auch? Ist das ein gemeinsames Gedächtnis?“

„Ja, klar habe ich das. Aber es ist das Gedächtnis meiner Ahnen. Es ist deshalb anders als deines. Aber wir alle haben es. Wir …“

„Wer ist wir?“ Branko unterbrach ihn erneut. „Du redest immer von wir und uns? Gehöre ich dazu? Und was verdammt nochmal ist passiert?“

„Ens … wir nennen uns Ens. Und wir haben Fähigkeiten. Wir sind anders als die Anderen. Du auch. Du hast es gemerkt. Ich bin so müde ...“ Max Stimme war nur noch ein Flüstern.

Wieder hatte Max seine letzte Frage nicht beantwortet. Und jetzt war er eingeschlafen. Auf einmal überfiel Branko ein komisches Gefühl, das er nicht zuordnen konnte. Er war einerseits aufgewühlt und wütend, aber gleichzeitig fühlte er sich sehr wohl und so, als sei er an einem Ziel angekommen. Trotzdem war alles so merkwürdig. Mitten in der Nacht saß er bei einem wildfremden, alten Mann, den er glaubte, gut zu kennen und der ihm etwas von komischen Träumen und merkwürdigen Menschen erzählte, in dessen Wohnung und trank Tee. Vorher hatten sie gemeinsam eine Rockergang verprügelt und er verstand kein Wort von dem, was der alte Mann redete. Das war alles gar nicht normal. Er bemerkte, wie sein Kopf ganz leicht wurde.

Was war das? Seinem Gesprächspartner war der Kopf auf die Brust gesunken und er atmete unregelmäßig. In diesem Augenblick …

wusste Branko, dass Max bald sterben würde. Und dass in dem Tee eine …

„Was soll das?“ stieß er erschrocken hervor und sprang auf.

Max zuckte zusammen. Er suchte nach Worten, die nicht kamen.

Stattdessen spürte Branko seine Gedanken.

„Ja, der Tee ist eine Droge. Die Ens kennen sie seit ewigen Zeiten. Und … es stimmt, ich werde sterben, bald. Das ist nun mal so. Aber noch ist etwas Zeit.“

„Was war heute Abend los?“ schimpfte Branko wütend. „Der Überfall. Diese Gedanken von dir in meinem Kopf. Was ist das alles? Und jetzt eine Droge? Erkläre mir das endlich.“

„Entschuldigung, tut mir leid.“ Max hatte seine Sprache wiedergefunden. „Das hätte ich beinahe vergessen. Das Wichtigste. Der Traum hat deinen Sinn angeschaltet. Dein Kommunikationssystem. Es hat auf die Gefahr reagiert, die mir drohte und dich zu mir geführt.“

In diesem Moment klickte es wieder in Brankos Kopf und seine Unruhe verschwand. Sei Kopf wurde klar und er verstand endlich.

Die fette Stereoanlage, das Summen der Stromfrequenz, die Klarheit. Es war dieses Kommunikationssystem gewesen, eine Art Scanner, das ihn zu Max geführt hatte. Genauso wie Orm in dem Traum hatte er eine Gefahr gespürt, lange bevor er sie sehen konnte. Dieses Kommunikationssystem schien eine der Fähigkeiten zu sein, über die die Ens verfügten. Obgleich sein Scanner gerade eingeschaltet war, verspürte er keine drohende Gefahr. Es war vielmehr ein unglaubliches Gefühl der absoluten Wachheit, Klarheit und Stärke.

Aber es war noch mehr. Er spürte jetzt, was Orm ihm hatte sagen wollen, bevor er aufgewacht war.

„So haben sich die Männer der Ens immer gemeinsam schützen können. So haben wir jeden Tag unsere Sippe geschützt, so haben wir viele tausend Jahre überlebt. Jetzt hast du es auch. Schütze die Sippe.“

Bilder ratterten an ihm vorbei. Branko traf Orm und seine Gefährten, dann drehte sich auf einmal alles und er schlief ein.

5. Mai Feng - Das Geschenk

Mai Feng war glücklich. Ihr Vater hatte ihr endlich das so sehr gewünschte Haustier gekauft. Ok, es war kein Hund und auch keine Katze, aber das wäre in Wuhan, dieser riesigen Stadt und der kleinen Wohnung, die sie zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder bewohnte, nicht möglich gewesen.

Nein - Mai Feng war sehr zufrieden mit dem Tierchen. Das kleine Erdhörnchen saß in dem Käfig und schaute sie an. Mai Feng steckte ein Salatblatt durch die Gitterstäbe und das Erdhörnchen begann sofort das Blatt zu verspeisen. Mai Feng freute sich. Sie war zufrieden mit ihrem Vater. Obwohl die Regierung seit einigen Monaten verboten hatte, wilde Tiere in einer Wohnung zu halten, hatte ihr Vater das Erdhörnchen für sie gekauft. Wie so viele Menschen hatte er sich über das Verbot hinweggesetzt.

„Wie kann mir die Regierung etwas verbieten, was wir schon seit Hunderten von Jahren machen. Meine Eltern hatten mir auch ein Tier gekauft. Ich lasse mir das nicht verbieten,“ hatte ihr Vater gesagt. Mai Feng hatte den Verdacht, dass ihr Vater das Erdhörnchen auch deswegen gekauft hatte, weil er sich über das Verbot geärgert hatte. Aber das sollte ihr egal sein. Schade war nur, dass sie ihr Haustier nicht streicheln durfte.

„Warte damit, bis es sich an dich gewöhnt hat,“ hatte ihre Mutter gesagt. Das war doof, aber Mai Feng hatte es verstanden. Sie wollte ja nicht, dass das Tier Angst hatte und davonlief. Nein - sie wollte warten, bis es sich an sie gewöhnt hatte. Der Deckel sollte schön geschlossen bleiben. Sie fütterte das Erdhörnchen weiter mit Salatblättern. Es sah einfach goldig aus, wenn es die Blätter mit seinen kleinen Zähnen durch das Gitter des Käfigs nach innen zog und dann verspeiste.

„Einmal streicheln.“ Ihr Wunsch wurde stärker. Das würde doch sicher gehen. Sie würde das Tier auch nicht aus dem Käfig herausholen. Aber den Deckel aufmachen und nur einmal ganz vorsichtig - das müsste doch gehen. Sie dachte eine Weile darüber nach und es fiel ihr kein vernünftiger Grund ein, warum sie das nicht tun sollte. Mama und Papa würden es ja gar nicht merken. Es konnte eigentlich nichts passieren. Und das Erdhörnchen war ja nun auch kein wildes Tier. Es war ihr Tier und lieb.

Entschlossen öffnete Mai Feng den Deckel des Käfigs. Ganz langsam und vorsichtig griff sie mit ihrer Hand in den Käfig hinein. Das Erdhörnchen saß zitternd in einer Ecke. Sehr vorsichtig näherte sich die Hand Mai Fengs dem Fell des Tieres.

„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben,“ flüsterte sie. „Ich will dich ja nur streicheln.“ Dann hatte sie das Fell des Erdhörnchens erreicht. Wie zart und weich dieses Fell war. Sanft streichelte Mai Feng das Erdhörnchen. Spürte das Zittern, spürte die Angst.

Da schnappte das Tier zu.

Erschrocken zog Mai Feng ihre Hand zurück. Ihr Zeigefinger blutete. Schnell schloss sie den Käfig und steckte den Finger in den Mund. Einen Augenblick lang schmeckte sie ihr Blut. Ein wenig salzig. Rasch hörte es auf zu bluten. Sie schaute ihren Finger an. Ein Glück! Es war nur ein kleiner Kratzer. Er war so klein, dass Mama und Papa ihn nicht sehen würden. Erleichtert atmete Mai Feng auf. Niemand würde davon erfahren, dass sie ungehorsam gewesen war und ihr Erdhörnchen gestreichelt hatte.

Niemand.

2. Auffälligkeiten

6. Kramer - Jens im Baum

Kramer kam die ganze Geschichte falsch vor. Eine Motorradgang vom Kaliber der Black Stars aus Frankfurt ließ sich von einer anderen Gang so übel verprügeln? Ok, das konnte vorkommen - man konnte mal was abkriegen. Aber keiner der anderen Gang hatte irgendeine Verletzung abbekommen? Normalerweise musste die Polizei in die Klinik fahren, um weiteren Streit zwischen den Rockern zu verhindern, wenn sie sich in der Notaufnahme erneut trafen. Es war zum verrückt werden. Aber aus den Jungs war nichts herauszubekommen. Sie sagten kein Wort.

Kramer hatte den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie sich schämten. Ja, er hatte den Eindruck, dass den Kerlen ihre Situation peinlich war. Dazu passte dieser absolut seltsame Spazierstock, der dem einen Schläger tief im Bein gesteckt hatte. Er musste nachts noch operiert werden, was den Chirurgen keinen großen Spaß gemacht hatte. Zum Glück hatte der Stock keine Gefäße oder wichtige Nerven verletzt. Aber bei allem Verständnis - ein Spazierstock war nun wirklich keine gängige Waffe, die Rocker normalerweise benutzten. Ein Rentner? Mit wem waren die Kerle aneinandergeraten?

Seine Zeugenbefragung hatte ergeben, dass unmittelbar vor der Schlägerei zwei Männer, eine alter und ein junger die Kneipe verlassen hatten. Sollten diese beiden damit zu tun haben? Kramer hielt das für nahezu ausgeschlossen. Aber vielleicht hatten sie etwas beobachtet. Dummerweise hatten sich die Zeugen, die in der Kneipe den Lärm der Schlägerei gehört hatten, doch einige Zeit gelassen, bis sie vor die Tür gegangen waren, um nachzuschauen, was passiert war. Wer wollte es ihnen verdenken? Aber alle hatten ausgesagt, dass keinerlei Motorengeräusche zu vernehmen gewesen waren. Doch die beiden Männer?

Vielleicht waren es Profis gewesen. Ehemalige Soldaten, Elitekämpfer, wer wusste das schon. Das Alter eines Mannes war schwer zu schätzen. Und ein gut ausgebildeter und trainierter 50jähriger konnte schon einmal ein paar wilde Jungs erledigen. Das Verletzungsbild der Rocker sprach für eine solche Situation. Diese Unterarmbrüche waren in der Tat sehr ungewöhnlich. Schlag auf die Nase - ok – der Bruch des Brustbeins - ein mächtiger Schlag, aber es könnte ein Stiefel gewesen sein. Das war auch ok. Aber mehrere Unterarmbrüche? Das war ungewöhnlich. Keine Handgelenke, die einer wüst verdreht hatte. Die Unterarme waren alle durchgebrochen.

„Wie Stöcke,“ dachte er. Kramer wurde langsam unruhig. Er wartete auf das Ergebnis der KTU. Auf dem Spazierstock hatte es jede Menge schöner Fingerabdrücke gegeben. Zum Glück hatte der Besitzer keine Handschuhe getragen. Wunderbar.

Das Telefon klingelte. Er nahm ab. Es war seine Kollegin Svenja Mannhardt. Sie hatte einen der Morde der letzten Nacht auf ihrem Schreibtisch liegen.

„Weißt du schon was?“ fragte er sie.

„Bei mir war es vermutlich der betrogene Ehemann. Und bei dir?“

„Bei mir gibt’s noch nix Neues. Ehrlich gesagt habe ich auch gar keine Lust darauf, den Superbullen zu spielen. Diese Rocker klären das schließlich immer untereinander und da ist es am besten, man hält sich einfach raus. Aber das waren keine anderen Rocker gewesen. Da stimmt irgendwas nicht.“

„Hm, verstehe. Und wenn sich die Brüder rächen wollen und irgendwann jemand ganz anderes auf einen Zaun gespießt wird?“

„Dann ärgern wir uns.“ Kramers Computer meldete sich. Eine e-mail von der KTU. Kramer beendete das Gespräch und öffnete die Datei.

Er brauchte einige Zeit, um zu verstehen, was er da sah. Die Fingerabdrücke waren gut, aber es fand sich keine dazugehörige Person in der Datenbank des Bundeskriminalamtes. Diesen Dienst hatten die Kollegen der KTU bereits erledigt. Allerdings fand sich eine Übereinstimmung mit einem anderen Fall. Das war selten.

Keine Datenbank, aber ein anderer Fall? Neugierig loggte er sich mit seinem Laptop in die Datenbank ein.

Da war er. Jens Seubing. Der Name kam Kramer sofort bekannt vor. Er öffnete die Akte und begann zu lesen. Schnell erinnerte er sich.

Jens Seubing war vor knapp vier Jahren ermordet worden. Niemand hatte um ihn getrauert, denn er war ein übler Krimineller der Frankfurter Szene gewesen. Einige Male hatte er bereits im Gefängnis verbracht. Gewaltdelikte, Drogenhandel, Erpressung und Zuhälterei. Er war ein Bursche, der mit allen Wassern gewaschen war. Kramer hatte damals bereits vermutet, dass er auch den einen oder anderen Mord begangen haben könnte, aber ihm war niemals etwas nachgewiesen worden.

Und dieser Jens Seubing wurde eines Tages ermordet aufgefunden. Das an sich war nichts Besonderes, aber merkwürdig waren die Begleitumstände gewesen. Zunächst war er bereits einige Wochen vorher verschwunden. Niemand hatte eine Anzeige aufgegeben und niemand hatte ihn wirklich vermisst. Alle, die später vernommen worden waren, hatten ausgesagt, dass er im Urlaub im Ausland vermutet wurde. Er hatte vor seinem Verschwinden angedeutet, dass er „mal so richtig ausspannen wolle.“ Erst als die Blätter im Herbst von den Bäumen fielen, hatte man ihn entdeckt. Vor seinem Haus, in einem hohen Baum, einer riesigen, dicht belaubten Kastanie. Da hatte man ihn gefunden. Er saß in der obersten Spitze dieses Baumes in einer Astgabel. Mit seinem Hosengürtel war er fachmännisch an einem dicken Ast festgeschnallt worden, nachdem jemand sein Genick gebrochen hatte. Die Feuerwehr brauchte zwei Stunden und eine lange Leiter sowie Säge und Baumschere, um den inzwischen halb verwesten Leichnam zu bergen. Es hatte damals für eine interessante Pressemitteilung gesorgt und die Medien hatten sich mehrere Tage lang über die Polizei und die Feuerwehr lustig gemacht. Der Fall wurde niemals aufgeklärt und die Frage, wie man einen ca. 80 kg schweren Mann bis in die Spitze eines hohen Baumes bugsieren konnte, ohne dass man eine Feuerwehrleiter oder einen Kran benutzt hatte, war niemals geklärt worden. Kramer erinnerte sich inzwischen sehr gut an die Geschichte. Tagelang hatte er sich darüber Gedanken gemacht. Er hatte sogar mit Artisten und professionellen Baumkletterern gesprochen, um dieses Rätsel zu lösen, aber alle seine Bemühungen waren damals ohne Ergebnis geblieben.

Und ausgerechnet der Fingerabdruck, den vermutlich der Mörder von Jens Seubing auf der Walther PPK satt und fett hinterlassen hatte, als er sie in dessen Jackentasche steckte, ausgerechnet dieser Fingerabdruck passte zu dem Fingerabdruck auf dem Spazierstock. Sein Fall war jetzt nicht wirklich einfacher geworden.

Kramer verstand die Welt nicht mehr.

7. Branko - Pizza

Einige Stunden später wachte Branko in seinem Bett auf und fühlte sich merkwürdigerweise gut ausgeruht. Die Nacht schien ihm unwirklich und einen Moment lang vermutete er, dass er lediglich schlecht geträumt hatte. Aber die kleine Packung mit dem grünen Tee, die auf seinem Tisch stand, war eindeutig. Anscheinend hatte er den Weg von Max Wohnung nach Hause gefunden, auch wenn er sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern konnte, wie er das geschafft hatte. Er öffnete seinen Internet-Zugang zum Polizeiradio Frankfurt, in dem wie an jedem Morgen die Geschehnisse der letzten Nacht berichtet wurden. Mehrere Gewaltdelikte, auch zwei Morde waren passiert.

„Das wird in den letzten Wochen immer schlimmer,“ dachte er. Branko beobachtete, wie sich der Kaffee aus dem kleinen Automaten in die Tasse ergoss. Die Welt schien aus den Fugen zu gehen. Die Aggressionen hatten dermaßen zugenommen. Seit der großen Pandemie und dem Krieg in Europa vor einigen Jahren hatte sich viel geändert und nur sehr wenig war besser geworden.

Endlich kam die Meldung, auf die er gewartet hatte. In Sachsenhausen hatten sich zwei verfeindete Motorradgangs in die Haare bekommen. Mehrere Verletzte der einen Gang waren mit gebrochenen Armen vor der Kneipe gefunden worden. Einer hatte merkwürdigerweise einen Spazierstock im Bein stecken, was niemand gut erklären konnte. Alle hatten in der Uniklinik behandelt werden müssen. Gestorben war niemand. Nach Aussage der Verletzten war die andere Gang in großer Überzahl angetreten. Branko schmunzelte. Aber damit war ganz klar, dass er nicht geträumt hatte.

Der Tag begann, wie jeder Tag begann. Auf einmal waren die Ereignisse der letzten Nacht unwichtig geworden und es zählte nur der neue Tag. Branko machte sich fertig und saß kurze Zeit später wie an jedem Tag im Auto seines Arbeitgebers. Es war ein weißer Kangoo mit der Aufschrift

- „Pizza, Döner oder was willst du sonst noch?“ –

und fuhr die Bestellungen aus. Ständig hin und her zwischen der Pizzeria und den Kunden. Es war unglaublich, wie viel er auch außerhalb der sogenannten normalen Essenszeiten ausfahren musste. Immer häufiger kam es vor, dass einige seiner Kunden nicht bezahlen wollten oder konnten. Er hasste diese Auseinandersetzungen, fand sie unwürdig. Wenn jemand kein Geld hatte, um eine Pizza zu bestellen, dann sollte er einfach keine bestellen. Das war seine Meinung. Obgleich es manchmal sehr lästige Auseinandersetzungen gab, hatte er bisher beinahe immer sein Geld bekommen. Das musste er auch, denn sein überaus freundlicher Arbeitgeber neigte dazu, ihm nicht bezahlte Ware von seinem Lohn abzuziehen.

Branko war sauer. Die Adresse lag in einem sozialen Brennpunkt, und er erwartete wieder einmal Stunk. Ein düsteres Viertel in Frankfurts Süden. Industriegebiet, billige Wohnungen in Häuserblocks, die einander so ähnlich sahen, dass viele Eltern ihre Kinder lange Zeit von der Schule abholen mussten, weil diese ihr Zuhause nicht fanden. Keine schöne Gegend.

Dort hatte jemand drei große und zwei normale Pizza bestellt, alle mit „Extra,“ das hatte Mario aus der Küche gesagt und gelacht, als er Branko das Paket übergeben hatte. Endlich hatte Branko die Adresse gefunden. Dreckig war es hier. Einige Kinder spielten vor dem Haus. Ja, die Leute wohnten hier, sagten sie auf seine Frage.

„Haben die wirklich heute Pizza bestellt?“ fragte einer der Jungen. Branko nickte und der Junge lachte. „Und da schicken die dich alleine. Wie willst du von denen dein Geld kriegen? Da braucht man schon eine Schlägertruppe.“

Schöne Aussichten. Branko suchte die Klingel und trat in das Hochhaus ein, nachdem der Summer ertönt war. Der Fahrstuhl war kaputt. Klar, anders hätte es ihn auch gewundert. Vierter Stock. Endlich stand er vor der Tür und läutete. Ein riesiger Mann öffnete die Tür.

„Her mit dem Fraß,“ brüllte der Riese ihn an. „Und dann verzieh dich.“

„Ich kriege 100 Euro von Ihnen. Wenn Sie nicht zahlen, rufe ich die Polizei.“ Branko wusste genau, dass den Mann das nicht interessieren würde, aber trotzdem sagte er es. Es gehörte zur Regel.

„Verpiss dich,“ brüllte der Mann und wollte die Tür zu schlagen, aber Branko hatte einen Fuß in den Türspalt geschoben.

„Mein Geld …“ Es waren immerhin 100 Euro und er hatte keine Lust von seinem Arbeitgeber die Summe vom Lohn abgezogen zu bekommen. Er legte seine Hand leicht auf den Arm des Mannes und fasste dessen Haut.

„Lass das,“ schrie der Mann ihn an. „Finger weg sonst gibt’s was …“

Branko kniff zu und riss einen Fetzen Haut von dem Unterarm des Mannes ab. Es war nur ein ganz kleines Fetzchen aber die Tat war extrem wirkungsvoll. Mit einem Lächeln schnippte er das Hautfetzchen von seinen Fingern. Der Mann glotzte fassungslos auf die etwa zwei Zentimeter durchmessende Wunde auf seinem Arm, die sofort begann heftig zu bluten.

„Mein Geld, 100 Euro ... gleich,“ sagte Branko leise. Das Gesicht des Mannes war blass geworden. Er stellte die Kartons auf den Boden und holte aus seiner Hosentasche zwei 50-Euro Scheine heraus, die er Branko wortlos in die Hand drückte.

„Danke,“ flötete Branko, nachdem der Mann wütend die Tür zugeschlagen hatte. Das hatte besser geklappt, als er gedacht hatte. Zufrieden ging er die Treppe hinunter.

Das Signal kam schlagartig.

8. Kerstin - Dreck im Präparat

Zwei Bohrkerne hatte sie bekommen aus Beckenknochen zweier Individuen. So hatte es auf dem Begleitschreiben gestanden. Zuerst hatte sie die Präparate sorgfältig angelegt und dann mit dem Elektronen-Mikroskop fotografiert. „Makroskopie“ nannten die Genforscher dieses Verfahren ein wenig abfällig. Man sah sich zwar die mit dem E-Mikroskop hergestellten Bilder der Chromosomen an, aber man konnte eigentlich nichts finden. Die EDV-gestützte genetische Sequenzanalyse war natürlich etwas ganz anderes.

Bei der Ansicht des weiblichen Präparates war ihr zunächst nichts aufgefallen. 23 Paare, symmetrisch angeordnet, keine Fragmentierungen. Es war ein ausgezeichnetes Präparat. Sie schaute sich das Präparat des Mannes an und stutzte.

„So ein verdammter Mist,“ hatte sie gedacht. „Dreck im Präparat.“ Sie hatte sich geärgert, aber es half nichts. Sie musste das Präparat noch einmal anlegen. Als sie erneut „Dreck“ an dem Präparat entdeckte und zwar genau an der gleichen Stelle wie beim ersten Präparat bekam sie hektische Flecken. Das konnte nicht sein. Das Y-Chromosom hatte einen kleinen Schwanz an der Stelle des fehlenden Schenkels. Es ließ sich nicht ignorieren. Daraufhin hatte sie sich das Präparat der Frau ein zweites Mal angesehen. Auch hier fand sie eine Auffälligkeit, die ihr bei der ersten Ansicht einfach entgangen war.

Das linke „Bein“ des einen X-Chromosoms war länger als die anderen. Es war eindeutig.

9. Branko - Der Belgier

Branko spürte es mehr, als dass er es wusste. Jemand seiner Leute, der Ens, wer auch immer das sein mochte, war in Gefahr, war in seiner Nähe.

„Schon wieder Max,“ überlegte er. Vielleicht wollten sich diese komischen Rocker an ihm rächen, aber er wusste im nächsten Augenblick, dass das nicht stimmte. Es war dieses Mal wesentlich schlimmer.

Nicht so viel denken. Lass es wirken … bleib ruhig.

Tief in seinem Kopf arbeitete etwas, während er die Treppe hinunterrannte, in seinen Kangoo stieg, hektisch das Auto startete und losfuhr. Er wusste nicht, wohin er fahren musste aber …

seine Hände wussten es und lenkten das Auto schnell und sicher durch die Stadt. Woher konnte er das? Ein Rennfahrer als Vorfahr? Je näher er der Gefahrenstelle kam, desto mehr konnte er erkennen, was passierte.

Sonja … die gefährdete Person war Sonja. Die Prostituierte, seine Freundin? Jedenfalls schlief er mit ihr. War sie eine Ens? Das war nicht möglich. Oder doch? Vielleicht war sein Scanner angesprungen, weil er sie mochte – denkbar. Er wusste es nicht.