Das Paradies der Damen - Émile Zola - E-Book

Das Paradies der Damen E-Book

Émile Zola

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Beschreibung

Von Verführung und Verführten Für alle, die wissen möchten, wie Frauen verführt werden wollen und können, aber auch wie Kommerz und Marketing schon im 19. Jahrhundert funktionierten, ist Zolas Roman Pfl ichtlektüre und höchster Lesegenuss. Er entführt in die schillernde Welt eines Pariser Warenhauses – beleuchtet Architektur, Interieur und Sozialgefüge der Angestellten, aber auch die Auswirkungen auf den gewachsenen Mikrokosmos des angrenzenden Stadtviertels. Verwoben mit einer romantischen Liebesgeschichte, ist der Roman heute noch von verblüffender Modernität und Aktualität.

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Seitenzahl: 825

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Émile Zola

Das Paradies der Damen

Roman

Übersetzt von Hilda Westphal

Mit einem Nachwort von Gertrud Lehnert

Deutscher Taschenbuch Verlag

Vollständige Ausgabe 2013

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-42388-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14276-2

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ERSTES KAPITEL

Denise war zu Fuß vom Bahnhof Saint-Lazare gekommen, wo sie und ihre Brüder nach einer auf der harten Bank eines Wagens dritter Klasse verbrachten Nacht einem Zug aus Cherbourg entstiegen waren. Sie hielt Pépé an der Hand, und Jean folgte ihr, alle drei waren erschöpft von der Reise, verwirrt und wie verloren in dem riesigen Paris, blickten an den Häusern empor und fragten an jeder Straßenkreuzung nach der Rue de la Michodière, in der ihr Onkel Baudu wohnte. Doch als sie endlich auf die Place Gaillon gelangten, blieb das junge Mädchen plötzlich überrascht stehen. »Oh!« sagte sie. »Sieh doch nur, Jean!«

Und wie angewurzelt standen sie da, eng aneinandergeschmiegt, ganz in Schwarz, da sie die alte, beim Tode ihres Vaters angeschaffte Trauerkleidung auftrugen. Denise, recht schmächtig für ihre zwanzig Jahre und von dürftigem Aussehen, hatte ein leichtes Bündel im Arm, während sich ihr fünfjähriges Brüderchen an ihren anderen Arm gehängt hatte und ihr der große Bruder, in der blühenden Kraft seiner sechzehn Jahre, mit den Armen schlenkernd, über die Schulter sah.

»Weiß Gott«, fing sie nach einem Weilchen wieder an, »das ist einmal ein Laden!«

Es war ein Modewarenhaus an der Ecke der Rue de la Michodière und der Rue Neuve-Saint-Augustin, dessen Auslagen in dem milden und bleichen Licht des Oktobertages in lebhaften Tönen erstrahlten. Von der Kirche Saint-Roch schlug es acht Uhr, auf den Gehsteigen sah man einstweilen nur das Paris der Frühaufsteher: die Angestellten, die in ihre Büros gingen, und die Hausfrauen, die von Laden zu Laden liefen. Vor dem Eingang standen auf einer Stehleiter zwei Kommis und hängten noch Wollwaren aus, indes in einem Schaufenster an der Rue Neuve-Saint-Augustin ein anderer Kommis kniete, den Rücken der Straße zugewandt, und sorgfältig ein Stück blauen Seidenstoff in Falten legte. Drinnen im Laden, in dem noch keine Kunden waren und dessen Personal gerade erst eintraf, summte es wie in einem erwachenden Bienenstock.

»Alle Wetter«, sagte Jean, »da kann sich Valognes verkriechen. So schön war deiner nicht.«

Denise nickte. Sie hatte dort zwei Jahre bei Cornaille, dem ersten Modewarenhändler der Stadt, verbracht, und dieses Geschäft hier, das so plötzlich vor ihr aufgetaucht war, dieses für ihre Begriffe ungeheuer große Haus, verursachte ihr Beklemmungen, hielt sie in Bann und ließ sie vor Aufregung alles andere um sie herum vergessen. An der nach der Place Gaillon zu gelegenen stumpfen Ecke reichte die hohe, von oben bis unten verglaste Eingangstür zwischen verschlungenen, reich vergoldeten Ornamenten bis zum Zwischenstock. Zwei allegorische Figuren, zwei lächelnde Frauen, entrollten, den nackten Busen vorgestreckt, das Firmenschild »Paradies der Damen«. Dann zog sich die Rue de la Michodière und die Rue Neuve-Saint-Augustin entlang eine Reihe von tiefen Schaufenstern, sie nahmen außer dem Eckgebäude noch vier weitere Häuser, zwei links und zwei rechts von jenem, ein, die erst kürzlich hinzugekauft und eingerichtet worden waren. Das alles war, mit den Auslagen im Erdgeschoss und den Spiegelglasscheiben im Zwischenstock, hinter denen man das ganze Tun und Treiben in den Verkaufsräumen sah, in der perspektivischen Flucht von einer Weiträumigkeit, die dem jungen Mädchen unendlich vorkam. Oben spitzte ein in Seide gekleidetes Fräulein einen Bleistift an, während zwei andere neben ihr Samtmäntel auslegten.

»Paradies der Damen«, las Jean und lächelte dabei, wie ein Jüngling, der in Valognes bereits etwas mit einer Frau gehabt hatte. »Das ist nett, nicht? Das muss ja die Leute anziehen!«

Aber Denise stand noch immer ganz versunken vor der Auslage am Haupteingang. Dort gab es im Freien, bis auf den Bürgersteig hinaus, ganze Berge billiger Waren, die Verlockung zum Eintreten, die Gelegenheit zu wohlfeilen Einkäufen, die aus Vorübergehenden Kundinnen macht. Oben nahm es seinen Anfang. Bahnen von Wollstoffen und Tuchen, Merino, Cheviot, Molton, senkten sich, flatternd gleich Fahnen, vom Zwischenstock herab, und die neutralen Farbtöne, Schiefergrau, Marineblau, Olivgrün, wurden von den weißen Zetteln der Preisschilder unterbrochen. An den Seiten hingen, den Eingang rahmend, auf die gleiche Weise Fellstücke, schmale Streifen für Kleiderbesatz, das zarte Aschgrau der Fehrücken, der reine Schnee der Schwanenfedern, unechter Hermelin und Marder aus dem Haarkleid der Kaninchen.

Unten gab es dann in Regalen und auf Tischen zwischen Stapeln von Stoffresten eine Überfülle von Wirkwaren, die zu Spottpreisen verkauft wurden, aus Wolle gestrickte Handschuhe und Busentücher, Kapuzen, Westen, eine ganze Auslage von Wintersachen in buntscheckigen Farben mit Flammenmustern, Streifen und blutroten Flecken. Denise sah einen schottisch karierten Wollstoff zu fünfundvierzig Centimes, Boas aus amerikanischem Nerz zu einem Franc und Fausthandschuhe zu fünf Sous. Es war eine riesige Schaustellung wie auf einem Jahrmarkt, der Laden schien zu bersten und auf die Straße zu schütten, was er nicht mehr fassen konnte. Onkel Baudu war vergessen. Sogar Pépé, der die Hand seiner Schwester nicht losließ, riss weit die Augen auf. Ein Wagen zwang die drei, sich von der Mitte des Platzes wegzubegeben, und mechanisch bogen sie in die Rue Neuve-Saint-Augustin ein, gingen an den Schaufenstern entlang, blieben vor jeder Auslage aufs Neue stehen. Zuerst wurden sie von einem komplizierten Arrangement bezaubert: ganz oben bildeten schräg angebrachte Regenschirme gleichsam das Dach einer ländlichen Hütte; darunter zeigten an Stangen aufgehängte Seidenstrümpfe rundliche Wadenlinien, einige waren mit Rosensträußchen übersät; andere hatten alle möglichen Farbtöne, die schwarzen waren durchbrochen gearbeitet, die roten mit gestickten Zwickeln, das atlasartige Gewebe der fleischfarbenen war zart wie die Haut einer Blondine; auf dem Tuch des Schaufenstergestells schließlich hatte man Handschuhe symmetrisch angeordnet, die Finger langgezogen, die Handflächen schmal wie die einer byzantinischen Madonna, von jener starren und gleichsam ephebenhaften Anmut noch ungetragenen Frauenputzes. Vor allem aber fesselte sie das letzte Schaufenster. Eine Ausstellung von Seide, Atlas und Samt entfaltete hier in einer sanften und flimmernden Skala die herrlichsten Blumenfarben: zuoberst die Samte von tiefem Schwarz, vom Weiß geronnener Milch; weiter unten die Atlasstoffe, die rosenfarbenen, die blauen, schillernd in den Brüchen, immer lichter werdend bis zur Blässe äußerster Zartheit; noch weiter unten die Seiden, ein wahrer Regenbogen, zu Schlaufen aufgebunden, in Falten gelegt wie um eine sich biegende Taille, lebendig geworden unter den geschickten Händen der Kommis; und zwischen den einzelnen Motiven, zwischen den einzelnen Farbmelodien der Auslage zog sich als diskrete Begleitung ein leichter bauschiger Streifen cremegelben Foulards* hin. Hier befanden sich auch an den beiden Ecken die zwei Seidensorten, an denen einzig dieser Firma Verkaufsrechte zustanden. Paris-Paradies und Goldhaut, ganz besondere Artikel, die eine Umwälzung im Modewarenhandel hervorrufen sollten. »Ach, diese Faille* zu fünf Francs sechzig!« murmelte Denise, die staunend vor dem Paris-Paradies stand.

Jean langweilte sich. Er hielt einen Vorübergehenden an. »Wo ist die Rue de la Michodière, Monsieur?«

Als man sie ihm gezeigt hatte, die erste Straße rechts, gingen die drei denselben Weg zurück, wobei sie wieder an dem ganzen Geschäft vorbeikamen. Doch als sie in die Straße einbogen, wurde Denise abermals von einem Schaufenster gefesselt, in dem Damenkonfektion ausgestellt war. Bei Cornaille in Valognes war sie speziell mit der Konfektionsabteilung betraut gewesen. Aber so etwas hatte sie noch nie gesehen, Bewunderung ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Im Hintergrund breitete eine große Schärpe aus recht teuren Brügger Spitzen eine Altardecke aus, zwei entfaltete Schwingen von rötlich schimmerndem Weiß; Volants aus Point d’Alençon* waren in Girlanden aufgehängt; außerdem war da, wie mit vollen Händen ausgestreut, ein Geriesel aller Arten von Spitzen: Brabanter und Valenciennesspitzen, Brüsseler Applikationen, Points de Venise*, wie fallender Schnee. Rechts und links türmten sich Tuchballen zu dunklen Säulen auf, die diesen tabernakelhaften Hintergrund in noch größere Ferne rückten. Und in dieser dem Kult weiblicher Anmut errichteten Kapelle befanden sich die Konfektionswaren: die Mitte nahm ein ganz unvergleichliches Stück ein, ein Samtmantel mit Besatz aus Silberfuchsfell; auf der einen Seite sah man einen seidenen, mit Feh gefütterten Radmantel, auf der anderen einen mit Hahnenfedern verbrämten Tuchpaletot; schließlich gab es da noch Abendmäntel aus weißem Kaschmir, aus weißem Matelassé*, mit Schwanenpelz oder Chenille garniert. Für jegliche Laune war etwas vorhanden, vom Abendmantel zu neunundzwanzig Francs bis zu dem Samtmantel, der mit achtzehnhundert Francs ausgezeichnet war. Über dem runden Busen der Schaufensterpuppen bauschte sich der Stoff, die kräftigen Hüften hoben die Zartheit der Taille stärker hervor, der fehlende Kopf war durch ein großes Preisschild ersetzt, das mit einer Nadel an dem roten Molton festgesteckt war, der den Hals umgab; und die Spiegel zu beiden Seiten des Schaufensters reflektierten und vervielfachten sie ins Endlose in einem wohlberechneten Spiel, bevölkerten die Straße mit diesen schönen verkäuflichen Frauen, die an Stelle eines Kopfes in fetten Zahlen ihren Preis trugen.

»Famos sind die!« murmelte Jean, der keinen Ausdruck für seine Erregung fand.

Er selber war sofort mit offenem Mund regungslos stehen geblieben. Dieser ganze Frauenluxus ließ ihn vor Vergnügen erröten. Er war von mädchenhafter Schönheit, einer Schönheit, die er seiner Schwester geraubt zu haben schien, hatte eine blendendweiße Haut, rötliches krauses Haar, Lippen und Augen schimmerten feucht vor Zärtlichkeit. Neben ihm wirkte Denise, wie sie so staunend dastand, noch unbedeutender mit ihrem langen Gesicht und dem zu großen Mund, ihrem bereits unfrischen Teint und dem glanzlosen Haar. Und Pépé, der ebenfalls blond war, von einem Kinderblond, schmiegte sich dichter an sie, als sei er, durch die schönen Damen im Schaufenster verwirrt und entzückt, von einem unruhigen Bedürfnis nach Liebkosungen ergriffen. Sie waren so seltsam und so reizend dort auf dem Bürgersteig, diese drei blonden Geschöpfe in ihrer armseligen schwarzen Kleidung, das traurige Mädchen zwischen dem hübschen Kind und dem prächtigen jungen Burschen, dass sich die Vorübergehenden lächelnd nach ihnen umwandten.

Seit einem Weilchen stand auf der Schwelle eines Ladens an der anderen Seite der Straße ein wohlbeleibter weißhaariger Mann und betrachtete die drei. Mit zornfunkelnden Augen und verzerrtem Mund stand er dort, außer sich über die Auslagen des »Paradieses der Damen«, und der Anblick des jungen Mädchens und seiner Brüder brachte ihn vollends auf. Was hatten diese drei einfältigen Dinger so diese marktschreierische Schaustellung zu begaffen?

»Und der Onkel?« fragte Denise plötzlich, wie jäh erwacht. »Wir sind ja in der Rue de la Michodière«, sagte Jean. »Er muss hier irgendwo wohnen.«

Sie hoben den Kopf, drehten sich um. Da bemerkten sie gerade vor sich, über dem wohlbeleibten Mann, ein grünes Firmenschild, dessen gelbe Buchstaben vom Regen verwaschen waren: »Au Vieil Elbeuf *, Tuche und Flanelle, Baudu vormals Hauchecorne.« Das mit einem alten fleckigen Verputz beworfene Haus, ganz zusammengepresst von den angrenzenden großen Bauten im Louis-quatorze-Stil*, hatte nur drei Fenster Front, und diese Fenster, viereckig und ohne Jalousien, waren bloß mit einem Eisengitter, zwei über Kreuz angebrachten Stangen, versehen. Was aber Denise, deren Augen noch von den glänzenden Auslagen des »Paradieses der Damen« erfüllt waren, angesichts dieser Kahlheit vor allem einen Stoß versetzte, war der Laden im Erdgeschoss mit der erdrückend niedrigen Decke, über dem sich ein ebenfalls sehr niedriger Zwischenstock mit halbmondförmigen Gefängnisluken befand. Durch Holzwände von der Farbe des Firmenschilds, einem Flaschengrün, das die Zeit mit ockergelben und grauschwarzen Tönen verfärbt hatte, waren rechts und links zwei tiefe Schaukästen abgeteilt, dunkel und verstaubt, in denen man undeutlich ein paar Stoffstapel wahrnahm. Die offen stehende Tür schien in die feuchte Finsternis eines Kellers zu führen.

»Da ist es«, sagte Jean.

»Nun gut, wir müssen hineingehen«, erklärte Denise. »Los, komm, Pépé.«

Doch von Scheu ergriffen, wurden alle drei ängstlich. Als ihr Vater an dem gleichen Fieber gestorben war, das einen Monat zuvor ihre Mutter dahingerafft, hatte Onkel Baudu freilich, durch diesen doppelten Trauerfall bewegt, seiner Nichte geschrieben, es werde sich bei ihm stets ein Platz für sie finden, falls sie eines Tages ihr Glück in Paris versuchen wolle; aber dieser Brief lag schon fast ein Jahr zurück, und das junge Mädchen bereute nun, dass es Valognes so Hals über Kopf verlassen hatte, ohne ihren Onkel davon zu benachrichtigen. Dieser kannte sie gar nicht, hatte er doch nie wieder den Fuß in seine Heimatstadt gesetzt, seit er in ganz jungen Jahren von dort fortgezogen war, um als kleiner Kommis zu dem Tuchhändler Hauchecorne zu gehen, dessen Tochter er schließlich geheiratet hatte.

»Monsieur Baudu?« fragte Denise, die sich endlich entschloss, den wohlbeleibten Mann anzusprechen, der sie und ihre Brüder, verwundert über ihr Benehmen, noch immer musterte. »Der bin ich«, erwiderte er.

Da errötete Denise heftig und stammelte: »Ah, um so besser! – Ich bin Denise, und das ist Jean und das Pépé … Sie sehen, Onkel, wir sind gekommen.«

Baudu schien ganz verblüfft zu sein. Seine großen geröteten Augen flackerten in dem gelben Gesicht, seine zögernden Worte kamen verwirrt heraus. Offensichtlich lagen ihm diese Verwandten, die ihm da unvermutet auf den Hals kamen, unendlich fern.

»Wie? Wie? Sie sind hier?« wiederholte er mehrmals. »Aber Sie waren doch in Valognes! – Weshalb sind Sie nicht mehr in Valognes?«

Mit ihrer sanften, ein wenig zitternden Stimme musste sie es ihm erklären. Nach dem Tode ihres Vaters, der die Mittel aus seiner Färberei bis zum letzten Sou aufgebraucht habe, sei sie zur Mutter der beiden Kinder geworden. Was sie bei Cornaille verdiente, sei nicht ausreichend gewesen, sie alle drei zu ernähren. Jean habe zwar bei einem Kunsttischler gearbeitet, der sich mit der Instandsetzung antiker Möbel befasste; aber er habe nicht einen Sou dafür bekommen. Doch er habe Geschmack an alten Dingen gewonnen und Holzfiguren geschnitzt. Eines Tages habe er sogar, nachdem er ein Stück Elfenbein gefunden, zu seinem Vergnügen einen Kopf gemacht, den ein durchreisender Herr gesehen habe; und eben dieser Herr habe sie zu dem Entschluss gebracht, Valognes zu verlassen; denn er habe Jean eine Stellung bei einem Elfenbeindrechsler in Paris verschafft. »Verstehen Sie mich recht, Onkel, Jean wird ab morgen bei seinem neuen Meister in die Lehre gehen. Man verlangt dafür kein Geld von mir, er wird dort Kost und Logis haben … Da habe ich gedacht, dass Pépé und ich immer irgendwie zurechtkommen würden. Unglücklicher als in Valognes können wir hier auch nicht dran sein.«

Was sie verschwieg, war Jeans leichtsinnige Liebschaft, Briefe, die er an ein adliges junges Mädchen in der Stadt geschrieben hatte, über eine Mauer hinweg getauschte Küsse, ein regelrechter Skandal, der sie zum Wegziehen bewogen hatte; und sie begleitete ihren Bruder vor allem nach Paris, um über ihn zu wachen, von mütterlicher Angst um diesen großen, so schönen und heiteren Knaben erfasst, den alle Frauen anhimmelten. Onkel Baudu vermochte sich noch nicht zu beruhigen. Seine Fragen begannen von neuem. Immerhin duzte er Denise, nachdem er sie so von ihren Brüdern hatte sprechen hören. »Dein Vater hat euch also nichts hinterlassen? Ich glaubte, es sei noch ein wenig Geld vorhanden. Ach, ich habe ihm in meinen Briefen oft genug geraten, diese Färberei nicht zu übernehmen. Ein gutes Herz hatte er, aber keinen Deut Verstand! – Und du hast nun diese Bürschchen auf dem Halse, hast das Völkchen erhalten müssen!« Seine gallige Miene hatte sich aufgehellt, er blickte nicht mehr aus so zornfunkelnden Augen wie vorhin, als er das »Paradies der Damen« betrachtete. Plötzlich merkte er, dass er den Eingang versperrte. »Nun gut«, sagte er, »kommt rein, da ihr nun einmal hier seid … Kommt rein, das ist besser, als vor albernem Zeug herumzustehen.« Und nachdem er den gegenüberliegenden Schaufenstern eine letzte zornige Grimasse geschnitten hatte, gab er den Kindern den Weg frei, ging ihnen in den Laden voran und rief nach seiner Frau und seiner Tochter: »Elisabeth, Geneviève, kommt doch mal, hier ist Besuch für euch!«

Aber Denise und die Kinder zögerten angesichts des finsteren Ladens. Geblendet von dem hellen Licht der Straße, blinzelten sie wie beim Betreten einer unbekannten Höhle, setzten in der instinktiven Furcht vor irgendeiner tückischen Stufe die Füße tastend auf. Und durch diese unbestimmte Angst noch enger verbunden, traten sie, sich noch dichter aneinander schmiegend, der Kleine noch immer in die Röcke des Mädchens verkrochen und der Große hinter ihr, mit lächelnder, bänglicher Anmut ein. Das helle Morgenlicht ließ die schwarze Silhouette ihrer Trauerkleider scharf hervortreten, ein schräger Sonnenstrahl vergoldete ihre blonden Haare. »Kommt rein, kommt rein«, wiederholte Baudu.

Mit ein paar kurzen Sätzen unterrichtete er Frau und Tochter. Erstere war eine kleine, von Blutarmut aufgezehrte Frau, ganz weiß, mit farblosem Haar, farblosen Augen, farblosen Lippen. Geneviève, bei der sich der schlechte Zustand ihrer Mutter in noch schlimmerem Grade zeigte, war kraftlos und bleich wie eine Schattenpflanze. Dennoch verlieh herrliches schwarzes Haar, das wie durch ein Wunder dicht und schwer von diesem armseligen Fleisch hervorgebracht worden war, ihr einen traurigen Reiz.

»Kommt rein«, sagten nun auch die beiden Frauen. »Ihr seid uns willkommen.«

Und Denise musste hinter einem Ladentisch Platz nehmen. Sofort kletterte Pépé seiner Schwester auf den Schoß, während sich Jean, an die Holzverkleidung gelehnt, in ihrer Nähe hielt. Sie fassten wieder Mut, betrachteten den Laden, wo sich ihre Augen nun an die Düsternis gewöhnten. Jetzt sahen sie ihn mit seiner niedrigen und verräucherten Decke, seinen von langem Gebrauch blank gewordenen eichenen Ladentischen, den uralten, mit starken Eisenbeschlägen versehenen Regalen. Dunkle Warenballen waren bis unter die Deckenbalken aufgetürmt. Der Geruch von Stoffen und Farben, ein scharfer Chemikaliengeruch, schien durch die Feuchtigkeit des Fußbodens noch verstärkt zu werden. Im Hintergrund räumten zwei Kommis und ein Fräulein Stapel weißen Flanells ein. »Vielleicht möchte der kleine Monsieur gern was essen?« sagte Madame Baudu lächelnd zu Pépé.

»Nein, danke«, antwortete Denise. »Wir haben in einem Cafe am Bahnhof eine Tasse Milch getrunken.« Und als Geneviève auf das leichte Bündel schaute, das Denise auf den Fußboden gelegt hatte, fügte diese hinzu: »Ich habe unsern Koffer dort gelassen.«

Sie errötete, sie war sich klar darüber, dass man niemandem so ins Haus fallen dürfe. Schon im Eisenbahnwagen war sie, sobald der Zug Valognes verlassen hatte, von Reuegefühlen erfüllt gewesen; und das war der Grund, weshalb sie bei der Ankunft den Koffer nicht mitgenommen und die Kinder hatte frühstücken lassen.

»Nun wollen wir uns kurz und klar aussprechen«, sagte Baudu plötzlich. »Ich habe dir geschrieben, das stimmt, aber es ist ein Jahr her, und sieh mal, mein armes Kind, das Geschäft ist seit einem Jahr gar nicht gut gegangen …« Er hielt inne, denn eine Erregung, die er nicht zeigen wollte, schnürte ihm die Kehle zu.

Madame Baudu und Geneviève standen mit ergebener Miene und niedergeschlagenen Augen da.

»Oh«, fuhr er fort, »es ist eine vorübergehende Krise, ich bin ganz unbesorgt … Nur habe ich mein Personal verringert, es sind bloß noch drei Leute da, und es ist kaum der rechte Augenblick, um eine vierte Person anzustellen. Kurz, ich kann dich nicht nehmen, wie ich es dir angeboten hatte, mein armes Kind.«

Bestürzt, ganz blass, hörte Denise ihm zu.

Er wurde noch dringlicher und sagte: »Dabei käme weder für dich noch für uns etwas Gutes heraus.«

»Schon gut, Onkel« brachte sie schließlich mühsam hervor. »Ich werde versuchen, dennoch zurechtzukommen.«

Die Baudus waren keine schlechten Leute. Aber sie klagten, dass sie niemals Glück gehabt hätten. Zu der Zeit, als ihr Handel florierte, hatten sie fünf Söhne großziehen müssen, von denen drei mit zwanzig Jahren gestorben waren; der vierte war auf die schiefe Bahn geraten, der fünfte vor kurzem als Hauptmann nach Mexiko gegangen. Nur Geneviève war ihnen geblieben. Diese Kinder hatten schweres Geld gekostet, und zudem hatte sich Baudu völlig dadurch verausgabt, dass er in Rambouillet, dem Heimatort seines Schwiegervaters, ein großes baufälliges Haus kaufte. All das hatte bei seiner fast krankhaften Rechtschaffenheit eines Kaufmanns vom alten Schlage eine zunehmende Bitterkeit im Gefolge. »Man meldet sich doch an«, begann er von neuem, nach und nach ärgerlich über seine eigene Schroff heit. »Du konntest mir schreiben, ich hätte dir geantwortet, du sollest dort bleiben … Als ich vom Tod deines Vaters erfuhr, habe ich dir, hol’s der Kuckuck, geschrieben, was man so zu schreiben pflegt. Aber du schneist hier ohne weiteres herein … Das bringt uns in große Verlegenheit.« Er sprach lauter, er machte seinem Herzen Luft.

Frau und Tochter, fügsame Wesen, die es niemals wagten, sich einzumischen, hielten noch immer den Blick zu Boden gesenkt. Denise aber hatte, während Jean blass wurde, den erschrockenen Pépé an ihr Herz gedrückt. Zwei große Tränen rollten ihr über die Wangen.

»Schon gut, Onkel«, wiederholte sie. »Wir werden gleich unserer Wege gehen.«

Sofort nahm er sich zusammen. Es herrschte ein betretenes Schweigen. Dann sagte er in mürrischem Ton:

»Ich setz euch nicht vor die Tür … da ihr einmal hier seid, werdet ihr immerhin heute nacht oben schlafen. Später werden wir weitersehen.«

Ein Blick von ihm gab Madame Baudu und Geneviève zu verstehen, dass sie die Angelegenheit in Ordnung bringen könnten. Alles wurde geregelt. Mit Jean brauchte man sich nicht zu befassen. Was Pépé betraf, so würde er ausgezeichnet bei Madame Gras aufgehoben sein, einer alten Dame, die ein großes Erdgeschoss in der Rue des Orties bewohne und dort für monatlich vierzig Francs kleine Kinder in volle Pension nehme. Denise erklärte, sie besitze genug, um den ersten Monat zu bezahlen. Es ging also nur noch darum, sie selber unterzubringen. Man werde schon eine Stellung für sie in diesem Stadtviertel finden.

»Hat nicht Vinçard eine Verkäuferin gesucht?« fragte Geneviève.

»Das stimmt!« rief Baudu. »Wir werden ihn nach dem Essen aufsuchen. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.« Kein einziger Kunde hatte diesen Familienrat gestört. Der Laden war dunkel und leer geblieben. Im Hintergrund hatten die beiden Kommis und das Fräulein unter geflüsterten und gezischelten Worten ihre Tätigkeit fortgesetzt. Doch jetzt erschienen drei Damen, Denise blieb ein Weilchen sich selber überlassen. Sie küsste Pépé, das Herz war ihr schwer beim Gedanken an die baldige Trennung. Schmeichlerisch wie ein Kätzchen barg das Kind, ohne ein Wort zu sagen, den Kopf an ihre Brust. Als Madame Baudu und Geneviève zurückkehrten, fanden sie, er sei sehr artig, und Denise versicherte, dass er nie mehr Lärm mache: ganze Tage lang bleibe er stumm, lebe nur von Liebkosungen. Bis zum Essen sprachen dann alle drei ein wenig befangen, wie es Verwandte sind, die einander nicht kennen, in kurzen und unbestimmten Wendungen über die Kinder, den Haushalt, das Leben in Paris und in der Provinz. Jean war auf die Ladenschwelle getreten und rührte sich nicht mehr davon weg, er war gefesselt durch das Straßenleben und lächelte den hübschen Mädchen zu, die vorüberkamen.

Um zehn Uhr erschien ein Dienstmädchen. In der Regel wurde zunächst für Baudu, Geneviève und den Ersten Kommis gedeckt. Um elf Uhr wurde für Madame Baudu, den Zweiten Kommis und das Fräulein angerichtet.

»Zu Tisch!« rief der Tuchhändler, sich an seine Nichte wendend. Und als schon alle in dem engen Esszimmer hinter dem Laden saßen, rief er den Ersten Kommis, der sich verspätet hatte: »Colomban!«

Der junge Mann entschuldigte sich, er habe den Flanell fertig einräumen wollen. Er war ein kräftiger Bursche von fünfundzwanzig Jahren, schwerfällig und dabei schlau. In seinem biederen Gesicht mit dem großen schlaffen Mund standen listige Augen.

»Zum Teufel, alles zu seiner Zeit!« sagte Baudu, der sich breit am Tisch niedergelassen hatte und mit der Umsicht und Geschicklichkeit eines Pensionsvorstehers ein Stück kalten Kalbsbraten zerlegte, wobei er die schmalen Portionen aufs Gramm genau mit den Augen abwog. Er versorgte alle, schnitt sogar das Brot vor.

Denise hatte Pépé neben sich gesetzt, um darauf zu achten, dass er sauber aß. Doch das düstere Zimmer bedrückte sie; sie schaute sich darin um, und das Herz zog sich ihr zusammen, war sie doch an die großen, kahlen und hellen Stuben in der Provinz gewöhnt. Das einzige Fenster ging auf einen kleinen Innenhof, der durch den finsteren Hausflur mit der Straße in Verbindung stand; und dieser feuchte, übelriechende Hof glich dem Boden eines Brunnenschachts, in den ein runder Fleck trüber Helligkeit fiel. An Wintertagen musste hier wohl von morgens bis abends das Gas brennen. Erlaubte es das Wetter, ohne künstliches Licht auszukommen, so war es noch trübseliger. Denise brauchte eine kleine Weile, bis sich ihre Augen daran gewöhnten und sie die Speisen auf ihrem Teller hinlänglich erkannte.

»Das nenne ich einen Burschen mit einem guten Appetit«, erklärte Baudu, als er feststellte, dass Jean mit seinem Kalbfleisch fertig war. »Wenn er ebenso gut arbeitet, wie er isst, wird ein tüchtiger Mann aus ihm … Aber du, Mädchen, isst du denn nicht? – Und sag mal, jetzt haben wir ja Zeit zum Plaudern, weshalb hast du dich nicht in Valognes verheiratet?«

Denise stellte das Glas, das sie gerade zum Munde führen wollte, hin.

»Ach, Onkel, ich mich verheiraten! Daran ist gar nicht zu denken! Und die Kinder!« Sie lachte schließlich, so sonderbar kam ihr der Gedanke vor. Hätte übrigens irgendein Mann sie haben wollen, so ohne einen Sou, kaum mehr als ein Spatz und noch dazu nicht hübsch? Nein, nein, sie werde nie heiraten, sie habe schon genug an zwei Kindern. »Da hast du nicht Recht«, erwiderte der Onkel, »eine Frau braucht stets einen Mann. Wenn du einen braven Burschen gefunden hättest, würden du und deine Brüder jetzt nicht wie Zigeuner in Paris auf der Straße liegen.« Er brach ab, um abermals knauserig, aber gerecht auszuteilen – eine Schüssel Kartoffeln mit Speck, die das Dienstmädchen gebracht hatte. Dann fuhr er, mit dem Löffel auf Geneviève und Colomban deutend, fort: »Sieh, die beiden werden im Frühjahr heiraten, wenn wir eine gute Wintersaison haben.« Das sei ein patriarchalischer Brauch dieses Hauses. Der Gründer, Aristide Finet, habe seine Tochter Désirée seinem Ersten Kommis, Hauchecorne, zur Frau gegeben; er, Baudu, der mit sieben Francs in der Tasche in der Rue de la Michodière angekommen sei, habe Elisabeth, die Tochter des alten Hauchecorne, geehelicht; und er beabsichtige seinerseits, seine Tochter Geneviève samt der Firma Colomban zu überlassen, sobald das Geschäft wieder einen Aufschwung nähme. Dass er eine seit drei Jahren beschlossene Heirat so hinausschob, geschah aus Gewissenhaftigkeit, aus starrsinniger Redlichkeit: er hatte eine blühende Firma bekommen, er wollte sie nicht mit verringerter Kundschaft und zweifelhaftem Geschäftsgang in die Hände eines Schwiegersohnes übergehen lassen. Baudu sprach immer weiter, stellte Colomban vor, der, wie Madame Baudus Vater, aus Rambouillet stamme; sie seien sogar entfernt miteinander verwandt. Eine tüchtige Arbeitskraft, seit zehn Jahren habe er sich im Laden abgeplagt und den Aufstieg ehrlich verdient! Übrigens sei er nicht der Erstbeste, sein Vater sei jener lustige Bruder Colomban, ein im ganzen Departement Seine-et-Oise bekannter Tierarzt, ein Meister in seinem Fach, aber so fürs Essen und Trinken eingenommen, dass er dafür alles draufgehen lasse. »Dem Himmel sei Dank«, sagte der Tuchhändler abschließend, »wenn der Vater auch trinkt und den Schürzen nachläuft, hat der Sohn hier doch den Wert des Geldes schätzen gelernt.«

Während er redete, beobachtete Denise Colomban und Geneviève. Sie saßen nebeneinander am Tisch; aber sie blieben völlig ruhig, ohne ein Erröten, ohne ein Lächeln. Seit dem Tage, da der junge Mann seine Stellung angetreten, hatte er mit dieser Heirat gerechnet. Er hatte die verschiedenen Stadien durchlaufen, war kleiner Kommis gewesen, der gerade seine Lehrzeit hinter sich hatte, dann Verkäufer mit festem Gehalt, wurde schließlich in das Vertrauen der Familie gezogen und nahm an ihren Vergnügungen teil, das alles tat er ganz geduldig, führte ein äußerst geregeltes Leben und sah in Geneviève ein ausgezeichnetes und ehrbares Geschäft. Die Gewissheit, sie eines Tages zu besitzen, ließ kein Verlangen nach ihr in ihm aufkommen. Und auch das junge Mädchen hatte sich daran gewöhnt, ihn zu lieben, jedoch mit der Ernsthaftigkeit ihrer verschlossenen Natur und mit einer tiefen Leidenschaft, die ihr selber in ihrem einförmigen und geordneten täglichen Leben nicht bewusst wurde.

»Wenn man Gefallen aneinander findet und die Möglichkeit hat«, glaubte Denise lächelnd sagen zu sollen, um sich liebenswürdig zu erweisen.

»Ja, darauf läuft es am Ende immer hinaus«, erklärte Colomban, der noch kein Wort von sich gegeben, sondern nur langsam gekaut hatte.

Nachdem ihm Geneviève einen langen Blick zugeworfen, sagte nun sie: »Man muss einander nur verstehen, dann ist alles ganz einfach.«

Ihre gegenseitige Zuneigung war in diesem Erdgeschoss im alten Paris herangewachsen. Sie war gleichsam eine Kellerblüte. Seit zehn Jahren kannte Geneviève nur ihn, verbrachte alle Tage in seiner Nähe, hinter den gleichen Stoffstapeln, in der Finsternis des Ladens; und mittags und abends fanden sich beide wieder Seite an Seite in dem engen Esszimmer, wo es kühl wie in einem Brunnen war. Draußen im Freien, unter dichtem Laub, wären sie nicht verborgener, nicht mehr sich selber überlassen gewesen. Nur ein Zweifel, eine eifersüchtige Angst konnte dem jungen Mädchen zu der Erkenntnis verhelfen, dass ihr unausgefülltes Herz und ihr unbeschäftigter Kopf sie dahin gebracht hatten, sich in diesem mitschuldigen Dunkel auf immer zu verschenken. Denise jedoch hatte geglaubt, in dem Blick, den Geneviève Colomban zuwarf, eine aufkommende Besorgnis zu bemerken. Daher erwiderte sie gefällig: »Bah, wenn man sich liebt, versteht man einander immer.« Baudu aber überwachte streng die Tafel. Er hatte kleine keilförmige Stückchen Briekäse verteilt, und um seine Verwandten zu ehren, verlangte er einen zweiten Nachtisch, eine Schüssel eingemachter Johannisbeeren, eine Freigebigkeit, über die sich Colomban zu wundern schien. Pépé, der bis dahin sehr artig gewesen war, betrug sich angesichts des Eingemachten schlecht. Jean, dessen Interesse durch das Gespräch über die Heirat geweckt worden war, musterte nun seine Kusine Geneviève, die er zu schlaff, zu bleich fand und im Stillen mit einem kleinen weißen Kaninchen mit schwarzen Ohren und roten Augen verglich.

»Genug geschwätzt, jetzt müssen wir den anderen Platz machen! « beendete der Tuchhändler die Unterhaltung und gab damit das Zeichen, vom Tisch aufzustehen. »Wenn man sich mal was Besonderes gönnt, ist das noch kein Grund, in allem das Maß zu überschreiten.«

Jetzt nahmen Madame Baudu, der Zweite Kommis und das Fräulein am Tisch Platz. Abermals blieb Denise allein, saß unweit der Tür und wartete darauf, dass ihr Onkel sie zu Vinçard bringen konnte. Pépé spielte zu ihren Füßen. Jean hatte wieder seinen Beobachtungsposten auf der Schwelle eingenommen. Und fast eine Stunde lang verfolgte sie aufmerksam alles, was um sie her vorging. Dann und wann kamen Kundinnen: zunächst erschien eine Dame, dann zwei andere. Der Laden behielt seinen muffigen Geruch, sein Halbdunkel, in dem der gesamte biedere und schlichte Handel der alten Zeit seine Hilflosigkeit zu beweinen schien. Doch das »Paradies der Damen« auf der anderen Seite der Straße, dessen Schaufenster Denise durch die offene Tür sah, begeisterte sie. Der Himmel blieb bedeckt, ein sanfter Regen hatte die Luft trotz der Jahreszeit lind gemacht; und in dem bleichen Tageslicht, das von zerstreutem Sonnenstaub durchsetzt zu sein schien, ging es in dem großen Modewarenhaus bei vollem Verkaufsbetrieb lebhaft zu.

Da hatte Denise das Gefühl, eine mit Hochdruck arbeitende Maschine vor sich zu sehen, deren Schwung sich noch den Auslagen mitteilte. Das waren nicht mehr die kühlen Schaufenster des Vormittags; jetzt schienen sie von der Erschütterung dort drinnen erwärmt zu werden und zu vibrieren. Zahllose Leute betrachteten sie, Frauen blieben stehen und drängten sich vor den Scheiben, eine vor Begehrlichkeit rücksichtslose Menge. Und durch diese Begeisterung auf dem Bürgersteig wurden die Stoffe lebendig: ein Beben durchlief die Spitzen, auf eine verwirrende geheimnisvolle Art hingen sie herab und verbargen die Tiefen des Ladens; sogar die dicken, massigen Tuchballen atmeten, sandten einen verführerischen Hauch aus, indes sich die Paletots stärker auf den Schaufensterpuppen wölbten, die gleichsam beseelt wurden, und sich der großartige Samtmantel auf blähte, schmiegsam und warm, als läge er über Schultern aus Fleisch, einem wogenden Busen und erschauernden Hüften. Doch dass das Haus von einer Hitze wie in einem Hüttenwerk flammte, kam vor allem vom Verkauf, von dem Gedränge an den Ladentischen, das man durch die Mauern hindurch spürte. Da war das ununterbrochene Schnauben der in Gang befindlichen Maschine, ein Verheizen von Kunden, die sich vor den Abteilungen stauten, angesichts der Waren jegliche Besonnenheit verloren und dann der Kasse zum Fraß vorgeworfen wurden. Und das alles mit mechanischer Genauigkeit geregelt und organisiert, wodurch ein ganzes Heer von Frauen der Kraft und Folgerichtigkeit des Räderwerks verfiel.

Denise fühlte sich schon seit dem Vormittag der Versuchung ausgesetzt. Dieses für ihre Begriffe so riesige Geschäftshaus, in das sie binnen einer Stunde mehr Leute eintreten sah, als in sechs Monaten zu Cornaille zu kommen pflegten, machte sie schwindlig und zog sie zugleich an, und ihrem Verlangen, sich dort Eingang zu verschaffen, war eine unbestimmte Furcht beigemischt, die sie vollends verführte. Gleichzeitig verursachte ihr der Laden ihres Onkels ein Gefühl des Unbehagens. Es war eine aus keinem vernünftigen Grund erwachsene Geringschätzung, ein instinktiver Widerwille gegen diese Eishöhle des althergebrachten Handels. All ihre Eindrücke, ihre Ankunft voller Bangen, der säuerliche Empfang seitens ihrer Verwandten, das trübselige Mittagessen bei Kerkerlicht, das Warten in der Schläfrigkeit dieses alten, im Sterben liegenden Hauses, wirkten zusammen zu einem stummen Protest, einem leidenschaftlichen Verlangen nach Leben und Licht. Und trotz ihres guten Herzens kehrten ihre Augen immer wieder zum »Paradies der Damen« zurück, als verspüre die Verkäuferin in ihr das Bedürfnis, sich an der Glut dieses großartigen Verkaufs aufzuwärmen. »Die da haben wenigstens viele Kunden!« entfuhr es ihr. Doch sie bedauerte diesen Ausspruch, als sie die Baudus neben sich bemerkte. Madame Baudu, die mit dem Essen fertig war, stand totenbleich da, die farblosen Augen fest auf das Ungeheuer gerichtet; und in ihrer Resigniertheit konnte sie es nicht sehen, es nicht auf der anderen Seite der Straße vorfinden, ohne dass stumme Verzweiflung ihr Tränen in die Augen trieb. Geneviève aber überwachte mit wachsender Unruhe Colomban, der, da er sich unbeobachtet glaubte, immerzu verzückt zu den Konfektionsverkäuferinnen hinaufschaute, deren Abteilung man hinter den Scheiben des Zwischenstocks wahrnahm; Baudu beschränkte sich darauf, mit galliger Miene zu sagen: »Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Nur Geduld!«

Die ganze Familie schluckte offensichtlich die Flut von Groll herunter, die ihr in die Kehle stieg. Ein Sinn für Selbstachtung hinderte sie daran, sich diesen erst am Morgen angekommenen Kindern so rasch offen mitzuteilen. Endlich gab sich der Tuchhändler einen Ruck, wandte sich ab, um sich von dem Schauspiel des Verkaufstreibens gegenüber loszureißen.

»Nun gut«, sagte er, »sehen wir uns bei Vinçard um. Man reißt sich um Stellungen, morgen wäre es vielleicht zu spät.« Aber bevor sie fortgingen, beauftragte er den Zweiten Kommis, Denises Koffer vom Bahnhof zu holen. Madame Baudu hingegen, der das junge Mädchen Pépé anvertraute, beschloss, einen freien Augenblick zu benutzen, um den Kleinen in die Rue des Orties zu Madame Gras mitzunehmen, mit dieser zu reden und alles zu vereinbaren. Jean versprach seiner Schwester, sich nicht aus dem Laden zu rühren.

»Wir sind in zwei Minuten dort«, erklärte Baudu seiner Nichte, während er mit ihr die Rue Gaillon hinunterging. »Vinçard hat ein Spezialgeschäft für Seidenstoffe gegründet, das noch immer etwas abwirft. Oh, er hat es schwer, wie alle, aber er ist ein pfiffiger Kerl, dem es durch seinen filzigen Geiz gelingt, sein Auskommen zu finden … Ich glaube allerdings, er will sich wegen seines Rheumatismus zur Ruhe setzen.« Der Laden lag in der Rue Neuve-des-Petits-Champs, in der Nähe der Passage Choiseul. Er war sauber und hell, mit ganz modernem Luxus ausgestattet, jedoch klein und nur dürftig mit Waren versehen. Baudu und Denise trafen Vinçard in einer wichtigen Unterredung mit zwei Herren an. »Lassen Sie sich nicht stören«, rief der Tuchhändler. »Wir haben es nicht eilig, wir werden warten.« Und nachdem er taktvoll in die Nähe der Tür zurückgekehrt war, beugte er sich zu dem jungen Mädchen hinab und flüsterte ihr ins Ohr: »Der Dünne ist Zweiter Vorsteher der Seidenabteilang im ›Paradies‹, und der Dicke ist ein Fabrikant aus Lyon.« Denise begriff, dass Vinçard sein Geschäft Robineau, dem Kommis aus dem »Paradies der Damen«, aufschwatzen wollte. In unbefangener Haltung, einen Ausdruck von Offenheit im Gesicht, gab er sein Ehrenwort mit der Leichtigkeit eines Mannes, den Eide nicht drücken. Seiner Aussage nach war seine Firma eine Goldgrube; und während er von Gesundheit strotzte, unterbrach er sich, um zu ächzen, über seine verflixten Schmerzen zu klagen, die ihn zwängen, auf sein Glück zu verzichten.

Doch der nervöse und bedrängte Robineau fiel ihm ungeduldig ins Wort; er kannte die Krise, die der Modewarenhandel gerade durchmachte, er nannte ein Seidenspezialgeschäft, das bereits durch die Nachbarschaft des »Paradieses« zugrunde gerichtet worden war.

In Hitze geraten, sprach Vinçard jetzt lauter.

»Weiß Gott, die Pleite dieses großen Gimpels Vabre war unvermeidlich. Seine Frau hat alles durchgebracht … Außerdem sind wir hier mehr als fünfhundert Meter entfernt, während sich Vabre Tür an Tür mit dem andern befand.«

Nun mischte sich Gaujean, der Seidenfabrikant, ein. Die Stimmen wurden wieder leiser. Er beschuldigte die großen Warenhäuser, sie ruinierten die französische Fabrikation; drei oder vier schrieben ihr die Gesetze vor, beherrschten als Gebieter den Markt, und er ließ durchblicken, dass die einzig richtige Art, sie zu bekämpfen, die Begünstigung des Kleinhandels sei, vor allem der Spezialgeschäfte, denen die Zukunft gehöre. Daher biete er Robineau sehr weitgehende Kredite an.

»Bedenken Sie doch, wie sich das ›Paradies‹ Ihnen gegenüber benommen hat! « sagte er wiederholt. »Da werden geleistete Dienste nicht angerechnet, das sind nur Maschinen zur Ausbeutung der Leute! – Schon lange war Ihnen der Posten als Erster Abteilungsvorsteher versprochen, Bouthemont indes, der neu hineinkam und keinerlei Anrecht hatte, erhielt ihn sofort.«

Die Wunde, die diese Ungerechtigkeit Robineau geschlagen hatte, war noch frisch. Dennoch zögerte er, sich selbständig zu machen, er erklärte, die Mittel dafür stammten nicht von ihm; seine Frau habe sechzigtausend Francs geerbt, und er steckte voller Bedenken hinsichtlich dieses Geldes, lieber, sagte er, würde er sich sofort beide Hände abhacken, als es in schlechten Geschäften aufs Spiel setzen. »Nein, ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte er endlich abschließend. »Lassen Sie mir Zeit zum Überlegen, wir sprechen noch mal darüber.«

»Wie Sie wünschen«, erwiderte Vinçard, der seine Enttäuschung unter einer Biedermannsmiene verbarg. »In meinem Interesse liegt es nicht, zu verkaufen. Ich sage Ihnen, wenn meine Schmerzen nicht wären …« Und in die Mitte des Ladens zurückkehrend, fragte er: »Womit kann ich Ihnen dienen, Monsieur Baudu?«

Der Tuchhändler, der mit einem Ohr gelauscht hatte, stellte Denise vor, erzählte aus ihrem Lebenslauf, was ihm passte, sagte, sie habe zwei Jahre in der Provinz gearbeitet.

»Und da Sie, wie man mir berichtete, eine gute Verkäuferin suchen …«

Vinçard heuchelte lebhaftes Bedauern.

»Oh, das ist aber ein arges Pech! Tatsächlich habe ich acht Tage lang eine Verkäuferin gesucht. Aber nun habe ich gerade, es ist noch keine zwei Stunden her, eine eingestellt.« Alle schwiegen. Denise schien bestürzt zu sein, da erlaubte sich Robineau, der sie, zweifellos durch ihr armseliges Aussehen zu Mitleid bewegt, teilnahmsvoll betrachtet hatte, einen Hinweis.

»Ich weiß, dass man bei uns jemanden in der Konfektionsabteilung braucht.«

Baudu vermochte nicht, den ihm aus tiefstem Herzen kommenden Ausruf zurückzuhalten: »Bei Ihnen! Ah, nein, das fehlte gerade!« Dann stand er verlegen da.

Denise war ganz rot geworden: nie würde sie sich getraut haben, eine Stellung in diesem großen Modewarenhaus anzutreten! Und die Vorstellung, dorthin zu gelangen, erfüllte sie mit Stolz.

»Warum denn?« fragte Robineau erstaunt. »Das wäre im Gegenteil ein Glücksfall für das Fräulein … Ich rate ihr, sich morgen früh bei Madame Aurélie, der Direktrice, vorzustellen. Das Schlimmste, das ihr passieren kann, ist, dass man sie nicht nimmt.«

Um seinen inneren Aufruhr zu verbergen, stürzte sich der Tuchhändler in leere Redensarten: er kenne Madame Aurélie oder wenigstens deren Mann, Lhomme, den Kassierer, einen dicken Kerl, dem ein Omnibus den rechten Arm abgefahren habe. Dann kam er plötzlich auf Denise zurück: »Übrigens ist das ihre Angelegenheit, nicht meine … Sie kann tun, was sie will.« Und nachdem er sich vor Gaujean und Robineau verbeugt hatte, ging er hinaus.

Vinçard begleitete ihn bis zur Tür und sprach dabei erneut sein Bedauern aus.

Das junge Mädchen war verschüchtert im Laden stehen geblieben, sie wollte so gern von dem Kommis genauere Auskünfte erhalten. Doch sie wagte nicht, ihn darum zu bitten, sie verbeugte sich ebenfalls und sagte nur: »Besten Dank, Monsieur.«

Auf der Straße sprach Baudu kein Wort zu seiner Nichte. Wie von seinen Überlegungen gejagt, ging er so schnell, dass Denise laufen musste. In der Rue de la Michodière wollte er gerade sein Haus betreten, als ihn ein benachbarter Kleinhändler, der an seiner Tür stand, herbeiwinkte. Denise verhielt den Schritt, um auf ihn zu warten.

»Was gibt’s denn, Vater Bourras?« fragte der Tuchhändler. Bourras war ein hochgewachsener alter Mann mit einem Prophetenkopf, langem Haar und Bart, stechenden Augen unter dicken, struppigen Brauen. Er handelte mit Stöcken und Schirmen, machte Ausbesserungen, schnitzte sogar Griffe, was ihm in diesem Stadtviertel den Ruf eines Künstlers eingebracht hatte.

Denise warf einen Blick auf die Schaufenster seines Ladens, wo Schirme und Stöcke in regelmäßigen Reihen aufgestellt waren. Doch als sie die Augen hob, überraschte das Haus sie mehr als alles andere: ein baufälliges Häuschen, eingezwängt zwischen dem »Paradies der Damen« und einem großen vornehmen Privatbau im Louis-quatorze-Stil, auf unbegreifliche Weise in diesen engen Spalt geraten, in dem seine zwei niedrigen Stockwerke fast erdrückt wurden. Ohne die Stützen von rechts und links wäre es zusammengefallen mit seinen hässlichen, verkommenen Dachschiefern, seiner zweifenstrigen Fassade, über die sich gleich Narben Risse hinzogen, daraus lange Schmutzbahnen auf die halbzerfressene Holztafel des Firmenschildes herabflossen. »Hören Sie, er hat dem Besitzer meines Hauses geschrieben, er wolle es kaufen«, sagte Bourras, die flammenden Augen starr auf den Tuchhändler gerichtet.

Baudu wurde noch bleicher und ließ die Schultern hängen. Eine Weile standen die beiden Männer schweigend und mit undurchdringlichen Mienen einander gegenüber.

»Man muss auf alles gefasst sein«, murmelte Baudu schließlich. Da brauste der Alte auf, schüttelte die Haare und seinen wallenden Bart.

»Mag er das Haus kaufen, er wird das Vierfache seines Wertes bezahlen … Aber das schwöre ich Ihnen: solange ich lebe, wird er keinen Stein davon bekommen. Mein Vertrag läuft noch zwölf Jahre … Wir werden schon sehen, wir werden sehen!« Das war eine Kriegserklärung. Bourras drehte sich nach dem »Paradies der Damen« um, das keiner der beiden erwähnt hatte.

Einen Augenblick lang nickte Baudu schweigend, dann überquerte er mit wankenden Schritten die Straße, wobei er nur immer wiederholte: »Oh, mein Gott! – Oh, mein Gott!«

Denise, die alles gehört hatte, folgte ihrem Onkel. Gerade kam auch Madame Baudu mit Pépé zurück, und sofort berichtete sie, dass Madame Gras bereit sei, das Kind aufzunehmen, wann immer man wünsche. Jean aber war verschwunden, das beunruhigte seine Schwester. Als er mit froh belebtem Gesicht wiederkam und begeistert vom Boulevard erzählte, sah sie ihn traurig an, so dass er errötete. Man hatte ihren Koffer gebracht, sie sollten oben in einer Dachkammer schlafen.

»Ja so, wie war’s denn bei Vinçard?« fragte Madame Baudu. Der Tuchhändler erzählte von dem vergeblichen Gang, fügte dann hinzu, man habe ihrer Nichte eine Stellung nachgewiesen; und mit einer Gebärde der Verachtung den Arm in Richtung des »Paradieses der Damen« ausstreckend, stieß er hervor: »Sieh mal an, dort drüben!«

Die ganze Familie fühlte sich dadurch gekränkt. Nachmittags wurde zum ersten Mal um fünf Uhr angerichtet. Denise und die beiden Kinder nahmen wieder zusammen mit Baudu, Geneviève und Colomban ihre Plätze ein. Eine Gasflamme erhellte das kleine Esszimmer, wo die Luft schwer war vom Geruch der Speisen. Die Mahlzeit verlief schweigend. Beim Nachtisch aber kam Madame Baudu, die es nie lange am selben Platz aushielt, aus dem Laden und setzte sich hinter ihre Nichte. Und dann ergoss sich der seit dem Morgen gestaute Strom, alle machten ihrem Herzen Luft, indem sie auf das Ungeheuer losschlugen.

»Es ist deine eigene Angelegenheit, du kannst tun, was du willst«, wiederholte Baudu zunächst. »Wir wollen dich nicht beeinflussen … Aber wenn du wüsstest, was das für eine Firma ist!«

In abgerissenen Sätzen erzählte er die Geschichte dieses Octave Mouret. In allem habe er Glück gehabt! Als junger Bursche sei er mit der liebenswürdigen Verwegenheit eines Abenteurers aus Südfrankreich gekommen; und vom nächsten Tag an Weibergeschichten, ein fortgesetztes Ausnutzen der Frau, dann ertappte man ihn auf frischer Tat und es gab einen Skandal, von dem noch heute das ganze Stadtviertel spreche; später die plötzliche und unerklärliche Eroberung Madame Hédouins, die ihm das »Paradies der Damen« zugebracht habe.

»Die arme Caroline!« unterbrach ihn Madame Baudu. »Sie war weitläufig mit mir verwandt. Ach, wenn sie am Leben geblieben wäre, hätten die Dinge einen anderen Lauf genommen. Sie würde nicht zulassen, dass man uns umbringt … Und er selber hat sie getötet. Ja, durch seine Bauerei! Eines Vormittags ist sie, als sie die Arbeiten besichtigte, in eine Grube gefallen. Drei Tage darauf war sie tot. Sie, der niemals etwas gefehlt hat, die so gesund war, so schön! – Blut von ihr klebt an den Steinen jenes Hauses.« Durch die Mauern hindurch wies sie mit ihrer bleichen und bebenden Hand auf das große Modewarenhaus.

Denise, die der Geschichte mit Staunen gelauscht hatte, überlief ein kalter Schauer. Die Furcht, die seit dem Morgen tief in der auf sie einwirkenden Verlockung lag, rührte vielleicht vom Blut dieser Frau her, das sie jetzt in dem roten Verputz des Kellergeschosses zu sehen glaubte.

»Man könnte fast meinen, das bringe ihm Glück«, fügte Madame Baudu hinzu, ohne Mouret zu nennen.

Doch der Tuchhändler zuckte voll Verachtung für solche Ammenmärchen mit den Schultern. Er nahm seinen Bericht wieder auf, erläuterte kaufmännisch die Lage. Das »Paradies der Damen« sei 1822 von den Brüdern Deleuze gegründet worden. Nach dem Tode des älteren habe sich dessen Tochter, Caroline, mit Charles Hédouin, dem Sohn eines Leinwandfabrikanten, verheiratet, und als sie später Witwe geworden, habe sie diesen Mouret geehelicht. Sie habe ihm also die Hälfte des Geschäfts mit in die Ehe gebracht. Drei Monate nach der Hochzeit sei auch der kinderlose Onkel Deleuze gestorben, so dass, da Caroline ihr Leben in den Grundmauern gelassen hatte, dieser Mouret der einzige Erbe geblieben sei, Alleinbesitzer des »Paradieses«. Immer Glück gehabt!

»Ein Mann mit Einfällen, ein gefährlicher Wirrkopf, der noch das ganze Stadtviertel auf den Kopf stellen wird, wenn man ihn gewähren lässt!« fuhr Baudu fort. »Ich glaube, Caroline, die ja auch etwas romantisch war, hat sich wohl von den überspannten Plänen dieses Herrn gefangen nehmen lassen … Kurz, er hat sie bewogen, das Haus zur Linken zu kaufen, dann das Haus zur Rechten; und als er später allein war, hat er selber zwei weitere gekauft; so ist das Geschäft größer und immer noch größer geworden, und jetzt droht es, uns alle zu verschlingen.«

Er richtete seine Worte an Denise, sprach aber eigentlich zu sich selber, käute in einem fieberhaften Drang, sich freizusprechen, diese Geschichte wieder, die ihn förmlich verfolgte. Er war der Zornigste der Familie, der Ungestüme mit stets geballten Fäusten.

Madame Baudu mischte sich nicht mehr ein, regungslos saß sie auf ihrem Stuhl; Geneviève und Colomban hielten den Blick gesenkt, strichen zerstreut Brotkrumen zusammen und aßen sie. Es war so heiß, so stickig in dem kleinen Raum, dass Pépé, den Kopf auf dem Tisch, eingeschlafen war und sogar Jean die Augen zufielen.

»Nur Geduld!« begann Baudu wieder, von plötzlichem Zorn gepackt. »Die Großtuer werden sich schon das Genick brechen! Bei Mouret kriselt es jetzt, das weiß ich. Er hat seinen ganzen Gewinn in seine unsinnigen Vergrößerungen und seine törichte Reklame stecken müssen. Außerdem ist er, um zu Kapital zu kommen, darauf verfallen, die meisten seiner Angestellten dazu zu überreden, ihr Geld bei ihm anzulegen. Er hat also jetzt keinen Sou, und wenn nicht ein Wunder geschieht, wenn es ihm nicht gelingt, den Absatz, wie er hofft, zu verdreifachen, werdet ihr sehen, was für eine Pleite das gibt! – Oh, ich bin nicht schadenfroh, aber an dem Tag illuminiere ich, mein Wort darauf!« Mit den Worten eines Rächers redete er weiter; man hätte meinen können, durch den Zusammenbruch des »Paradieses der Damen« würde das Ansehen des entehrten Handels wiederhergestellt. Habe es jemals so etwas gegeben, ein Modewarenhaus, in dem nahezu alles verkauft wurde! Ein Basar! Auch das Personal sei reizend: ein Haufen Süßholzraspler, die wie auf einem Güterbahnhof zu Werk gingen, Waren und Kunden wie Pakete behandelten, eines Wortes wegen den Brotherrn im Stich ließen oder von ihm im Stich gelassen würden, ohne Anhänglichkeit, ohne Lebensart, ohne Fachkenntnis. Und plötzlich rief er Colomban zum Zeugen auf: er, Colomban, der eine gute Schule durchgemacht habe, wisse bestimmt, auf eine wie langsame, aber zuverlässige Art man sich die Schliche und Kniffe des Gewerbes aneigne. Die Kunst bestehe nicht darin, viel zu verkaufen, sondern darin, teuer zu verkaufen. Zudem könne er ja erzählen, wie man ihn behandelt habe, wie er in die Familie aufgenommen, gepflegt, wenn er erkrankte, bewaschen und bestopft, väterlich beaufsichtigt, kurz, geliebt worden sei! »Ganz gewiss«, wiederholte Colomban nach jedem Ausruf seines Chefs.

»Du bist der letzte, mein Bester«, versicherte Baudu schließlich gerührt. »Nach dir wird es solche nicht mehr geben … Du bist mein einziger Trost, denn wenn das, was man heute Handel nennt, ein solches Herumgestoße ist, dann verstehe ich nichts mehr davon und will lieber meiner Wege gehen.« Geneviève, den Kopf auf die Schulter geneigt, als laste ihr dichtes schwarzes Haar zu schwer auf ihrer Stirn, betrachtete aufmerksam den lächelnden Kommis; und in ihrem Blick lag Argwohn, der Wunsch zu sehen, ob Colomban bei solchen Lobsprüchen nicht, von Gewissensbissen gequält, erröten würde. Aber als ein in den Verstellungskünsten des alten Handels wohlgeübter Bursche bewahrte er seine gelassene Vierschrötigkeit, sein gutmütiges Aussehen trotz des Zuges von Gerissenheit um seinen Mund.

Baudu jedoch schrie immer lauter, bezichtigte diese Verkaufsausstellung da gegenüber, diese Wilden, die sich bei ihrem Kampf ums Dasein gegenseitig umbrächten, sie richteten damit das Familienleben zugrunde. Und als Beispiel führte er ihre Nachbarn auf dem Lande an, die Lhommes; Mutter, Vater und Sohn seien alle drei in der Knochenmühle angestellt, Leute ohne jeglichen Familiensinn, immer von Hause abwesend, nur sonntags äßen sie daheim, kurz, sie führten ein Hotel- und Speisehausleben! Gewiss, sein Esszimmer sei nicht groß, man könnte sogar wünschen, es hätte mehr Licht und Luft; aber wenigstens gehöre es zu seinem Dasein, hier habe er, umgeben von der Liebe der Seinen, sein Leben verbracht. Während er sprach, schweiften seine Blicke durch den kleinen Raum; und ein Zittern befiel ihn bei dem uneingestandenen Gedanken, die Wilden könnten ihn eines Tages, falls es ihnen gelänge, seine Firma abzuwürgen, aus dieser Höhle vertreiben, wo er so warm zwischen seiner Frau und seiner Tochter saß. Trotz der gespielten Sicherheit, mit der er den schließlichen Zusammenbruch ankündigte, war er innerlich von Angst erfüllt, fühlte deutlich, wie die anderen nach und nach das Stadtviertel an sich rissen, es verschlangen.

»Ich erzähle das nicht, um dir die Lust zu nehmen«, begann er wieder, bemüht, ruhig zu bleiben. »Wenn es in deinem Interesse liegt, dort anzufangen, bin ich der erste, der sagt: fange dort an!«

»Das will ich gern glauben, lieber Onkel«, murmelte wie betäubt Denise, deren Verlangen, im »Paradies der Damen« zu arbeiten, bei diesem ganzen leidenschaftlichen Ausbruch nur immer stärker geworden war.

Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, sein unverwandt auf sie gerichteter Blick wurde ihr lästig.

»Aber nun sag du mir mal, die du ja vom Fach bist, ob es Sinn hat, dass ein einfaches Modewarengeschäft sich damit abgibt, wer weiß was alles zu verkaufen. Früher, als es noch einen ehrlichen Handel gab, verstand man unter Modewaren Stoffe, nichts sonst. Heute denken sie nur noch daran, wie sie auf Kosten der Nachbarn aufsteigen und alles an sich bringen können … Eben das ist es, worüber das Stadtviertel sich beklagt, denn die kleinen Läden leiden allmählich furchtbar darunter. Dieser Mouret ruiniert sie … Bedenke, Geschwister Bédoré, das Wirkwarengeschäft in der Rue Gaillon, hat schon die Hälfte seiner Kundschaft verloren. Bei Mademoiselle Tatin, der Wäschehändlerin in der Passage Choiseul, ist man bereits soweit, die Preise herabzusetzen, durch Billigkeit zu konkurrieren. Und die Wirkung dieser Geißel, dieser Pest, macht sich bis in die Rue Neuve-des-Petits-Champs bemerkbar, wo, wie man mir erzählt hat, die Herren Gebrüder Vanpouilles, die Rauchwarenhändler, der Konkurrenz nicht standzuhalten vermochten … Kattunhändler, die Pelzwaren verkaufen, das ist denn doch zu sonderbar, nicht? Auch so eine von Mourets Ideen!«

»Und die Handschuhe«, sagte Madame Baudu. »Ist das nicht entsetzlich? Er hat sich erkühnt, eine Handschuhabteilung einzurichten! – Als ich gestern durch die Rue Neuve-Saint-Augustin ging, stand Quinette mit einer so traurigen Miene in ihrer Tür, dass ich sie nicht fragen mochte, ob das Geschäft gut gehe.«

»Und die Schirme«, fing Baudu wieder an. »Das ist der Gipfel! Bourras ist überzeugt, dass Mouret ihn einfach vernichten wollte; denn wie reimt sich das schließlich zusammen, Schirme und Stoffe? – Aber Bourras kann was aushalten, der wird sich nicht abwürgen lassen. Eines Tages werden wir lachen.« Er sprach von anderen Kaufleuten, ließ das ganze Stadtviertel Revue passieren. Mitunter entschlüpfte ihm ein Geständnis: wenn Vinçard zu verkaufen bestrebt sei, bleibe ihnen allen nichts weiter übrig, als ihr Bündel zu schnüren, denn Vinçard sei wie die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen. Gleich darauf widersprach er sich selber, er träumte von einer Vereinigung, einem Zusammenschluss der kleinen Einzelhändler, um dem Koloss die Stirn zu bieten. Seit einem Weilchen zögerte er, von sich selber zu sprechen, seine Hände waren in ständiger Bewegung, ein nervöses Zucken verzerrte seinen Mund. Dann entschloss er sich.

»Ich kann mich einstweilen noch nicht zu sehr beklagen. Oh, er hat mich geschädigt, der Schuft! Aber noch führt er nur Damentuche, leichte Stoffe für Kleider und schwerere für Mäntel. Die Herrenartikel kauft man noch immer bei mir, den Samt für Jagdanzüge, die Livreen, nicht zu reden von Flanell und Molton, worin er wohl kaum so vollständig assortiert ist … nur schikaniert er mich, glaubt, ich vergehe vor Angst, weil er da drüben seinen Tuchrayon aufgemacht hat. Du hast seine Auslage gesehen, nicht wahr? Immer baut er dort seine schönsten Konfektionsartikel auf, umrahmt von Tuchballen, die reine Jahrmarktsparade, um die Frauenzimmer anzulocken … Auf Ehre! Ich würde schamrot werden, wenn ich solche Mittel anwendete. Seit fast hundert Jahren ist das ›Vieil Elbeuf‹ bekannt, an seiner Tür bedarf es keiner so groben Fallen. Solange ich lebe, bleibt der Laden so, wie ich ihn übernommen habe, mit seinen vier Musterstücken rechts und links, mehr nicht!«

Seine Erregung übertrug sich auf die ganze Familie. Nach einem kurzen Schweigen erlaubte sich Geneviève, das Wort zu ergreifen.

»Unsere Kundschaft ist uns zugetan, Papa. Man muss hoffen … Noch heute sind Madame Desforges und Madame de Boves hier gewesen. Ich erwarte Madame Marty wegen Flanell.«

»Ich«, erklärte Colomban, »habe gestern einen Auftrag von Madame Bourdelais bekommen. Allerdings hat sie mir von einem englischen Cheviot gesprochen, der gegenüber zehn Sous billiger ausgezeichnet sei, anscheinend der gleiche wie unserer.«

»Und wenn man denkt«, murmelte Madame Baudu mit ihrer kraftlosen Stimme vor sich hin, »dass wir jenes Haus dort gekannt haben, als es noch nicht größer war als ein Taschentuch! Tatsächlich, meine liebe Denise, als die Deleuzes es gründeten, hatte es nur ein einziges Schaufenster nach der Rue Neuve-Saint-Augustin, fast nur ein Wandschrank war das, in dem kaum zwei Stücke Indienne und drei Stücke Kattun Platz fanden. Im Laden konnte man sich nicht umdrehen, so klein war er … Zu jener Zeit war das ›Vieil Elbeuf‹, das schon seit mehr als sechzig Jahren bestand, bereits so, wie du es heute siehst … Ach, all das hat sich geändert, sehr geändert!« Sie schüttelte den Kopf, aus ihren langsamen Worten sprach das Drama ihres Lebens. Im »Vieil Elbeuf« geboren, liebte sie alles daran, sogar die feuchten Steine, sie lebte nur für dieses Haus und durch dieses Haus; und sie, die einstmals stolz auf dieses Haus, das leistungsfähigste, das gesuchteste des Viertels, gewesen war, hatte zu ihrem ständigen Kummer sehen müssen, wie die Konkurrenzfirma allmählich wuchs, wie die anfangs geringschätzig betrachtete zu gleicher Bedeutung gelangte, sie dann überflügelte, bedrohlich wurde. Das war für sie eine stets offene Wunde; die Demütigung des »Vieil Elbeuf« zehrte sie auf, zwar lebte sie noch dank der gleichen Triebkraft wie jenes, aber dabei fühlte sie deutlich, dass der Todeskampf des Ladens auch der ihre sein und dass sie an dem Tage erlöschen werde, an dem der Laden schließen müsse.

Schweigen herrschte. Baudu trommelte mit den Fingerspitzen den Zapfenstreich auf dem Wachstuch. Es war ihm unangenehm, ja er bereute es fast, dass er sich wieder einmal so Luft gemacht hatte. In dieser Niedergeschlagenheit fuhr übrigens die ganze Familie, den Blick ins Leere gerichtet, fort, in den Bitternissen ihrer Lebensgeschichte zu wühlen. Niemals hatte ihnen das Glück gelächelt. Als die Kinder großgezogen, als sie zu Vermögen gekommen waren, führte plötzlich die Konkurrenz den Untergang herbei. Und dazu kam noch das Haus in Rambouillet, jenes Landhaus, von dem der Tuchhändler schon seit zehn Jahren als von seinem Ruhesitz träumte, ein Gelegenheitskauf, wie er sagte, ein uraltes Gebäude, an dem er unausgesetzt Reparaturen vornehmen lassen musste, das zu vermieten er sich dann entschlossen hatte und dessen Mieter ihn überhaupt nicht bezahlten. Alles, was er verdiente, ging dort drauf; in seiner peinlichen Rechtschaffenheit zäh an den alten Bräuchen festhaltend, hatte er nur diese eine Schwäche gehabt. »Jetzt müssen wir aber die anderen an den Tisch lassen«, erklärte er plötzlich. »Das ist alles unnützes Gerede!«

Es war wie ein Erwachen. Die Gasflamme zischte in der toten, heißen Luft des Zimmers. Alle standen mit einem Ruck auf, das traurige Schweigen war gebrochen. Pépé jedoch schlief so fest, dass man ihn auf einen Moltonballen legte. Jean, der sich langweilte, war bereits an die Tür zur Straße zurückgekehrt.

»Und, um damit zu Ende zu kommen, du sollst es so machen, wie du magst«, sagte Baudu abermals zu seiner Nichte. »Wir erzählen dir, wie die Dinge stehen, weiter nichts … Aber was du tun willst, ist deine Sache.« In seinem Blick lag eine dringende Aufforderung, er erwartete eine entscheidende Antwort.

Denise, der diese Geschichten nur größere Begeisterung für das »Paradies der Damen« eingeflößt hatten, statt sie abzuschrecken, bewahrte ihre ruhige sanfte Miene, hinter der sich die zähe Willenskraft der Normannin verbarg. Sie begnügte sich damit, zu antworten: »Wir werden schon sehen, Onkel.«

Und sie sprach davon, dass sie früh hinaufgehen und sich mit den Kindern schlafen legen möchte, denn sie seien alle sehr müde. Aber es hatte gerade erst sechs geschlagen, sie wollte gern noch ein Weilchen im Laden bleiben. Es war dunkel geworden, nun lag die Straße düster da, nass von einem feinen und dichten Regen, der seit Sonnenuntergang fiel. Das überraschte Denise: eine ganz kurze Zeitspanne war vergangen, und schon standen überall Pfützen auf dem Fahrdamm, in den Gossen floss schmutziges Wasser, eine dicke Kotschicht, von vielen Füßen festgestampft, klebte auf den Bürgersteigen; und unter dem strömenden Guss sah man nichts als das wirre Vorbeiwandern der Schirme, die aneinander stießen, sich blähten und in der Finsternis großen dunklen Flügeln glichen. Zuerst wich sie frierend zurück, das Herz krampfte sich ihr noch mehr zusammen, in dem schlecht beleuchteten Laden, der jetzt wie von Trauer erfüllt wirkte. Ein feuchter Hauch, der Atem dieses alten Stadtviertels, drang von der Straße herein; es war, als rinne das Wassergeriesel von den Schirmen bis zu den Ladentischen, als käme das Pflaster mit seinem Schmutz und seinen Pfützen herein, überzöge das alte, von Salpeter weiße Erdgeschoss vollends mit Schimmel. Es war eine Vision des alten, feuchten Paris, bei der sie ein Zittern befiel, zugleich mit einem schmerzlichen Staunen darüber, dass die große Stadt so eisig und so hässlich war. Jenseits des Fahrdamms aber zündete das »Paradies der Damen« die langen Reihen seiner Gaslampen an. Und sie ging wieder näher heran, erneut angezogen und gleichsam erwärmt von dieser Stätte glühenden Lichts. Die Maschine war noch immer in Betrieb, schnaufte noch immer und ließ mit einem letzten dumpfen Grollen ihren Dampf entweichen, während die Verkäufer die Stoffe zusammenlegten und die Kassierer die Tageseinnahme zusammenzählten. Durch die von Dunst beschlagenen Scheiben sah man eine verschwimmende Fülle von Lichtern, gleichsam das unklar erkennbare Innere einer Fabrik. Hinter dem Vorhang des herabströmenden Regens glich diese ferne, undeutliche Erscheinung einem riesigen Heizraum, wo man die schwarzen Schatten der Heizer vor dem roten Feuer der Kessel vorbeihuschen sah. An den Schaufensterscheiben lief das Wasser herunter, man konnte drüben nur noch den Schnee der Spitzen erkennen, deren Weiß durch die matt geschliffenen Glocken einer am unteren Rand angebrachten Reihe von Gaslampen noch leuchtender wurde; und auf diesem Kapellenhintergrund hoben sich kräftig die Konfektionswaren ab, wirkte der großartige silberfuchsbesetzte Samtmantel wie die geschwungene Seitenansicht einer Frau ohne Kopf, die durch den Regenguss zu irgendeinem Fest in die unbekannte Finsternis von Paris eilte.