Das Phantom - Thibault Raisse - E-Book

Das Phantom E-Book

Thibault Raisse

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Cleveland im Bundesstaat Ohio, 2002. Joseph Chandler wird tot in seinem Badezimmer gefun­den. Alles deutet auf Selbstmord hin. Die sparta­nisch eingerichtete Einzimmerwohnung ist von innen verschlossen, ein Revolver liegt neben dem stark verwesten Körper. Die Blutspritzer auf dem Waschbecken lassen vermuten, dass der Sechzig­jährige sich beim Schuss in den Kopf in die Augen geschaut hat. Zunächst wirkt der Fall wie reine Routine, tragisch zwar, aber schnell zu den Akten gelegt. Doch Chandler wird den Ermittler*innen noch Rätsel aufgeben: Weder in seiner Wohnung noch an seinem Auto wird auch nur ein einziger Fingerabdruck gefunden. Warum achtete er so akribisch darauf, keine Spuren zu hinterlassen? Die Nachbarn haben fast nichts über den Rentner zu berichten, wortkarg und sonderbar soll er gewesen sein, zurückgezogen gelebt haben. Ein Privatdetektiv stößt bei der Suche nach Angehö­rigen auf ein jahrzehntealtes Geheimnis: Joseph Chandler ist schon 1945 gestorben. Der Mann im Badezimmer hatte seine Identität gestohlen. Wer war der Tote wirklich? Und welcher dunk­len Vergangenheit versuchte er zu entfliehen?

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Seitenzahl: 151

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Teil 1Einmal leben, zweimal sterben

1

Ein Arbeitstag, der ohne Zwischenstopp bei Demarco’szu Ende geht, kann kein besonders guter sein. Die besten Donuts von Eastlake, wirbt das Plakat. Das Café auf dem Lake Shore Boulevard hat in dem Achtzehntausend-Seelen-Städtchen nur einen einzigen Konkurrenten – besonders weit lehnt man sich mit diesem Slogan also nicht aus dem Fenster. Dass Detective Chris Bowersock den Laden zu seinem Zufluchtsort erkoren hat und seinen täglichen Fettbedarf hier deckt, hängt aber weniger mit der Qualität der Süßspeisen zusammen als mit der unmittelbaren Nähe zum Police Department: Von dort muss man nur einmal die Kreuzung überqueren. Schon heute Morgen, bevor er sich in Zivil auf seinen Posten vor dem Haus eines Heroindealers begeben hat, den er seit Wochen beschattet, hat er sich hier seinen üblichen Kaffee mit extra viel Milch abgeholt. Den stellt ihm der Kellner inzwischen einfach hin, ohne noch nach seinen Wünschen zu fragen. Und jetzt steht er, kurz vor Schichtende wie immer, wieder vor der gekühlten Auslage, bevor er noch einmal im Büro vorbeischaut und den Papierkram des Tages erledigt.

»Extra viel Milch«, ruft der Kellner und schiebt dem Detective seinen gigantischen Becher zu.

Gerade als Bowersock danach greift, fängt das Walkie-Talkie in seiner linken Hand an zu knistern. »In den Dover Apartments wurde ein Toter gefunden«, rauscht die Stimme des 911-Operators aus dem Gerät.

Scheiße. Wird gegen Dienstschluss eine Leiche gefunden, selbst wenn es sich um den natürlichen Tod einer älteren Person handelt, bedeutet das immer Überstunden.

Chris schaut auf die Uhr: Es ist 15.34 Uhr.

Was für eine Zeit zum Sterben.

Den Stadtplan braucht Detective Bowersock nicht, er ist in Eastlake aufgewachsen. Schon lange bevor er hier zu einem Arm des Gesetzes wurde, kannte er jeden Hydranten der Stadt. Zu der Wohnanlage muss man den Lake Shore Boulevard nur achthundert Meter Richtung Westen fahren. Die Straße ist die Hauptschlagader entlang des Lake Erie, die alle Viertel der nördlich von Cleveland gelegenen Kleinstadt miteinander verbindet. Auf einem Fleckchen Rasen am Straßenrand weist ein Schild auf die Einfahrt hin: Dover Place Apartments.

Zwischen den zweihundertneunundzwanzig Fertigbauhäuschen kommt man sich vor wie auf einem Campingplatz mit luxuriösen mobile homes. Die Anzeigen im News Herald, der Tageszeitung von Lake County, schwärmen von »wundervollen Studios, Ein- oder Zweizimmerwohnungen in einer gepflegten Grünanlage«. Die Broschüre hält die Nähe zum See hoch – weniger als ein Kilometer –, die Freuden der Gemeinschaft, den Hausmeisterservice vor Ort und den großen Vorteil einer frei stehenden Unterkunft für all jene, denen das Privileg des Eigenheims verwehrt ist: der kollektive Traum von einer Terrasse, auf der man im Schaukelstuhl sitzen, Bud Light trinken und Koteletts grillen kann.

Der Detective stellt seinen Dienstwagen einfach irgendwo auf dem weitläufigen Parkplatz ab. Einen Schattenplatz zu suchen, wäre sinnlos: Der Schutz, den die Ulmen gegen das Höllenfeuer bieten, ist zu vernachlässigen. Fünfunddreißig Grad zeigt das Thermometer an diesem Nachmittag des 30. Juli 2002. Für den Mittleren Westen eine außergewöhnliche Hitze, selbst zu dieser Jahreszeit, und sie hält schon einen Monat an. Der News Herald prognostiziert schon – zwischen zwei Aufrufen, endlich in Saddam Husseins Irak einzufallen, bevor sich die Anschläge vom 11. September zum ersten Mal jähren –, dass der Sommer 2002 der heißeste in der Geschichte Nordohios werden könnte, wenn es im August so weitergeht.

Chris Bowersock wird von einem schlaksigen Mann um die dreißig in grauen Arbeitshosen empfangen. Auf seinem weißen Poloshirt sind sein Name und seine Funktion aufgestickt: Jeffrey Offak, Service Manager. Er ist für die Instandhaltung der Gebäude zuständig. Tropfende Wasserhähne, defekte Klimaanlagen, ungenügende Wassertemperatur – Jeffrey Offak kümmert sich hier um alles. Er habe auch die 911 gewählt, bestätigt er dem Polizisten. Der Mieter aus Apartment C, ein vorbestrafter Ex-Gebäudemaler, hat ihn im Büro angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er seinen Nachbarn aus Studio D seit drei oder vier Tagen nicht zu Gesicht bekommen hat. Stimmt, ich auch nicht, dachte Offak bei sich. Normalerweise läuft er dem Rentner jeden Tag über den Weg, wenn der seine Runde durch die Anlage dreht. Der Service Manager klopfte an die Tür von Studio D: keine Antwort. Also machte er Gebrauch von seinem Ersatzschlüssel und fand daraufhin den leblosen Körper Joseph Chandlers.

Während sie zu Fuß die hundert Meter bis zu dem Häuschen zurücklegen, wo der Tote ruht, formuliert der Detective einen kaum verhüllten Vorwurf an seinen Begleiter: Mit welchem Recht hat er sich vor der Ankunft der Polizei Zutritt zu dem Apartment verschafft?

»Das ist mein Job«, antwortet der Hausmeister.

»Es geht hier um einen möglichen Tatort.«

»Davon wüssten Sie aber nichts, wenn ich nicht reingegangen wäre.«

Okay, lassen wir’s gut sein.

Das Apartment D ist ein Studio wie jedes andere in der Wohnanlage, und das aus gutem Grund: Alle Unterkünfte hier wurden in einer Fabrik nach einem standardisierten Verfahren angefertigt und per Güterzug hertransportiert. Eine rechteckige Einheit mit einer Fläche von vierundzwanzig Quadratmetern wird als Studio vermietet, zwei aneinandergefügte Einheiten bilden eine Zweizimmerwohnung, drei Einheiten eine Dreizimmerwohnung. Von außen fällt Chris Bowersock nur eine Besonderheit auf: Die Jalousien der beiden großen Fenster in Richtung Terrasse sind heruntergelassen. Die Klimaanlage wurde abgeschaltet, drinnen sei die Hitze unerträglich, warnt der Servicemanager. Was den Geruch angehe, fügt er hinzu, der sei so abstoßend, dass ihn, als er die Wohnung betrat, extreme Übelkeit überkam und er kaum aufhören konnte zu würgen.

Diesen Geruch nach gammligem rotem Fleisch, den ein verwesender Körper verströmt, kennt Chris Bowersock nur zu gut. Ein Genuss ist das für ihn nicht gerade, aber er kommt damit zurecht. In seinen acht Jahren bei der Kriminalpolizei in Eastlake hat der Detective eine ganze Reihe Leichen in üblem Zustand zu Gesicht bekommen. Während die benachbarte Metropole Cleveland, dreißig Kilometer weiter südlich, etwa einhundert Morde pro Jahr zählt, hat man in Eastlake im Schnitt nur einen einzigen zu beklagen. Aber DOAs – dead on arrivals, Leichenfunde – sind die Detectives hier trotzdem gewohnt, zu denen werden sie mindestens einmal im Monat gerufen. In einer Arbeitergemeinde, auch wenn sie ökonomisch so gut dasteht wie Eastlake, ist Einsamkeit kein Fremdwort. Suizide und natürliche Todesfälle, die wochenlang weder von Nachbarn noch von Angehörigen bemerkt werden, gibt es regelmäßig.

Ohne auf die Verstärkung zu warten, steigt Bowersock die Stufen zur Terrasse hinauf und verlangt Einlass. Jeffrey Offak ist ihm zu Willen. Er öffnet zuerst die storm door, eine Außentür aus einem feinen Gitter, durch das Luft zirkuliert, das Unwetter aber abhalten kann, dahinter die Terrassentür. Der Detective zieht die Brauen zusammen: Dutzende aufgedrehte Fliegen schwirren an dem Glas herum.

Ein schlechtes Zeichen, denkt er noch, während der Mann für alles den Schlüssel im Schloss dreht.

Beim ersten Schritt nach drinnen sinkt Chris Bowersock auf die Knie.

Hinter der Tür prallt er gegen eine Mauer aus glühend heißer Luft und fauligem Gestank, wie ein Flammenrückschlag aus einem verlassenen Schlachthaus. Dem Cop bleibt die Luft weg, er lässt den Blick nur kurz durch die Wohnung schweifen, während er schon den Rückzug antritt: Die alte sepiafarbene Tapete wuselt vor Fliegen, es müssen Hunderte sein. Während sich in seinem Mund ein übler Geschmack ausbreitet, meldet er durch sein Walkie-Talkie: »Bowersock hier, bei dem DOA in Dover. Schickt jemanden von der Feuerwehr, wir brauchen Sauerstoffwesten.«

Die Männer kommen ein paar Minuten später, gleichzeitig mit Ted Kroczak, Chris’ Partner. Die beiden Kollegen sind in Eastlake aufgewachsen, nur zwei Blocks voneinander entfernt, und haben dieselben Schulen besucht. Bei gutem Wetter gingen sie damals nachmittags an den See zum Will-O-Way Beach, dem feinen Sandstrand gleich die Straße runter. Im Winter versteckten sie sich vor der Bibliothek unter einer weißen Decke und warfen Schneebälle auf Autos von Streifenpolizisten. Fünfzehn Jahre später wurde einer dieser Officer ihr Ausbilder.

Das Duo auf Leben und Tod wäre einer Polizeikomödie würdig. Die Kollegen haben ihnen die Spitznamen Starsky und Hutch verliehen, sie selbst würden sich eher mit Riggs und Murtaugh aus Lethal Weapon vergleichen.

Der draufgängerische Chris, zweiunddreißig Jahre alt, ist der Riggs unter den beiden, die Zündschnur. Er trifft Entscheidungen instinktiv und handelt auch so. Schon ein Missverständnis kann ihn zur Weißglut bringen. Der stämmige Ted, sechsunddreißig Jahre alt, Quarterback-Schultern und GI-Stoppelfrisur, ist der Ruhepol, der kühle Kopf, der Nachdenkliche. Die Polizei von Eastlake hat ihren guten Ruf im County vor allem auch der grenzenlosen Dreistigkeit dieser beiden Kollegen zu verdanken. Nach dem morgendlichen Briefing machen sie sich direkt auf, statt lange auf Beschwerden oder Anzeigen zu warten. Irgendeine Motorradgang oder ein Dealernetzwerk, die man im Auge behalten muss, gibt es immer. Und abends, wenn der Stress ihrer Mission abflaut, kauen sie die aufregendsten Momente des Tages über einem Bier noch einmal durch. Sie wären beide hundertmal durchs Feuer gegangen, um dem anderen den Arsch zu retten. Das ist nicht nur eine Metapher: Einmal hat Ted sich einem Kokaingroßhändler in den Weg geworfen, dem es gelungen war, die Knarre seines Partners an sich zu reißen. Wie alle wahren Waffenbrüder haben sie sich auch schon miteinander geprügelt, in einer betrunkenen Nacht in der Bar. An den Anlass erinnert sich keiner der beiden mehr, aber zum ersten Schlag hat Ted ausgeholt. »Ruf die Bullen!«, rief der Barmann, als die ersten Stühle flogen. Und der Wirt antwortete blasiert: »Das sind die Bullen.«

+++

Die Partner ziehen zunächst Tyveks, weiße Kriminaltechnik-Anzüge, über, dann Scott Air-Paks, mit einer kleinen Sauerstoffflasche ausgestattete Westen, mit denen sich Feuerwehrleute normalerweise bei Bränden vor dem Ersticken schützen. Ein großer Ventilator wird nach draußen gerichtet auf die Fußmatte gestellt, um die verschmutzte Luft in der Wohnung auszutauschen. Chris betritt die Wohnung als Erster, Ted dicht hinter ihm. Wie sie da in ihrer Aufmachung inmitten der Fliegenschwärme stehen, erinnern die beiden an zwei Imker in einem gigantischen Bienenstock.

Der braune Teppichboden und die Palisandermöbel mit den beigen Fronten verleihen dem Raum die gelbliche Nuance eines benutzten Zigarettenfilters. Rechts von der Tür steht ein heruntergeklapptes Murphy Bed – ein Schrankbett, wie man es aus winzigen Klausen in Brooklyn kennt. An der Wand zur Linken eine graue Couch mit Karomuster. Darüber hängt ein auffälliges gerahmtes Foto: ein gotisches Schloss, das man später als Alcázar de Segovia identifizieren wird, auf einem Hügel, darunter der Schriftzug Spain. Der Fernseher ist an der rechten Armlehne der Couch angebracht, seine Rückseite zeigt in Richtung Eingangstür. Auf der rechten Seite, hinter dem Bett, stehen ein Schrank und ein großes Regal, beide so gut wie leer. Im Schrank hängt nichts außer einem grauen Anorak und einer roten Krawatte. Im Regal sind vier gefaltete kurzärmlige Hemden gestapelt, daneben ein analoger Radiowecker in Würfelform, ein Paar Nikes im Karton und ein kleiner tragbarer Safe. Durch diesen Minimalismus und die altmodische Einrichtung kommt man sich vor wie in einem Motelzimmer aus einem David-Lynch-Film.

Der Schreibtisch, ganz hinten links vor der Küchenzeile, lenkt die Aufmerksamkeit der Polizisten auf sich. Ein alter Computer steht darauf, mit einem Lesegerät für 3,5-Zoll-Disketten und einer rechteckigen Maus. Auf der Tastatur mit den verblichenen Buchstaben liegen zwei Bücher: Mit dem Computer zu Hause Geld machen und Wie man mit Aktien Geld verdient, der Bestseller des Investors und Millionärs William O’Neil. Aber am meisten interessiert die Detectives, was links vom Computer liegt: ein Ziplock-Beutel mit ungefähr fünfzehn Patronenhülsen darin, die sie als Kaliber .38 erkennen, und ein mit Schaumstoff ausgekleidetes Hartschalen-Revolverholster. Das Holster ist offen, die dazugehörige Waffe fehlt. Ein wenig versteckt liegt darunter ein großer Kalender aus Karton, der Juli aufgeschlagen, darauf eine Lupe, eine Brille und eine Armbanduhr. Diese Schreibtischecke scheint die allgemeine Atmosphäre des Ortes zu durchbrechen: Inmitten des leblosen und eingefroren wirkenden Raumes ist sie das einzige Zeugnis, dass dieser vor Kurzem noch bewohnt war, und wirkt zugleich wie das Epizentrum der letzten Augenblicke dieses Bewohners.

Die Blicke der Detectives bleiben an dem Kalender hängen: Die Tage sind mit Kreuzen markiert, bis einschließlich 24. Juli. Bis vor sechs Tagen.

Bleibt nur noch das Badezimmer. Noch verbirgt der Schrank es vor ihren Blicken. Man betritt es durch eine Nische in der Küche. Die Polizisten bewegen sich in ihren hermetisch verschlossenen Anzügen auf leisen Sohlen vorwärts und vergießen bei jedem Schritt einen gefühlten Liter Schweiß. Ein potenzieller Tatort muss so gut wie möglich erhalten bleiben, bis Lou, der Kriminaltechniker von Eastlake, eintrifft.

Chris steht als Erster vor dem Badezimmer. Die Tür ist offen. Als er den Verstorbenen mit dem Gesicht nach unten auf der Badematte liegen sieht, schnürt das Grauen ihm den Magen zusammen. Noch nie hat er eine Leiche in einem so fortgeschrittenen Zustand der Verwesung gesehen. Aber Chris ist überzeugt, und das ist das Gruselige an der Sache, eine Bewegung gesehen zu haben. Eigentlich lächerlich: Toter als dieser arme Mann kann man nicht sein, und trotzdem ist er sich sicher. In dem Haufen verwesenden Fleischs hat sich ein zweites Leben eingenistet. Ein weiterer Blick bestätigt, dass sein Verstand ihm keinen Streich spielt: In Joseph Chandlers Hinterkopf wuselt es nur so vor Hunderten von Fliegenlarven.

Der Körper des alten Mannes liegt quer im Raum, mit angewinkelten Beinen auf seiner rechten Seite, den Kopf Richtung Badewanne gedreht, die Füße in Richtung Waschbecken. Seine Haut ist voller Blasen und brauner Flecken, wie eine Kartoffel, die man im Ofen vergessen hat. Das weiß-grau gestreifte Hemd mit den kurzen Ärmeln trägt er in die marineblauen Chinos gesteckt. Die Leiche ist von einer schwarzen, klebrigen Flüssigkeit durchnässt, einer Mischung all der Gase und Körpersäfte, die während des Verwesungsprozesses freigesetzt werden. Die höllischen Sommertemperaturen, die geschlossenen Fenster, die ausgefallene Klimaanlage: Alle Faktoren, die den Prozess beschleunigen, sind hier zusammengekommen. Den beiden Detectives ist sofort klar, dass sie den schlechtestmöglichen Moment für den Leichenfund erwischt haben: Zwei Tage früher wären das Fleisch weniger vergammelt und Geruch und Anblick erträglicher gewesen; zwei Tage später hätte die Mumifizierung eingesetzt, das Gewebe wäre ausgetrocknet und das Ungeziefer somit ausgehungert.

Die wenigen sichtbaren Blutspritzer konzentrieren sich im und ums Waschbecken. Ein kleiner Klecks neben dem Abfluss, ein paar Tropfen auf dem Rand aus Marmorimitat. Nichts auf dem Spiegel, nichts an den Wänden oder an der Decke. Eine einzelne Patronenhülse, Kaliber. 38, liegt in der Badewanne. Als Chris Bowersock sich der Leiche weiter nähert, fällt ihm das schwarze Metallrohr auf, das links unter der Brust hervorschaut. Der Lauf eines Revolvers.

Als der Detective die Nachricht von dem Todesfall bekommen hat, ging er zunächst davon aus, der alte Mann wäre der Hitze zum Opfer gefallen. Die Wahrheit ist optisch frappierender, aber im Grunde genommen nicht viel spektakulärer. Die von innen verriegelte Tür, das Fehlen von Einbruchsspuren, die Position der Leiche, die nach vorn gestürzt ist, der unter dem Oberkörper begrabene Revolver, die fast zu vernachlässigenden Blutspuren, die einsame Patronenhülse, die Maden, die sich in dem Loch am Hinterkopf tummeln – das alles lässt nur eine Folgerung zu: Der Mann hat sich selbst umgebracht, mit einem Schuss in den Mund.

Inzwischen ist Lou, der Kriminaltechniker, mit seinem Fotoapparat um den Hals eingetrudelt und verewigt die Szene. Auch er zweifelt nicht daran, dass sie es mit einem Suizid zu tun haben, aber solange der Gerichtsmediziner von Cleveland die Möglichkeit eines vertuschten Mordes nicht ausgeschlossen hat, muss ein Leichenfund als Mordfall behandelt werden. Lou platziert ein paar Gerichtssiegel auf potenziellem Beweismaterial: auf dem Revolver natürlich, auf der Brieftasche und dem Bund mit den sieben Schlüsseln, die in den Hosentaschen des Toten stecken, auf dem Safe und auf den beiden Büchern, die so gut sichtbar neben dem Computer platziert sind. Vielleicht findet sich im Safe versteckt oder zwischen die Buchseiten geschoben ja eine Botschaft oder ein Abschiedsbrief, der die Tat erklärt.

Endlich kann die Leiche bewegt werden. Chris und Ted packen jeweils einen Arm, Lou ist für die Beine zuständig. Kaum haben sie den Körper angehoben, lässt ein lautes Knacken sie zusammenzucken. Ted wendet sich seinem Partner zu, der wie versteinert dasteht: Der linke Arm, den Chris hochgehoben hatte, hat sich einfach ausgekugelt wie ein Hähnchenflügel. Jetzt hat er nur noch den losen Arm in der Hand. Das Ermittlerduo ergänzt sich nicht nur bei der Arbeit hervorragend, sondern teilt auch denselben Sinn für schwarzen Humor, der bei dieser Art von Arbeit als Ventil dient. Ted hat als Erster einen derben Spruch auf den Lippen: »Jetzt gib dem armen Mann doch seinen verdammten Arm zurück!«

Als der forensische Assistent eintrudelt, ist die Arbeit der Polizisten vor Ort beendet. Eine erste äußere Besichtigung bestätigt die Theorie eines Suizids durch eine Schusswaffe. Der Gestank ist so unerträglich, dass sie zwei Leichensäcke brauchen. Auf Fingerabdrücke müssen Chris und Ted verzichten: Als sie den Körper des Verstorbenen eingepackt haben, hat die Haut an den Armen sich abgelöst wie der Schwanz einer Garnele, wenn man sie aufbiegt. Knochen und Muskulatur liegen frei, damit ist das Abnehmen von Fingerabdrücken unmöglich. Vom Gesicht, in dem die Maden ihr Unwesen getrieben haben, bleibt nichts als ein Loch, aber das Bild, das der Servicemanager skizziert, scheint zu passen: ein eher kleiner Mann mittlerer Statur, um die sechzig Jahre alt.

Vita, die Verwalterin von Dover, gibt den Detectives die Akte des Mieters: sein im März verlängerter Vertrag mit den Notfallkontakten und das Anmeldeformular, das er bei seinem Einzug ausgefüllt hat. Hier herrscht eine hohe Fluktuation, die Mieten sind hoch, und die Wohnungen werden nur möbliert vergeben. Für die meisten Leute ist das hier ein Zwischenstopp: Sie lassen sich gerade scheiden, sind in der Schwebe zwischen zwei Jobs oder auf der Suche nach einem Haus in der Region. Im Schnitt bleiben sie nur zwei Monate, und in den Studioapartments, die nicht mit Waschmaschinen ausgestattet sind und nur von Einzelpersonen bewohnt werden dürfen, kommen und gehen die Leute sogar noch öfter.

Joseph Chandler, vierundsechzig Jahre alt, hat seit siebzehn Jahren in seinem Apartment gelebt.

Die Leiche wird mit einem speziellen Lieferwagen zu Dr. Rizzo, dem Gerichtsmediziner von Cleveland, gebracht, der für die Kriminalfälle in Lake County zuständig ist. Er wird zunächst eine äußere Leichenschau vornehmen und dann, sollte es Zweifel an der Todesursache geben, gegebenenfalls eine Autopsie.

Chris und Ted schlendern zurück zum Parkplatz, zu ihren Autos. Wie sie befürchtet haben, kann die Mentholsalbe, die sie rund um ihre Nasenlöcher verteilen, den Geruch des Todes, der sich darin eingenistet hat, nicht vertreiben.

»Eigentlich ist das einzig Seltsame an diesem Fall die Art, wie der Typ gelebt hat«, bemerkt Chris.