Das Rätsel des Pferdeamuletts - Karin Müller - E-Book

Das Rätsel des Pferdeamuletts E-Book

Karin Müller

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Beschreibung

Godje lebt nach dem Tod ihrer Eltern bei der von ihr nur liebevoll "Nana” genannten Oma. An ihrem vierzehnten Geburtstag findet sie auf dem Treppenabsatz vorm Haus ein geheimnisvolles Geschenk ohne Absender. Das kleine Paket enthält ein seltsames Amulett mit einer Darstellung der keltischen Pferdegöttin Epona. Ohne zu wissen, was es mit dem Anhänger auf sich hat, trägt Godje ihn fortan als Glücksbringer mit sich herum. In den darauffolgenden Tagen passieren nun aber ungewöhnliche Dinge: Die Pferde vom Reiterhof in ihrer Straße reagieren plötzlich mit Neugierde und Zutrauchlichkeit auf sie und auch Godje selbst, die bislang eher mit den großen Tieren fremdelte, entdeckt auf einmal ein bisher nicht gekanntes Interesse an ihnen …

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Seitenzahl: 251

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Prolog

Die regennassen Blätter funkelten im Licht der Scheinwerfer. Sie sahen aus wie zerbrechliche Kunstwerke aus Glas. Und genau wie Kristall zerbarsten sie unter den rutschenden Hufen der Pferde. Was von den Blättern übrig blieb, war glitzernder Pflanzenbrei, auf den sich ein roter Tupfen verirrte.

Nasses Herbstlaub auf Teer und Asphalt und ein einzelner Tropfen Blut.

Als würde dem eisigen Regen das nicht gefallen, wusch er den Fremdkörper fort, verwässerte den unpassenden Schimmer, bis er kaum noch zu sehen war. Er verlor sich in öligen Regenbogenschlieren, im Widerschein blauer Lichter. Sie machten die Illusion von Glas in den angefrorenen Pfützen fast perfekt.

Die Stute starb ohne einen Laut. Ihr Körper lag quer auf der Fahrbahn. Ein zweites Pferd stand auf drei Beinen neben ihr, zitternd, schwer atmend. Männer in Stiefeln rannten an den beiden Tieren vorbei, auf den Graben zu. Sie hatten keinen Blick für das schwarze Fohlen, das auf unsicheren Hufen über die Straße tapste und mit hellem Stimmchen nach seiner Mutter rief. Die blinkenden Lichter der Sirenen spiegelten sich in dem kleinen Messingschild an dem noch viel zu weiten, nagelneuen Lederhalfter, in das erst am Vormittag sein Name eingraviert worden war. Die übrigen Pferde grasten mit aufgesperrtenNüstern am Straßenrand, jagten über ein abgeerntetes Maisfeld oder versuchten, zurück auf die Weide zu kommen.

Aus dem umgestürzten Fahrzeug drang für einen Augenblick ein Wimmern. Eine Frauenhand streckte sich nach dem Umriss des Mannes, der bei dem Unfall herausgeschleudert worden war.

Die Feuerwehrleute riefen sich Kommandos zu. Sie eilten zu den beiden Menschen, bargen die Frau. Sanitäter übernahmen. Der Tierarzt und sein Team waren fast zeitgleich zur Stelle. Sie kümmerten sich um die Pferde, schlangen Gürtel und Stricke um Hälse, um die Tiere in Sicherheit zu bringen. Versorgten Wunden, legten Verbände an. Überall eilige, routinierte Hände und Füße.

Gegen den Strom, wie in Zeitlupe, bewegte sich zwischen ihnen eine Frau, trat auf den Einsatzleiter zu, eine entsetzliche, stumme Frage auf den Lippen. Als er bedauernd den Kopf schüttelte, schlug sie die Hände vor den Mund, wich zurück, als habe er sie geschlagen, bis ein schrilles, junges Wiehern die zähen Schleier der Hintergrundgeräusche zerriss und in ihr Bewusstsein drang. Ihr Blick löste sich von dem Mann in Uniform und wanderte langsam zu dem schwarzen Hengstfohlen. Es stand auf den Hinterbeinen, riss sich von den Helfern los und trabte über die glitschige Fahrbahn zu seiner toten Mutter. Mit den Lippen begann es, das nasse Fell der weißen Stute abzutasten, zwischen den Beinen nach Milch zu suchen, den Körper zärtlich zu schubsen. Die Frau ging mit gesenktem Kopf auf die Tiere zu. Sie ließ das kleine Rappfohlen eine Weile gewähren. Dann griff sie nach dem Halfter. Ihre Hand verbarg das Messingschild. Nur noch der erste Buchstabe, ein großes A, war zu erkennen, als sie das Fohlen daran fortzog. Sanft. Beharrlich. Nach vorn gewandt.

Ihr Fuß streifte ein Päckchen. Es lag im Gras, unbeachtet, zwischen Glassplittern und Blech. Tropfen perlten von der hellbraunen Oberfläche des Packpapiers. Der Regen ging in Schnee über. Die königsblaue Tinte auf dem reich verzierten Aufkleber verschmierte mit jedem Regentropfen mehr. »Für Godje« war zwischen den Schlieren zu erkennen.

Unbemerkt trat eine dunkle Gestalt aus den Schatten. Sie bückte sich und hob es auf.

Die Frau hielt einen Moment inne, zögerte, als ob sie sich umdrehen wollte. Doch sie schüttelte sich nur kurz, wie wenn ihr ein Schauer über den Rücken liefe. Dann ging sie entschlossen weiter. Jeder Schritt schien sie enorme Willenskraft zu kosten. Aber sie drehte sich nicht mehr um. Der Dunkle verschwand ebenso leise, wie er gekommen war.

1. Silber, Zimt und Packpapier

Zehn Jahre und einen Tag später

»Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, liebe Godje, happy birthday, to youuuuuu!« Ein Funkenregen aus Wunderkerzen sprühte um Nanas Gesicht, als sie die Geburtstagstorte aus der Küche hereintrug. Vorsichtig stellte sie den Teller vor mir auf den Esstisch.

Ich hibbelte auf meinem Stuhl herum. Stillsitzen war noch nie eine meiner herausragendsten Fähigkeiten gewesen. Wie lange sollte ich mir denn noch die Augen zuhalten? Das war verflixt schwer! Heimlich linste ich ein drittes oder viertes Mal durch meine Finger. Ganz kurz nur.

Der Tisch war überladen mit bunt eingepackten Geschenken. Jedes einzelne war liebevoll mit Schleifchen, Glitzer oder Aufklebern verziert. Unsere beiden Frühstücksgedecke fanden kaum Platz inmitten der vielen Päckchen, und einen farbenfrohen Blumenstrauß hatte ich auch schon entdeckt.

Meine Nana rückte mit einer knappen, zärtlichen Handbewegung das Foto zurecht, das wie immer zwischen den beiden Tellern am Kopfende stand. Ich biss mir auf die Unterlippe.

Ihre Finger ruhten einen Moment auf dem Silberrahmen. Dann atmete sie aus und wendete sich mir zu.

Schnell schloss ich den Spalt zwischen meinen Fingern.

»Alles Gute zum Vierzehnten, mein Engel«, rief sie und wischte sich die Hände an der Küchenschürze ab. »Augen auf!«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich blinzelte ­bühnenreif und ließ meinen Blick über das Geburtstagsbüfett und die Funken sprühende Torte schweifen. »Wow! Danke, Nana!« Endlich aus meiner erzwungenen Ruhe befreit, sprang ich auf und schlang meine Arme um ihre weichen Schultern. »Du bist die allerbeste Oma auf der ganzen Welt.«

Nana drückte mich schmunzelnd an sich. »Na, das will ich doch hoffen. Schließlich ist das mein Lieblingsjob.«

»Ach was, ich bin nur ein Job für dich?« Ich wand mich aus der Umarmung und grinste meine Großmutter an. Für ihr Alter hatte sie einen ziemlich festen Griff.

Nana lächelte zurück. »Immerhin machst du inzwischen nicht mehr ganz so viel Arbeit wie früher.«

»So, so!« Spielerisch drohend zog ich die Augenbrauen zusammen und bewegte den Zeigefinger vor Nanas Gesicht hin und her. Die Sache mit dem Job war ein Running Gag zwischen uns, weil sie für die Vormundschaft ein wenig Geld bekam: Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel, pflegte sie zu sagen.

Nana schüttelte den Kopf. »Du bist meine Berufung und mein größter Schatz.« Lachend packte sie mich an den Ohren und schmatzte mir einen Kuss auf die Stirn.

»Schon besser!«, antwortete ich und feixte. Dann drehte ich mich zum Tisch. Die Päckchen zogen mich magisch an, und Hunger hatte ich auch. »Lass mich raten – die gleiche Prozedur wie letztes Jahr? Nur ein Geschenk vor der Schule …?«

»Die gleiche Prozedur wie in jedem Jahr!«, bestätigte Nana. »Nur ein Geschenk! Aber bevor du es öffnest, puste zuallererst die Kerzen aus.« Sie zeigte auf die Torte, auf der die Wunderkerzen inzwischen längst verglimmt waren. Aber vierzehn schmale Kerzen genügten, um langsam die Sahne zum Schmelzen zu bringen.

Ich gehorchte.

Für einen Moment schloss ich die Augen und sammelte mich. Ich wusste genau, was ich mir wünschte, auch wenn dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen konnte. Es war mein eigenes kleines Geburtstagsritual. Dann holte ich tief Luft und blies mit aller Kraft.

Ein Licht nach dem anderen verlosch. Vierzehn dünne Rauchfäden waberten gemächlich Richtung Zimmerdecke, während ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ich sollte dringend mit Sport anfangen.

»Bravo!«, lobte meine Großmutter und lud mir ein Riesenstück Marzipantorte auf den Teller. »Was hast du dir gewünscht?«

»Das darf man doch nicht verraten, Nana! Das weißt du genau.« Ich zwinkerte ihr zu, stopfte mir einen Riesenhappen Sahnecreme mit Biskuit in den Mund und schielte kauend zu den Päckchen. »Welbffeff bffoll ibff bemm –?« Schnell schob ich noch eine Gabel voll Kuchen hinterher und spülte mit einem Schluck heißer Zimtschokolade nach. Blöde Schule. Zumindest an Geburtstagen sollte man vom Unterricht befreit werden.

Nana tippte wie nebenbei mit der Fingerspitze auf eine kleine türkisfarbene Schachtel mit goldenem Kräuselband. Also streckte ich brav die Hand danach aus. »Na gut. Wenn du meinst?!«

Mit fliegenden Fingern zupfte ich am Knoten herum. Dabei fiel mein Blick aufs Ziffernblatt meiner zerkratzten Armbanduhr. Mir blieb nicht mehr viel Zeit.

Vielleicht war in diesem Päckchen ja die lang ersehnte neue Uhr drin? Die mit dem schicken Lederarmband, die wir neulich im Schaufenster in der Fußgängerzone in der Stadt gesehen hatten? »Verflixt, ich muss gleich los. Sonst verpasse ich den Bus … na hopp, geh schon auf!«

Endlich gab das Band nach. Ich ratschte das Papier weg und hielt ein weiteres Schächtelchen in der Hand. Langsam klappte ich den Deckel zurück.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Großmutter die Hand auf ihr Dekolleté legte. Das tat sie immer, wenn sie nervös war.

»Was ist das?«, fragte ich leise und kaute auf meiner Lippe herum. Ich wagte kaum, den flachen silbernen Gegenstand zu berühren. Kunstvolle Ornamente waren in das kleine Oval graviert. Behutsam strich ich mit der Fingerkuppe über die Struktur.

»Das ist ein Familienerbstück«, flüsterte Nana und räusperte sich. »Man kann es öffnen. Ich bin mir sicher, deine Mutter hätte gewollt, dass du es heute bekommst. Es ist also eher ein Geschenk deiner Eltern als von mir. Ein kleiner Bilderrahmen, den du dir umhängen kannst.«

Was sie nicht aussprechen musste, weil es uns beiden schmerzlich bewusst war, war die Tatsache, dass wir beide heute eigentlich unser Zehnjähriges hatten.

Ich nickte stumm. Was hätte ich dazu auch sagen sollen. Meine Eltern waren seit zehn Jahren tot, auf den Tag genau. In den ersten Jahren danach hatte ich mich überhaupt nicht mehr auf meinen Geburtstag freuen können – bis Nana beschloss, dass wir ihn künftig und bis in alle Ewigkeit um einen Tag nach hinten verschieben würden, auf den 19. Dezember. Seitdem gingen wir an meinem ursprünglichen Geburtstag erst auf den Friedhof und dann in die Kirche. Dort zündeten wir eine Kerze an – und tags darauf feierten wir das Leben, mein zweites Leben bei Nana, wie sie sagte. Jedes Jahr mit einer Kerze mehr auf der weltbesten selbst gebackenen Torte. Mit extraviel Marzipan, nach Bourbonvanille schmeckender Sahne und hausgemachter Himbeermarmelade. Das fühlte sich wunderbar an und schmeckte auch so. Vor allem, wenn es dazu heiße Schokolade mit einer Prise Zimt gab – mein absolutes Lieblingsgetränk.

In Zeitlupe nahm ich das kleine Oval von seinem samtigen Polster und drehte es zwischen meinen Fingern hin und her. Es wirkte beinahe wie ein kleines Buch an einer silbernen Kette, es fühlte sich kühl an, und ein leichter Schauer rieselte mir über den Nacken. An der Seite fand ich ein winziges Häkchen. Hier konnte man den Verschluss entriegeln. Unsicher sah ich zu Nana. Sie nickte mir aufmunternd zu. Ihre Augen schimmerten verdächtig.

Der Mechanismus klemmte ein wenig. Im Gegensatz zum Rest des Schmuckstücks wirkte er neu, vielleicht war das Medaillon an dieser Stelle einmal repariert worden. Ich hielt die Luft an und vergaß sogar, meine armen Lippen zu zerbeißen. Meine Eltern blickten mich an. In Farbe. Mein Vater Fergus links, meine Mutter Chloe rechts, auf den Innenseiten der silbernen Ovale. Gänsehaut pur. Sie schauten mich fröhlich an. Gut gelaunt. Freundlich. Und fremd. Da war eine gewisse Distanz. Die aber natürlich nicht mir galt, sondern einem unbekannten Fotografen. Ich starrte in die Gesichter, als könnten sie mir Antworten auf all meine Fragen geben. Eine Sekunde lang. Was war damals passiert? Warum habt ihr mich allein gelassen? Und warum tragen wir alle so komische Namen? Zwei Sekunden. Dann klappte ich das Medaillon entschlossen zu. Ich fühlte Nanas Blick auf mir. Die Erinnerung ehren und lebendig halten, aber niemals in der Vergangenheit herumstochern, das war ihr Credo, mit dem ich aufgewachsen war. Darum sprachen wir auch nie mehr darüber, was damals genau passiert war. Sie schien auf etwas zu warten.

»Das ist … das ist … Danke!«, stammelte ich und flüchtete in Nanas Umarmung.

»Gefällt’s dir?«, fragte sie leise und strich mir über den Kopf. Ihre Hand zitterte leicht. »Du bist jetzt vierzehn, und da deine Eltern …« Sie brach ab. »Du kannst es auf deinen Nachttisch stellen … oder auf deinen Schreibtisch. Oder dir umhängen. Ganz wie du magst. Sie haben es für dich richten lassen. Damals. Kurz bevor …«

Ich nickte. Wir wollten nicht weiter darüber reden. »Legst du’s mir um?«

Nana hielt mir schweigend ihre geöffnete Hand hin, und ich ließ den Anhänger hineingleiten, drehte mich und schob mir dabei die verwuschelten Haare aus dem Nacken. Ich wusste noch nicht, wie ich das Gefühl des kühlen Silbers auf meiner Haut fand. Ich zuckte kurz, und mein Herz klopfte, doch Nanas Hand auf meiner Schulter bildete einen seltsam beruhigenden Kontrast. Ich tastete danach, und ihre Finger hielten meine umschlossen. Warm und gut. Ich atmete tief durch.

Unsere alte Küchenuhr schlug halb. Erschrocken machte ich mich los. »Verflixt, ich muss zum Bus!« Bedauernd schielte ich zu meinem halb leer gegessenen Kuchenteller und spurtete los.

Meine Schultasche wartete bereits neben den Stiefeln im Flur. Eilig klemmte ich mir die Jacke unter den einen und den Rucksack über den anderen Arm. Ich ließ mir von Nana noch eine letzte Gabel voll Torte in den Mund schieben. Dann riss ich die Tür auf. Mit dem nächsten Schritt versetzte ich einem unscheinbaren, kleinen grauen Paket einen schwungvollen Tritt. Es rutschte von der Fußmatte, wo es mitten im Weg gelegen hatte, und blieb zwischen den Blumentöpfen und Tonfiguren liegen. Ich war buchstäblich darüber gestolpert. Irritiert starrte ich dem Ding hinterher. Wieso hatte der Absender denn nicht geklingelt? Oder hatten wir es nicht gehört?

»Geburtstagskind, yaaaayyyyy!«, schallte es zu uns herauf. »Beeil dich, sonst müssen wir laufen!«

Ich riss meinen Blick los. Am Rosenbogen, der die beiden weißen Mäuerchen links und rechts von der Eingangspforte zu unserem Häuschen krönte, standen Fenja und Lou mit zwei knallroten Ballons. Sie winkten hektisch. Auf dem einen erkannte ich eine Eins, auf den anderen war eine Vier gemalt.

»Wow, guck mal, wie cool!« Meine Miene hellte sich schlagartig auf. Eilig drückte ich Nana einen Abschiedskuss auf die faltige Wange. »Ich glaube, ich muss mich jetzt wirklich beeilen!«

»Das sehe ich auch so!«

Ich registrierte noch halb, wie Nana den beiden zuwinkte, dann galt meine Aufmerksamkeit voll und ganz meinen überdreht auf und ab springenden Freundinnen. Das graue Päckchen würde auf meine Rückkehr warten müssen.

Wir rannten den ganzen Weg durch die Reihenhaussiedlung zur Haltestelle, und doch hätten wir den Bus beinahe um Haaresbreite verpasst. Der Fahrer staunte nicht schlecht, als wir uns mit Luftschlangen um den Hals und den beiden äußerst widerspenstigen Ballons ins Wageninnere und bis nach hinten durchquetschten, aber er guckte nicht mürrischer als sonst auch. Maria hüpfte unruhig auf ihrem Platz herum. Sie erwartete uns bereits. Erleichtert atmete sie auf und räumte ihr großzügig verteiltes Gepäck vom Vierersitz unter der Heckscheibe auf den Boden: Plastiktüten, Büchertasche, Winterjacke, Mütze, Sportbeutel. Sportbeutel? »Oh nein! Ich habe meine Sportsachen vergessen!«

»Jetzt schon Alzheimer? Ist das nicht ein bisschen früh?« Fenja knuffte mich grinsend in die Seite.

»Ihr hättet doch auch mitdenken können«, beschwerte ich mich und ließ mich von Maria abküssen.

»Herzlichen Glückwunsch, du vergessliches Huhn! Da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, ihr lasst mich hängen.« Sie tauschte Blicke mit einer Frau in den Vierzigern, die grimmig jede ihrer Bewegungen verfolgte. Die Regiobusse bei uns im Landkreis beförderten nicht nur Schüler. Wer als Erwachsener morgens mit den Öffis fuhr, sah sich allerdings einer eingeschworenen minderjährigen Übermacht gegenüber. »Happy, happy birthday!« Maria knuddelte mich durch, und die Erwachsene, die ein Gesicht machte, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, drehte sich weg.

»Danke. Ich habe meine Sportsachen vergessen!«, jammerte ich.

Lou kicherte. »Das ist so typisch. Wahrscheinlich wird das mit vierzehn alles noch schlimmer mit dir statt besser.«

»Vergiss Sport. Was hast du geschenkt bekommen?«, wollte Fenja wissen.

Ich setzte ein Gewinnergrinsen auf. »Berge«, behauptete ich. »Aber ihr wisst ja, dass ich die erst nach der Schule aufmachen darf.«

»Nicht mal eins?«, bohrte Maria.

Ich schüttelte den Kopf. »Keine Zeit gehabt.« Hoffentlich schoben sie meinen roten Kopf auf die stickige Luft hier drin. Warum auch immer, ich konnte es nicht begründen. Aber ich hatte keine Lust, ihnen mein Medaillon zu zeigen. Das war … privat. Oder zumindest war der Regionalbus dafür nicht der passende Ort.

»Und, willst du feiern?« Lou sah mich mit schief gelegtem Kopf von der Seite an. »Frag nicht, ob, sondern wann«, mischte sich Tessa ein und hakte mich unter. »Du musst unbedingt Jungs einladen«, zischte sie mir verschwörerisch ins Ohr. »Fynn kann Bier besorgen.«

Ich verdrehte die Augen. »Nicht witzig!« Natürlich war das ein Witz, aber ein schlechter. Ich hatte weder Lust auf Alkohol noch auf Fynn und seine Freunde, und wenn Tessa ihn auch noch so süß fand. Im letzten Dezember musste ich unbedingt mit zur Weihnachtsfeier im Reitverein, weil Fynn da eine Quadrille mitgeritten war. Ausgerechnet am 18. Dezember, ich hasse dieses Datum! Ein unglaublich langer Nachmittag, vor allem, wenn man nur das Alibi ist. Die Kälte in dieser Reithalle kroch mir in jede Pore, und natürlich durften wir uns auch nicht auf die Strohballen gleich hinter der Absperrung setzen. – Da hätte er uns ja sehen können! Was für ein Quatsch – deswegen waren wir doch da, oder nicht?

Ich hatte keine Ahnung von Pferden und außerdem immer das Gefühl, dass sie mich anstarrten. Tessa fand, dass ich einfach eine blühende Fantasie hatte und dass Pferde so was nicht machten, aber mir passierten immer komische Dinge mit Pferden. Und ich wusste zufällig, dass Tessa keine Ahnung hatte und sich auch nur für diese Riesenviecher interessierte, seit sie auf Fynn stand. Das hinderte sie aber nicht daran, mir alles über Quadrillen zu erklären. Jetzt wusste ich also, dass das eine Art Synchronreiten mit mindestens vier Pferden und Musik war. Falls ich mal einen Blog mit unnützem Wissen schreiben sollte – Q wie Quadrille war schon mal abgehakt. Vor allem auch, weil mich eine der Reiterinnen dafür rundmachte, dass ihr Zosse mir am Tor fast auf den Schoß gesprungen wäre. Blöde Tussi. Ich meine, was konnten wir denn dafür, dass sie ihr Biest nicht im Griff hatte? Ehrlich, ich hätte mir fast in die Hosen gemacht, als das Ungetüm plötzlich neben uns alle vier Hufe in den Boden rammte, ihr die Zügel aus der Hand riss und seinen Kopf an meiner Schulter rieb. Ich dachte tatsächlich, es frisst mich auf, als es dann auch noch durchdringend wieherte und alle Pferde in der Nähe antworteten. Ich hielt mir die Ohren zu. Und Tessa war keine Hilfe! »Unauffällig, hab’ ich gesagt«, zischte sie und zerrte mich weg, nur damit Fynn uns in dem Tumult nicht doch noch bemerkte.

Zu Hause bekam ich dafür auch noch den Ärger meines Lebens mit Nana. Sie mochte Pferde noch weniger als ich. Nana flippte schier aus, weil ich nach »Misthaufen« roch, und das auch noch einen Tag vor meinem Geburtstag. »Wir sind sowieso schon spät dran! Geh duschen! Zieh dich um! Sofort!« Sie griff nach einer Bürste und schrubbte hysterisch an meiner Jacke. Als ob es meinen Eltern was ausmachen würde, wenn ich das Grablicht auf dem Friedhof mit Pferdehaaren auf dem Stoff anzündete. Ich musste Nana versichern, dass ich mir zum freiwilligen Erfrieren tausendmal lieber Schlittschuhe und eine Eiskunstbahn aussu­chen würde als eine mit Sand und Gummischnipseln eingestreute Halle. Dieses Jahr würde ich garantiert nicht mitgehen! So blöd war ich nur einmal!

»Wir könnten vielleicht alle zusammen in Mellendorf Eislaufen gehen?«, überlegte ich laut.

Tessa und Lou sahen mich ungläubig an. »Du?« »Freiwillig frieren?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich dachte ja nur. Ein bisschen Sport und Musik –«

Tessa unterbach mich aufgeregt. »Ja! Gar nicht schlecht. Die bieten doch abends manchmal Eisdisco an. Ich frag gleich mal Fynn … du lädst ihn doch ein, oder?«

»Und Enno?!« Maria blinzelte mich filmreif an.

Ich hob abwehrend die Hände. »He, wartet mal. Das war eine Überlegung. Ich habe nur gesagt –«

Der Bus bremste und schob zischend die Türen auf. Alles drängte zu den Ausgängen.

»Großartig!«, fiel mir Tessa ins Wort. »Also, wann steigt die Party?«

Ich schnappte mir meinen Rucksack und quetschte mich zu meinen Freundinnen ins Winterklamottengewühl. Der Bus spuckte uns mit dem Strom auf den Gehsteig. Das hell erleuchtete Schulgebäude der IGS sah beinahe einladend aus im diesigen Dezembergrau. »Vielleicht fahre ich mit Nana auch übers Wochenende nach Süddeutschland«, log ich auf dem Weg über den Vorplatz in den modernen Betonbau, der auch das Gymnasium und die Realschule beherbergte. Die Familie meines Vaters stammte aus Stuttgart, aber seit meiner Geburt waren wir nie wieder dort gewesen.

»Können diese besonderen Augen lügen?«, witzelte Tessa. »Nein, können sie nicht!«

Ich bildete mir bestimmt nichts darauf ein, aber Tessa behauptete immer, sie würde niemanden sonst mit so einer Irisfärbung kennen: ein kräftiges Blau mit einem helleren, mehrfarbig schimmernden Kranz um die Pupille. Jetzt gerade ging es ihr aber wohl nicht um meine Augenfarbe. Leider war ich im Schwindeln eine absolute Niete. Alle lachten.

Den ganzen Vormittag lang überlegte ich, wie ich aus der Nummer wieder rauskäme. Ich ertappte mich dabei, dass meine Hände immer wieder zu dem Kettchen wanderten. Ich hatte das Gefühl, alle beobachteten mich, und war mehr als einmal versucht, es mir abzustreifen. Aber dann hätte ich das Medaillon in die Hosentasche stecken müssen. Das ging auch nicht.

Irgendetwas daran fühlte sich falsch an, unvollständig. In der großen Pause sperrte ich mich auf der Toilette ein. Die Kette war gerade lang genug, dass ich die Porträts meiner Eltern betrachten konnte, ohne sie abzunehmen. Meine Eltern. Zehn Jahre. Ich erinnerte mich nur bruchstückhaft an sie. Wenn ich versuchte, mir die Berührungen meiner Mutter vorzustellen, landete ich bei Nanas Umarmungen, bei ihrer Hand auf meinem Haar. Ihrem Duft nach Bergamotte und Mandeln. Ich wusste, dass meine Mutter anders gerochen hatte. Aber ich konnte mich nicht erinnern, wonach. Bei meinem Vater ging es mir ähnlich. Manchmal meinte ich, seine Stimme in mir abrufen zu können. Dann war es aber doch nur ein Schauspieler, den ich kurz darauf im Kino wiedererkannte. Vielleicht war es auch gut so. Nana pflegte zu sagen: »Die Schatten der Vergangenheit soll man ruhen lassen.«

Aber warum dann diese Bilder? Warum wollte sie mich jetzt auf einmal an meine Ursprungsfamilie erinnern? Mit gerunzelter Stirn nahm ich das Medaillon letztendlich doch ab und steckte es ein.

Ein komisches Medaillon und eine Eisdiscoparty – echt super. Am Ende war mein Bleistift hoffnungslos zernagt. Aber weiter brachte es mich nicht. Und das zog sich durch bis zum Schulschluss um Viertel nach drei. Dann hatten es alle furchtbar eilig. Maria und Lou wurden von ihrer Mutter mit dem Auto abgeholt, weil sie noch irgendwohin mussten. Tessa und Fenja blieben noch für ein Projekt in der Schule – und ich durfte allein mit dem Bus zurück in unser beschauliches Dörfchen fahren.

Ich seufzte. Wenn man an Geburtstagen schon nicht schulfrei haben konnte, sollte einem zumindest der Nachmittagsunterricht erlassen werden.

Zu Hause schleuderte ich müde meinen Rucksack und meine Stiefeletten in die Ecke. »Bin wieder da!«

Stille.

»Nana?«

Keine Antwort. Was war denn das für ein Empfang? Niemand da? Ernsthaft?

Aus dem Wohnzimmer drangen leises Rascheln und Gemur­mel. »Hallo?« Vorsichtig drückte ich die Tür auf.

»Überraschuuuuung!!!«

Ein Schauer aus Konfetti, Luftschlangen und irgendwelchen Glitzerplättchen in Gold und Silber regnete auf mich nieder. Ich schnappte nach Luft und verschluckte prompt einen Papierfitzel. Alle meine Freundinnen und natürlich Fynn, Enno und noch ein paar Jungs standen in einem Dschungel aus Luftballons und Girlanden und quatschten auf mich ein, während ich vor mich hin hustete. Immerhin kam irgendjemand auf die Idee, mir auf den Rücken zu klopfen.

»Wow!«, japste ich.

»Damit hast du nicht gerechnet, oder?« Nana stand zwischen den Kids und strahlte mich an.

Ich schüttelte überwältigt den Kopf. »Nee. Kein Stück.« Deswegen waren die vorhin alle so schnell verschwunden!

In meiner Erleichterung darüber, dass ich zumindest zeitweilig nicht mehr über eisige Partys nachdenken musste, hatte ich nicht mal Verdacht geschöpft.

»Tja!« Tessa zog kichernd an ihrem metallenen Cola-Strohhalm. »Wir sind eben spitze!«

Kohlensäure war nicht mein Fall. Nana drückte mir einen dreifarbigen Saft in die Hand. Ihr Blick streifte meinen nackten Hals. Reflexartig wühlte ich in meiner Hosentasche, zeigte die Kette vor und hängte sie mir schuldbewusst um. Über meinen Pulli. Ich mochte es nicht, wenn sie meine Haut berührte, dachte ich. »Ich hatte Angst, sie zu verlieren«, sagte ich. Zufrieden verschwand Nana in die Küche.

Klirrend stieß Tessa ihr Glas gegen meins. Ich prostete meinen Gästen zu und angelte nach dem Trinkhalm. »Wer euch als Freunde hat …«, nuschelte ich grinsend.

»Dein Blick, als ich sagte, Fynn könnte Bier besorgen!« Tessa verschluckte sich beinahe. »Das war so süß, echt.«

»Aber die Idee mit der Eisdisco ist trotzdem cool!«, versicherte mir Maria und streckte mir ein orangefarbenes Päckchen, beklebt mit lauter Brausebonbons und einer Riesenschleife, entgegen. »Hier! Aufmachen! Wir haben zusammengelegt.«

»Wow, danke!«, stammelte ich, kurzzeitig abgelenkt von Enno. Der machte sich gerade zusammen mit Fynn und den zwei anderen Jungs am Gabentisch zu schaffen. Die heckten doch irgendwas aus? Wo war Nana? Oder Leonie? Die konnte auch für Ordnung sorgen, sie strahlte auch immer so etwas Respekteinflößendes aus.

»Wo bist du denn heute mit deinen Gedanken? Ist das schon so was wie Demenz? Erde an Godje, hallo?«

Gehorsam zuppelte ich den Klebestreifen von der Verpackung und faltete das Papier auseinander.

Ein Gutschein für das Dungeon in Hamburg und ein T-Shirt mit dem Aufdruck I survived my friends fielen mir entgegen.

»Ihr seid echt crazy«, kreischte ich begeistert. Auf der Rückseite des Oberteils hatten Enno, Fynn, Tessa, Leonie, Maria, Tim, Laura, Noah und Amelie unterschrieben. Ich strich mit dem Finger über die reliefartige Schrift. »Das ist dieses Plusterzeug«, erklärte Leonie überflüssigerweise. Ach, da war sie ja. »Das muss man von links bügeln, und dann hält es ewig.«

»Gefällt’s dir? Gefällt’s dir?« Tessa hüpfte neben mir auf und ab. Sie kreischte direkt in mein Ohr und krallte sich dabei an meiner Schulter fest, damit sie auch wirklich meine Aufmerksamkeit bekam.

»Aua. Ja doch! Wahnsinn«, antwortete ich und befreite mich lachend von ihren spitzen Fingernägeln. »Danke! Danke euch allen!«

Der Reihe nach umarmte ich meine verrückten Freunde. Die Jungs standen unsicher in einer Reihe nebeneinander. Maria schubste mich halb in Tims Arme.

Ich stolperte. Fynn fing mich ab. Ganz bestimmt lief ich rot an. Aber in dem allgemeinen Drängeln und Schubsen merkte das hoffentlich niemand. Sein Herz schlug schneller als meins. Ob das etwas zu bedeuten hatte?

»Danke«, murmelte ich verlegen und ließ ihn hastig los. Sein Oberarm unter dem blauen Hemd fühlte sich fest und stark an. Mein Blick suchte den von Tessa, aber die war mit Kuchenkrümeln beschäftigt.

»Wir fahren aber alle zusammen«, brüllte Maria. »Deine Oma hat’s erlaubt.«

Suchend sah ich mich nach Nana um. Sie lehnte im Türrahmen und lächelte. »Uuuunnnd …?«, sagte sie erwartungsvoll.

»… und sie sponsert den Ausflug mit fünfzig Euro für Schnaps für uns alle«, platzte Enno heraus.

»Lieber Himmel, nein!«, rief Nana und schlug die Hände über ihrem Kopf zusammen. »Ihr Lauser!«

Das mit dem Alkohol entsprach wohl kaum der Wahrheit. Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Vorsichtig legte ich das Shirt zusammengefaltet auf den Geschenketisch, die Gutscheinkarte obendrauf.

Da fiel mein Blick auf ein ziemlich speckiges, unscheinbares graubraunes Päckchen am Rand. Es war das Paket von heute Morgen. Das hatte ich total vergessen. An einer Ecke war es eingerissen und voller getrockneter Wasserflecken, so als ob es sehr lange Zeit im Freien gelegen hätte. Die Tinte war verblichen. Aber zweifellos stand mein Name obendrauf, in einer Handschrift, die ich nicht kannte.

Für Godje.

Sonst nichts. Keine Unterschrift, keine Adresse. Nur: Für Godje.

Mein Herz schlug schneller. »Ist das von jemandem von euch?«, fragte ich und zeigte es in die Runde. Ich erntete nur Achselzucken und Kopfschütteln.

»Okay?« Meine Finger kribbelten, als ich das raue Packpapier berührte. Ich rüttelte ein wenig. Im Inneren klapperte etwas.

Nana kam neugierig näher und setzte ihre Brille auf. Für den Bruchteil einer Sekunde fiel ein Schatten auf ihr Gesicht, so als hätte sie ein Gespenst gesehen. Ihre Hände zitterten, als sie die Finger nach dem Päckchen ausstreckte. Ich hielt es außer ihrer Reichweite.

»Kennst du die Handschrift?«, fragte ich, aber ich bekam keine Antwort.

»Wo kommt das her?«, fragte meine Großmutter in einem Ton, der alle Gespräche sofort verstummen ließ.

»Keine Ahnung«, meldete sich schließlich Enno zu Wort. »Es lag draußen halb verdeckt von einem Strauch. Wir haben’s nur mit reingenommen, Frau Philipp.«

»Vielleicht ist ja eine Bombe drin«, witzelte Noah.

»Nicht komisch«, sagte Nana mit ungewöhnlicher Schärfe in der Stimme.

»Was ist denn damit?«, fragte ich.

»Gib mir das Ding. Ich entsorge es für dich. Das ist nur ein schlechter Scherz.« Ihre Stimme war grau.

»Woher willst du das wissen?« Ich schüttelte das kleine Paket ein wenig und hielt mein Ohr daran. »Tickt nicht, stinkt nicht, klappert nur.«

Nana presste die Lippen zusammen und streckte fordernd den Arm aus. Schützend presste ich das Paket an meine Brust. »Nein. Das ist meins«, antwortete ich mit fester Stimme und setzte ein Grinsen auf, um die Stimmung etwas aufzulockern. Was war denn auf einmal los? Es kam selten vor, dass ich Nana widersprach. Aber das hier war mir ernst. Zumindest auspacken wollte ich das geheimnisvolle Geschenk, bevor ich entschied, ob ich es wegwarf oder behielt. Ich entschied das, niemand sonst.

»Mach’s doch jetzt sofort auf«, schlug Tessa vor und sah Nana unsicher an. »Dann wisst ihr, was drin ist.«

Ich schüttelte den Kopf und legte es unter das T-Shirt meiner Freunde. »Später«, entschied ich. »Jetzt möchte ich Torte. Wer noch?«

2. Pferde und andere Monster

Die Uhr an der Wand tickte leise und regelmäßig. Sie war nichts Besonderes. Sie war einfach da. Nichts brachte sie aus dem Takt, es sei denn, jemand vergaß, rechtzeitig die Batterie zu wechseln. Erst dann nahm man sie in der Regel überhaupt wahr. Weil etwas fehlte, auf das man sich immer verlassen konnte. Etwas, das man als selbstverständlich angenommen hatte … Oder jemand.

Margarete Philipp wischte sich eine stumme Träne fort.

Die Bilder zeigten ein glücklich in die Kamera lächelndes Paar mit einem Kind. Sie waren draußen aufgenommen worden, die Jahreszeiten wechselten. Auf dem ersten schien den Menschen die Sonne ins Gesicht. Es war Sommer. Die Bäume waren grün, die Ärmel kurz. Im Hintergrund weideten Pferde. Die Frau stand mit dem Baby im Arm auf einer Wiese. Ein neugieriger Pferdekopf schnupperte am nackten Fuß des Kindes. Es quietschte offensichtlich vor Glück. Seine Augen strahlten, und der zahnlos lachende Mund zauberte der Betrachterin ein wehmütiges Lächeln ins Gesicht. Sie hatte das glücklich gurgelnde Glucksen noch immer im Ohr.