Das Recht der Hagestolze - Julius Wolff - E-Book

Das Recht der Hagestolze E-Book

Julius Wolff

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Beschreibung

»Es war in der bereits stark vorgeschrittenen Dämmerung eines warmen Frühlingsabends im Jahre 1397, als ein einsam daherkommender Mönch über die Neckarbrücke zu Heidelberg auf das Stadttor zuschritt. Seine hohe Gestalt war von der braunen Kutte verhüllt und die Kapuze so tief über das gebeugte Haupt gezogen, daß auch von seinem Gesichte nichts zu sehen war. Er hielt die Arme dicht an den Leib geschmiegt und die Hände davor gefaltet, und sein Gang hatte etwas Unsicheres, Schwankendes, als wenn er, dessen ungewohnt auf den Zehen schliche. Ob er auf Sandalen oder in Schuhen ging, war nicht zu erkennen, denn auch die Füße waren vom Gewande bedeckt.«

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Das Recht der Hagestolze

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Das Recht der Hagestolze

Historischer Roman

Julius Wolff

Erstes Kapitel

Es war in der bereits stark vorgeschrittenen Dämmerung eines warmen Frühlingsabends im Jahre 1397, als ein einsam daherkommender Mönch über die Neckarbrücke zu Heidelberg auf das Stadttor zuschritt. Seine hohe Gestalt war von der braunen Kutte verhüllt und die Kapuze so tief über das gebeugte Haupt gezogen, daß auch von seinem Gesichte nichts zu sehen war. Er hielt die Arme dicht an den Leib geschmiegt und die Hände davor gefaltet, und sein Gang hatte etwas Unsicheres, Schwankendes, als wenn er, dessen ungewohnt auf den Zehen schliche. Ob er auf Sandalen oder in Schuhen ging, war nicht zu erkennen, denn auch die Füße waren vom Gewande bedeckt.

Das Tor war noch offen, aber der Torwart trat just aus der Wachtstube, um es zu schließen, als der Mönch hindurchschritt. Der Wächter maß den Ankömmling mit einem mißtrauischen Blick und schien eben eine Frage an ihn richten zu wollen, als der Mönch die Rechte erhob und das Zeichen des Kreuzes über den andern machte. Aber die Bewegung fiel etwas ungeschickt, fast ungeschlacht aus; die Hand holte in den sich schneidenden Richtungen von oben nach unten und von rechts nach links so hoch und weit aus, als wollte sie den sündigen Laien statt mit dem heiligen Segenszeichen mit ein paar derben Schlägen bedenken, die glücklicherweise nicht dessen Scheitel und Wange trafen, sondern ohne Widerstand zu finden durch die Luft fuhren. Der Wächter unterdrückte seine Frage, und auch der Mönch blieb stumm und schritt eilig die Gasse entlang zur Stadt hinein. Ihm nachblickend schüttelte der Torwart das Haupt und brummte: »Der ehrwürdige Bruder scheint beim Segenerteilen eine recht kräftige Faust zu führen. Was mag er bei Nacht hier in der Stadt zu suchen haben? Denn ein Heidelberger Franziskaner war es nicht; hätte ihn doch fragen sollen!« Damit hatte der Mann die schweren Torflügel geschlossen und schob nun die eisernen Riegel vor. Dann warf er noch einen Blick zum Himmel empor auf die grauen, schnellziehenden Wolken und begab sich wieder in das Wachthäuschen.

In der engen, schon ziemlich dunklen Gasse war die Haltung und Bewegung des Mönches eine ganz andere als vorher beim Durchschreiten des Tores. Seine Gestalt reckte sich, er trug das Haupt hoch und gerade, bewegte die Arme frei an der Seite, und seine Schritte waren fest und weit. Nur wenige Menschen begegneten ihm, vor denen er es, zumal bei dem spärlichen Lichte, vielleicht nicht der Mühe wert hielt, klösterliche Demut zur Schau zu tragen.

Jetzt kam ihm mit lautem Scherzen und Lachen ein Trupp Studenten entgegen, die paarweise in kleinen Abständen voneinander gingen. Als der Mönch an dem ersten Paar vorüber kam, blieb einer der beiden Studenten stehen, wandte sich um und sagte zu dem andern: »Hast du's gehört, Mutz? der Glatzkopf hatte einen Schritt, als trüge er Sporen an den Sandalen.«

»Dummes Zeug! Sporen!« erwiderte sein Genosse, »wird wohl der Teufel gewesen sein, und du hast seinen Pferdehuf trappen hören.«

Lachend gingen sie weiter. Von den zuletzt kommenden Studenten, die zu vieren in einer Reihe schritten, stieß einer, ein großer, stämmiger Gesell, hart gegen den Franziskaner und lachte: »Holla, mi frater! hast du Schultern aus Eichenholz?«

Ein anderer aber fuhr den Mönch heftig an: »Aus dem Wege, Fledermaus! sonst klatsche ich dich an die Wand, daß du kleben bleibst!«

Mit fester, rauher Stimme, fast drohend entgegnete der Gestellte: »Pax vobiscum!« und setzte Raum gebend und weiterschreitend halblaut hinzu: »Oder ein Kreuzhageldonnerschlag soll euch in die Kniekehlen fahren!«

»Was will das Murmeltier?« riefen die Studenten; »kommt, laßt uns ihm die Kutte ausklopfen!«

Einen Augenblick schien es, als wollte der Mönch stehen bleiben und sich zu den Angreifern umwenden; doch er besann sich und machte sich eilends davon. Auch die Studenten gingen auf die besänftigende Aufforderung eines der Ihrigen lachend und spottend ihres Weges.

»Hätt' ich euch Grünschnäbel nur gleich draußen vor dem Tore!« knirschte der Verhüllte und ballte die Faust. An dem Kreuzungspunkt zweier Straßen blieb er unschlüssig stehen, bis eine Frau daher kam, die er mit seinem mildesten Tone frug: »Könnt Ihr mir nicht sagen, liebe Frau, wo der ehrsame, hochgelahrte Magister Doktor Christoph Wiederhold wohnt?«

»Recht gern, ehrwürdiger Vater!« erwiderte die Frau, »Ihr müßt hier fremd sein, denn den Doktor Wiederhold kennt jedes Kind in Heidelberg. Geht nur hier rechts die Gasse hinauf, da ist's das fünfte, sechste, nein, das siebente Haus. Der eiserne Türklopfer ist ein Hund mit drei Köpfen; Ihr könnt's mit der Hand fühlen, wenn Ihr's nicht mehr sehen könnt.«

»Dank Euch, liebe Frau!« sprach der Kuttenträger und schritt in die Gasse hinein, während die Frau noch eine Weile stehen blieb und ihm verwundert nachschaute, bis er im Dunkel verschwand. Das Zeichen des Kreuzes über der Dienstwilligen zu machen, hatte der ehrwürdige Bruder Franziskaner diesmal vergessen.

Bald fand er das gesuchte Haus und setzte den ihm bezeichneten Türklopfer in laut schallende Bewegung. Eine Magd öffnete und führte den friedlichen Gottesmann ohne Zögern und Bedenken die Treppe hinauf zu dem Hausherrn.

Der Herr Magister Doctor juris Christoph Wiederhold saß in seiner Studierstube an einem Tische, auf dem eine Öllampe brannte, über Schriften und Pergamente gebeugt und blickte ob des seltsamen Besuches in so später Stunde verwundert auf. Da mitten in dem niedrigen Gemache stand, beim matten Dämmerschein der Lampe fast gespenstisch anzuschauen, eine hohe, ganz vermummte Gestalt, die ohne ein Wort zu sprechen, zwei funkelnde Augen unter der Kapuze hervor fest auf ihn gerichtet hielt. Dem kleinen, schmächtigen Manne ward unheimlich zumut, und zaghaft klang seine Frage: »Womit kann ich Euch dienen, ehrwürdiger Bruder?«

»Wer Rat und Vertrauen heischt, soll auch Vertrauen entgegenbringen. Ich bin kein Mönch, wenn ich auch Grund und Ursach zu dem Wunsche habe, in den Straßen dieser Stadt für nichts anderes, als einen Mönch gehalten zu werden.« So sprach der Fremde mit tieftönender Stimme, schlug die Kapuze zurück und enthüllte dem nun noch mehr erstaunten Gelehrten ein ernstes, stolzblickendes Antlitz und ein hochgetragenes, bart- und haarumwalltes Haupt, das mit einer blinkenden Stahlhaube bedeckt war. »Ich komme, hochachtbarer Herr Magister,« fuhr er dann fort, »Euch um Euren gelehrten Rat in einer wichtigen Familienangelegenheit zu ersuchen.«

»Nehmt Platz, edler Herr!« erwiderte der Doktor und deutete auf einen zweiten Stuhl, der seinem eigenen Sitze gegenüber stand.

»Meinen Namen möcht' ich Euch verschweigen, denn er tut nichts zur Sache, und es ist fast nur eine Frage, die ich Euch vorzulegen habe, und um die sich alles dreht, was mir zu wissen not tut,« sagte der Unbekannte.

Der Doktor nickte und schaute, bequem in seinem hohen Stuhle sitzend, den Ellenbogen auf der Armlehne und das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, mit gespannter Aufmerksamkeit dem Sprechenden ins Antlitz, der sogleich fortfuhr: »Meine Frage ist diese: Gibt es ein Recht, ein Gesetz, wonach der Landesfürst einen Anspruch auf das Erbe, auf die Hinterlassenschaft an Hab und Gut eines losledigen, unverheirateten Mannes hat?«

»Hier steht es,« sagte er dann, mit dem Finger auf das Blatt zeigend.

»Ihr meint das jus misogamorum, das Recht der Hagestolze, das man eigentlich das Recht des Fürsten auf das Erbe der Hagestolze nennen sollte,« erwiderte ohne langes Besinnen der Gelehrte. »Allerdings, Herr, solch ein Recht gibt es, und ich kann Euch darüber alle Auskunft erteilen, die Ihr wünschen möget.« Darauf erhob er sich, kramte in einem Schranke unter seinen Schriften und fand bald ein Heft heraus, das er vor sich auf den Tisch legte, darin blätternd und suchend. »Hier steht es,« sagte er dann, mit dem Finger auf das Blatt zeigend: »misogamus amittit jus et potestatem testandi, ein Hagestolz verliert sein Erblassungsrecht und muß sein Gut der Obrigkeit des Ortes, wo er sein domicilium hat, überlassen, vermag also nicht durch ein testamentum oder anderen letzten Willen seine Güter weder an seine Blutsfreunde noch an andere Leute zu verordnen und zu vermachen.«

»Hm! hm!« stieß der Fremde hervor; »läßt sich daran nichts drehen und wenden?«

Der Doktor schüttelte den Kopf und sprach bald frei aus dem Gedächtnis, bald ablesend: »Was der defunctus verläßt, nimmt der fiscus hin, auch wenn ersterer sein Hab und Gut ganz oder teilweise bei Lebzeiten verkauft und das Geld an sich genommen hat. Denn so man erfahren kann, daß der bald sterbende Hagestolz in fraudem fisci von seinen Gütern oder Barschaften anderswohin verschafft, muß solches hinwiederum ad locum domicilii und wo er gehauset und verstorben, angeschafft werden. Indessen hat solche confiscatio gemeiniglich nicht statt in allen Gütern des Hagestolzen, sondern nur in seinen wohlgewonnenen Gütern, die er selber in seinem Stande, Nahrung, Getrieb und Arbeit erworben, ersparet und erübrigt hat, nicht aber in seinen Erb- oder Stammgütern, wie auch nicht in seinen Lehngütern.«

»Aha! das klingt schon besser!« sagte der Gast.

»Ja, so steht es geschrieben,« erwiderte der Doktor, »aber, edler Herr, das Recht wird verschieden ausgelegt und gehandhabt, und es ist hierzulande schon vorgekommen, daß auch das Erbgut eines verstorbenen Hagestolzen eingezogen worden ist. Sollte es Euch nebenbei ganz unbekannt sein, daß unser gnädigster Kurfürst, Pfalzgraf Ruprecht der Zweite, ein sehr starkes Begehren nach Landbesitz hat und deshalb per fas et nefas –«

»Das weiß ich vielleicht besser, als Ihr, achtbarer Herr Doktor!« unterbrach ihn der andere mit einem eigentümlichen Lächeln. »Was ist aber nun Euer Rat, um solche schmähliche confiscatio zu verhindern?«

»Wenn Euer Freund – oder seid Ihr es selbst?«

»Nein, mein Bruder ist es.«

»Wenn also Euer Bruder das Zeitliche segnet, will sagen, mit Tode abgeht, so beerbt ihn der fiscus; daran ist nichts zu ändern, edler Herr. Ist er schwer krank?«

»O bewahre! er steht, Gott sei Dank! auf zwei sehr gesunden Füßen.«

»Wie alt ist er denn schon?«

»Neunundvierzig Jahr.«

»Neunundvierzig erst? noch nicht fünfzig?« rief der Doktor lebhaft, »nun, dann ist ja noch nichts verloren und verdorben! Denn wisset, edler Herr, das Hagestolzenrecht gewinnt erst Kraft und Gültigkeit, wenn der Erblasser fünfzig Jahr drei Monat und zwei Tage alt ist.«

»Das ist mir auch gesagt worden, aber was hilft's?«

»Euer Bruder muß heiraten!«

»Heiraten!« lachte der Gast, »der und heiraten!«

»Ja, wenn er nach Überschreitung vorgemeldeter Altersgrenze als lediger Mann stirbt, so ist sein Hab und Gut rettungslos für Euch verloren. Er kann sich aber auch noch später beweiben, und wenn er sich dann auch keiner Nachkommenschaft mehr erfreuen sollte, so beerben ihn doch seine nächsten Blutsverwandten und nicht der Pfalzgraf.«

»Seid Ihr dessen sicher und gewiß?«

»Ohne allen Zweifel und Irrung!«

Der Fremde stand auf, machte nachdenklich in dem kleinen Gemach ein paar klirrende Schritte auf und ab, zog dann ein Ledersäckchen unter der Kutte hervor und legte zwei blanke Goldgulden auf den Tisch: »Ich sage Euch allen schuldigen Dank, Herr Doktor Christoph Wiederhold!« sprach er dann, »gehabt Euch wohl!« Und die Kapuze wieder über den Kopf ziehend, schritt er zur Tür hinaus, es gern zulassend, daß ihm der Magister mit der Lampe zur Treppe hinunter leuchtete und selber die Haustür aufschloß.

Mißmutig und so schnell es die fast völlige Dunkelheit erlaubte, eilte der Vermummte dem Tore zu und klopfte den Wächter heraus. Dieser kam mit den Schlüsseln aus seinem Stübchen und beleuchtete den Auslaßfordernden mit einer mattbrennenden Hornlaterne. »Ach, Ihr seid es, ehrwürdiger Bruder! Nun, habt Ihr Euer Geschäft in unserer guten Stadt zu Eurer Zufriedenheit zu Ende gebracht?« frug er in Erwartung eines guten Schließpfennigs mit unterwürfigem Tone, während er das Schlüsselloch der kleinen Nachtpforte suchte, die sich für Fußgänger in dem großen Torflügel öffnen ließ.

»Was schiert dich meine Zufriedenheit?« fuhr ihn der Mönch an, »ich bin nicht in der Laune, dir Rede zu stehen. Vorwärts! Tür auf! oder ein Kreuzhageldonnerschlag soll dir –«

»– in die Kniekehlen fahren!« fiel ihm der Wächter lachend ins Wort, indem er das Pförtchen aufsperrte. »Das Sprüchlein kenn' ich, Herr Bligger Landschad von Steinach!«

»Woher, du Schuft?«

»Von manchem Fuhrmann hab' ich's gelernt, dem Ihr die Fracht unterwegs ohne seinen Dank erleichtert habt, Herr Ritter!« entgegnete der Wächter trotzig.

»Dir geb' ich noch was zu!« sprach der also Gehöhnte, und der Wächter fühlte einen Faustschlag im Nacken, daß er taumelte, während der andere durch die Pforte ins Freie entwich.

Kaum aber war der Ritter auf der Brücke, auf die aus den zerreißenden Wolken etwas helleres Licht fiel, als er hinter sich den lauten Notruf des Wächters vernahm, den dieser auf seinem Horne blies. Er beschleunigte seine Schritte und streifte im Gehen die Mönchskutte ab, sie über den Arm hängend. Im Panzerhemd, das er trug, konnte er nun freier und rascher ausschreiten und tat dies auch, die linke Hand am Schwertgriff. Jetzt ließ er einen gellenden Pfiff auf dem Finger erschallen, worauf aus nicht zu großer Entfernung derselbe Ton als Antwort klang. Dann näherte sich schnell doppelter Hufschlag, und bald hielt ein gleichfalls gepanzerter und bewehrter Reiter vor ihm, der noch ein leeres Pferd am Zügel führte.

»Nun, wie steht's?« frug der Reiter.

»Er muß heiraten, anders kein Ausweg!« erwiderte Herr Bligger, während er sich in den Sattel schwang. »Aber jetzt vorwärts! Der Torwart hat mich erkannt und schlägt Lärm; wir werden sie bald hinter uns haben, und da kommt schon der Mond hervor.«

Die Reiter gaben ihren Rossen die Sporen und preschten die Straße stromaufwärts am Neckarufer dahin. –

Der Torwart hatte sich nicht geirrt und den scheinbaren Mönch bei seinem rechten Namen genannt, der in Heidelberg sehr wohl bekannt war, aber nicht sonderlich gut angeschrieben stand, was der Träger dieses Namens auch ganz genau wußte.

Die Herren von Steinach waren ein ritterliches Geschlecht, dessen Ursprung zwar, wie der so vieler Adelsgeschlechter, in Dunkel gehüllt war, von dem aber schon Urkunden aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts reden. Sie genossen eines weit verbreiteten Ansehens, erfreuten sich eines großen Besitzes und hatten vielfach Hofämter und hohe Kirchenwürden inne gehabt. Einer der ihrigen, auch ein Bligger von Steinach, war ein berühmter Minnesänger gewesen, der im ersten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts blühte. Wahrscheinlich ihm zu Ehren führten die Nachkommen eine schwarze Harfe in goldenem Felde im Wappenschilde. Der Ruhm aber, den sich die Enkel erworben hatten, war etwas zweifelhafter und anrüchiger Natur, denn sie lebten zumeist aus dem Stegreif, und manches Schiff, das auf dem Neckar, mancher Frachtwagen, der auf der Landstraße von Heilbronn nach Heidelberg oder in umgekehrter Richtung fuhr, hatte ihre dreist zugreifende Hand fühlen müssen. Einer von ihnen, namens Ulrich, hatte das Räuberhandwerk so arg getrieben, daß ihm das Volk, weil er dem Lande so großen Schaden zufügte, den Schimpfnamen »Landschaden« beilegte und der Kaiser die Reichsacht über ihn verhängte. Vogelfrei, wie er nun war, nahm er an einem Kriegszuge gegen die Ungläubigen teil, schlug einem gefürchteten Anführer der Sarazenen das Haupt ab und brachte es dem Kaiser zur Sühne, so daß dieser ihn wieder zu Gnaden aufnahm und ihm erlaubte, einen gekrönten Sarazenenkopf als Helmzierde im Wappen zu führen. Den Namen Landschaden aber behielt er und sein Folgegeschlecht für alle Zeiten bei, und die tapferen Degen sorgten auch ferner durch ihr Tun und Treiben dafür, daß die Bedeutung dieses Namens nicht in Vergessenheit geriet.

Zurzeit lebten drei Brüder des Geschlechtes, Bligger, der älteste, Konrad, der jüngste, beide verheiratet und mit Kindern gesegnet, und, dem Alter nach in der Mitte zwischen diesen beiden, Hans, jener Hagestolz, um dessentwillen Bligger sich in die ihm feindlich gesinnte Stadt hinein gewagt hatte. Diese drei Brüder besaßen vier Burgen, die nahe beieinander über dem Städtchen Neckarsteinach auf den Bergen des rechten Flußufers standen. Bligger wohnte in der größten, der Mittelburg, die mit der kleinen Vorderburg durch eine Zugbrücke verbunden war; Konrad hauste auf der Hinterburg und Hans endlich auf Burg Schadeck, vom Volke auch das Schwalbennest genannt, weil sie hoch, frei und keck über dem Tale wie ein angeklebtes Nest an einem schroffen Felsen hing.

Dort lebten sie keineswegs einsam und abgeschieden, ohne ebenbürtige und gleichgesinnte Nachbarn; vielmehr waren innerhalb der nächsten vier oder fünf Meilen von Neckarsteinach stromaufwärts die bewaldeten Höhen zu beiden Seiten des vielgewundenen Tales mit stattlichen und von ritterlichen Geschlechtern bewohnten Burgen besetzt, wie sie in solcher Zahl auf so kleinem Raume nirgend anders, auch nicht am Rheine, zu finden waren. Neckarsteinach gegenüber lag auf hohem Kegel die Veste Dilsberg, der Sitz des kurpfälzischen Gaugrafen über den Kraich-, Enz- und Elsenzgau; dann folgten stromauf die Burgen Hirschhorn, Eberbach, Stolzeneck, Zwingenberg, Minneburg, Dauchstein, Hornberg, Horneck, Guttenberg und Ehrenberg, eine immer gewaltiger, als die andere, und jede mit Dörfern und Höfen und weiten Waldungen als Eigentum versehen oder als erbliches Lehen bedacht.

Die mächtigsten, reichsten, aber auch gefürchtetsten aller Burgherren des Neckartales waren die Landschaden von Steinach, und wenn sich Herr Bligger auch nur bei Nacht und als Mönch verkleidet in die Stadt Heidelberg hineinschlich, so war das immerhin schon ein sehr gewagtes Spiel für ihn, denn er hatte eine böse Rechnung bei ihr auf dem Kerbholz. Darum suchten jetzt die beiden Brüder möglichst rasch von dannen zu kommen und ritten in schlankem Trabe durch die vom Monde mehr und mehr erhellte Nacht heimwärts, ohne miteinander zu reden, ein jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Des verwegenen Ritters heimlicher Besuch in Heidelberg hatte aber folgende Veranlassung. Am gestrigen Tage hatte in Bliggers Abwesenheit ein Jude, der sich Isaak Zachäus von Ingolstadt nannte, in Begleitung seines Sohnes, eines hübschen, dunkeläugigen Jünglings, auf der Mittelburg vorgesprochen, sich als Arzt für Menschen und Vieh ausgegeben, gefragt, ob hier etwa die einen oder das andere seiner Kunst und seines vielerprobten Rates bedürftig seien, und sich schließlich erboten, den Burgbewohnern das Horoskop zu stellen, denn er sei auch in Astrologie und höherer Geometrie wohl bewandert und erfahren. Darauf war die Burgfrau mit Freuden eingegangen, und der Sterndeuter hatte sie nach Tag und Stunde der Geburt sämtlicher Familienglieder gefragt, um danach seine Berechnungen zu machen. Nun besaß Frau Katharina ein altes Gebetbuch der Mutter ihres Gemahls, in welche diese alle wichtigen Familienereignisse, also auch die Geburten ihrer Kinder, eigenhändig verzeichnet hatte. Das holte sie hervor und ging dem landfahrenden Weisen aus dem Morgenlande mit den nötigen Zeitangaben zur Hand. Dieser hatte darauf in einsamem Gemache bei guter Verpflegung den ganzen Tag geschrieben, gerechnet und allerlei seltsame Figuren gezeichnet, bis er der Burgfrau die Ergebnisse seiner Nachforschungen mitteilen konnte. Es war aber nicht viel dabei herausgekommen; lauter günstige oder nichtssagende Prophezeiungen für die Zukunft aller ihrer Angehörigen hatte der Hebräer der Burgfrau verkündigt, Prophezeiungen, nach denen sich weder ein ungewöhnliches Glück erhoffen, noch ein besonderes Unheil befürchten ließ. Nur über ihren Schwager Hans hatte er einen seltsam lautenden Ausspruch getan, denn er behauptete: »Junker Hans wird einmal sein Glück in einem Kloster finden.« Daraufhin hatte Frau Katharina den Wahrsager gründlich ausgelacht. Hans, der ritterlichste, lebenslustigste der drei Brüder, der am liebsten im Sattel oder beim Becher saß oder im Forste pirschte und von seinem Freunde, dem Abt des Benediktinerklosters Sinsheim und dessen Konventualen, die er oft tagelang besuchte, die erbaulichsten und abenteuerlichsten Geschichten erzählte, der, der gerade sollte selber einmal in ein Kloster gehen? unmöglich! ganz undenkbar! Aber Isaak Zachäus war ihren launigen Einwendungen gegenüber kühl und ernst bei seinem Ausspruch geblieben und hatte hinzugefügt: »Junker Hans ist neunundvierzig Jahr alt, und wenn er nicht binnen Jahr und Tag heiratet, so verfällt nach dem Recht der Hagestolze all sein Hab und Gut als Erbe Eurem gnädigsten Pfalzgrafen.«

Das hatte die Burgfrau stutzig gemacht; sie hatte von einem solchen Rechte noch niemals gehört, forschte näher danach und ließ es sich von dem Juden genau erklären. Kurz darauf war Herr Bligger nach Hause gekommen und war ebenso erstaunt über die unerhörte Neuigkeit wie seine treffliche Hausfrau.

Was wußten diese unerschrockenen, allezeit derb zufahrenden Ritter, Junker und Knappen vom Recht und von Rechtsgewohnheiten. Allenfalls kümmerten sie sich ein wenig um das Lehnsrecht, im übrigen aber ließen sie nur das Faustrecht gelten und schlichteten alle Händel mit dem Schwerte. Der Fall, daß einer ihrer Genossen als Junggeselle gestorben wäre, war im ganzen Bereiche ihrer Bekanntschaft seit Menschengedenken nicht vorgekommen, und so hatten sie keine Ahnung von einem sogenannten Recht der Hagestolze.

Herr Bligger beschloß indessen sofort, der Sache auf den Grund zu gehen und gleich am nächsten Tage einen Rechtsgelehrten der jungen Universität zu Heidelberg darüber zu befragen, den Sterndeuter aber samt dessen Knaben bis zu seiner Rückkehr auf der Burg festzuhalten. Seiner Hausfrau legte er strenges Stillschweigen, besonders Bruder Hans gegenüber, auf und weihte anderen Morgens nur seinen Bruder Konrad ein, in dessen Begleitung er den Ritt zur feindlichen Stadt unternahm. Nachdem ihm nun der Magister die Auslassungen des Juden in allen Punkten bestätigt hatte, ging ihm die Angelegenheit schwer im Kopfe herum. Er grübelte darüber während des ganzen Rittes, und Konrad wollte ihn darin jetzt nicht mit unzeitigen Fragen unterbrechen. Erst dicht vor dem Scheidewege zu ihren Burgen frug Bligger endlich den Bruder: »Woran hast du unterwegs gedacht, Konrad?«

»Natürlich an nichts anderes,« erwiderte Konrad, »als wie wir das fertig bringen sollen, Hans zu verheiraten.«

»Das war auch mein einziger Gedanke,« sagte Bligger, »aber ich komme damit zu keinem Ende. Meine Meinung ist, wir rufen unsere Freunde zusammen und beratschlagen, ob wir nicht gemeinschaftlich gegen dieses vermaledeite Hagestolzenrecht etwas ausrichten können.«

»Und Hans?«

»Hans ist bei seinen Freunden in Sinsheim und wird hoffentlich noch ein paar Tage ausbleiben; darum leidet die Sache keinen Aufschub, denn er darf nichts davon merken. Reite du morgen nach Hirschhorn und Eberbach und lade Otto und Schenk von Erbach zu einer Zusammenkunft übermorgen bei mir ein; ich werde Ernst mit demselben Auftrag nach Zwingenberg zu Engelhard und nach Stolzeneck zu Albrecht von Erlickheim schicken.«

»Gut! ich werde reiten,« sprach Konrad, »aber die Beratung wird auch zu keinem anderen Schlusse führen, als zu dem, den du von dem Heidelberger Doktor mitbrachtest: Hans muß heiraten!«

»Ja, aber sage nur wen?!« erwiderte Bligger. »Ich hielt in Gedanken schon Brautschau für ihn, aber vergeblich. Für unsere jungen Burgfräulein ringsum ist er zu alt; in Heilbronn oder Heidelberg darf er sich nicht blicken lassen, und dazu, daß er auf Werbung im Reiche herumtraben sollte, bringen wir ihn erst recht nicht. Nur Eine wüßte ich, die er sich nehmen könnte, wenn er wollte und wenn sie wollte; das wäre –«

»Juliane Rüdt von Kollenberg, die stolze Burgfrau der Minneburg,« fiel Konrad ein und brach in ein schallendes Gelächter aus, in das Bligger herzhaft einstimmte.

Sie schüttelten beide den Kopf und schwiegen wieder, bis sie sich trennen mußten und einander gute Nacht wünschten. Als Bligger schon ein kleines Stück bergauf seiner Burg zugeritten war, hörte er von fern noch einmal das laute Lachen seines Bruders Konrad, das durch die Stille der Nacht zu ihm herüber tönte, und da mußte er auch wieder lachen, daß es der Bruder hören konnte, und siehe da, zu gleicher Zeit wieherte sein Roß, weil es sich auf den Stall freute; aber es klang, als wenn auch der Hengst des Ritters lachen müßte über den Gedanken, daß Junker Hans einmal Frau Juliane Rüdt von Kollenberg auf der Minneburg heimführen sollte.

Zweites Kapitel

Noch in der Nacht nach seiner Rückkehr von Heidelberg machte Herr Bligger seiner edlen Hausfrau Katharina kurze Mitteilung von der Unterredung mit dem Rechtsgelehrten und seiner Absicht, einige befreundete Burgherren aus dem Neckartal zu einer Beratung über gemeinschaftliche Schritte in der Angelegenheit einzuladen; sie möchte sich auf eine gute Bewirtung der ritterlichen Gäste für übermorgen einrichten, im übrigen sich mit ihrer Wißbegierde bis zum nächsten Tage gedulden und ihn jetzt nichts mehr fragen, sondern ihn schlafen lassen.

Am anderen Morgen gleich nach dem Frühmahl ritt Konrad und bald darauf auch Ernst, Bliggers und Katharinas ältester, dreiundzwanzigjähriger Sohn, nach den benachbarten Burgen ab, um dort die Einladungen des Familienoberhauptes auszurichten. Bligger hatte den Sohn nicht eingeweiht, denn in Anbetracht des sehr innigen und vertrauten Verhältnisses, das zwischen diesem und Junker Hans bestand, fürchtete er, Ernst möchte seinem schwärmerisch geliebten Oheim einen Wink geben, infolgedessen Hans bei seinem eigenwilligen Wesen durch irgendein unberechenbares Widerspiel Bliggers Pläne kreuzen, vielleicht ganz vereiteln könnte. Ernst mußte nach dem ihm gewordenen Auftrage glauben, daß es sich um die Verabredung einer größeren, gemeinsamen Fehde handelte, die vorläufig noch in tiefes Geheimnis gehüllt bleiben müßte.

Als die beiden Ehegatten allein waren, nahmen sie das in der Nacht abgebrochene Gespräch wieder auf, und Frau Katharina begann: »Also hat uns der wackere Jude mit seinen Mitteilungen über jenes unerhörte Recht oder Widerrecht doch nicht getäuscht, und wir können ihn wohl heute seines Weges ziehen lassen mit seinem Knaben.«

»Nein, noch nicht!« entgegnete Bligger. »Ich habe schon mit ihm gesprochen, daß er noch hier bleiben soll; denn ich habe so eine dunkle Ahnung, als könnte er uns in unserer Fürsorge für Hans noch gute Dienste leisten, wenn ich auch noch nicht weiß, in welcher Weise.«

»Was sollten das wohl für Dienste sein?« sprach Katharina. »Wenn dir der Heidelberger Doktor nicht raten und helfen konnte, wird es der Sterndeuter erst recht nicht können.«

»Wer weiß, Käthe!« antwortete der Ritter. »So ein alter Schlaufuchs von Hebräer ist mit allen Hunden gehetzt.«

»Gegen den Pfalzgrafen vermag er doch nichts. Oder soll er vielleicht unserem Bruder Hagestolz sagen, was er bei seinem Horoskop herausgerechnet hat?«

»Das Horoskop! ich hab's!« rief Bligger, »der Jude muß Julianen das Horoskop stellen und uns sagen, was er findet!«

»Wem? Julianen? Julianen auf der Minneburg?« frug Katharina höchst erstaunt.

»Freilich! welcher sonst?« erwiderte Bligger. »Das einfachste und sicherste Mittel, diesem nichtsnutzigen Hagestolzenrecht zu entgehen, ist und bleibt, daß Hans heiratet, und nun strenge deinen Witz an, ob du eine andere findest, die er heiraten könnte, als Juliane Rüdt von Kollenberg!«

»Ein tollkühner Gedanke, Bligger!« sagte Katharina lachend, »die Gebieterin der Minneburg sollte sich je dazu verstehen, einem Landschaden von Steinach, einem ihrer bittersten Feinde, die Hand zum Ehebunde zu reichen!«

»Aus bitteren Feinden sind schon manchmal die besten Freunde geworden,« versetzte Bligger. »Und denke doch den Spaß, Käthe, wenn Hans seine alte Liebe, die er damals nur aus Furcht vor der Schwiegermutter nicht geheiratet hat, nun doch noch zur Frau bekäme!«

»O du brauchst gar nicht so weit zurückzugreifen. Es ist vielleicht drei, höchstens vier Jahre her, daß es mir manchmal scheinen wollte, als stünde Hans mit der schönen Juliane auf einem viel vertrauteren Fuße, als ihr seliger, damals noch in gutem Frieden mit euch lebender Zeisolf wissen und ahnen durfte,« bemerkte die Hausfrau.

»Desto besser!« sagte Bligger, »diese Tatsache, wenn es eine ist, und von der ich heute zum ersten Male höre, kann mich in meiner Hoffnung nur bestärken.«

»Was ich andeutete, fiel – ich wiederhole es – in die Zeit vor eurem Streit,« erwiderte Katharina. »Vergiß nicht, was unterdessen geschehen ist, und wie unversöhnlich sich Juliane auch nach Zeisolfs Tode noch uns gegenüber gezeigt hat. Seitdem ist zwischen ihr und Hans alles vorbei, und sie weiß vielleicht gar nicht, daß er schon vor ihrer Verheiratung ein Auge auf sie geworfen hatte.«

»Ist auch nicht nötig. Wenn sich die beiden nur jetzt ein wenig ineinander verlieben oder nach deinen Beobachtungen wieder ineinander verlieben, so bringen wir sie auch noch glücklich unter eine Decke und drehen dem Pfalzgrafen eine so lange Nase,« lachte der Ritter mit einer entsprechenden Handbewegung.

»Wie willst du das anstellen?« frug Katharina. »Hans, der abgesagte Feind der Ehe, und die kluge, stolze Juliane, – lieber Alter, du träumst.«

»Pah! sie ist ein Weib, und ich denke, eines mit recht warmem Blut,« antwortete Bligger. »Glaubst du nicht, daß sie ihr Witwentum sehr gern wieder mit einem freudenreicheren Dasein vertauschte?«

»Lieber heute, als morgen würde sie das tun, das ist kein Zweifel,« mußte Katharina zugestehen, »aber eine Frau Landschad von Steinach wird sie doch nicht, einen so ritterlichen und höchst annehmbaren Gemahl du ihr auch in Bruder Hans an die Seite geben könntest.«

»Das will ich meinen!« sagte Bligger, »Hans ist noch ein Mann wie ein Jüngling trotz seiner neunundvierzig Jahre. Er darf nur nichts merken; ahnungslos muß er in die Falle gehen, in die wir ihn zu seinem eigenen Glücke locken, und den Köder, mit dem wir sie beide fangen, den soll mir der Jude zurecht brauen; er sieht mir ganz danach aus, als wenn er hexen könnte.«

»Ein Liebestrank?«

»Nein, nein, kein Liebestrank! laß mich nur machen!« sagte Bligger, rasch im Zimmer auf- und niederschreitend und seiner Frau wie zur Beschwichtigung mit der Hand winkend, als stiegen ihm allerlei pfiffige Gedanken auf, in denen sie ihn nicht stören sollte. »Wo steckt der Jude?« frug er dann; »ich werde mal ein Wort unter vier Augen mit ihm reden.«

»Ich habe ihm und seinem scheuen Knaben ein behagliches Zimmer gegeben; in der Giebelstube hausen sie,« erwiderte Katharina.

»Hast du recht gemacht,« sagte der Ritter, »verpflege sie gut! Ich wünsche überhaupt, daß ihnen jedermann hier mit mehr Milde und Freundlichkeit begegnet, als man sonst Juden zu erzeigen gewöhnt ist. Und nun denke an morgen, daß du mit deiner Küche Ehre einlegst; du weißt, der Engelhard schlägt auch bei Tische eine scharfe Klinge.«

»Keine Sorge, mein Alter! sollst zufrieden sein,« rief die Frau ihrem hinauseilenden Gatten nach. Als sie aber allein war, sprach sie zu sich: »Also Hans, der Ehehasser, soll heiraten! Es ist eigentlich recht so und nur zu wünschen, daß es gelingt. Ich kann als Frau das Hagestolzenrecht nicht ganz verdammen. Des tüchtigen Mannes Kraft soll das Glück der Liebe schaffen und genießen, statt mit seinem Herzen mehr und mehr in der Welt zu vereinsamen. Wie sagt Bliggers Ahnherr, der Minnesänger?

Des Mannes Stärke wäre gut,

Ließ er zu rechten Dingen sie erscheinen,

Allein es ist manch Einem so zu Mut,

Daß er mit Haß sich kränket und die Seinen.«

Katharina war eine stattliche Erscheinung, kräftig und gesund, mit lebhaften Bewegungen und einem immer noch hübschen, klugen Gesicht, dessen frische Farben durch das früh sich zeigende Silbergrau des Haares an Stirn und Schläfen noch mehr hervorgehoben wurden.

Sie setzte sich an das geöffnete Fenster und blickte sinnend in das sonnenüberglänzte Tal hinab. Der Wald ringsum an den sanften Geländen, auf den Hügeln und Bergen trug sein hellgrünes Frühlingsgewand. Die flinken Wellen des Neckars, dessen Lauf hier einen großen Bogen beschrieb, blinkten und blitzten im Morgenlichte; die Schwalben umkreisten die Burg, Finken und Drosseln schlugen im Gebüsch des steilen Abhanges, und von unten herauf tönte das sehnsuchtsvolle Lied der Nachtigall. Es war ein köstlicher Tag, wie zum Ruhen und Träumen und zum wonnigen Genießen geschaffen. War auch müßiges Träumen Frau Katharinas Sache sonst nicht, konnte sie sich doch dem Zauber dieses seligen Friedens, der über dem ganzen, lieblich schönen Talgebilde ausgebreitet lag, nicht entziehen. Sie atmete mit Entzücken die würzige Luft und blieb noch lange sitzen, den Blick wie verloren in die Ferne gerichtet, die Gedanken in vergangene Zeiten versenkt.

Die Herren auf den Burgen des Neckartals hielten im allgemeinen in guter Eintracht zusammen, besuchten sich gegenseitig mit ihren Frauen und Kindern, gaben sich fröhliche Feste, Tanzreigen und Trinkgelage, Ringelrennen und Speerstechen, störten sich auch nicht in ihrem ritterlichen Gewerbe, halfen sich vielmehr dabei, und war einmal eine besonders reiche Beute gewonnen, so teilten sie auch wohl brüderlich untereinander. Kamen auch hin und wieder zwischen zweien kleine Streitigkeiten vor, bei denen dann leicht recht derbe Worte fielen, sich wohl gar ein paar Klingen kreuzten, so dauerte solch ein Zwist in der Regel nicht lange. Die Unbeteiligten bemühten sich, den Frieden zu vermitteln, und aller Groll wurde mit einem gründlichen Versöhnungstrunk, bei dem auch die einer Versöhnung gar nicht Bedürftigen tapfer mithielten, spurlos hinweggespült. Drohte vollends einem eine Gefahr von einem Gegner außerhalb dieses Kreises, so traten sofort alle für den einen männiglich ein, und wie in einem geschworenen Bunde ließ dann keiner den anderen im Stich. So hatten es die Großväter und Väter gehalten, und so hielten es die jetzt Lebenden miteinander, so daß selbst der Pfalzgraf vor dem kecken Treiben dieser kleinen, aber mächtigen und trotzigen Tafelrunde des Neckartales manchmal ein Auge zudrücken mußte, zumal ihre Mitglieder auch ihm zuweilen in seinen kriegerischen Unternehmungen mit Mann und Roß zu Hilfe kamen und er es schon deshalb nicht gern mit ihnen verderben wollte. Der kurpfälzische Gaugraf, der als Obervogt und Richter des Gaues auf dem Dilsberge saß, hatte nur dem Namen nach, aber nicht in Wirklichkeit etwelche Gewalt über seine Standesgenossen und hielt sich deshalb meist fern von ihnen, womit diese ganz zufrieden waren; denn sie liebten ihn nicht, weil sie wußten, daß er in allen streitigen Fragen ihr Widerpart war und auf der Seite des Fürsten stand.

Leider hatte diese Einmütigkeit unter den Burgherren vor wenig Jahren einen Riß bekommen, der allen Sühneversuchen zum Trotz nicht zu heilen gewesen war. Einem großen Frachtzuge von Kaufmannsgütern, der von Heilbronn nach Heidelberg bestimmt war, hatte Zeisolf Rüdt von Kollenberg auf Zureden seines nächsten Nachbars stromauf, des Ritters Bruno von Bödigheim auf Dauchstein, der den Zug bis Binau gedeckt hatte, sicheres Geleit auf der Landstraße bis Neckargemünd zugesagt und auch tatsächlich mit seinen Knechten übernommen. Das war nichts Ungewöhnliches, wenn es mit Wissen und Willen der übrigen Burgherren geschah und diese von dem sehr hohen Geleitsgelde einen Teil abbekamen. Diesmal aber hatte es Herr Zeisolf versäumt oder nicht der Mühe wert gehalten, seine Nachbarn von dem übernommenen Geleit vorher in Kenntnis zu setzen, und als der Zug trotzdem unangefochten bis in die Gegend zwischen Hirschhorn und Neckarsteinach gelangte, bekamen die Landschaden Wind davon, überfielen ihn mit bewehrter Hand und wollten nun von Deckung und Geleit nichts mehr wissen, wie sie bisher nichts davon gewußt hatten. Sie nannten Rüdts Verfahren unritterlich und bundsbrüchig und warfen ihm vor, er hätte ihnen nur ihren Anteil am Geleitsgelde unterschlagen wollen. Von den immer heftigeren und drohenderen Worten kam es bald zu Schwertstreichen und einem ernsthaften Scharmützel, in welchem der Sieg lange hin und her schwankte, bis Rüdt mit den Seinen von den Landschaden in die Flucht geschlagen und eine gute Strecke lang verfolgt wurde. Der Warenzug war dabei am besten weggekommen. Während sich Angreifer und Beschützer um ihn rauften, fuhr er so schnell wie möglich davon und erreichte ungeplündert Neckargemünd, wo ein starkes Geleit aus Heidelberg seiner wartete.

Einige Tage nach diesem Vorfall erhielten die Landschaden von Steinach Rüdts Absagebrief, den auch Bruno von Bödigheim mit gesiegelt hatte, und aller Mühen ungeachtet, die sich die zwischen den verfeindeten Burgen wohnenden Ritter um die Erhaltung des Friedens gaben, war der Ausbruch der Fehde nicht zu verhindern. Diese ging ihren rauhen Gang und wurde von beiden Seiten mit gleicher Erbitterung geführt. Man lauerte sich gegenseitig im Tale und im Walde auf und lieferte sich kleine Treffen, bei denen oft genug Blut floß; man fiel in die feindlichen Dörfer, steckte sie in Brand und nahm den Bauern Vieh weg; kurz, man suchte sich auf jede Weise mit List und Gewalt Abbruch und Schaden zu tun. Eines Tages aber stießen die beiden gegnerischen Streitkräfte unvermutet in größeren Scharen aufeinander, und es entspann sich ein hitziges Gefecht, aus dem die Landschaden von Steinach wieder als Sieger hervorgingen und den verwundeten Rüdt selber als ihren Gefangenen mit sich führten. Sie sperrten ihn in den festen Turm der Vorderburg und verlangten zweihundert schwere Goldgulden Lösegeld. Als aber Rüdt diese Summe nicht sofort zahlen konnte, mußte er sich nach langwierigen Verhandlungen dazu verstehen, den Gegnern sein Dorf Neunkirchen samt einem großen Walde, der an das Gebiet der Landschaden grenzte, zu verpfänden. Dann erst ließen sie den Besiegten frei, machten Frieden mit ihm und schwuren Urfehde.

Über diesen Verhandlungen während Rüdts Gefangenschaft waren mehrere Monate vergangen, und wenn nun auch die beschworene Urfehde auf beiden Seiten ehrlich gehalten wurde, so mieden sich doch die nur äußerlich Versöhnten fortan und kamen nie wieder in ein freundschaftliches Verhältnis zueinander. Mehr noch als ihr Gatte, faßte Frau Juliane einen bitteren Haß auf die gesamte Familie der Steinachs, und als ein halbes Jahr nach seiner Befreiung Herr Zeisolf das Unglück hatte, bei einem jähen Sturz mit dem Pferde den Hals zu brechen und nun, über dem Grabe des einstigen Genossen, die Steinachs, namentlich die beiden Frauen, den Versuch machten, sich der Witwe wieder in Frieden und Freundschaft zu nähern, wies Juliane diesen Versuch schnöde zurück, und sie und die Familie der Landschaden blieben geschiedene Leute.

Die Herrin der Minneburg war viel jünger als Herrn Bliggers Gattin; höchstens in der Mitte der Dreißiger konnte sie sein, aber Katharina hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Vermutlich war sie noch, was sie früher gewesen war: eine schlanke, blühende, überaus lebenslustige Blondine, die gut zu Pferde saß, verführerisch lächeln konnte und sich überhaupt der Macht ihrer Reize allen Männern gegenüber sehr wohl bewußt war, ohne daß man ihr nachsagen konnte, sie hätte diese Macht zum Nachteil ihres guten Rufes gemißbraucht. Sie war ihres Geschlechtes eine Gräfin von Ehrenberg von der Burg gleichen Namens bei Heinsheim oberhalb Gundelsheims am Neckar und hatte ihrem Gatten im Laufe der Zeit drei Kinder geschenkt, von denen aber die beiden jüngsten wieder gestorben waren, so daß ihr nur eine Tochter blieb, die jetzt siebzehn Jahre zählen mußte.

Jetzt war sie schon über zwei Jahre Witwe und hatte sich über ihren Zeisolf längst getröstet. Sie fühlte sich noch jugendlich und hatte, dank einer ihr zugefallenen Erbschaft, über bedeutende Einkünfte zu verfügen, was sie, um jede Anknüpfung eines Verkehrs mit den Steinachs zu vermeiden, dennoch nicht veranlaßte, den immer noch verpfändeten Wald von jenen einzulösen. Wie verlautete, sollte sie mit ihrer Tochter Richilde und deren Freundinnen, von denen stets mehrere bei ihr zum Besuch waren, ein sehr vergnügliches Leben führen, von dem manche kleinen abenteuerlichen Züge zu den Ohren der Nachbarn drangen, so daß die Minneburg ein geheimnisvoller Zauberreiz umgab, der die Neugier herausforderte und den die darüber umlaufenden Gerüchte zu deuten und zu vermehren strebten. Ihren verlockenden Namen verdankte die Burg, die auf dem linken Ufer des Flusses, Neckargerach gegenüber lag, einer halb verklungenen Sage, laut welcher vor Jahrhunderten schon ein ritterlicher Kreuzfahrer in treuer, aber trostloser Minne nach der Rückkehr aus dem gelobten Lande seinem verlorenen Glück an dieser Stelle durch Erbauung der Burg ein bleibendes Denkmal gesetzt haben sollte.

Die Minneburg war ein sehr umfangreicher und sehr fester Bau mit einem äußeren und einem inneren baumbewachsenen Zwinger und von doppelten, gewaltig hohen und dicken Ringmauern umschlossen, deren vorderste von vier runden, in gleichmäßigen Abständen voneinander befindlichen, riesigen Türmen noch verstärkt wurde. Der Hauptturm aber, der mächtigste von allen, war viereckig und erhob sich, an die innere Ringmauer gelehnt, aus dem kühlen, schattigen Burghof hoch und stolz empor. Der Palas war mit einer in die Augen fallenden Pracht aufgeführt. Die Einfassungen der Türen und Fenster waren aus schönem roten Sandstein, vom Steinmetzen kunstvoll gemeißelt und mit wohlgeformtem Stab- und Laubwerk geschmückt. In einem besonderen, an den Palas gefügten Turm befand sich eine schlanke, ebenfalls aus rotem Sandstein meisterhaft gearbeitete Wendeltreppe, die bis zum obersten Geschoß hinaufführte. Am südöstlichen Giebel war ein bis unter das Dach reichender Vorbau, welcher Erker enthielt mit einem sehr großen, durch Säulen geteilten Mittelfenster und zwei kleinen Seitenfenstern. Von diesen Fenstern aus, die in dem Erker des großen Hauptgemaches im ersten Stock besonders reich verziert waren, genoß man eine entzückende Aussicht in das Tal hinab und auf die bewaldeten Berge. Unten floß, langhin übersehbar, der tiefgrüne Neckar, und an sein rechtes Ufer geschmiegt lag das Dorf Neckargerach, auf dessen Dächer man von oben hinabschaute, ein friedevolles, liebliches Bild.

Überaus herrlich war die Lage der Burg, auf der Kuppe eines Bergkegels, von hohen Buchenwipfeln umgeben, ganz im Walde versteckt, so daß man von unten nur die Türme und einige Dächer erblickte. Kam man hinauf, so stand man wie vor einem verwunschenen Schloß, in das eine Zugbrücke und ein spitzbogiges Tor führte. Mauern und Türen waren efeuumsponnen; tiefe Stille und Einsamkeit ringsum, in der die Burg wie eine prächtige steinerne Krone des Berges ragte, märchenhaft, feenhaft, von unbeschreiblicher Poesie und Romantik.

Wenig Fremde gelangten hinein und sehr selten ein Freier um die Hand der schönen Gebieterin, und zumeist wohl deshalb so selten, weil es weit und breit umher keinen ebenbürtigen und im richtigen Altersverhältnis zu ihr stehenden, unverheirateten Mann gab, mit Ausnahme des edlen Junkers Hans Landschad von Steinach, der aber vom Heiraten nichts wissen wollte. Nur einer, Ritter Bruno von Bödigheim auf Dauchstein, auch ein Witwer und Herrn Zeisolfs einstiger Bundesgenosse in der Fehde mit den Landschaden, klopfte zuweilen auf der Minneburg und am Herzen ihrer Herrin schüchtern an, hatte aber bislang noch keine Gnade vor ihren Augen gefunden.

So standen die Dinge, als Herr Bligger den kühnen, unter den obwaltenden Verhältnissen schier aussichtslosen Plan faßte, dieser Frau, die sich seiner ganzen Familie so entschieden abhold und unnahbar zeigte, eine Neigung zu seinem Bruder Hans einzuflößen und außerdem auch noch diesen selbst zur Werbung um die Hand der Dame zu bestimmen. Und dies alles nicht etwa in dem einzigen Wunsche, aus jenen beiden, die ja vortrefflich zueinander passen mochten, ein glückliches Paar zu machen, sondern in erster Reihe, um mit diesem wahren Hexenkunststück dem für den Familienbesitz verderblichen Inkrafttreten des Rechtes der Hagestolze vorzubeugen.

Drittes Kapitel

Ernst war mit der Fähre über den Neckar gesetzt und ritt den Waldpfad über Schwanheim auf Neunkirchen zu, um sich von hier nach Burg Zwingenberg zu wenden. Er ließ sein Roß im Schritt durch den frühlingsduftigen, taublinkenden Wald gehen, achtete aber nicht auf das fröhliche Blühen und Sprießen rings um ihn her und hörte nicht das Singen und Zwitschern in allen Zweigen. Er war unmutig und fühlte sich verletzt, daß ihm sein gestrenger Herr Vater nicht mehr Vertrauen geschenkt und ihn in den Zweck des erteilten Auftrages nicht eingeweiht hatte, worüber er im Sattel nun nachsann und grübelte. Ihm war gesagt worden, und er sollte es auf Zwingenberg und Stolzeneck mitteilen, daß sein Oheim Konrad heute früh nach Hirschhorn und Eberbach geritten war, um auch dort die Herren zur Beratung nach der Mittelburg einzuladen. Er wußte auch von dem gestrigen Ritt der beiden Brüder, jedoch ohne das Ziel desselben erfahren zu haben. Was bereitete sich denn da vor, das man ihm so geflissentlich zu verheimlichen suchte? er war doch wahrlich alt genug, alles wissen und alles verschweigen zu können! Nun, dessen getröstete er sich, wenn es wirklich zum Schlagen kam, so ließen sie ihn auch mitreiten, wie er schon öfter bei solchen Gelegenheiten mitgeritten war. Diese Hoffnung stimmte ihn wieder heiter, und im Vollgefühl seiner gelenkigen Jugendkraft gab er dem Roß die Sporen und galoppierte den schmalen Waldweg dahin.

Bald hatte er das Dorf Neunkirchen erreicht, und da er, nach dem Stande der Sonne zu schließen, noch viel Zeit übrig hatte, so gelüstete es ihn, ein Stück in den zur Minneburg gehörigen, aber noch immer den Steinachs verpfändeten Wald hineinzureiten. Als wär's der Zauberwald von Brezilian, in welchem Parcival die schöne Herzogin Jeschute fand und mit seinen Küssen aus dem Schlummer weckte, so trieb ihn eine ahnungsvolle Neugier hinein mit dem lebhaften Wunsche, daß auch ihm hier irgendein liebliches Abenteuer begegnen möchte. In gemächlichem Schritt reitend betrachtete er aufmerksam die Buchen und Eichen, als trügen sie hier andere Rinde und andere Blätter und reckten die Äste in anderer Weise zum Nachbar hinüber als in den Waldungen seines Vaters. Auch diese Waldblumen, die hier unter den Büschen blühten, diese bunten Schmetterlinge, die sich auf ihnen wiegten und in den schrägen, das Laub durchbrechenden Sonnenstrahlen hin und wider flatterten, glaubte er noch nirgends sonst gesehen zu haben. Manchmal hielt er sein Pferd an und horchte auf das Lied eines Vogels, der sich in einem Wipfel barg und ganz anders pfiff, als sein Stammverwandter, der bei Neckarsteinach sein Nest hatte. Alles deuchte ihm hier neu und geheimnisvoll wie die Minneburg selber, die sein Fuß seit Jahren nicht betreten hatte.

So lange die Landschaden mit den Rüdts in gutem Frieden lebten, waren sie oft zusammengekommen, und Ernst hatte sich schon früh zu Richilde, Herrn Zeisolfs und Frau Julianens blondlockigem Töchterlein, lebhaft hingezogen gefühlt, hatte mit ihr gespielt und gescherzt, ihr dann, als sie den Kinderschuhen entwachsen war, in jugendlich feuriger Weise den Hof gemacht und sie vor allen anderen Burgfräulein mit tausend kleinen Aufmerksamkeiten, die sie sich gern von ihm gefallen ließ, so augenscheinlich bevorzugt, daß man die beiden schon öfter miteinander geneckt hatte. Dann war die Fehde ausgebrochen, und sie hatten sich nicht wieder gesehen; aber Ernst hatte noch oft an seine junge Freundin gedacht und sich manchmal nach ihrem lieblichen Anblick gesehnt.

Mit der Erinnerung an jene glückliche Zeit war er immer tiefer in den Wald hineingekommen, als plötzlich aus der Ferne ein heller Laut an sein Ohr schlug, der wie eine Menschenstimme klang. Er hielt und lauschte; da hörte er es wieder und deutlicher als zuvor; es schienen mehrere Stimmen zu sein, und wie ein fröhliches Gelächter durchschallte es den schweigenden Forst. Er ritt langsam weiter, dem Klange nach, und als er so nahe heran war, daß er die Stimmen, die ihm von Mädchenlippen zu kommen schienen, zu unterscheiden vermochte und schon einzelne Worte zu verstehen glaubte, stieg er ab, band sein Pferd an einen jungen Baum und schlich vorsichtig zu Fuß dem Schauplatz der den Wald durchdringenden Fröhlichkeit zu.

Im Gebüsch versteckt, genoß er nun eines Anblickes, der ihn mit so großer Verwunderung erfüllte, daß er das Entdeckte für einen holden Spuk zu halten geneigt war.

Mitten in der Krone einer mächtigen Buche sah er ein Mädchen, das sich, wie er aus den gegenseitigen Zurufen von oben und unten schließen mußte, vergeblich bemühte, von dem Baume wieder herunter zu kommen. Zu seinem Ergötzen bemerkte er, wie die kräftige junge Schöne, die in ziemlicher Höhe auf einem starken Zweige bald stand, bald kniete, öfter den einen Fuß nach dem zunächst tieferen Zweige ausstreckte, um eine Stütze daran zu finden, ohne daß ihr dies gelingen wollte.

Ernst hatte in seiner Kindheit viel von Feen erzählen hören. Allein Feen waren doch zauberkundige Wesen, die schweben, fliegen und mit mancherlei Gespannen durch die Lüfte fahren konnten; einer Fee konnte es niemals begegnen, daß sie sich wie ein Junge, der Vogelnester ausnehmen will, in einem Baume verstieg und nun in größter Verlegenheit um das Herunterkommen war. Und der Feenglauben hatte bei Junker Ernst schon längst keinen Grund und Boden mehr; darum zweifelte er auch nicht daran, daß er hier rein menschliche Fräulein vor sich hatte, die zu ihrem Vergnügen in den Bäumen herumkletterten. Zudem kam ihm die Stimme in der Buchenkrone und eine von den beiden unten auf ebener Erde sehr bekannt vor. Er schlich sich in gebückter Stellung noch näher heran, und die drei jungen Baumnymphen waren von der heiterernsten Lage, in der sie sich befanden, so vollkommen in Anspruch genommen, daß sie nichts anderes um sich her sahen und hörten. Da erkannte der Junker in der einen unten am Boden Fräulein Hiltrud von Erbach und in der oben zwischen den Buchenzweigen Fräulein Sidonie von Hirschhorn. »Nun dann wird ja wohl die dritte niemand anders sein als Fräulein Richilde von der Minneburg,« sagte er sich; »o welch ein köstliches Abenteuer!« Er mußte an sich halten, um nicht laut zu lachen und vor Freude hell aufzujauchzen. Aber sofort sah er auch ein, daß er hier etwas Besseres zu tun hatte, als zu lachen: er mußte zu Sidonie hinaufklettern und sie herunterholen.

Auch mit ihr und Hiltrud war er von Kindheit an befreundet, mit Sidonie sogar verwandt und traf mit beiden auf den väterlichen Burgen öfter zusammen. Die erstere war drei, die andere vier Jahr älter als Richilde, die ihm so prächtig aufgeblüht erschien, daß er sie kaum wieder erkannte.

Er trat aus dem Gebüsch heraus und schritt auf die Buche zu, die inmitten einer kleinen Lichtung stand. Als die beiden Mädchen hier ihn erblickten, stießen sie einen Schrei aus und machten eine Bewegung, als wollten sie davonlaufen. Aber Hiltrud hemmte den Schritt und rief: »Ernst! Ernst Landschad! – mein Gott, wie hast du mich erschreckt!«

Ernst grüßte höflich und sprach: »Verzeiht! ich hörte Stimmen im Walde und ging dem Klange nach und – was ist denn das?« unterbrach er sich jäh und zeigte auf etwas am Boden Liegendes, die beiden Mädchen eines nach dem andern mit fragenden, vorwurfsvollen Blicken ansehend.

Da auf dem Boden lag ein toter Reiher und daneben eine Armbrust.

»Ich habe ihn geschossen,« sagte Richilde selbstbewußt.

»Jetzt, in der Brutzeit?« frug Ernst.

Die beiden Mädchen schwiegen. Als er aber Richilden ins Gesicht schaute, die in holder Verwirrung über den nicht verstandenen Sinn der Frage errötete, da fühlte er sich von ihrer jungfräulichen Anmut und Schönheit im tiefsten Herzen ergriffen, und in diesem Augenblick war es ihm nicht möglich, ihr eine Strafpredigt über den zur Unzeit erlegten Reiher zu halten.

In der Buchenkrone war es mäuschenstill, und als Ernst emporblickte, sah er, wie Sidonie auf ihrem Zweige sich an den Stamm schmiegte und im Laube zu verbergen suchte. Er lächelte und sagte: »Und was macht Sidonie da oben auf dem Baume?«

»Der geschossene Reiher blieb beim Fallen in den Zweigen der Buche hängen,« erwiderte Hiltrud, »und da ist Sidonie hinaufgestiegen, um ihn herunter zu holen. Sie hat uns den Vogel herabgeworfen, aber nun –« Sie stockte, als fehlten ihr die rechten Worte.

»Nun gefällt es ihr da oben in dem grünen Laubversteck so gut, daß sie gar nicht wieder herunter will,« half ihr Ernst lachend ein. Die beiden Mädchen blickten sich ängstlich an, er aber rief zum Wipfel hinauf: »Komm nur herunter, Sidonie! ich habe dich schon gesehen.«

Oben blieb alles still, aber es war, als wenn ein Seufzer wie ein leiser Lufthauch durch die Blätter ging. Ernst betrachtete sich die Buche genauer und sann darüber nach, auf welche Weise Sidonie wohl da oben hinauf gekommen sein mochte. Für einen Knaben wäre es ein Leichtes, von einem Mädchen aber bezeugte das Kunststück nicht nur kecken Wagemut, sondern auch Kraft und Geschicklichkeit. Die Zweige des gewaltigen Baumes fingen schon tief unten am Stamme an; trotzdem mußten die beiden Freundinnen Sidonien erst emporgehoben haben, damit es ihr möglich wurde, den untersten Zweig zu erfassen und sich auf ihn zu schwingen. Von dort höher hinauf zu klimmen, war verhältnismäßig leicht, denn die Zweige waren so zahlreich und wuchsen so dicht übereinander, daß man fast wie auf Leitersprossen weiter kommen konnte. Nur dort, wo Sidonie sich jetzt befand, gab es weitere Abstände, die wohl zu überwinden waren, wenn man sie vor sich hatte, die aber für den Rückweg Schwierigkeiten boten. So saß denn die kühne Baumsteigerin dort oben gefangen, wenn ihr von unten nicht Hilfe und Rettung kam.

»Ja, sitzen lassen können wir sie doch da oben nicht,« sagte Ernst. »Da wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als daß ich hinauf steige und ihr herab helfe. Sidonie!« rief er hinauf, »soll ich kommen und dich herunter holen?«

»Was frägst du denn noch? Könntest schon längst oben sein!« klang es ungeduldig aus den Zweigen herab.

»Ei, ei, du fürwitzig Vöglein! singst ja ein trutzig Lied da oben im Grünen,« gab er lachend zur Antwort. »Nun müßt ihr mich aber auf euren Armen bis zu dem untersten Zweige hier emporheben, wie ihr es jedenfalls auch mit Sidonie gemacht habt,« wandte er sich zutraulich an die beiden Mädchen neben ihm.

Die blickten erst gegenseitig sich an und dann auf den hochgewachsenen, stämmigen Jugendfreund, als überschlügen sie im stillen, ob ihre Kraft wohl dazu ausreichen würde. Er erriet ihre Gedanken und sagte: »Nun, viel schwerer als Sidonie bin ich auch nicht.«

Aber Hiltrud sprach: »Kannst du denn da nicht allein hinauf? wirst doch springen können?«

»Springen? hm! ich weiß nicht,« entgegnete er, die Entfernung mit den Augen messend, »aber ich denke es mir so lustig, sich einmal von schönen Armen tragen zu lassen. Wollt ihr denn nicht?«

»Ich hätte dir mehr Gelenkigkeit zugetraut,« sagte Hiltrud.

Um ihr zu beweisen, daß sie sich nicht in ihm irrte, erfaßte er mit einem mächtigen Satze den Zweig und schwang sich hinauf. »Sidonie!« rief er dann, »der Befreier naht, die verwunschene Prinzessin zu erlösen, aber ohne ein kräftiges Zaubermittel geht's dabei nicht ab!«

Flink kletterte er durch das Astwerk empor und hatte die Verstrickte bald erreicht, während unten die beiden den Verlauf des Rettungswerkes in herzklopfender Erregtheit abwarteten.

»Guten Morgen, liebe Sidonie!« sagte Ernst zu der Freundin und bot ihr die Hand, in welche sie mit einem halb lustigen, halb verlegenen Lächeln die ihrige legte, sich mit der anderen am Baume haltend. »Schau, schau,« fuhr er gleich fort, sich auf den Ast setzend, auf welchem sie stand, »wie hübsch sich's hier oben wohnt! Was meinst du, wollen wir uns hier ein großes weiches Nest bauen? ich trage alles Nötige herbei, und du hast es bloß zu flechten und auszufüttern.«

»Laß jetzt die Späße,« erwiderte sie, »und hilf mir so schnell wie möglich herab.«

»Nur Geduld! so rasch geht das nicht,« lachte er. »Setze dich mal hier neben mich auf den Ast; du siehst, er trägt uns beide.«

Das war nun freilich leichter gesagt als getan, und sie blickte ihn ängstlich an.

»Nur Mut! stütze Dich auf meine Schulter; ich umfasse dich und lasse dich ganz gewiß nicht herunter fallen, wenigstens nicht allein,« sprach der durchtriebene Schelm.

Mit der einen Hand sich auf seine Schulter stützen, mit der andern sich am Baume festhalten; wie nun die Kleider züchtig zusammenfassen? dazu hatte sie keine dritte Hand verfügbar. Aber was half's? sie mußte es eben machen, wie sie nicht anders konnte, und endlich saß sie, purpurrot im Antlitz, neben ihm und suchte ihre verschobenen Kleider so gut wie möglich zu ordnen.

»So! das ging ja; aber still sitzen mußt du!« rief er, »das Rutschen und Hüpfen und Lüpfen kann der Ast doch am Ende nicht vertragen; ich glaube, er knackt schon.«

»Um Gott!« schrie sie auf, »er wird doch nicht brechen?«

»Ich hoffe nicht,« sprach er ruhig, sie fester an sich drückend, als eigentlich nötig war. »Jetzt wollen wir überlegen, wie wir glücklich auf den nächsten Zweig unter uns kommen.«

»Du bleibst hier sitzen,« meinte sie, »und läßt mich langsam hinab, bis ich Fuß fassen kann.«

»Nein, so geht es nicht,« erwiderte er. »Du bist viel zu schwer, als daß ich dich im Sitzen hinablassen könnte; wie soll ich denn uns beide halten im freien Schweben? Ich muß vorangehen, und du gleitest in meinem Arme langsam an mir herunter.«

»Wirst du mich auch nicht fallen lassen?«

»Unbesorgt! ich halte dich sehr fest!«

So geschah es denn. Er stellte sich auf den niedrigeren Zweig; sie ließ sich von oben in seinen umfangenden Arm hinein und glitt nun, fest an ihren Retter geschmiegt und ihn umklammernd, langsam an ihm hinab, bis sie, immer noch von ihm umschlungen, auf demselben Zweige mit ihm stand.

»Ach!« machte sie Atem holend, »laß uns ein wenig ausruhen, mir ist die Luft vergangen.«