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Es ist der perfekte Ort, um der Welt zu entfliehen. Oder zu sterben ... Von der Autorin des SPIEGEL-Bestsellers »Das Sanatorium«.
Die Einheimischen nennen die Insel Reaper's Rock – Fels des Sensenmanns. Vor Jahren hatte hier ein Serienkiller eine Gruppe Jugendlicher getötet, und man munkelt, der Ort sei verflucht. Nun wurde hier vor der malerischen Küste Devons ein Öko-Wellness-Retreat eröffnet, das Ruhe und Entspannung verspricht. Nichts deutet noch auf die dunkle Vergangenheit. Bis die Leiche einer jungen Frau auf den Felsen unterhalb des Yoga-Pavillons gefunden wird. Ein Unfall? Doch das Opfer war kein Gast, sie sollte eigentlich gar nicht auf der Insel sein, wie DS Elin Warner erfährt. Am nächsten Tag ertrinkt ein Mann bei einem Tauchunfall, und Elin ahnt, dass es sich nicht um Zufälle handelt. Sie muss den Mörder finden, bevor sich die tödliche Geschichte der Insel wiederholt ...
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Seitenzahl: 455
Die Einheimischen nennen die Insel Reaper’s Rock – Fels des Sensenmanns. Vor Jahren hatte hier ein Serienkiller eine Gruppe Jugendlicher getötet, und man munkelt, der Ort sei verflucht. Nun wurde hier vor der malerischen Küste Devons ein Öko-Wellness-Retreat eröffnet, das Ruhe und Entspannung verspricht. Nichts deutet noch auf die dunkle Vergangenheit. Bis die Leiche einer jungen Frau auf den Felsen unterhalb des Yoga-Pavillons gefunden wird. Ein Unfall? Doch das Opfer war kein Gast, sie sollte eigentlich gar nicht auf der Insel sein, wie DS Elin Warner erfährt. Am nächsten Tag ertrinkt ein Mann bei einem Tauchunfall, und Elin ahnt, dass es sich nicht um Zufälle handelt. Sie muss den Mörder finden, bevor sich die tödliche Geschichte der Insel wiederholt …
Sarah Pearse wuchs in Devon, Großbritannien, auf und studierte englische Literatur und Creative Writing an der University of Warwick, bevor sie einen Diplomstudiengang in Rundfunk-Journalismus absolvierte. Sie lebte mehrere Jahre in der Schweiz, bevor sie nach Großbritannien zurückkehrte. Ihr Debüt, »Das Sanatorium«, eroberte sofort die internationalen Bestsellerlisten. Mit »Das Retreat«, dem zweiten Fall für Ermittlerin Elin Warner, setzt Sarah Pearse diesen spektakulären Erfolg fort.
Mehr Informationen zur Autorin und ihrem Buch unter https://sarahpearse.co.uk/https://twitter.com/sarahvpearsewww.instagram.com/sarahpearseauthor
Von Sarah Pearse bei Goldmann lieferbar:Das Sanatorium. ThrillerDas Retreat. Thriller
( Alle auch als E-Book erhältlich)
Sarah Pearse
Das Retreat
Thriller
Aus dem Englischen von Ivana Marinović
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »The Retreat« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, London, part of the Penguin Random House group of companies.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2024
Copyright © der Originalausgabe
2022 by Sarah Pearse Ltd 2022
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München,
nach einem Entwurf von Ervin Serrano
Umschlagmotiv: shutterstock/schankz, vulcano; gettyimages/Marco Bottigelli; FinePic
Redaktion: Regina Carstensen
AB · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30655-7V002
www.goldmann-verlag.de
Für meine Mum
Du kannst König sein oder Straßenfeger,aber mit dem Sensenmann tanzt jeder.
Die letzten Worte des Mörders Robert Alton Harris
Sommer 2003
Theas Schrei hallt über die Lichtung, schreckt die Vögel unter einem Gestöber flatternder Flügel aus den Baumkronen.
Es ist kein menschlicher Laut, so schrill und verzweifelt; es ist die Art von Schrei, bei dem sich einem der Magen umdreht, der einem in den Ohren brennt.
Sie hätte warten sollen, bis sie ins Lager zurückkehren. Er hatte ihr gesagt zu warten.
Aber Thea blieb dabei. Drei Biere in der halben Stunde, seit sie sich aus dem Zeltlager geschlichen hatten, um für sich zu sein, und sie konnte nicht länger an sich halten: »Schau mich nicht so an … Ist doch deine Schuld, dass du so viele Dosen mitgenommen hast. Ruf, falls du jemanden kommen siehst …«
Lachend war sie ein paar Schritte davongegangen und hatte sich sorgsam so positioniert, dass Ollie bloß die sandigen Spitzen ihrer weißen Pumps sehen konnte sowie das dünne Rinnsal aus Nass, das sich bereits durch den staubigen Boden schlängelte.
Der Schrei steigert sich.
Ollie erstarrt für eine Sekunde, dann übernehmen die Instinkte … Er springt auf, wirbelt zu ihr herum. Doch beinahe genauso abrupt bleibt er stehen, wobei eine Wolke aus trockener Erde und Laub aufwirbelt.
Eine Bewegung … jemand tritt aus dem Wirrwarr des Geästs heraus.
Der Felsen auf der Klippe über ihnen, Namensgeber der Insel, taucht sie in seinen Schatten, aber Ollie erkennt sofort, dass es niemand aus dem Zeltlager ist. Die Gestalt steckt nicht in Shorts und T-Shirt wie die Jugendlichen und auch nicht in dem fröhlichen Grün der Betreuer – sie ist in etwas Dunkles, Formloses gehüllt.
Ollies Augen suchen Thea. Er kann sie im dichten Unterholz um sich schlagen sehen.
Er will sich rühren, will etwas tun, aber sein Körper sperrt sich. Er kann bloß hinstarren, während das Herz in seiner Brust mit harten Schlägen gegen seine Rippen hämmert.
Ein wildes Durcheinander von Bewegungen, dann ein Geräusch – das scharfe Knacken von etwas, das splittert und bricht.
Ein Geräusch, das er noch nie zuvor gehört hat.
Ollie schließt die Augen. Er weiß, dass es Thea ist, aber in seinem Kopf hat er sie in etwas anderes verwandelt. Eine Marionette. Eine Schaufensterpuppe.
Alles, nur nicht Thea.
Flatternd öffnen sich seine Lider, und da sieht er es: Das Rinnsal hat sich zu etwas Dunklerem, etwas Dickflüssigerem verdichtet.
Blut.
Es spaltet sich zu einer Gabel … zu der Zungenspitze einer Schlange.
Ein weiterer Hieb, diesmal fester, schneller. Doch er dringt kaum zu ihm durch – genauso wenig wie Theas zweiter Schrei, blubbernd, erstickt, als würde er noch in ihrer Kehle gerinnen –, denn Ollie rennt schon los.
Er sprintet in den Wald, steuert die kleine Bucht an, die Thea und er gestern entdeckt haben, während die anderen sich um das Lagerfeuer kümmerten. Obwohl sie beide so getan hatten, als wären sie bloß stehen geblieben, um zu reden, zu trinken, war klar, dass etwas mehr daraus werden würde.
Seine Hand auf dem weichen Streifen Haut über ihren Shorts, ihr Mund, der sich auf seinen presst …
Der Gedanke ist zu viel. Ollie beschleunigt. Es ist, als würde er blindlings laufen, während die untergehende Sonne durch die Baumkronen über ihm flackert. Er erkennt nichts, nur das schattig verwischte Grün und den graubraunen Teppich aus Laub. Seine Turnschuhe rutschen unter ihm weg, der trockene Boden ist so tückisch wie Schlamm.
Dornenranken zerren an seinem Shirt. Eine verhakt sich an seinem Arm, krallt sich in die Haut an der Innenseite seines Handgelenks. Blut blitzt auf – eine gezackte Linie winziger roter Tropfen, die hervorquellen.
Es ist, als hätte er das hier schon einmal getan – ein seltsames Déjà-vu wie in einem Traum. Einer dieser panischen Träume, aus denen man schwitzend und keuchend aufwacht und die später noch eine Weile an einem haften bleiben.
Noch ein paar Meter und die Bäume lichten sich; der Waldboden weicht dem Sand und dem Felsen darunter – geplättete Elefantenhautfalten aus staubigem Kalkstein. Er hat die Stufen erreicht, die Thea gestern entdeckt hat, eigentlich nur hölzerne, in die Erde geschlagene Trittbretter. Sein eigener Schwung reißt ihn mit, und er muss den Oberkörper zurücklehnen, um nicht der Länge nach hinzufallen.
Unten springt er auf den weichen Sand und rennt auf den kleinen Felsüberhang zu, unter dem er und Thea gestern Abend noch mit den geschmuggelten Flaschen lagen.
Ollie lässt sich auf alle viere fallen und kriecht in die Grotte. Sobald er in dem Versteck ist, kauert er sich mit angezogenen Beinen hin und konzentriert sich aufs Atmen. Ein und aus. Ein und aus. Ganz still. Ganz leise.
Aber sein Körper will nicht mitmachen; er wird von heftigen Krämpfen geschüttelt, die Ollie nicht kontrollieren kann.
Er presst die Hände gegen den Kopf, so als könnte der Druck den Schrei wegdrängen, der immer noch in seinen Ohren schrillt. Aber jetzt ist da nicht mehr nur der Laut, da ist der Anblick – Theas Körper, der einknickt und in sich zusammenfällt, als hätte ein Marionettenspieler brutal die Schnüre gekappt.
Er rammt die Faust gegen das Felsgestein über sich. Schlägt immer wieder dagegen, bis die Haut rissig wird und Blut zu sehen ist.
Seine Knöchel sind rot verschmiert, ein scharfer, sirrender Schmerz durchzieht Ollie, und er versucht, sich daran festzuhalten, um sich abzulenken, doch es funktioniert nicht.
Die Wahrheit schreit immer noch.
Er hat sie alleingelassen. Er hat sie alleingelassen. Er ist weggerannt.
Ollie schiebt seinen Kopf zwischen die Knie und nimmt einen langen, schauderhaften Atemzug.
Die Minuten vergehen, doch niemand kommt. Es wird spät, merkt er. Das letzte bisschen Sonne ist beinahe fort, der Sand vor ihm liegt im Schatten.
Er wird noch ein wenig warten, beschließt er, danach wird er versuchen, ins Zeltlager zurückzukehren. Während die Zeit verstreicht, redet sich Ollie ein, was ihm jedoch nur begrenzt gelingt, dass es bloß ein Scherz war, ein Streich, zu dem sich Thea durch die anderen Jungs hat überreden lassen. Er klammert sich an den Gedanken: Er wird ins Lager zurückkehren, und sie wird da sein und wird ihn auslachen, weil er wie ein Angsthase davongelaufen ist.
Einige Minuten später robbt er unter dem Vorsprung heraus. Während er sich aufrichtet, sieht er sich aufmerksam um, aber der Strand ist verlassen, kein Mensch ist weit und breit zu erkennen.
Als er durch den Wald zurückläuft, hält ihn weiterhin die Überzeugung aufrecht: Das war ein Spaß; Thea geht es gut. Doch sobald er die Lichtung betritt, holt ihn die Erkenntnis ein. Das dunkle Rinnsal von vorhin ist mittlerweile zu einem Blutstrom geworden, der sich zäh einen Weg bergab sucht.
Ollie versucht Thea anzusehen, doch er kann sich nicht überwinden, weiter als bis zu ihren weißen Pumps zu schauen – jetzt mit roten Schlieren überzogen, völlig reglos.
Das ist nicht real. Nicht Thea. Sie kann nicht …
Er wendet sich ab, als die Galle in seine Kehle hochschießt.
Und da bemerkt er etwas auf dem Boden, auf dem staubigen Laub.
Ein heller Stein, um die dreißig Zentimeter lang. Die Oberfläche ist verwittert, mit winzigen Kerben und Dellen überzogen, wo ihm Wellen und Sand zugesetzt haben. An manchen Stellen ist er auch glatt, seine Umrisse sind weich konturiert.
Ollie geht in die Hocke und hebt ihn auf. Der Stein fühlt sich warm und sandig an. Irgendwas daran kommt ihm bekannt vor, überlegt er, während er ihn langsam zwischen den Fingern dreht.
In diesem Moment trifft es ihn, und der Stein in seiner Hand erstarrt.
Den Kopf in den Nacken gelegt, blickt er zu dem auf der Klippenwand thronenden Felsen empor, dann wieder auf seine Hand.
Ollie schaut hin und her, bis seine Augen nichts mehr klar ausmachen können.
Ihm wird klar, dass das, was er in der Hand hält, nicht bloß ein Stein ist.
Die fein geschwungenen Umrisse sind identisch mit denen des Felsens über ihm – es ist das Profil des Sensenmanns. Wahrzeichen der Insel.
Reaper’s Rock.
»Und hier kommt, wie versprochen, mein Update für euch … Wir stehen gerade im Hafen und warten auf das Boot, das uns zum Retreat bringen soll. Mir selbst war nicht klar, wie abgelegen Cary Island tatsächlich liegt … Ich schätze mal, es sind vom Festland mindestens zwanzig Minuten Fahrt.«
Jo dreht das Handy von ihrem Gesicht weg, um das Meer sowie die in der Ferne kaum sichtbare Insel zu zeigen.
»Mich haben schon einige Leute nach LUMEN gefragt, also werde ich euch mal was zum Konzept erklären: LUMEN ist ein Luxus-Retreat auf dieser wunderschönen Insel, die ihr gerade vor der Küste von South Devon seht. Der Architekt wurde von der mexikanischen Koryphäe Luis Barragán inspiriert, was heißt, dass wir es hier mit Eleganz pur zu tun haben – bonbonfarbene schlichte Villen mit Meerblick, die sich nahtlos an die Wälder schmiegen. Es gibt außerdem ziemlich exklusives Zeug: einen Outdoor-Yoga-Pavillon, einen Pool mit Glasboden und dann diese irre Seilschaukel, die über das Wasser ragt … man kann sich direkt ins Meer fallen lassen. Eine der spektakulärsten Besonderheiten ist jedoch eine unglaubliche Villa auf der vorgelagerten Privatinsel – perfekt für alle von euch, die ihre Flitterwochen planen. Ich komme leider nicht in den Genuss, da sie schon ausgebucht war, aber sie sieht echt hammermäßig aus. Dafür nehme ich euch später noch auf eine Kajaktour mit, damit ihr einen Eindruck von den Wellness-Aktivitäten bekommt, die sie da anbieten, unter anderem Paddle-Boarding, Meditation, Kajak, Hydrofoil-Surfen und vieles mehr.« Sie hält inne. »Und jetzt zum schaurigen Teil: Ich liebe die Hintergrundgeschichte zu diesem Ort. Diesem seltsamen Felsen da seitlich an der Insel – ihr könnt ihn von hier gerade so erkennen – hat die Insel nämlich ihren Spitznamen zu verdanken: Reaper’s Rock. Gruselig, oder? Laut den Bewohnern ist die Insel verflucht. Anscheinend« – sie dämpft die Stimme zu einem Flüstern – »soll der Fels eine Verkörperung des Sensenmanns sein. In Pestzeiten wurden die Leute dort in Quarantäne gebracht und ihrem Schicksal überlassen. Und so geht die Sage, dass ihre Seelen immer noch umherwandern und erst Frieden finden, wenn Gevatter Tod sich ein neues Opfer holt. Bleibst du zu lange, wirst du der Nächste sein …«
Jo dreht die Kamera wieder zu sich, um ihr pseudo-erschrockenes Gesicht zu zeigen. »Creepy, oder? Aber das ist noch längst nicht alles. Es gab eine alte Schule auf der Insel, die irgendwann abbrannte. Stand jahrelang leer, bis sie in den späten Neunzigern als Outward-Bound-Standort für Zeltlager genutzt wurde. Alles schön und gut, bis 2003 eine Gruppe Jugendlicher durch die Hand des dortigen Hausmeisters, Larson Creacher, ermordet wurde.« Erneut dämpft sie die Stimme. »Ist es falsch, zu sagen, dass der ganze Gruselkram es irgendwie nur noch reizvoller macht?«
Tag 1
Als Elin Warner zu ihrer Laufrunde aufbricht, fühlt die Luft sich an wie Kaugummi, sie klebt unangenehm in Augen und Haaren. Erst sechs Uhr früh, doch schon strahlt die Hitze dicht wie eine Mauer vom Asphalt ab und weit und breit kein Windhauch, um sie fortzufegen.
Die Strecke, die sie nimmt, ist Teil des südwestlichen Küstenpfads, mit Häusern zu beiden Seiten – opulente Villen im viktorianischen und italienisch beeinflussten Stil, die den bewaldeten Hang spicken. Gleißende Spitzen aus Sonnenlicht blitzen in den Fenstern auf, während ihr Spiegelbild sie in den Scheiben begleitet, samt dem kurzen blonden Haar, das bei jedem Schritt wie ein Pilz um ihren Kopf plötzlich sprießt, bevor es sich wieder um ihr Gesicht legt.
Die Fassaden der Häuser wirken durchscheinend in der Hitze, ihre Umrisse verschwommen. Die Vorgärten sind an den Rändern gelb verdorrt – Gras, das nicht nur in seinem Wachstum gehemmt wurde, sondern dahinwelkt und beim Sterben kahle Stellen hinterlässt wie Wunden.
Die Sommer waren zwar schon früher heiß, aber noch nie wie dieser: wochenlanger Sonnenschein, rekordbrechende Höchsttemperaturen. Die Zeitungen bringen endlose Fotostrecken von aufgeplatzten Autobahnbelägen bis hin zum klischeebehafteten Spiegeleierbraten auf überhitzten Motorhauben. Die Meteorologen haben vor Wochen eine Abkühlung prognostiziert, aber die kam nie. Nur noch mehr Sonne. Die Nerven liegen blank, die Menschen sind bis aufs Äußerste gereizt.
Elin reißt sich zwar noch ganz gut am Riemen, aber ihr Innenleben steht in harschem Widerspruch zur Außenwelt. Mit jedem glühend heißen Tag, der vergeht, steigt in ihr das genaue Gegenteil auf: ein eisiger Griff von Angst, der sich klammheimlich in ihr breitmacht.
Diese Angst hält sie auch nachts wach, immerzu dieselben Gedanken in Endlosschleife. Gefolgt von ihren Regulierungsstrategien, dem täglichen Laufen, dem unermüdlichen Training. In den letzten Wochen ist es geradezu eskaliert – früher laufen, länger laufen, heimlich laufen. Selbstkasteiung.
Und das alles nur, weil ihr Bruder sich gemeldet und ihren Vater erwähnt hat.
Nach einigen Metern weichen die Häuser zu ihrer Linken einer Grünfläche. Der Küstenweg verläuft dahinter, dort, wo er sich an den Rand der Klippe schmiegt.
Elin verlässt den Asphalt und prescht über die offene Fläche auf den Trampelpfad zu.
Ihr Magen macht einen Satz.
Kein Zaun – lediglich ein Meter Erde zwischen ihr und den steil abfallenden vierzig Metern zu den Felsen darunter –, doch sie liebt es. Ein richtiger Küstenpfad eben, keine Häuser zwischen ihr und dem Meer. Der Blick geht weit: Brixham zu ihrer Rechten, Exmouth zu ihrer Linken. Blau, wohin man schaut – das Wasser dunkler und tiefer getönt als das kreidige Pastell des morgendlichen Himmels.
Bei jedem Schritt spürt sie die Hitze des Bodens durch die Sohlen ihrer Turnschuhe aufsteigen. Einen Moment lang fragt sie sich, was wohl passieren würde, wenn sie nicht aufhören würde zu laufen. Ob sie irgendwann explodieren würde, wie ein überhitzter Motor, oder ob es immer weitergehen würde?
Es wäre verlockend, einfach weiterzulaufen, bis die Gedanken aufhören und sie sich nicht mehr am Riemen reißen muss – denn genauso kommt es Elin manchmal vor, als müsse sie sich zu krampfhaft an der Normalität festklammern. Ein kleiner Ausrutscher, und sie wird stürzen.
Auf der Anhöhe angelangt, verlangsamt Elin ihr Tempo. Die Muskeln in ihren Oberschenkeln brennen, zäh und schwer von Milchsäure. Als sie auf ihrer Fitbit auf Pause drückt, bemerkt sie ein graues Auto, das den Hügel erklimmt. Der Wagen ist eilig unterwegs; der heisere Motor lässt die Möwen auseinanderstieben, die gerade ein überfahrenes Aas auf der Straße zerpflücken.
Irgendwas in ihr merkt auf, als sie den Umriss und die Farbe sieht. Aber natürlich, es ist der Wagen von Steed, dem Detective Constable, der ihr bei ihrer Versetzung an die Seite gestellt wurde. Er rast an ihr vorbei, gefolgt von einer trüben Wolke aus Metall, Staub und prasselndem Schotter. Elin erhascht einen Blick auf Steeds Profil: leicht gekrümmte Nase, kräftiges Kinn, blondes, mit Gel gebändigtes Stachelhaar. Etwas an seiner Miene saugt ihr fast das letzte bisschen Luft aus dem Körper. Elin erkennt sie sofort: die ruhige Intensität eines adrenalingefluteten Menschen.
Er ist im Dienst. Ein Einsatz.
Der Wagen hält am Fuß des Hügels. Steed stößt die Tür auf, joggt Richtung Strand.
Elin zieht ihr Handy aus den Shorts und wirft einen Blick aufs Display. Die Einsatzleitung hat nicht angerufen. Ein Vorfall nur ein Stück die Straße runter, doch sie haben statt ihrer Steed kontaktiert.
Vertraute Sorgen flackern wieder auf, all die Befürchtungen, die an ihr zehren, seit die Personalleitung gemeinsam mit Anna, ihrer Vorgesetzten, beschlossen hat, dass Elin nach ihrer Auszeit noch nicht ganz für ihren Posten bereit sei.
Steed ist nur noch ein Fleck in der Ferne, der sich auf den Strand zubewegt. Elin verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sie weiß, das Richtige wäre, bei ihrem Plan zu bleiben – nach Hause laufen, mit Will frühstücken –, doch ihr gekränkter Stolz gewinnt die Oberhand.
Entschlossen rennt sie den Hügel hinab, kommt an Steeds Wagen vorbei und überquert die Straße. Keine anderen Autos; nur eine Katze, die sich über den Asphalt davonschleicht, wobei ihr feurig gestreifter Bauch beinahe den Boden berührt. Sie überquert den buschigen Grasstreifen und eilt über den menschenleeren Strand dahinter. Kein Steed weit und breit.
Links dem Ufer folgend, gelangt sie zum Restaurant, das auf Metallpfeilern über den Strand hinausragt. Eine auf rustikal getrimmte Hütte, der Name über der Tür auf einem Stück Treibholz eingeritzt: The Lobster Pot. Sämtliche Fensterläden sind verriegelt. Gestern Abend noch wird die Terrasse sich unter dem Andrang gebogen haben, geschmückt mit Lichterketten, die auf den Weinflaschen und Sektkühlern funkeln, mit Körben voll glänzender Muscheln und Fritten.
Ein Stück weiter entdeckt sie Steed … dort, unter dem Überbau des Restaurants. Er kniet im Sand, wobei sich die Muskeln unter dem Stoff seines Hemdes anspannen. Die schiere Körperlichkeit ist immer das Erste, was Elin an Steed auffällt. Doch ihr Kollege ist ein Widerspruch in sich: der harte, geschliffene Körper, den die weichen Gesichtszüge verraten – schwere Lider, sinnliche Augen, ein breiter, voller Mund. Er gehört zu jenem seltenen Typus Mann, der bei Frauen gleichzeitig das Gefühl hervorruft, beschützt zu werden, wie beschützen zu wollen.
Elin und Steed haben inzwischen eine lockere Arbeitsbeziehung. Er ist jünger als sie, Ende zwanzig, aber er hat nichts von dem übersteigerten Draufgängertum, das man manchmal bei Männern dieses Alters vorfindet. Er ist clever, hat ein Händchen dafür, die richtigen Fragen zu stellen, und verfügt über jene emotionale Intelligenz, die nur allzu selten ist.
Eine Frau steht neben ihm. Sie sieht aus wie Ende vierzig, groß und muskulös. Die Badekappe auf ihrem Kopf, im gleichen Blauton wie ihr Badeanzug, betont ihre Schädelform. Trotz der Hitze zittert sie, hüpft in einem nervösen Rhythmus von einem Fuß auf den anderen.
Steed dreht sich um, und erst da bemerkt Elin es: ein auf dem Sand ausgestrecktes Bein, eine blasse Wade, salatartige Fetzen Seetang, die sich an der Haut festgesaugt haben.
Unwillkürlich tritt sie weiter vor, um besser zu sehen.
Ein Teenager. Hässliche Wunden … klaffende Schnitte an Gesicht, Brust und Beinen. Die Kleidung beinahe völlig zerfleddert, das Poloshirt quer über dem Oberkörper aufgeschlitzt.
Noch ein Stück näher, und ihre Sicht wird unscharf … der sirupartige Dunst in der Luft verleiht dem Anblick etwas Verwackeltes. Als sie einen weiteren Schritt macht, folgt auf die Reaktion die Erkenntnis.
Sie saugt die Luft ein.
Bei dem Geräusch wirbelt Steed zu ihr herum, die Augen vor Überraschung geweitet. »Elin?« Er zögert. »Bist du …?«
Doch der Rest seiner Worte zerfließt in der Luft. Elin rennt los.
Sie weiß jetzt, warum sie Steed an ihrer Stelle gerufen haben.
Aber natürlich.
Hana Leger und ihre Schwester Jo warten auf das Boot, das sie zur Insel bringen soll; Koffer und Taschen stapeln sich um ihre Knöchel auf dem Landungssteg. Hana reibt sich den Nacken. Die Sonne fühlt sich an, als würde sie sich, gezielt wie ein Laserstrahl, dort auf der zarten Haut bündeln.
Im Wasser herrscht ein einziges Getümmel: Paddler, Schwimmer, hüpfende Schlauchboote, einsame Gestalten, die auf ihren Boards am Horizont entlangziehen. Kinder planschen am seichten Ufer und spritzen mit den Füßen Gischt auf; pummelige Ärmchen klatschen auf dem Meeresschaum herum.
Hanas Magen krampft sich zusammen, doch sie zwingt den Blick zurück zu dem im Wasser hockenden Knirps.
Nicht wegschauen. Sie kann nicht für immer blind bleiben.
»Alles gut?« Jo betrachtet sie durch ihre Pilotensonnenbrille, wobei sie tief ausatmet. Der Lufthauch hebt die dünnen weißblonden Haarsträhnen an, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst haben.
»Mir ist bloß heiß. Hab nicht gedacht, dass es hier unten so schlimm wird. Von wegen kühle Meeresbrise und so.« Hanas dunkles, zu einem zotteligen Bob geschnittenes Haar klebt ihr feucht im Genick. Sie wuschelt es durch.
Jo kramt in ihrem Rucksack; eines dieser praktischen leichten Modelle mit lauter Reißverschlüssen und Seitentaschen. Sie zieht eine Wasserflasche heraus, nimmt einen Schluck und reicht sie ihr. Hana trinkt – das Wasser ist warm und schmeckt nach Plastik.
Ihre Schwester gibt eine fabelhafte Figur ab. Groß und gebräunt schafft sie es, dem weißen Baumwollkleid und den leicht ausgelatschten Birkenstocks in einem Leopardenmuster etwas lässig Hippes zu verleihen. Jeder Teil von Jos Körper ist dezent definiert durch ein beständiges Programm aus Yoga, Joggen und Skifahren.
Hana folgt ihr zum Ende des Stegs und blinzelt hinaus. Die Insel liegt schemenhaft da und wird von dem grellen Sonnenkreis dahinter in Schatten gehüllt. Nur eine einzige Sache sticht klar hervor: die berühmt-berüchtigte Steinformation an ihrem linken Ausläufer – ihre Silhouette erinnert an eine vermummte Gestalt, die geschwungene Felsnase ragt wie ein Sensenblatt auf.
Erneut zieht sich Hanas Magen zusammen. »Ich hab nicht gedacht, dass das Ding ernsthaft ausschaut wie …«
»… der Sensenmann?« Jo wirbelt herum, wobei ihr der Pferdeschwanz übers Gesicht fegt.
»Ja.« Trotz der Sonnenbrille erscheint bei jedem Blinzeln der trübe Schatten des Felsens vor ihren Augen. Er steht in einem schroffen Kontrast zu der Broschüre des Retreats mit den weißen Sandstränden und dem üppigen Grün.
»Aber du freust dich doch drauf, oder? Die kleine Auszeit, meine ich.« Jo muss ihre Stimme über das Röhren eines Jetski erheben.
»Natürlich.« Hana ringt sich ein Lächeln ab, auch wenn sie sich vor diesem Ausflug gefürchtet hat.
Tatsächlich hatte sie Nein gesagt, als Jo sie das erste Mal anrief. Allein die Vorstellung eines Urlaubs gemeinsam mit Bea, ihrer älteren Schwester, Maya, ihrer Cousine, sowie deren Freund erschien ihr schräg. Sie hatten einander seit Monaten nicht gesehen, nachdem sie sich bereits jahrelang auseinandergelebt hatten. Obwohl Jo meinte, dass es darum ginge, »sie alle wieder zusammenzubringen«, hatte Hana Mühe, es nachzuvollziehen. Warum jetzt? Nach all der Zeit?
Sie schob eine Entschuldigung vor, die ihr plausibel erschien: Ohne Liam fühle es sich nicht richtig an. Aber Jo blieb hartnäckig: Anrufe, SMS; sie tauchte sogar mit einer Ausgabe der Broschüre bei ihr zu Hause auf – was an sich schon eine Seltenheit war.
Jo machte sie mürbe, indem sie Hana das Gefühl gab, alt und zimperlich zu sein, weil sie sich querstellte. So funktionierte Jo eben. Sie war eine Anführerin – nicht auf die herrische Art, sondern durch die schiere Kraft ihrer Persönlichkeit. Irgendwie geriet man in ihren Sog, ohne überhaupt zu ahnen, dass man ihr folgte.
Hana störte das nie so sehr wie Bea, die sich darüber ärgerte. Als stark introvertierte Leseratte empfand Bea Jos Energie und Extrovertiertheit als Überforderung. An Hana rauschte das vielleicht eher vorbei, weil sie immer irgendwo dazwischen war: Akademikerin, ja, aber nicht auf Beas Niveau. Sportlich, schon, aber keine Athletin wie Jo.
»Ich werde mal den Ausblick auf die Insel von hier posten …« Jo schießt ein Foto.
Hana wendet sich ab. Es nervt sie, diese ständige Dokumentation jedes ihrer Schritte, aber sie kann sich nicht beschweren. Dieser Trip ist das Ergebnis von Jos regen Social-Media-Aktivitäten; als Reise-Influencerin wird sie gern mit Gratisurlauben bezahlt. Sie hat knapp vierhunderttausend Follower, die ihre »Natürlichkeit« mögen – etwas zu breiter Mund, der kleine Streisand-Knick ihrer Nase – und regelmäßig kommentieren, wie gut man sich doch mit ihr »identifizieren« könne.
»Das ist bestimmt nicht unseres.« Jo schiebt ihr Handy in die Tasche zurück. »Nicht so früh.« Ein großes Schlauchboot pflügt auf sie zu, wobei es eine weiß schäumende Spur in seinem Kielwasser hinterlässt.
Hana liest den weißen blockigen Schriftzug auf seiner Seite: LUMEN.
Jo checkt ihre Fitbit. »Oder nein, tatsächlich ist es schon fünf vor. Wo sind die anderen?« Sie dreht sich zum Strand um. »Obwohl, ich glaub, das da drüben ist Seth …«
Hana folgt ihrem Blick. »Ach ja?«
»Ach ja?«, äfft Jo sie nach. »Bring mal einen Hauch von Begeisterung auf, Han.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich weiß, dass du kein Fan von ihm bist. Er ist nämlich zu ›riskant‹« – sie macht Gänsefüßchen in der Luft – »für dich, stimmt’s?« Jo verzieht das Gesicht. »Ich wünschte, ich hätt’s dir nie erzählt. Dabei war es keine wirklich ernste Sache.«
Ein Schweißtropfen rinnt zwischen Hanas Schulterblättern hinab. Hierin ist Jo Großmeisterin: die plötzlichen Kehrtwenden. »Eine Vorstrafe ist was Ernstes. Wir wollten nur auf dich aufpassen.«
»Er hatte mit den falschen Leuten angebandelt. Damit hat sich’s.« Ihre Augen blitzen auf. »Nicht jeder ist perfekt, weißt du? Nicht alle können den lieben langen Tag fröhliche Lieder klatschen und Kindern das Einmaleins beibringen.«
Hana sieht ihre Schwester an. Da ist er – der große Haken an der Sache. Genau das ist der Grund, warum dieser Urlaub eine schlechte Idee ist. Weil Jo es nämlich, wie üblich, schafft, sie mit ein paar Worten niederzumachen. Das Schlimme daran ist, dass es sich nicht um bloßes Gestichel handelt, sondern um das, was auch der Rest der Familie über Hana und ihren Beruf denkt: platte Klischees – bis zu den Ellbogen in bunter Knete steckend, im Singsang das Alphabet aufsagend.
Sie haben ja keine Ahnung von der Realität. Von den klebrig-klammernden Kinderfingern in ihren und den simpel gestrickten Erzeugnissen ihrer kleinen Hirne, die ihnen, ganz ohne Filter, direkt aus dem Mund purzeln; davon, wie Hana nach einem Halbjahr mit ihnen genau weiß, was für Menschen aus ihnen werden.
Als Seth ihre Richtung einschlägt, hebt Jo, wieder ganz die Strahlende, winkend die Hand. Schalter umgelegt.
»Yay!«, schreit sie. »Da bist du ja!«
Hana muss zweimal hinschauen. Ein gut gebauter Mann in Shorts und T-Shirt schlendert auf sie zu. Seine Größe, der lässige Gang, die tief in die Stirn gezogene Baseball-Cap – das alles ist so schmerzhaft vertraut. Aufgrund der blendenden Sonne ist sein Gesicht nur schwer auszumachen, die Ähnlichkeit umso frappierender. Trotz dem, was ihr Verstand ihr sagt, vollführt ihr Herz einen Satz, bevor die Realität wieder einsetzt.
Natürlich ist er das nicht. Liam ist fort. Tot, tot, tot.
Mit einem schweren Schlucken sammelt sie sich wieder. Erst dann bemerkt sie eine andere, schmächtigere Gestalt hinter Seth. Es ist Caleb, Beas Freund. Aber keine Bea. Hana wendet sich an Jo: »Wo ist Bea?«
»Sie hat abgesagt.« Ihre Stimme rutscht höher. »Hab ich dir doch gesagt, oder nicht?«
»Nein«, erwidert Hana angespannt. »Wann war das?«
»Letzte Woche. Ist wohl was bei der Arbeit dazwischengekommen. Geschäftsreise in die USA.«
Bea hat abgesagt. Es sollte sie nicht weiter wundern. Ihre große Schwester war schon immer ein Workaholic, aber die letzten Jahre hat sie es weit übertrieben.
»Also hat sie Caleb geschickt? Als Platzhalter?«
Jo zuckt mit den Achseln. »Wird bestimmt nett, ihn mal richtig kennenzulernen.«
»Und du wolltest die Sache nicht verlegen auf einen Termin, wenn Bea kann?«
»Nein. War zu spät. Und überhaupt: Wir brauchen das hier, Han.« Da ist ein Ausdruck ruhiger Entschlossenheit in ihrem Gesicht. »Um wieder anzuknüpfen.« Bevor Hana etwas darauf erwidern kann, setzt Jo sich in Bewegung. »Ich gehe ihnen mal entgegen.« Doch als sie mit langen Schritten an Hana vorbeizieht, wirft Jo ihren auf einem Koffer balancierenden Rucksack um. Er ist nicht verschlossen, und der Inhalt verstreut sich auf dem Boden: Haarbürste, Tagebuch, ein Geldbeutel. Die halb leere Wasserflasche rollt über den Steg. »Scheiße …« Jo schnappt sie sich und stopft achtlos alles wieder zurück, bevor sie sich aufrichtet und abermals Richtung Seth trabt.
Hana will ihr gerade folgen, als sie bemerkt, dass Jo etwas übersehen hat: einen zerknüllten Zettel. Sie bückt sich und hebt ihn auf. Ihre Augen überfliegen das Papier.
Ganz oben steht Hana, gefolgt von drei kurzen Sätzen; alle gleichlautend, doch die ersten beiden durchgestrichen, um von Neuem anzusetzen.
Es tut mir leid.Es tut mir leid.Es tut mir leid.
Als Elin ihre Wohnung erreicht, ist sie schweißüberströmt; ein feuchter Ring markiert den Halsausschnitt ihres Tops in einem dunkleren Blau. Ihre gesamte Haut brennt – nicht wegen der Verausgabung, sondern wegen ihres Telefonats mit Anna, als sie den Hügel wieder hochlief. Sie hatten zwar nur Belanglosigkeiten getauscht, doch Elin kannte den wahren Grund für den Anruf: Steed hat sich bei ihr gemeldet. Hat Anna gesagt, dass Elin aufgetaucht sei.
Im Kopf geht sie ihr Gespräch noch mal durch: »Steed hat dir geschrieben, stimmt’s?«
»Ja, er hat sich Sorgen gemacht …«
»Es ist Hayler, nicht wahr? Er ist zurück.«
Der Name hämmert wie ein unerbittlicher Puls in ihrem Kopf. Hayler. Hayler. Es war der erste Fall, der sich wie ein Parasit in sie hineinfraß, sie von innen aushöhlte. Hayler hatte zwei Mädchen umgebracht, ihre Leichen an ein Boot gebunden und den Propeller den Rest erledigen lassen. Und Elin hatte ihn entkommen lassen. Es hat sie gebrochen. Der Fall hatte zudem ihren brutalen Karriereknick zur Folge, den umgehenden Ausschluss aus dem MCIT, dem Major Crime Investigation Team. Dem Job, den sie liebte. Es war der Anfang ihrer Panikattacken, ihrer Angststörung.
Erst als sie letzten Winter den Mord an der Verlobten ihres Bruders in der Schweiz aufklärte, lockerte die Dunkelheit, die sie heimsuchte, ihren Griff. Obwohl es ein schwerer Schlag war, bekräftigte die Erfahrung sie bei der Entscheidung, mit der sie monatelang gerungen hatte: Ja, sie wollte weiterhin Ermittlerin sein. Sie beschloss zurückzukehren – doch Hayler offenbar auch. Und das zum schlimmsten denkbaren Zeitpunkt. Ihr langsamer Wiedereinstieg ins MCIT würde so zu einer Kriechpartie werden, denn man würde sie auf keinen Fall in der Nähe haben wollen …
Ihre Zunge war schwer, ihre Worte unbeholfen: »Ich kann damit umgehen, Anna. Falls ich ins Team wiederaufgenommen werde, muss ich ja nichts mit der Sache zu tun haben … Ich kann eine Runde aussitzen.«
Gewichtiges Schweigen. Anna ist es unangenehm. »Nein, es ist nicht Hayler. Der Junge, den du am Strand gesehen hast, wurde vor ein paar Tagen vermisst gemeldet. Selbstmord. Er war bereits tot, als das Boot ihn erwischte.«
Es war nicht Hayler.
Elin war sofort darauf angesprungen, hatte den falschen Schluss gezogen. Sie war in Panik verfallen, wie sie es immer tat. Der Gedanke setzt ihr zu, doch Elin schiebt ihn beiseite, als sie die Tür aufsperrt.
Sie durchquert den Flur ihrer Wohnung. Noch immer schafft sie es nicht, von »zu Hause« zu sprechen, hat weiterhin das Gefühl, sie müsse vorsichtig damit umgehen – ein kostbares Objekt, das einem anderen gehört –, und sie weiß, dass das nicht richtig ist. Es ist jetzt zwei Monate her, und es sollte sich wie ihr Zuhause anfühlen.
Es ist nicht die Schuld der Wohnung. Sie ist geräumig und wunderschön, Teil eines sichelförmig angelegten Häuserzugs im Regency-Stil mit Blick aufs Meer. Die großen Entscheidungen haben sie beide gemeinsam getroffen: schlichtes Design, neutrale Farbpalette, sorgsam ausgewählte Polstermöbel – ein großzügiges Ecksofa, ein dottergelber Zweisitzer –, Juteteppich auf dem Boden.
Elin hatte sich richtig reingekniet, wollte ihre Anpassungsfähigkeit beweisen, Will zeigen, dass sie über den Berg war, dass sie nicht mehr zurückblickte. Aber das tut sie, sie kann einfach nicht anders. Sie vermisst ihre alte Bude: ihre durchgesessene Couch, den Blick auf den prasselnden Regen vor der Nachbarwohnung, das ungestörte Schmökern beim Essen.
Will hockt mit aufgeklapptem Laptop auf dem Sofa. Elin fängt Gesprächsfetzen auf: »Die Vorbereitungen für die Prämierung haben Priorität …« Das Handy ans Ohr gedrückt, spricht er leise, drängend.
Will ist Architekt, seine Arbeit Beruf und Leidenschaft gleichermaßen. Seine Begeisterung gehört zu den Dingen, die sie am meisten an ihm liebt – seine Art, die Welt auf eine ganz andere Art wahrzunehmen, eingestimmt auf eine Schönheit, die sich Elin immer entziehen wird. Sie geht in die offene Wohnküche und gießt sich ein Glas Wasser ein.
Kurz darauf dreht Will sich um. »Du bist aber früh zurück.«
»Hab die Runde doch abgekürzt.« Sie nippt an ihrem Glas. »Wer war das?«
»Jack. Die Planung für das Projekt in Stoke Gabriel ist durch.« Er legt den Kopf schief und mustert sie. »Ist was los?«
Er kennt sie zu gut. »Kann man so sagen.« Ihre Stimme gerät ins Wanken. »Hab mich zum Trottel gemacht.« Sie erklärt, was passiert ist – wie sie Steed gefolgt war, das peinliche Telefonat mit Anna.
Wills Miene wird sanft. »Ich würde mir da keinen Kopf machen. Hayler war immerhin dein letzter Fall. Wäre doch seltsam, wenn du nicht dran denken würdest.«
»Es war nicht nur das. Ich habe Panik geschoben … ich musste sofort an Sam denken.«
»Elin, du hast die Antworten, die du wolltest. Du kannst die Vergangenheit hinter dir lassen.«
Will hat recht, aber obgleich sie die Antworten rund um den Tod ihres Bruders mittlerweile bekommen hat, sind es doch welche, die sie sich in ihren düstersten Fantasien nicht hätte vorstellen können: Ihr großer Bruder, Isaac, war nicht da gewesen, als Simon, der Jüngste, starb, wie Elin geglaubt hatte. Sie selbst war da gewesen. Als ihr kleiner Bruder ins Wasser fiel und sich den Kopf an einem Stein aufschlug, erstarrte Elin und tat nichts, um ihm zu helfen.
»Niemand gibt dir die Schuld daran«, fährt Will fort. »Du warst ein Kind.«
»Aber ich glaube, mein Dad … er gab mir die Schuld …« Sie stockt. »Isaac meinte neulich, dass er ihn besuchen wolle, und da fiel mir eine Sache ein, der ich damals keine Bedeutung beigemessen hatte, aber heute …«
»Was denn?«, hakt Will nach.
»An dem Tag, als Dad uns verließ, da hatte er einen Kletterausflug zu den Felsen geplant, von denen aus man ins Meer hüpfen kann. Ich schaffte es nicht, brach oben in Tränen aus, ruinierte die ganze Unternehmung. Danach sagte Dad: ›Du bist ein Feigling, Elin. Ein Feigling.‹ Es waren die letzten Worte, die er zu mir sagte. Danach hatten meine Eltern einen Streit. Dad ging noch in jener Nacht fort.«
»Aber damit meinte er doch nicht das mit Sam …«
»Doch, das meinte er. Es ist der wahre Grund, warum mein Vater fortgegangen ist, und er hatte recht. Ich bin ein Feigling. Ich bin auch heute weggerannt.«
»Das bist du nicht. Du machst Fortschritte. Kleine, beständige Schritte.«
Elin nickt, aber ihr altes Ich musste keine kleinen Schritte machen. Sie war zielgerichtet gewesen, ambitioniert. Hatte es weit gebracht. Die alte Elin wäre nicht nach Torhun versetzt worden. Die Arbeit dort ist monoton, zermürbend: Tür-zu-Tür-Befragungen koordinieren, Überwachungskameras auswerten, Zeugenaussagen protokollieren. Nichts zum richtig Anpacken.
»Ich weiß, es ist nicht das Gleiche«, sagt er sanft.
Sie zuckt mit den Achseln. »Nichts ist das Gleiche.« Es ist schwierig, den hohen Anforderungen des MCIT gerecht zu werden, dem hektischen Tempo in der Einsatzzentrale, der intellektuellen Sorgfalt beim Aufdröseln der Feinheiten eines Falls, dem Festlegen von Strategien und Zugriffsplänen. Nichts kommt an diese Arbeit heran – aber was, wenn sie ihr heute nicht mehr gewachsen ist?
Will checkt sein Handy. »Mein letztes Meeting ist um sechzehn Uhr. Lust auf schick essen gehen? Mal richtig reden?«
»Klingt gut. Ach, übrigens, ich hab dich was von einer Auszeichnung reden hören. Gute Neuigkeiten also?«
Röte steigt ihm in die Wangen. »Oh, ja, ein Projekt wurde für die Shortlist nominiert.«
»Das ist doch super.« Elin ist selbst überrascht, dass sie sich zu einem Lächeln zwingen muss – ein kleiner, gemeiner Teil von ihr ist neidisch. In ihrer Vorstellung sollte es mit ihrer Karriere steil bergauf gehen, so wie mit seiner, aber das tut es nicht. Will ist derjenige, der wie mit einem Motor im Rücken voranprescht, während sie auf der Stelle tritt.
Er streckt sich betont locker, wobei sein T-Shirt-Saum hochrutscht, winkt ab, und da wird es ihr deprimierend klar: Er versucht, seinen Erfolg herunterzuspielen. Schlimmer noch, als wenn er es gar nicht mitbekommen hätte.
»Welches Projekt?«, erkundigt sie sich.
»Das Retreat. LUMEN.« Jetzt lächelt er mit unverhohlenem Stolz. »Kam echt unerwartet.«
LUMEN. Wills Baby. Luxuriöse Ferienunterkünfte auf einer Insel ein paar Kilometer vor der Küste, die er eigenhändig entworfen hat. Die Anlage verlieh der Insel ein neues Gesicht, indem Wills Büro mit einem kühnen Mix aus klotziger, modernistisch inspirierter Architektur und mexikanischer Farbgebung über die Vergangenheit walzte. Ein Herzensprojekt, eines der ersten Dinge, die er bei ihrem Kennenlernen erwähnte: »Wir erfinden im Grunde alles neu, haben aber auch die Landschaft miteinbezogen, indem wir Steine aus dem Mauerwerk der alten Schule benutzten, die mal auf der Insel stand …«
»Es ist eine nationale Prämierung«, schiebt er hinterher, »das wird unser Büro bekannt machen.«
Nicht nur das, denkt Elin. Es ist eine kreative Anerkennung – eine Bestätigung seiner Vision, die öffentliche Wahrnehmung der Insel völlig umzukrempeln. »Glückwunsch … und du musst es meinetwegen nicht kleinreden. Mein Kram soll kein Dämpfer für dich sein. Ich muss lernen, damit klarzukommen.«
»Ich weiß. Leichter gesagt als getan.« Er lächelt. »Lust auf einen Kaffee? Ich habe bis zum nächsten Anruf noch Zeit.«
»Ja, lass mich nur meine Zeiten aufschreiben – bin zwar nur die erste Hälfte gelaufen, aber …« Sie greift nach ihrem Notizbuch auf dem Beistelltisch. Ihre Fitbit dokumentiert zwar ihre Werte, aber Eli notiert sie gerne auf Papier. Immerhin ist das ein Gebiet in ihrem Leben, wo sie merkliche Fortschritte macht.
Elin spürt Wills Blick auf sich und sieht auf. In seinen Augen erkennt sie Mitleid.
Er senkt den Blick – ertappt, peinlich berührt.
Hana betrachtet das Boot, das sich langsam der Anlegestelle nähert und dabei einen Strahl weißen Schaums hinter sich hochjagt. Die Worte, die sie soeben gelesen hat, laufen in Dauerschleife durch ihren Kopf.
Es tut mir leid.Es tut mir leid.Es tut mir leid.
Sie hatte also recht. Dieser Ausflug war nicht nur ein Versuch, die Familie wieder zusammenzubringen. Jo hat die Reise aus einem bestimmten Grund organisiert, und Hana ist sich ziemlich sicher, dass der mit der Notiz zu tun hat, die aus ihrem Rucksack gefallen ist.
»Jo Leger?« Der Skipper schwingt sich aus dem Boot, sodass es wippend gegen den Steg schlägt.
Während er es festmacht, grüßt er sie mit einem gekonnten Lächeln hinter den polarisierenden Gläsern seiner Sonnenbrille. Er ist jung, Ende zwanzig vielleicht, gekleidet mit einem tadellosen weißen Poloshirt und Shorts.
»Das bin ich.« Jo tritt mit einem Lächeln vor.
Hana sieht ihr die Erleichterung an, dass die gestelzte Begrüßungsrunde durch ist – Jos übermäßig ungestüme Umarmung mit Caleb ein deutlicher Kontrast zu Hanas reserviertem Schulterklopfen.
»Ich bin Edd«, stellt sich der Skipper vor.
Seth tritt lächelnd vor. Es folgt ein kräftiges Händeschütteln, die breite Brust vorgestreckt. Typisch Seth. Ein richtiger Macker, aber ein schöner Macker, denkt sie, den Muskelstrang seines Arms betrachtend.
Hana erinnert sich an ihre erste Begegnung in einem Café. Seth hatte sich vorgestellt – vorgeschützte Bescheidenheit –, um dann sogleich abwechselnd mit ihrer Mutter und ihren Schwestern zu flirten, indem er ihren Blick eine Spur zu lange hielt und mit Komplimenten um sich warf. Er hatte ganz klar erwartet, dass man ihn attraktiv fand, und obgleich er es ist – groß, mit Vollbart, muskulös – und seine Attraktivität auch auf Hana wirkte, war diese Erwartungshaltung abstoßend. Diese Anmaßung.
Als das Händeschütteln endlich vorbei ist, kreuzen sich Calebs Blick und ihrer, und sie wechseln ein Lächeln.
Es ist das erste Mal heute, dass sie ihn richtig ansieht. Seine Safari-Shorts zu dem verblassten Pac-Man-T-Shirt verraten die bewusste Scheiß-drauf-Lässigkeit eines Silicon-Valley-Computer-Nerds. Irgendwie passt es. Caleb ist Akademiker, älter als der Rest, hängt aber immer noch dem Studentenleben nach.
Rein körperlich ist er das genaue Gegenteil von Seth: dünn, hagere Gesichtszüge, unscheinbares mausbraunes Haar. Hana erinnert sich noch, wie überrascht ihre Mutter war, als Bea ihn letztes Jahr vorstellte. Ihre vorangegangenen Freunde waren, um es mit den peinlichen Worten ihrer Mutter zu sagen, »kernige Mannsbilder« gewesen.
Die Analyse ihrer Mutter ein paar Tage später fiel unentschieden aus: Er hatte etwas Selbstgerechtes an sich. Beim Abendessen hatten sie einen Einblick davon bekommen: diverse Kommentare zu Politik und Bildung, die ihm aufgrund des Alkohols herausrutschten. Hana störte sich nicht daran. Sie bewunderte sein Selbstbewusstsein, die Dinge zu sagen, die sie genauso empfand, aber nie ausgesprochen hätte. Sie hatte sich schon immer zu sehr darum gekümmert, was die Leute von ihr dachten.
Als sie sich erneut trafen – diesmal nur die Schwestern und Caleb –, fand sie ihn noch sympathischer. Er verfügte über eine aufgeweckte Intelligenz, einen trockenen Humor und diese in sich ruhende Selbstsicherheit, die neben der Großkotzigkeit eines Typen wie Seth gerne übersehen wird. Caleb konnte sich mit Beas Intellekt messen und hatte keine Angst davor, sie herauszufordern, so wie die meisten anderen Menschen. Beas scharfsinniges Hirn schüchterte fast jeden ein, ließ sie entweder verstummen oder trieb sie in die Defensive.
»Also gut, auf wie viele Personen warten wir noch?«, fragt der Skipper.
»Nur eine.« Jo lacht. »Tatsächlich ist sie schon da.«
Maya kommt, halb rennend, halb schlendernd, über den Steg auf sie zu, den Schnürsenkel eines ihrer abgewetzten Segeltuchschuhe lose hinter sich herziehend. Sie steckt in typischen Maya-Klamotten: ein dünnes graues Kleidchen, das nachlässig an ihrer gebräunten, sehnigen Gestalt hängt. Dazu ein um den Kopf geknotetes pinkfarbenes Tuch mit aufgedruckten weißen Ananasfrüchten, das ihre schwarze Lockenmähne gerade so bändigt.
»Wir wären beinahe ohne dich losgefahren.« Jos Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen. »Ich …«
Bevor sie ihren Satz beenden kann, flitzt Maya auch schon auf sie zu und drückt sowohl Jo als auch Hana. Doch sie stoßen zusammen, ihre Ellbogen sind im Weg. Die Umarmung hat etwas Unbeholfenes, die Geste wirkt eingerostet, zu selten genutzt. Als Maya nach hinten tritt, rutscht ihr die Tasche von der Schulter – eine abgewetzte schwarze Sporttasche, die verdächtig klein und leicht aussieht.
Jo kneift die Augen zusammen. »Sicher, dass du alles dabeihast?«
Hana muss sich ein Schmunzeln verkneifen. Jo hatte ihnen eine ausführliche Liste von Utensilien für den Ausflug geschickt. Rashguard. Mütze. Aquaschuhe. Sonnencreme. Und so weiter und so fort.
»Klar, ich habe mich genau an deine Liste gehalten.« Maya fängt Hanas Blick auf und zwinkert.
»Also gut, dann geht’s los.« Der Skipper steuert bereits das Boot an.
Als Hana an Bord klettert, ertönt ein lautes Geräusch. Sie schreckt zusammen. Ein paar Meter entfernt springen Teenager von der Restaurantmauer ins Meer, wobei ihre Shorts sich im Fall aufbauschen. Der harte Knall, als sie das Wasser durchbrechen, geht ihr durch und durch.
»Alles okay bei dir?« Jo hockt sich neben sie. Da ist Mitgefühl in ihrem Tonfall, unterlegt jedoch mit etwas anderem. Genervtheit? Frust?
»Klar. Die Kids da drüben haben mich nur erschreckt.«
»Bist du sicher, dass du nicht immer noch …?«
»Immer noch was?«, erwidert Hana scharf.
Jo zuckt mit den Achseln, aber Hana weiß, was sie denkt. Du hast doch nicht immer noch Schiss?
Ihr Verhalten in diesem Jahr, ihre Unfähigkeit, alles abzuschütteln und zur Normalität zurückzukehren, hat sie in Jos Augen mit einem Makel behaftet. Denn Jo glaubt, das sei auf gewisse Art eine Entscheidung, so als hätte Hana sich längst davon lösen müssen.
Es ist das, was ihr nach Liams Tod von den letzten Monaten am meisten in Erinnerung geblieben ist: Jo, die sie ansieht – nicht mitfühlend, sondern musternd, als würde sie versuchen, einen Riss in Hanas Trauer zu finden, irgendeinen Hinweis darauf, dass sie nur temporär sein würde.
Selbst jetzt noch hat Jo Mühe, die Sache zu benennen. Stattdessen bedient sie sich leerer Worthülsen: Nach Liams »Unfall« wolle sie doch nur, dass es Hana schnell »besser« ginge. Es lassen sich zig vage Worte um das Geschehene spinnen, doch alle laufen sie aufs Gleiche hinaus: »Komm endlich darüber hinweg.«
Das Boot legt mit einem abrupten Satz vom Steg ab und beschleunigt; Jo lacht, als sie dabei gegen Hana geschleudert wird, ihr Gesicht ein einziges Strahlen.
Und wieder den Schalter umgelegt.
Hana betrachtet ihre Schwester, ein Gefühl abgrundtiefen Hasses in sich.
Sie hätte nicht mitkommen sollen. Das hier ist eine schlechte Idee.
Ist nicht mehr lang.« Edds Stimme erhebt sich über das Röhren des Motors. »Maximal zwei Minuten.«
Hana blickt auf ihre Armbanduhr, ihr Gesicht von feiner Gischt gesprenkelt. Sie sind seit über zwanzig Minuten unterwegs. Sie schaut zum Strand zurück; das hölzerne Gerippe des Landungsstegs ist kaum zu sehen. Das hektische Treiben auf dem Festland scheint sehr weit weg.
Mit dem Handy bedeutet Jo ihr und Maya zusammenzurücken. »He, ihr beide, dreht mal das Gesicht zum Meer.« Sie gehorchen, wobei ihre Köpfe sanft aneinanderstoßen, als das Motorschlauchboot über die Wellen hüpft.
»Wir erreichen jetzt die Rückseite der Insel«, ruft der Skipper. »Diese Seite wurde nie bebaut. Der Wald ist zu dicht.«
Caleb stößt einen leisen Pfiff aus. Hana kneift die Augen zusammen und verspürt einen Anflug von Beklommenheit, als sie die dichte Mauer aus Grün betrachtet. Sie kann sich vorstellen, wie dunkel es dadrin sein muss, wie das Sonnenlicht dort, wo die Äste der Bäume sich überkreuzen wie verschränkte Finger und den Himmel verdunkeln, beinahe zu einem Nichts ausgelöscht wird.
»Es ist viel zu lange her.« Maya dreht sich zu Hana. »Wir sind echt mies darin, Kontakt zu halten, stimmt’s?«
»Ich weiß.« Hana betrachtet ihre Cousine. Das Gesicht, so ganz nah, erscheint ihr plötzlich fremd. Sie hatte völlig vergessen, wie schön Maya ist, mit dem wild gelockten Haar und der gebräunten Haut, die sie von ihrer italienischen Mutter geerbt hat. Maya sieht nach wie vor sehr jung aus, aber vielleicht ist das auch nur Hanas Wahrnehmung – sie wird wahrscheinlich immer Mühe haben, Maya als Erwachsene zu betrachten. Sechs Jahre jünger, war Maya ewig das Baby von ihnen gewesen, die kleine Cousine, auf die Hana aufpasste. Es lag aber nicht nur am Alter, sie hatte etwas Unentschiedenes an sich, so als wäre sie sich ihres Platzes in der Welt nicht sicher. Sie schien förmlich dahinzutreiben, mit leichtem Gepäck zu reisen, von Ort zu Ort, von Menschen zu Menschen.
»Dabei sollte ich eigentlich nicht wir sagen«, schiebt Maya hinterher. »Ich war diejenige, die Mist gebaut hat, wenn es ums Antworten ging.«
»Ist schon gut«, sagt Hana, aber die Worte klingen hart, und sie mildert rasch ihren Tonfall. »Ich hab nicht erwartet, dass man mir ununterbrochen die Hand hält.«
Denn genau das hat Maya nach Liams Tod monatelang getan. Der Unfall hatte die beiden wieder zusammengeführt, wenn auch nur zeitweise. Maya war ihr Fels – ruhig, unverrückbar und verlässlich –, als alle anderen sich wieder ihrem Leben zuwandten. Selbst jetzt kann Hana nicht sagen, ob es dem Rest der Familie langweilig wurde oder sie es schlicht vergaßen, während das Leben mit seinem kleinlichen Alltag wieder Einzug hielt. Das war neben dem Tod selbst mit das Schwierigste gewesen – dieses Gefühl, allein zu sein, in der Zeit, in der sie die Menschen am meisten gebraucht hätte.
»Wie geht es dir mittlerweile ohne ihn?« Maya schaut ihr in die Augen. »Ohne Liam …«
»Ich vermisse ihn. Ich wusste nicht, dass ich es so … so körperlich spüren würde.« Sie kann die Empfindungen nicht in Worte fassen: dieses schreckliche Zusammenziehen ihrer Kehle, wenn sie seine Bettseite sieht; das Loch in ihrer Brust, wenn sie an die Zukunft denkt, die sie nie zusammen haben werden. An alles, was sie verloren haben.
Denn das ist es, was Trauer ist: Verlust.
So viel ist für Hana verloren. Liams ständiger Bartschatten; seine Fähigkeit, alles um sich herum zum Leben zu erwecken und so inbrünstig von der Welt zu erzählen, als würde er eine Landkarte in ihrem Kopf ausbreiten. Für Liam war das Leben ein einziges Abenteuer: Flüsse, die es mit dem Kajak zu befahren galt, Hügel, um mit dem Rad hinabzuschießen. Er füllte die Welt mit Farben, und ohne ihn ist sie nun dunkel. Hana befindet sich im Dunkel, und sie weiß nicht, wie sie da wieder rauskommen soll.
Der Skipper unterbricht ihre Gedanken. »Zu Ihrer Linken sehen Sie gleich die Villen.«
Er hat recht. Tief zwischen den Bäumen erhascht sie einen Blick auf ein erstes Gebäude – ein Rechteck in Puderrosa vor dem Himmelsblau, ein riesiges quadratisches Fenster, auf dem Glas spiegelt sich das Sonnenlicht.
Das Retreat selbst thront hoch über dem Strand. Ein gewundener Pfad aus Steinstufen zieht sich von der kleinen Bucht die Klippe empor zu mehreren großzügigen Flachbauten in lebhaften Farbtönen von Indigo bis Apricot. Ein Stückchen tiefer, leicht abgesetzt, ragt ein Pool mit Glasboden über die Felsen hinaus.
»Na, was meinst du?« Seth knufft Caleb in die Seite. »Bea verpasst hier was, oder?«
»Bestimmt.« Caleb zuckt die Schultern. »Wir werden ein andermal herkommen müssen.«
Hana bemerkt Seths Reaktion auf die verhaltene Antwort: wie er unauffällig Caleb mustert. Calebs Körpersprache, besser gesagt, dessen Mangel, ist ihm sichtlich unangenehm; die Tatsache, dass er gar nicht erst versucht, sich kumpelhaft zu geben.
Maya beugt sich zu ihr und dämpft die Stimme. »Was hältst du davon? Als Bea abgesagt hat, dachte ich, er würde ebenfalls einen Rückzieher machen.«
»Du wusstest, dass sie nicht mitkommt?«
»Ja. Jo hat mir das vor paar Wochen geschrieben.«
Hana nickt, während ihr dämmert, dass es kein Versehen war, dass Jo es ihr nicht gesagt hat; sie hat ihr die Information bewusst vorenthalten, damit Hana nicht auch abspringt. Sie ist sich nicht sicher, ob sie Jo begleitet hätte, hätte sie gewusst, dass Bea nicht dabei sein wird – sie haben schon immer alle drei Schwestern gebraucht, um einander auszubalancieren.
Bea und Jo waren zwei Extreme – leise versus laut. Introvertiert versus extrovertiert. Verkopft versus sportlich. Hana, in der Mitte, fand wiederum, dass es sich falsch anfühlte, wenn sie ohne die eine mit der anderen zusammen war, als würde sie zu sehr zum jeweiligen Extrem gezogen.
»Ich bin froh, dass du es geschafft hast«, sagt Maya kaum hörbar. »Ich denke oft, dass wir die ganze Sache mit dem Versprechen haben schleifen lassen, oder?«
Das Versprechen: Immer zusammenhalten. Nie vergessen. Hana zuckt innerlich ob der Naivität des Spruchs zusammen. Das Versprechen hatten sie sich als Kinder gegeben, als nach einer Pyjamaparty bei Maya ein Feuer ausgebrochen war; ein Feuer, das nicht nur ihr Haus, sondern auch ihre Familie zerstörte. Sie alle hatten es geschafft, zu entkommen, alle bis auf Sofia, Mayas kleine Schwester. Ihr Zimmer war leer, als sie nach ihr sahen, daher gingen ihre Eltern davon aus, dass sie schon vor ihnen aus dem Haus geflüchtet sei. Als sie begriffen, dass dem nicht so war, versuchten sie, wieder hineinzugelangen, aber die Feuerwehrleute hielten sie auf. Sie waren es auch, die Sofia schließlich fanden – verängstigt unter ihrem Bett versteckt –, aber da waren ihre Verbrennungen schon so schwer, dass sie in der Folge einen schlimmen Schlaganfall erlitt. Die resultierenden Hirnschäden und die notwendige Pflege erwiesen sich als zu viel für Mayas Eltern, daher lebte Sofia inzwischen in einem Pflegeheim außerhalb von Bristol.
Das Versprechen besagte, zusammenzuhalten – die drei Schwestern und Maya –, aber ihr einst unerschütterlicher Bund überlebte die späten Teenagerjahre nicht.
»Wir sind da!« Jo sammelt bereits ihre Sachen zusammen, während das Boot den Steg ansteuert. Ein Angestellter steht mit einem Tablett hoher Saftgläser bereit; die Flüssigkeit darin hat das dramatische Orange-Rot eines Sonnenuntergangs. »Das sieht ja unglaublich aus – genau das Richtige vor der Kajaktour.«
Maya sieht sie fragend an. »Kajaktour? Wir sind doch gerade erst angekommen.«
»Ich habe uns das Zeitfenster in« – Jo blickt auf ihre Fitbit – »einer halben Stunde gebucht.«
»Was ist mit Auspacken?«
»Ich dachte, ihr könnt es kaum erwarten, auf dem Wasser zu sein.«
Maya nickt mit ungerührter Miene.
Als das Boot kurz darauf anlegt, ist Jo die Erste, die herausklettert. Sie dreht sich um und streckt Hana die Hand hin. »Tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe, als ich fragte, ob du okay bist«, murmelt sie, während sie ihr aus dem Boot hilft. »Ich wollte nur, dass das hier gut läuft …«
Sie blickt verletzlich drein, während sie Hanas Gesicht beobachtet. Jo tut das normalerweise nicht – ihre Gefühle zeigen, geschweige denn sich entschuldigen –, woraufhin Hana ihre Mutmaßungen über den Zettel, den sie vorhin gefunden hat, wieder infrage stellt. Vielleicht war es ja nur das – eine Entschuldigung dafür, nicht für sie dagewesen zu sein. Nichts weiter.
Dennoch, als Jo sich bei ihr unterhakt, versteift Hana sich unwillkürlich.
Sie sollte klug genug sein, auf der Hut zu bleiben.
Elin stochert lustlos an dem letzten Stück ihres gegrillten Hähnchens herum, bevor sie den Teller wegschiebt. Obwohl die Türen zur Restaurantterrasse geöffnet sind, geht kein Lüftchen, und der Raum ist gerammelt voll, was die Hitze nur noch verstärkt. Drei, vier größere Gruppen haben sich an der Bar versammelt, und die Menge schwappt in den Sitzbereich über.
Will drückt ihre Hand, und Elin lächelt. Mit der süß-säuerlichen Weinnote auf der Zunge fühlt es sich an wie eines ihrer ersten Dates – das Ritual des Auswärtsessens, das Auswählen von Getränken und Speisen, Leute beobachten.
»Hey, Speedo-Alarm.« Will nickt zur hinteren Tür.
Elin folgt seinem Blick. Ein Mann um die sechzig marschiert in einem knappen grünen Badehöschen den Strand entlang. Es ist ihr Insiderwitz diesen Sommer. Will und Elin sind richtige Kenner geworden, bewerten die Badehosen nach Sitz, Taillenhöhe, Farbe, Durchsichtigkeit.
»Was meinst du? Eine Neun?«
»Nee … sieben«, erwidert sie trocken. »Zu viel Stoff an den Schlüsselbereichen.«
Will lacht, doch als es verebbt, meint sie eine Spannung in seinem Gesicht auszumachen. »Aber jetzt mal im Ernst, es gibt da etwas, das ich dich fragen wollte.«
Sie greift nach ihrem Weinglas. »Klingt ja mysteriös.«
»Nicht wirklich. Ich wollte dir das hier zeigen.« Er zieht sein Handy hervor und dreht ihr das Display hin. »Nachricht von Farrah. Meint, sie kann sich am Wochenende nicht mit uns treffen. Stress bei der Arbeit.«
Farrah, Wills große Schwester, leitet als Managerin LUMEN