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Das große FinaleEldrid steht kurz davor, von der Dunkelheit verschlungen und von den Berggeistern zerstört zu werden. Ludmilla hat alle Hände voll zu tun, den Willomitzer wieder einzufangen, und noch immer hofft sie darauf, Zamir und seine Schattenarmee stoppen zu können. Am Ende einer Hetzjagd steht die Begegnung mit einem Wesen, dessen Hilfe sich als sehr wertvoll erweist. Doch der Kampf der Geisterwelten untereinander bedroht zunehmend die Existenz der magischen Welt. Die Lage wird immer aussichtsloser, so dass die Spiegelwächter keinen anderen Ausweg sehen, als die Spiegel zu zerstören. Dieser Entschluss wird durch die Situation in der Menschenwelt, die völlig außer Kontrolle gerät, zusätzlich bestärkt. Ihre letzte Hoffnung liegt auf Ludmilla und ihren Verbündeten.Wird es ihnen gelingen, Eldrid zu retten, oder ist die magische Welt dem Untergang geweiht?
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Seitenzahl: 454
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Das Schattenpaar
Annina Safran
Das Schattenpaar
Die Saga von Eldrid
Fünfter Band
Für meinen Vater
Was bisher geschah
Fünf Spiegel, fünf Spiegelfamilien, fünf Spiegelwächter, eine magische Welt: Eldrid.
Die 15-jährige Ludmilla Scathan entdeckt einen Spiegel im Haus ihrer Großmutter Mina, der nach Eldrid führt. Es ist eine magische Welt mit einem besonderen Licht, das es zu beschützen gilt, denn es ist von der Dunkelheit bedroht. Ursache dafür ist unter anderem der Schatten ihrer Großmutter, der dieser in jungen Jahren gestohlen wurde und der nun als lebendiger Schattenkönig das magische Licht bedroht. Ludmilla wird zu Hilfe gerufen, um diesen Schatten zurück in die Menschenwelt zu bringen. Gemeinsam mit dem Spiegelwächter Uri und seiner Fee Pixi begibt sich Ludmilla auf eine Reise durch diese fantastische Welt. Damit sie sich schneller fortbewegen kann, verleiht ihr Uri eine Kraft: das Schnell-Laufen. Dadurch wird jedoch auch ihr Schatten erweckt. Dieser wird nun für den Schattendieb und bösen Spiegelwächter Zamir interessant, der seit Minas Schattenverlust vielen Wesen ihre Schatten gestohlen und diese an den Himmel geschickt hat. Eine dicke riesige Schattenwolke verdunkelt schon einen großen Teil von Eldrid. Die Ereignisse überschlagen sich seit Ludmillas Ankunft: Die mächtigsten und ältesten Geister, die Berggeister, sind erwacht, Bodan, ebenfalls ein Spiegelwächter und Vertrauter von Uri, verliert seinen Schatten, die Waldgeister stellen sich gegen die Spiegelwächter, und Zamir kann sich aus seiner Verbannung befreien.
Ludmilla reist auf eigene Faust mit ihren Freunden Lando, dem Formwandler, und Eneas, dem Unsichtbaren, in den dunklen Teil von Eldrid. Verfolgt von Wesen der Dunkelheit, erreichen sie schließlich das Dorf der schattenlosen Wesen. Dort finden sie zwar nicht Godal, den Schatten ihrer Großmutter, treffen aber den Magier Mainart, der ihnen von einer alten Legende erzählt. Neben den fünf magischen Spiegeln, die nach Eldrid führen, können fünf mächtige lebendige Schatten erschaffen werden, die das Pentagramm der Schatten bilden. Dieses Pentagramm ist mächtiger als alles andere, was es in Eldrid gibt. Ludmilla und ihre Freunde wollen herausfinden, ob fünf lebendige mächtige Schatten geschaffen und zu dem Pentagramm zusammengefügt wurden.
Dieses Vorhaben führt sie durch das Land der Nuria, in dem sie das Dorf der lebendigen Schatten, das Schattendorf, finden. Aber nicht nur die Schatten stellen eine Bedrohung dar, auch die feurigen Wesen Nuria jagen sie durch das dunkle trostlose Land. Durch Zufall erweckt Ludmilla den bis dahin schlafenden Kobolddrachen Nouk, der ihr Begleiter und Helfer wird. Außerdem erhält sie von einem Hexenvolk, den Wiar, den Rat, ein schattenfressendes Wesen, den Willomitzer, zu erschaffen, um sich so der lebendigen Schatten zu entledigen.
Vince, der Enkel von Edmund Taranee, wird nach Eldrid geschickt und erhält von Zamir den Auftrag, Ludmilla zu ihm zu bringen. Er verfolgt sie in das Land der Nuria, ist aber weder in der Lage noch willens, seinen Auftrag zu erfüllen. Da Ludmilla ihm nicht vertraut, lässt sie ihn bei den Wiar zurück.
Währenddessen gerät auch die Gemeinschaft der Spiegelwächter weiter ins Wanken. Bodan verbannt sich in das Dorf der schattenlosen Wesen. Die Zwillinge Kelby und Arden überstimmen Uri in wichtigen Entscheidungen, und Arden gewinnt den Eindruck, dass der einzige Weg, die magische Welt zu retten, darin besteht, die Spiegel zu entmachten oder zu zerstören. Auch er verliert daraufhin seinen Schatten.
Nachdem Ludmilla und ihre Freunde das Land der Nuria endlich verlassen konnten, wird sie von Zamir attackiert. Sie kann ihn nur abwehren, indem sie sich selbst einschließt, aber so auch bewusstlos wird. Lando, Eneas und Nouk versuchen, den Willomitzer unter Kontrolle zu halten und Ludmilla an einen heilenden Ort zu bringen. Bei den Drei Schwestern kann sie endlich aufgeweckt werden, aber auf dem Weg dorthin geht der Schattenfresser verloren und treibt sein Unwesen in Eldrid. Es gelingt Ludmilla nicht, ihn wieder einzufangen, und sie muss schließlich die Jagd nach ihm aufgeben. Der Willomitzer zieht allein weiter und trifft auf Zamir. Vince, der nach einer Erholungs- und Lehrpause von den Wiar frei gelassen wurde, beobachtet dies und verfolgt die beiden.
In der Menschenwelt hält derweil das Spiegelbild von Ludmilla, das sie dort zurücklassen musste, die Mitglieder der Spiegelfamilien auf Trab. Ihre Großmutter Mina erleidet einen Herzinfarkt, während sich Edmund Taranee in das Geschehen einmischt. Margot Dena nimmt Kontakt zu den anderen Spiegelfamilien auf. Das Geheimnis um die Spiegel scheint von dem Hausmeister der Dena-Familie, Franz, und dem Angestellten der Taranee-Familie, Georg, gelüftet worden zu sein. Ludmillas Spiegelbild sollte das Scathan-Haus nicht dauerhaft verlassen, damit Ludmilla in die Menschenwelt zurückkehren kann, jedoch wird das Abbild von Minas Tochter ins Internat geschickt und ist somit außer Reichweite.
Franz und Georg lassen nichts unversucht, durch den Spiegel zu reisen, während sich Edmund, Mina und Arndt ein neues Hindernis in den Weg stellt: der Erbe der Ardis-Familie, Conrad. Dieser ist gewillt, das Ardis-Haus zu verkaufen, jedoch will er den Spiegel behalten und mit sich nehmen. Das Pentagramm der Spiegel ist in Gefahr, und die drei Alten denken sich eine List aus, um das Portal im Haus belassen zu können. Am Ende kann der junge Ardis das Geheimnis dennoch lüften und will aus den Eldrid-Reisen ein Geschäft für die Menschenwelt machen.
Erstes KapitelArndt Solas
Mit einem lauten Krachen landete Arndt Solas wieder im Haus der Ardis-Familie. Er stolperte von dem Spiegel weg, der ihn durch das halbe Zimmer katapultiert hatte, und sah sich gehetzt um. Es war niemand zu sehen. Aus dem Haus war kein Geräusch zu vernehmen. Seine hellen blauen Augen hinter den dicken Brillengläsern huschten unruhig hin und her. Auch wenn Arndt seit mehreren Wochen hier ein- und ausging, bereitete ihm die Stille, die über den Räumen lag, eine Gänsehaut. Der halbverkohlte Spiegel erinnerte jede Minute daran, wie Hedda Ardis gestorben war, und auch wenn es Arndt nicht verwundert hatte, dass das Portal einwandfrei funktionierte, fühlte er sich in seiner Anwesenheit unwohl. Angestrengt horchte er nach Fußtritten auf der Treppe, Türenknallen, während er sich die wenigen Haare, die er noch auf dem Kopf hatte, zurückstrich. Er legte eine zitternde Hand ans Ohr, als würde er dadurch besser hören können, aber da war nichts. Kein einziger Laut. Hatten Conrad Ardis und Georg, der Fahrer von Edmund Taranee, die vor ihm aus Eldrid zurückgesprungen waren, einen so großen Vorsprung gehabt? 10 Minuten in Eldrid – länger hatte er sich mit Kelby in der Höhle nicht unterhalten – entsprachen nur einer Minute in dieser Welt. Hatte die gereicht, um das Haus zu verlassen? Das durfte nicht sein. Mindestens den Angestellten von Edmund Taranee, Georg, musste er zur Rede stellen. Schadensbegrenzung, darum ging es jetzt.
Zitternd ging er mit großen schnellen Schritten zur Tür und trat auf den Flur. »Georg«, brüllte er ungehalten. »Ich rufe jetzt Edmund Taranee an. Wenn du deinen Job behalten willst, solltest du dich blicken lassen.«
Stille, fast gespenstische Stille. »Das darf doch alles nicht wahr sein«, brummte Arndt vor sich hin. Seine alten Beine wackelten, während er die Treppe hinunterlief und zur Haustür eilte. Dabei flatterte das Hemd, das ihm aus der Hose hing, um die ausgebeulten staubigen Hosenbeine. »Die können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«
Arndt Solas war noch nie eine sonderlich gepflegte Erscheinung gewesen, doch in den letzten Wochen hatte er sich Mühe gegeben. Jeden Tag hatte er das Hemd gewechselt, seine abgelaufenen Schuhe geputzt und selbst die dicken Brillengläser waren überwiegend sauber gewesen. Von dieser Fassade war nun nichts mehr übrig. Staub aus Eldrid hing an seiner gesamten Kleidung. Mit bebenden Händen holte er sein Handy aus der Hosentasche und tippte darauf herum, hielt dann inne. Erneut blieb er stehen. »Herr Ardis«, rief er und horchte. »Herr Conrad Ardis? Bitte, sind sie da?«
Nichts war zu hören außer dem rasselnden Atem, der aus seiner Brust kam. Hilflos starrte er auf das Handy in der Hand und drückte auf den grünen Knopf. Nach zwei Klingelzeichen ertönte Edmunds Stimme. »Arndt!« Er klang gut gelaunt. »Ist mit dem Ardis-Spiegel alles in Ordnung? Läuft alles nach Plan?«
»Nein, nichts ist in Ordnung«, entgegnete dieser atemlos und suchte nach den richtigen Worten. »Ich bin im Ardis-Haus, und hier läuft nichts mehr nach Plan. Conrad Ardis ist hinter das Geheimnis des Spiegels gekommen. Er ist nach Eldrid gereist, und dein Angestellter Georg, der zufällig dazu kam, ist direkt hinterher gesprungen.« In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er konnte es immer noch nicht fassen, was gerade geschehen war.
»Was?«, bellte Edmund durch das Handy, so dass Arndt zusammenzuckte und es fast fallen gelassen hätte. »Wie konnte das passieren?« Als dieser nicht sofort antwortete, schob er mit drohendem Ton hinterher: »Arndt, du musst mir ganz genau erzählen, was geschehen ist.«
Arndts Hände fingen unkontrolliert an zu zittern, und er hatte Mühe, zu antworten. »Der Restaurator und ich haben an dem Spiegel gearbeitet, als Conrad Ardis unangemeldet ins Haus kam und die Arbeit begutachten wollte«, stammelte er. »Er ging viel zu nah an das Portal heran, ich habe versucht, ihn daran zu hindern, aber irgendwie berührte er den Spiegel doch, und dieser fing sofort an zu leuchten.« Nun sprudelten die Worte aus ihm heraus, und es war, als würde er das Erzählte noch einmal erleben. »Dann ging alles ganz schnell. Ich hatte den Eindruck, dass Conrad ein Licht aufging. Hedda hat ihm immer all diese Geschichten über Eldrid erzählt, und in dem Moment, als der Spiegel zu beleuchten begann, begriff er, dass es nicht nur Geschichten waren. Der Restaurator hat etwas von magischen Spiegeln gefaselt und ist panisch rausgerannt. Dein Angestellter Georg kam ins Zimmer, und Conrad ist durch den Spiegel gesprungen. Dieser Georg schien noch nicht einmal überrascht, denn er ist ohne Zögern direkt hinterher.« Atemlos schnappte Arndt nach Luft.
Schweigen am anderen Ende.
»Edmund? Hörst du mich? Sag doch was.«
»Ich … höre …«, stotterte der alte Taranee, und seine Stimme hörte sich gepresst an.
»Was …«, begann Arndt, aber er wurde unterbrochen.
»Was ist dann passiert? Bist du ihnen gefolgt? Bist du auch nach Eldrid gereist?«
Arndt nickte stumm.
»Bist du?«, herrschte ihn die Stimme durchs Handy an.
»Ja«, beeilte er sich zu erwidern. »Ich bin hinterher. Mir fiel in diesem Moment nichts Besseres ein.«
»Du hattest doch gar keine Wahl, natürlich musstest du ihnen folgen!« Ein wütendes Schnauben ertönte. »Und was ist dann passiert? Wie hat Conrad auf Eldrid reagiert? War Kelby in der Höhle?«
»Kelby war da und völlig außer sich. Er wusste nicht, dass Hedda tot ist. Und es waren ihm eindeutig zu viele Menschen, die durch sein Portal kamen.« Der alte Solas hielt kurz inne. »Conrad dagegen war regelrecht euphorisch. Er spielte sich auf, als wäre er der große Zampano, und hat den Spiegelwächter respektlos behandelt. Dieser war jedoch viel zu perplex, um zu handeln. Stattdessen ließ er ihn gewähren und sich in Rage reden. Conrad faselte etwas davon, dass er aus dem Spiegel ein Geschäft machen wolle. Reisen nach Eldrid als Tourismus für Menschen. Das würde viel Geld einbringen. Er hatte Dollarzeichen in den Augen, und der Wahnsinn war ihm auf die Stirn geschrieben.«
»Wie bitte?« Jetzt stotterte Edmund.
»Er will den Spiegel missbrauchen und Reisen nach Eldrid anbieten.« Arndt sah nun ganz klar und hatte sich endlich beruhigt. Es ging einzig und allein darum, Conrad zu stoppen. »Zumindest sagte er das und spann die Idee vor Kelby und uns weiter. Der Spiegelwächter war völlig fassungslos. Ich hatte den Eindruck, dass er das alles nicht richtig verstand«, fuhr er fort.
»Kelby interessiert mich nicht«, wurde er barsch unterbrochen. »Konntest du es ihm nicht ausreden? Das geht nicht. Dafür sind die Spiegel nicht gemacht.«
Arndt schüttelte den Kopf. Inzwischen lief er auf die Haustür zu, blieb stehen und sah sich nochmal suchend um. »Ich kam gar nicht zu Wort. Dieser junge Kerl war so begeistert von seiner Idee und sein Spiegelwächter so aufgebracht, dass er ihn wieder zurückbefördert hat.«
»Das ist gut«, sagte Edmund langsam, mehr zu sich selbst. »Sehr gut. Dann wird Kelby diese Tourismusidee unterbinden.«
»Kann er das denn? Schließlich ist Conrad der rechtmäßige Erbe des Spiegels und der Wächter. Er kann das Portal aktivieren, dagegen ist Kelby machtlos, oder etwa nicht?«
»Wir müssen uns treffen, mit Mina, und unser Wissen bündeln. Conrad Ardis muss gestoppt werden. Es ist unsere Aufgabe, die Portale zu schützen!« Edmund hatte seine feste herrische Stimme wiedergefunden. »Wo bist du jetzt? Noch im Ardis-Haus?«
»Ja.«
»Bleib, wo du bist, ich schicke dir meinen Fahrer.« Edmund stockte. »Georg«, stöhnte er. »Er hat den Wagen, und ich denke nicht, dass er noch für mich arbeitet. Die Reise nach Eldrid war wohl seine Kündigung.«
Arndt hob die Augenbrauen. »Das denke ich auch. Er sollte lieber das Weite suchen, sonst …« Er verkniff sich den Rest der Drohung. Im Grunde wusste er nicht, was sonst passieren würde. Er war kein gewalttätiger Mensch und rachsüchtig auch nicht, aber bei diesem Mann spürte er eine ihm nicht bekannte Wut in sich hochsteigen. »Wir treffen uns bei Mina«, sagte er stattdessen. »Ich kann schließlich selbst fahren.«
Edmund beendete das Gespräch mit einem knappen »okay«, und Arndt zog die Haustür hinter sich zu. Sein Blick wanderte an der Fassade empor und blieb an dem steinernen Kopf hängen, der über dem Eingang thronte. Böse blickte das blasse Antlitz aus hellem Sandstein auf ihn herunter und verursachte eine Gänsehaut in Arndts Nacken.
Zweites KapitelIm Scathan-Haus
Die Autos der Männer parkten fast zeitgleich vor dem Scathan-Haus. Der alte Taranee schälte sich aus dem tiefen Sitz eines weißen Sportwagens, den Arndt mit großen Augen bewunderte.
»Ist das …«, stammelte er ehrfürchtig.
»Ja, ja, ist es.« Edmund winkte ungeduldig ab, während er auf die Haustür zusteuerte. Wie immer steckte der hochgewachsene Mann in einem dunklen Anzug, darunter ein weißes knitterfreies Hemd, das von einer blauen Krawatte mit passendem Einstecktuch betont wurde. Und wie immer, wenn Arndt ihn traf, blickte er an seiner äußeren zerknitterten und verbeulten Erscheinung hinunter und schämte sich insgeheim etwas. Begierig deutete er auf den Sportwagen, doch der alte Taranee wiegelte ab. »Wir haben jetzt keine Zeit, uns über Oldtimer auszutauschen. Georg hat meinen Wagen, und natürlich ist er nicht zu erreichen. Hast du Mina schon alles erzählt?«
»Wie denn? Ich bin sofort losgefahren, nachdem wir aufgelegt haben.«
Arndt erntete einen ungläubigen Blick und ein Augenrollen, das ihn an den Edmund im Teenageralter erinnerte.
»Schon mal was von Freisprecheinrichtung gehört?« Ein Blick auf Arndts altes Auto erübrigte jede weitere Diskussion. Entschlossen drückte Edmund die Klingel. Er fuhr sich mit einer Hand durch sein ergrautes Haar, das feinsäuberlich zurückgekämmt war. »Lassen wir das, es gibt Wichtigeres zu besprechen. Ich hoffe nur, sie flippt nicht komplett aus, sie darf sich doch nicht aufregen.«
»Wer? Mina?«
Die Haustür öffnete sich und die Männer flöteten wie aus einem Munde. »Mina.«
Diese starrte sie skeptisch an. »Was ist los?« Sie ging zur Seite, so dass die beiden eintreten konnten. »Was verschafft mir die Ehre – und gleich im Doppelpack?« Sie warf Edmund einen Seitenblick zu und betonte »Doppelpack« zischend. »In letzter Zeit scheint ihr unzertrennlich zu sein.«
Die dünnen Lippen des alten Taranee umspielte kurz ein schmales Lächeln, dann versteinerten sich seine Züge wieder. »Die Lage ist ernst, sehr ernst, sonst würde ich dich nicht mit meiner Anwesenheit behelligen.«
»Das verstehst du unter ›sie nicht aufregen‹?«, unterbrach ihn Arndt.
Mina tätschelte den Arm ihres alten Freundes. »So lieb, dass du dich um sich sorgst, aber mir geht es hervorragend.« Sie lächelte breit, aber die tiefen Ringe unter den Augen verrieten, dass sie zurzeit wenig schlief. Auch ihr Äußeres war nicht so akkurat wie sonst. Die Bluse schien nur in den Rock hineingestopft, und aus dem sonst so strengen Dutt hingen Strähnen heraus. Die Lesebrille, die sie stets an einer goldenen Kette um den Hals trug oder in die Haare schob, fehlte. Arndt erwiderte ihr Lächeln, konnte aber seine Sorge nicht verbergen.
In diesem Moment kam Margot Dena den Flur entlanggewuselt.
»Haben wir etwa Besuch?«, krächzte sie. Ihre Stimme hörte sich eingerostet an, doch ihr Erscheinungsbild war gepflegter als früher. Sie trug die grauen Haare ordentlich frisiert zu einem Zopf zusammengebunden, der dunkelblaue Pullover war weder zerknittert noch fleckig, und die Hose, die sie trug, hatte sogar Bügelfalten. Zum Erstaunen der Männer sah sie richtig ansehnlich aus. An die Margot Dena, die noch vor wenigen Wochen in ihrem eigenen Haus eingesperrt und regelrecht verwahrlost gewesen war, erinnerten nur noch die alten abgewetzten Filzpantoffeln an ihren Füßen. Als die Alte Edmund erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen. »Ich gehe nicht wieder mit dir in dein Verlies«, zischte sie. »Da kann ich ja gleich in meinem Haus wohnen. Der Effekt ist derselbe.«
»Du kannst wohnen, wo du willst, meine Liebe. Es ist nicht so, als hätte ich deine Gesellschaft in den letzten Tagen vermisst«, erwiderte er und lächelte sie sichtlich amüsiert an.
»Wollen wir uns vielleicht erst einmal setzen, bevor wir weitere Nettigkeiten austauschen?«, unterbrach Mina die Unterhaltung. Sie deutete auf die Küche, die am Ende des Flurs lag. »Wie wäre es mit einer Tasse Tee?«
»Oh, Tee«, feixte Edmund und rieb sich die Hände. »Ich denke, ich könnte jetzt etwas Stärkeres vertragen.«
»Was ist denn passiert?«, entfuhr es Margot, deren Blick unruhig zwischen den Männern hin und her huschte.
»Küche«, befahl Mina, und die drei setzten sich Augenblicke später schweigend an den Tisch, während sie sich am Herd zu schaffen machte.
Edmund trommelte ungeduldig mit den Fingerknochen auf den Tisch. »Wir brauchen keinen Tee, und ich habe nicht die Zeit, darauf zu warten, bis wir alle gemütlich zusammensitzen«, sagte er gereizt. »Ich muss gleich ein paar wichtige Telefonate mit meinen Anwälten führen. Vielleicht ist der Eigentumsübergang inzwischen im Grundbuch eintragen, dann kann ich die Schlösser vom Ardis-Haus austauschen lassen. Und wenn ich immer noch nicht der Eigentümer dieser Bruchbude bin, dann ist die Frage, wie vertragsbrüchig es ist, wenn ich den Austausch dennoch veranlasse. Conrad Ardis darf das Haus auf keinen Fall erneut betreten.«
»Warum das, was ist passiert?« Unbeirrt holte Mina eine Teekanne und Tassen aus dem Schrank.
»Mina Scathan«, donnerte Edmund. »Sei nicht so ignorant und setz dich zu uns. So kann ich mich nicht anständig unterhalten.«
Sie warf ihm einen bösen Blick zu, als Arndt sich einmischte: »Genug! Dafür haben wir wirklich keine Zeit. Führe du deine Telefonate, Edmund, und ich setze die Damen derweil ins Bild.«
Der alte Taranee brummte etwas Unverständliches, erhob sich, das Handy schon in der Hand, und ging in den Flur. Seine tiefe Stimme dröhnte bis in die Küche, so dass Mina die Tür schloss. Dann setzte sie sich an den Tisch und sah Arndt auffordernd an. Dieser berichtete atemlos und schnell, was im Ardis-Haus geschehen war. Dabei erwähnte er zunächst Georg nicht, sondern konzentrierte seine Erzählungen auf Conrad.
Mina wirkte wie versteinert, presste die Lippen aufeinander und wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Margot dagegen hatte sich nicht so gut unter Kontrolle und zuckte immer wieder zusammen und japste auf. Schließlich hielt sie die zitternde Hand vor den Mund und stammelte: »Tourismus in Eldrid? Das ist Wahnsinn. Ob die Portale das überhaupt zulassen? Sie haben doch ihr Eigenleben.«
»Möchtest du, dass dies die Spiegel entscheiden?« Minas Tonfall war hart, wie fast immer, wenn sie das Wort an Margot richtete. Und diese zuckte, wie ebenfalls fast immer, zusammen und sah Mina mit großen Augen an. Sie hob nur unbeholfen die Schultern.
»Nein, das wollen wir natürlich nicht«, sagte Arndt schnell. »Das ist aber noch nicht alles.« Er holte tief Luft. »Dieser schmierige Fahrer von Edmund, Georg, ist ebenfalls nach Eldrid gereist. Er war ganz und gar nicht überrascht, als der Spiegel leuchtete, und ich hatte den Eindruck, dass er genau wusste, was er tat, als er hindurch sprang.«
Mina schnappte nach Luft. »Wie bitte? Der auch noch? Wie konnte das passieren? Wie ist das möglich?«
Margot rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, aber keiner beachtete sie.
Arndt hob die Hände in die Luft. »Ich habe keine Ahnung. Ich war genauso überrascht wie du.« Dann stutzte er. »Dieser Georg, der war noch vor kurzem hier und hat bei dem Wasserproblem geholfen.«
Mina nickte langsam. »Ja, genau, zusammen mit diesem Handwerker von dir«, sie wandte sich an Margot. »Wie hieß er noch gleich?«
»Franz«, lautete die Antwort mit sehr leiser dünner Stimme.
»Genau. Die waren gemeinsam hier in meinem Haus. Das hat mir schon damals nicht gepasst, dass er einfach den Fahrer von Edmund mitgebracht hat. Ich mochte es noch nie, wenn so viele Fremde in meinem Haus sind. Vertraust du diesem Franz, Margot?«
Diese zuckte zusammen. »Was?«, stammelte sie und starrte auf ihre verknoteten Finger.
»Vertraust du …« Mina brach ab und holte tief Luft. »Margot, was hast du getan?« Sie stemmte die Fäuste auf den Tisch und erhob sich. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf die Alte, die sich immer kleiner machte. »Ich wusste, dass da was nicht stimmte.«
»Mina, du darfst dich nicht aufregen«, ging Arndt dazwischen, doch es war zu spät.
»Margot«, hallte ihre Stimme durch die Küche.
»Es war Ardens Idee«, platzte es aus dieser heraus. »Ich … ich …« Sie zitterte nun am ganzen Körper.
»Arden?«, Minas Stimme überschlug sich. »Immer wieder Arden … Du Närrin!« Sie bebte, während sie sich zu der Alten hinüberbeugte.
»Was für eine Idee war das?«, mischte sich Arndt ein. »Margot, rede«, befahl er herrisch.
Sie schluckte schwer, rang nach Luft, nickte dann aber. Unter Tränen berichtete sie von ihrem Auftrag, Franz und Georg durch den Scathan-Spiegel in Uris Höhle zu schicken. »Damit Uri begreift, dass die Spiegel nicht mehr unter Kontrolle sind«, versuchte sie zu erklären. »Ardens Plan ist es, die Portale zu zerstören …«
»Wir kennen seinen Plan«, unterbrach sie Mina. »Den hast du uns schon erläutert, und ich hatte dir gesagt, dass ich alles daran setzen werde, das zu verhindern, solange Ludmilla in Eldrid ist.« Ihr Gesicht war vor Aufregung dunkelrot angelaufen. »Hast du diesen beiden Männern Zugang zu meinem Haus verschafft, bevor oder nachdem ich dir dies erläutert habe?«
»Davor«, gab Margot kleinlaut zu.
Mina und Arndt stöhnten gleichzeitig auf.
»Und waren sie erfolgreich?«
Margot hob die Schultern und nickte.
»Was?«, Mina schlug mit der Hand auf den Tisch. »Wie konnten sie den Spiegel aktivieren?«
Doch sie bekam keine Antwort mehr. Die alte Dena saß zusammengekrümmt auf ihrem Stuhl und weinte bitterlich.
»War Uri da? Hat er das mitbekommen?«, fragte Arndt mit beherrschter Stimme. »Margot, antworte mir!« Er beugte sich über die Alte und schüttelte sie sanft an den Schultern. »Du musst uns jetzt sagen, was du weißt. Haben sie Uri angetroffen?«
Margot nickte unmerklich.
»Das darf doch alles nicht wahr sein!« Mina ließ sich in Zeitlupe auf den Stuhl fallen und knetete ihre Finger.
»Es tut mir so leid. Ich war mir nicht darüber im Klaren, was ich anrichte«, schluchzte Margot, aber die beiden schienen sie nicht zu hören.
»Was machen wir jetzt?« Minas Brust hob und senkte sich hektisch.
»Du hast alles kaputt gemacht!« Arndt explodierte regelrecht. Speichel spritzte nach allen Seiten, als er sie anschrie. »Du und deine Besessenheit. Eldrid, Arden, alles würdest du dafür geben, ihn wiederzusehen und in dieser Welt zu leben, die dir deinen Schatten gestohlen hat. Und alles trifft es offenbar ganz genau. Ich stand immer auf deiner Seite, habe dich in Schutz genommen, ein gutes Wort eingelegt, und wofür? Du hast unser aller Vertrauen missbraucht. Ich kann dich nicht verstehen.« Schwer atmend wandte er sich an Mina. »Franz und Georg sind durch den Scathan-Spiegel gereist und Georg durch den Ardis-Spiegel. Sie wissen von mindestens zwei Spiegeln.« Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen.
Mina nickte langsam. Auch sie atmete schwer. Die geballten Fäuste lagen zitternd auf dem Tisch. »Ich muss mit Uri sprechen. Es führt kein Weg daran vorbei. Verbannung hin oder her, wir müssen uns mit den Wächtern abstimmen, und vor allem muss sichergestellt sein, dass beide Seiten auf dem gleichen Stand der Informationen sind.« Mühsam erhob sie sich. »Eldrid-Tourismus, Menschen außerhalb der Spiegelfamilien, die von dem Geheimnis wissen, Ludmillas Spiegelbild, das nicht im Haus ist …« Sie schüttelte den Kopf. »Von den Zuständen in Eldrid selbst möchte ich erst gar nicht anfangen.«
»Du hast recht. Es wird Zeit, dass wir uns austauschen und gemeinsam eine Lösung finden.« Arndt atmete mehrmals laut aus. »Ich sollte nach meinem Spiegel schauen. Ich habe ihn sehr vernachlässigt, wer weiß, wer sonst noch von den fünf Spiegeln weiß.«
»Und was ist mit dem Dena-Spiegel? Ist er sicher? Jemand sollte auch nach diesem Portal schauen.« Margots Stimme war nur noch ein einziges Piepsen. »Schließlich ist Franz mit mir durch diesen Spiegel auch gereist.«
»Wie bitte?«, Mina gab ein zischendes Geräusch von sich. »Von deinem Spiegel wissen sie also auch?! Du bist eine solche Verräterin, Margot Dena.«
»Wie konntest du nur?« Arndt schüttelte den Kopf.
»Es war nicht meine Absicht«, flüsterte sie. »Ich hatte das nicht bedacht.«
»Ach ja?« Minas Ausdruck wurde eiskalt. Ihre Halsader pulsierte bedrohlich, und wenn sie in Eldrid gewesen wären, hatten ihre Augen Funken gesprüht. »Das glaubst du doch selbst nicht. Es ging für dich immer nur darum, nach Eldrid zu reisen, um dort zu leben, und dafür gehst du über Leichen. Ich verachte dich, ach, Verachtung ist ein viel zu schwaches Wort für das, was ich für dich empfinde.« Sie hielt kurz inne. »Du bist erbärmlich, Margot Dena, und am liebsten würde ich dich jetzt augenblicklich aus dem Haus werfen. Leider müssen wir nun noch mehr auf dich achten als bisher, damit du kleine Spionin nicht noch größeren Schaden anrichten kannst.« Bebend wandte sie sich an Arndt. »Diese beiden Männer – von wie vielen Spiegeln wissen sie?«
Arndt hob die Schultern. »Nun ja, Franz ist durch den Dena-Spiegel gereist. Eins«, er hob den Daumen, »gemeinsam sind sie durch den Scathan-Spiegel gereist«, der Zeigefinger schnellte in die Höhe, »und Georg hat den Ardis-Spiegel benutzt.« Er fügte den Mittelfinger hinzu. »Macht drei. Außerdem arbeitet er bei Edmund, irgendwie muss er ja auf die Idee gekommen sein, vielleicht hat er ihn belauscht, macht vier.« Arndt fügte den Ringfinger hinzu. »Und er war oft mit im Ardis-Haus, während ich mit dem Restaurator an dem Rahmen gearbeitet habe. Sie können sich also denken, dass bei mir auch noch ein Spiegel steht, denn schließlich bin ich mit ihm nach Eldrid gereist, und er schien nicht überrascht zu sein. Dann wissen sie von allen fünf«, seine Augen hinter den dicken Brillengläsern wurden groß, »theoretisch.« Der Blick wanderte zu der zusammengesunkenen Margot, die vor sich hin schluchzte.
Minas Hand lag auf ihrer Brust, und sie atmete schwer. »Wenn das stimmt, wäre das eine Katastrophe.« Er nickte. »Lass mich mit Uri sprechen. Kannst du währenddessen auf sie aufpassen?« Sie machte eine Kopfbewegung in Margots Richtung. »Danach fährst du nach Hause und schaust nach deinem Spiegel.«
Er überlegte und zuckte dann mit den Schultern. »Ich nehme sie einfach mit zum Solas-Spiegel. Da ich ihn nicht benutzen werde, besteht keine Gefahr, dass sie nach Eldrid abhaut.«
Mina presste die Lippen aufeinander. »Obwohl das das geringste Übel wäre, schließlich kann sie uns in Eldrid nicht schaden.«
»Sie kann aber zurückkommen und Arden bei seinem Wahn unterstützen. Nein, sie muss hierbleiben, und wir sollten sie rund um die Uhr bewachen.« Arndt klopfte bei jedem Wort mit der Faust auf den Tisch, so dass Margot zusammenzuckte.
»Ich bin hier und höre euch«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, aber die beiden schenkten ihr keine Beachtung.
»Was für ein Desaster.« Mina erhob sich zitternd, nahm ihren alten Freund kurz in den Arm und verließ dann die Küche. »Ich informiere Edmund. Der ist sicherlich noch eine Weile am Telefon.«
In diesem Moment begann der Wasserkessel auf dem Herd zu pfeifen. Wortlos schlurfte Margot hinüber und stellte ihn ab. An Teetrinken war jetzt nicht mehr zu denken.
Drittes KapitelUri und der Scathan-Spiegel
Der Spiegelwächter des Scathan-Spiegels konnte sich kaum beruhigen. Immer wieder starrte er das riesenhafte Portal an, das nicht mehr leuchtete, und tigerte davor auf und ab. Es hatte Menschen hindurchgelassen. Menschen, die nicht den Spiegelfamilien angehörten. Menschen, die er nicht kannte, und es schien, dass Mina ihnen dies auch nicht erlaubt hatte. Die beiden Männer hatten behauptet, dass die Spiegel nur leuchten müssten, damit sie hindurchschreiten könnten. Es gebe keine weitere Kontrolle.
»Das stimmt nicht«, ächzte er mit zusammengepressten Zähnen. »Ich bin die Kontrolle. Ich bin der Wächter, der Spiegel darf nicht ohne meine Zustimmung benutzt werden.« Seine goldfarbenen Augen verengten sich, während er auf das Portal mit dem dunklen Rahmen und den goldenen Schriftzeichen zutrat. Was stimmte hier nicht? Der Spiegel leuchtete nicht mehr, aber es ging eine unbekannte mächtige Aura von ihm aus, die ihn zurückzucken ließ. Irgendetwas fühlte sich anders an. Fast schüchtern und mit glühenden Fingerspitzen strich er über das Holz, doch der Spiegel antwortete nicht. Kein zartes Aufleuchten, keine lodernden Schriftzeichen auf dem Rahmen. Nichts. Ein Knoten bildete sich im Magen des uralten Wesens. Langsam beruhigte sich sein Atem, und auch sein Zorn verflog etwas. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Was stimmte nicht mit seinem Spiegel?
»Ich habe dich vernachlässigt, es tut mir leid«, flüsterte er. »Wir finden wieder zueinander, und dann begrüßt du mich wie früher.« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Auch wenn die Magie des Portals ihn in dem Moment nicht stärkte, wie sie es sonst tat, konnte er nicht anders als zuversichtlich sein. Es brauchte nur etwas Zeit und Nähe, da war er sich sicher. Das Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit, das diese ungebetenen Gäste hervorgerufen hatten, verklang langsam, und Zuversicht, dass alles gut werden würde, machte sich in ihm breit. Der Spiegel und er würden bald wieder eine Einheit bilden. Da war er sich sicher.
Uri atmete tief ein und aus, strich noch einmal liebevoll über den warmen hölzernen Rahmen und wandte sich dann der Feuerstelle in der Mitte der Höhle zu. Der junge Vince Taranee saß auf einem Strohballen und starrte mit gesenktem Kopf ins Feuer. Seine hellen blonden Haare hingen ihm ins Gesicht, und er sah müde aus. Die Kleidung war etwas zerbeult, aber nicht schmutzig, und er machte insgesamt einen gepflegten Eindruck, obwohl er wohl schon eine ganze Weile in Eldrid unterwegs war. Uri ließ sich neben Bodan fallen, der dem Jungen gegenüber saß. Sein Bruder atmete schwer, das Gesicht war von den Strapazen der letzten Wochen gezeichnet, aber sein Körper glühte von all dem magischen Licht, das er in sich aufgenommen hatte. Bodans Augen strahlten in ihrem gewohnten Kupferglanz, und darin lag die gleiche Zuversicht, Güte und Reinheit, die er schon immer in sich getragen hatte. Nichts konnte dem etwas anhaben. Noch nicht einmal der Verlust seines Schattens hatte das vermocht, der jetzt wieder neben ihm lag. Bodan war wohl eines der ersten Wesen in Eldrid, das einen Schatten besaß, aber keine Magie mehr. Für Uri war dies ein unfassbarer Umstand, an den er sich schwer gewöhnen konnte. Das passte nicht zu Eldrid. Zu ihren Regeln, zu ihrem System. Ein Wesen mit Schatten, aber ohne Magie.
Bodan richtete das Wort an Vince. »Was kannst du uns über diese Eindringlinge berichten, die hier eben waren?«
Dieser hob die Schultern. »Der eine war der Fahrer meines Großvaters, Georg. Den anderen Mann kenne ich nicht, aber Georg stellte ihn als Franz und ehemaligen Angestellten der Dena-Familie vor. Mehr kann ich eigentlich auch nicht sagen.«
Uri nickte. »Hast du eine Ahnung, wie sie in das Scathan-Haus und zum Spiegel gelangen konnten?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich war genauso überrascht wie ihr, das habt ihr doch gemerkt, oder? Außerdem habe ich Eldrid in Schutz genommen.« Er stöhnte kurz auf, als er seinen Rücken durchdrückte. »Alles, was ich möchte, ist, eure magische Welt beschützen. Ich habe keine Ahnung, was sich in der Menschenwelt zurzeit abspielt. Tut mir leid.« Er ließ den Kopf wieder hängen und vermied weiteren Blickkontakt.
»Ich muss mit Mina sprechen. Zwar kann ich mir nicht vorstellen, dass sie die Reise der beiden erlaubt hat, aber das muss sie mir erklären. Wenn das wirklich nicht der Fall ist, dann war es ein großer Zufall, dass die Männer genau zu dem Zeitpunkt im Spiegelzimmer des Scathan-Hauses waren, als wir dort Zuflucht gesucht haben. Sie müssen das Leuchten ausgenutzt haben, um hinterherzuspringen.« Uri suchte Bodans Blick. »Aber selbst dann hätte ich es spüren müssen.« Er hob die Schultern. »Habe ich aber nicht.«
»Ja, das ist in der Tat eigenartig.« In Bodans Augen stand dieselbe Verwunderung und Sorge, die Uri empfand. Sie fühlten immer noch gleich, verstanden sich ohne Worte und waren sich so nahe wie zuvor. Und das trotz der Vorfälle im Moor von Fenris. »Es wird das Beste sein, wenn du in die Menschenwelt reist und das mit Mina klärst. Ich werde hier mit Vince warten.« Bodan erhob sich schwerfällig und lächelte seinen Bruder warmherzig an. »Währenddessen kann er mich aufklären, was es mit Zamir und diesem schattenfressenden Monster auf sich hat.«
»Das ist eine längere Geschichte, und ich bin mir nicht sicher, ob ich alle Fragen beantworten kann, aber eines weiß ich: Ludmilla hat etwas mit diesem Schattenfresser zu tun«, sagte Vince bestimmt.
»Das darf doch nicht wahr sein!« Uris Körper spannte sich sofort an, und er sprang auf. Seine Stimme hallte von den Wänden der Höhle wieder. Als er zu einer Frage ansetzte, hielt Bodan ihn ab.
»Diese beiden Eindringlinge sind wichtig«, sagte sein Bruder leise. »Sie bedrohen die Sicherheit der Spiegel. Du solltest mit Mina sprechen und ihr auch mitteilen, dass«, er stockte und schluckte, »Pixi nicht mehr zurückkommt, um sie zu unterstützen.«
Uri zuckte bei den Worten zusammen, und seine Augen füllten sich mit goldenen Tränen, die er herunterschluckte. Es war noch nicht lange her, dass er seine geliebte Fee verloren hatte, und der Schmerz saß tief. »Du hast recht.« Entschlossen wandte er sich an Vince. »Auch wenn ich darauf brenne, deine Neuigkeiten zu erfahren, muss ich mich leider gedulden. Du siehst sehr müde und erschöpft aus. Vielleicht möchtest du dich auch ausruhen und wartest mit deinem Bericht auf mich?«
Vince kniff die Augen zusammen, nickte dann aber. »Ich habe nicht viel Zeit, aber ich ruhe mich gerne etwas aus.«
Uri blickte ihn über seine Brille hinweg prüfend an und schien zu zögern. Bodan machte eine abwehrende Handbewegung. »Du musst sofort in die Menschenwelt reisen und bei Mina nach dem Rechten sehen. Die Spiegel dürfen nicht unkontrolliert Menschen nach Eldrid transportieren. Das gilt übrigens für alle Spiegel. Dieser Georg hat erwähnt, dass auch Franz nach Eldrid gereist sei, und zwar durch den Dena-Spiegel. Wer weiß, welche Portale noch unbewacht sind.«
»Du hast recht«, erwiderte Uri. »Wer weiß, wie das der Solas-Familie bewacht wird.«
»Mein Spiegel!« Bodan schluckte und riss die Augen auf.
»Arndt Solas bewacht ihn, das weiß ich«, murmelte Vince leise. »Mein Großvater hat ihn oft bedrängt, den Spiegel zu aktivieren, damit er durch dieses Portal nach Eldrid reisen kann. Unseres hat bis vor Kurzem nicht funktioniert. Arndt hat sich immer geweigert, einen Missbrauch würde er sicherlich auch nicht zulassen.«
»Der gute Arndt Solas, auf den kann ich mich verlassen«, sagte Bodan sichtlich erleichtert. Dann wandte er sich an Uri. »Reise in die Menschenwelt. Jetzt. Wir brauchen Antworten.«
Entschlossen trat der Spiegelwächter auf seinen Spiegel zu. Als er davor stand, machte er eine fast beiläufige Handbewegung. Doch das Portal leuchtete nicht auf. Ungläubig wiederholte Uri die Bewegung, dieses Mal etwas eindeutiger, und starrte dabei irritiert den Spiegel an. Nichts geschah. »Was soll das?«, murmelte er vor sich hin. Er trat noch näher an das Portal heran, so dass er das blinde Glas fast mit seiner Nasenspitze berührte, und strich sanft über den Rahmen und die goldenen Schriftzeichen. Die Fingerkuppen warfen kleine Funken ab, die knisternd zu Boden rieselten.
Bodan trat stirnrunzelnd hinzu. »Was ist los?«
»Er antwortet mir nicht«, flüsterte Uri und trommelte ganz leicht auf den Rahmen. Die goldenen Schriftzeichen glühten auf, doch kein Leuchten erfasste das Portal. »Er scheint intakt zu sein, aber er will mich nicht reisen lassen.« Er presste die Lippen aufeinander. Sie beobachteten voller Verwunderung, wie die Schriftzeichen anfingen zu brennen und züngelnd den gesamten Rahmen überdeckten.
»Was geschieht hier?«, murmelte Uri, wich jedoch nicht zurück. Stattdessen legte er seine flache Hand auf das Glas und schloss die Augen. Sein gesamter Körper fing an zu glühen, goldene Funken lösten sich, und er wurde wie von einer Schnur gezogen in die Luft gehoben. Sein Kopf kippte in den Nacken, die Augen waren weiterhin geschlossen. Die Flammen, die sich spiralförmig über das Portal ausbreiteten, bewegten sich unaufhaltsam auf Uris Hand zu. »Er will mich nicht durchlassen und auch nicht mit mir kommunizieren …« Seine Stimme war nun nicht mehr als ein Krächzen. Seine Hand fing an zu zittern, doch er ließ sie nicht sinken. Die Energie des Spiegels floss durch ihn hindurch, und dennoch war da diese Barriere, die er nicht überwinden konnte.
Bodans Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Uri, er wird dich verbrennen!«
Das wogende Flammenmeer hatte inzwischen das gesamte Portal ergriffen. Vince sprang auf und wollte den Spiegelwächtern zu Hilfe eilen, aber Bodan bedeutete ihm mit einer Handbewegung, nicht näher zu kommen. »Bleib, wo du bist!«, rief er, und der Junge gehorchte. Er beobachtete das Geschehen mit einer abwehrenden Körperhaltung und einem skeptischen Gesichtsausdruck.
»Er verbrennt mich nicht.« Uris Stimme war ein Dröhnen, dunkel und gequält. »Das würde er nicht wagen. Ich bin sein Wächter. Und«, er schrie auf vor Zorn und Wut, »er lässt mich nicht durch. Er verweigert mir die Reise.« Sein Körper, der immer noch in der Luft hing, bebte vor Anspannung. Sein Kopf hing in einer unnatürlichen Stellung im Nacken, und die Augen waren weiter geschlossen. Die Flammen leckten an der Hand und krochen schon den Arm empor, als Bodan an seinem Körper zerrte und ihn von dem Portal wegzog.
»Doch, er verbrennt dich«, schrie er.
Uri schien wie aus seiner Trance zu erwachen, stolperte rückwärts und blickte Bodan abwesend an. »Die Flammen sind kalt, sie können mir nichts anhaben«, murmelte er.
»Nichts anhaben?« Bodan packte seine Hand, die von roten Flecken übersäht war, und hielt sie ihm vors Gesicht. »Sie haben dich sehr wohl verbrannt. Ich kann die Hitze bis hierher spüren.«
»Das ist nichts«, erwiderte Uri barsch und entriss ihm seine Hand. »Das kann ich heilen.«
»Und … und der Spiegel? Was hast du gespürt? Es sah so aus, als hätte er von dir Besitz ergriffen.«
Uri sah ihn verwundert an. »Von mir Besitz ergriffen? Ich habe versucht, mit ihm zu kommunizieren, aber er hat mir nicht geantwortet. Es fühlt sich an, als wäre er beleidigt.« Die Hitze, die bis eben noch von dem Portal ausgegangen war, sprach jetzt aus seiner Stimme.
»Beleidigt? Dein Spiegel ist beleidigt?« Bodan sah ihn ungläubig an.
»Er spricht nicht mit mir, lässt mich nicht durch. Tut so, als hätte ich ihn verraten.« Der Boden bebte unter der donnernden Antwort.
»Uri, beruhige dich, das führt doch zu nichts. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren.«
Doch der Spiegelwächter ließ sich nicht besänftigen. Ein Funkenregen ergoss sich aus seinen Augen, während er erneut auf den Spiegel zutrat. Sein Bruder packte ihn am Arm und zog ihn zurück.
»Du kannst es nicht erzwingen, das weißt du.« Als Uri nicht reagierte, packte er ihn an den Schultern.
Endlich wandte Uri sich Bodan zu. »Er lässt mich nicht durch.« Seine Stimme war nicht mehr als ein verzweifeltes Flüstern. »Es ist, als ob ich keine Berechtigung hätte, als wäre ich nicht sein Wächter.«
»Natürlich bist du noch sein Wächter …«, stammelte Bodan hilflos. »Vielleicht hat es etwas mit den Menschen zu tun. Vielleicht will er auch nicht, dass sie hindurchreisen, und hat sich verschlossen. Vielleicht sind alle Spiegel davon betroffen.« Er atmete auf, als ob das eine logische Erklärung wäre.
»Die anderen Spiegel? Was interessieren mich die anderen Portale?«, dröhnte Uri so plötzlich und in einer Lautstärke, die seinen Bruder rückwärts taumeln ließ.
»Bitte, Uri, was ist nur in dich gefahren?« Bodan wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen, aber Uri wich der Geste aus. Bodan erstarrte in seiner Bewegung und blickte ihn traurig an. »Uri«, sagte er sanft. »Wir finden heraus, warum sich dein Spiegel so verhält. Wie gesagt, vielleicht sind alle fünf Portale betroffen. Das finden wir heraus, und es gibt sicherlich einen guten Grund dafür. Nur bitte, beruhige dich.«
Sein Bruder schnaubte ungehalten, erwiderte aber nichts und ließ sich von ihm ans Feuer geleiten.
»Was meinst du damit, dass auch andere Spiegel betroffen sein könnten?«, fragte Vince, der immer noch mit sicherem Abstand zum brennenden Spiegel stand.
Bodan schüttelte den Kopf und blickte ihn eindringlich an. »Nicht«, raunte er ihm zu, aber das beeindruckte den Jungen nicht.
»Ich helfe gerne dabei, Eldrid vor der Dunkelheit zu bewahren, aber irgendwann möchte ich zurück in meine Welt. Deshalb interessiert es mich schon, ob die Portale noch funktionieren.«
»Was soll das heißen, du willst uns dabei helfen, Eldrid vor der Dunkelheit zu bewahren?«, brauste Uri erneut auf. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Ihr Menschen, ihr seid so überheblich. Was kannst du schon ausrichten, Vince Taranee?« Der Boden erzitterte. »Gar nichts! Denn du hast keine Magie, keinen bedeutenden Schatten, und selbst wenn …«
»Uri!« Bodan übertönte seine Worte. »Es reicht! Beruhige dich.«
»Du weißt, dass ich recht habe«, antwortete Uri, während sein zierlicher Körper bebte. Es löste sich ein Funkenregen und ging knisternd zu Boden. »Die Menschen sind an all dem schuld.« Er breitete die Arme aus und drehte sich um sich selbst.
»Das ist nicht wahr«, stammelte Bodan. »Bitte, das kannst du doch gar nicht wissen.«
»Und ob. Ich war noch nie ein Freund der Menschen. Schon immer war ich skeptisch und habe ihnen nicht getraut. Was haben Menschen überhaupt in Eldrid zu suchen? Es ist unsere Welt, unsere Magie. Menschen haben keine Magie, und das ist auch gut so. Sie sind machtbesessen, eitel und tragen so viele schlechte Eigenschaften in sich, die wir hier in Eldrid gar nicht kennen. Sie haben das Böse hierher gebracht, sie sind der Ursprung des Bösen in unserer Welt.« Er hielt inne, blickte in die Richtung seines Spiegels, der weiterhin nicht leuchtete, und presste die Lippen aufeinander. »Vielleicht hat Arden doch recht. Vielleicht ist es Zeit, die Verbindung zu der Menschenwelt zu zerstören.«
Bodan gab ein quietschendes Geräusch von sich. »Du willst die Spiegel zerstören? Die Portale sind die Stützen dieser Welt, genauso wie die Geisterwelten. Menschen sind ein Bestandteil von Eldrid, sonst bräuchten wir die Spiegel nicht.«
»Vollkommen richtig, mein lieber Bruder. Wenn wir keine Menschen mehr in Eldrid haben wollen, dann sind die Spiegel auch nicht mehr von Nöten.« Uri war nun ernst, und sämtlicher Zorn war aus seinem Gesicht und der Stimme gewichen. Er schrie auch nicht mehr, dafür sprach er mit drohendem Unterton. »Es könnte durchaus sein, dass das die Spiegel längst begriffen haben, und deshalb verweigert mir dieses Exemplar hier«, er deutete mit zitterndem ausgestrecktem Finger auf das Portal, »seine Dienste.«
»Nein«, japste Bodan.
»Doch.« Aus Uris Augen ergoss sich ein goldener Funkenregen. »Diese Welt ist ohne die Menschen besser gestellt, und das haben die Portale offenbar auch erkannt. Das Pentagramm der Spiegel, du erinnerst dich?« Er hielt kurz inne, wartete aber die Antwort nicht ab. »Das Pentagramm der Spiegel bildet eine Konstante in Eldrid, ebenso wie in der Menschenwelt. Es darf nicht zerstört werden, die Portale nicht bewegt werden, vor allem in der Menschenwelt. Wir Spiegelwächter sind dafür verantwortlich, dass diese Konstante bestehen bleibt. Menschen dürfen nach Eldrid reisen, wenn wir es erlauben, u-n-d wenn die Spiegel es tun. Was nun, wenn wir Wächter nicht mehr reisen dürfen? Was, wenn die Spiegel die Kommunikation verweigern? Was soeben geschehen ist.«
»Uri, bitte«, flehte sein Bruder.
»Die Spiegel verweigern ihre Funktion gegenüber ihren Wächtern. Damit erübrigt sich unsere Aufgabe. Wir sind keine Spiegelwächter mehr, Bodan. Und wenn wir keine mehr sind, dann verlieren die Spiegel ihre Funktion, zumindest hier in Eldrid. Keine Spiegelwächter, keine Spiegel, kein Pentagramm der Spiegel.« Er klatschte demonstrativ in die Hände.
»Nein«, stöhnte Bodan. »Aus dir spricht der Wahnsinn. Verletzter Stolz. Dein Spiegel funktioniert. Er hat soeben erst Menschen hindurchreisen lassen. Also ist er noch ein Portal. Lass uns mit Kelby sprechen. Lass uns die anderen Spiegel besuchen und uns vergewissern, dass sie noch intakt sind.«
»Warum sollen diese anders agieren als der Scathan-Spiegel?«, flüsterte Uri. »Offenbar ist es längst entschieden. Die Spiegel scheinen als Portal für uns nicht mehr dienen zu wollen. Wenn sie weiterhin Menschen nach Eldrid transportieren wollen, ohne dass ich das zu entscheiden habe, dann will ich nicht länger ein Spiegelwächter sein. Ich werde das auch nicht zulassen. Das ist nicht gut für Eldrid. Unkontrolliertes Reisen.« Er schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht zulassen«, wiederholte er mehr zu sich selbst. »Das Beste ist es, die Spiegel zu zerstören.«
Uri warf dem Spiegel einen hasserfüllten Blick zu. Dieser antwortete mit einer Flamme, die aus der Mitte des Glases hervorsprang und seinen Wächter nur knapp verfehlte.
Viertes KapitelVince’ Bericht
Uri warf sich zur Seite und wich dem Flammenwurf seines Portals nur knapp aus. Er gab dabei keinen Ton von sich, öffnete aber ungläubig den Mund.
»Er greift mich an«, japste der Spiegelwächter und kroch rückwärts.
Auch Bodan schrie auf, sprang Uri zu Hilfe und zog ihn in den vorderen Teil der Höhle. »Oder er will nicht, dass du ihm zu nahe kommst«, sagte er keuchend. »Anscheinend ist auch der Spiegel der Meinung, dass du dich beruhigen sollst.« Uri warf ihm einen wütenden Blick zu, so dass er schnell hinzufügte: »Denke ich zumindest.«
Beide Spiegelwächter starrten ungläubig auf das glühende Portal und sahen zu, wie es langsam erlosch. Noch eine ganze Weile verharrten sie in dieser Position, und keiner sagte ein Wort. Irgendwann unterbrach Vince die Stille. Er stand vor dem Ausgang der Höhle, immer noch in einer Abwehrhaltung. Offenbar war er aufgesprungen und hatte sich in Sicherheit gebracht, obwohl der Angriff nicht ihm gegolten hatte.
Verlegen räusperte er sich und wartete, bis die beiden sich ihm zuwandten. »Ich lasse euch mit euren Problemen mal lieber allein«, sagte er gedehnt und blickte die beiden fragend an. »Da ist noch etwas, was ich erledigen möchte.«
Uri hob einen glühenden Zeigefinger in die Höhe und wedelte damit. »Du gehst jetzt nirgendwohin«, sagte er bestimmt.
»Zuerst musst du uns berichten, wie es dir ergangen ist und was du erlebt hast«, ergänzte Bodan schnell und warf einen warnenden Seitenblick auf seinen Bruder, als befürchtete er einen weiteren Wutausbruch.
Vince sah skeptisch zum Spiegel, doch der war komplett erloschen und verschwand regelrecht im hinteren Teil der Höhle. »Okay«, erwiderte er zögerlich. »Seid ihr sicher, dass das Ding uns nicht nochmal angreift?«
»Wenn, dann wird es dich nicht treffen«, raunzte Uri ihn an. »Dafür werde ich schon sorgen.«
»Du hast Informationen, die Ludmilla betreffen«, unterbrach ihn Bodan schnell und sah Vince aufmunternd an. Und zu Uri gewandt sagte er: »Du hast versprochen, auf sie aufzupassen. Es ist das mindeste, dass du erfährst, was Vince weiß und was sie mit dem schattenfressenden Wesen zu tun hat.«
Uri presste die Lippen aufeinander, nickte dann aber. »Erzähl uns am besten alles«, sagte er heiser. »Je mehr wir wissen, desto besser.« Er atmete immer noch schwer, aber sein Körper schien sich langsam zu entspannen. Jedoch konnte er seinen Blick nicht von dem Spiegel wenden. Es war, als würden sie ein stummes Blickduell ausfechten.
Vince sah zwischen den beiden Wesen hin und her, seine hellen blauen Augen blitzten. »Die Wiar haben mir alles über euch Spiegelwächter erzählt«, sagte er leise und betonte dabei das ›s‹ auf eine Art und Weise, so dass jedes Mal Zischgeräusche entstanden. Bodan hatte das Gefühl, dass Vince die Laute extra betonte, um die beiden zu testen oder eine Reaktion hervorzurufen. Nervös warf er einen Seitenblick auf Uri, aber dieser blieb ungerührt.
»Alles«, betonte Vince erneut und sprach dabei lauter.
»Du hast mit den Wiar gesprochen?«, fragte Uri und blickte hoch. »Ich hatte Ludmilla aufgetragen, sie aufzusuchen.«
»Das hat sie auch und mich als Faustpfand dort gelassen«, erwiderte Vince mit fester Stimme, und seine Augen verengten sich.
»Wurde sie von einer Wiar begleitet? Ist sie auf dem Weg hierher und bringt eine dieser Hexen mit?«, unterbrach ihn Uri aufgeregt.
Vince hob die Schultern. »Nicht, dass ich wüsste. Das hätten sie mir gesagt.«
Der Spiegelwächter schluckte hart. »Also war meine Annahme falsch«, sagte er bitter. »Es ist nicht die Macht der Wiar, die die Schatten lebendig werden lässt. Dann sind wir wieder genauso ahnungslos wie vorher und wissen immer noch nicht, was wir den lebendigen Schatten entgegensetzen können.« Er schlug mit der Faust auf den Boden und warf dem Spiegel erneut einen wütenden Blick zu.
»Lass ihn erzählen«, mischte sich Bodan ein und nickte Vince aufmunternd zu. »Ludmilla hat dich bei den Wiar zurückgelassen?« Er schüttelte den Kopf. »Das tut mir leid. Wie ist es dir da ergangen?«
Vince nickte. »Also gut …« Langsam und anfangs zögerlich erzählte er von seiner Ankunft in Eldrid, dem ersten Zusammentreffen mit Zamir, seinem Ritt auf dem Croax-Wolf – an dieser Stelle zuckten die Spiegelwächter schmerzerfüllt zusammen, unterbrachen ihn aber nicht – und den Erlebnissen im Dorf der Schattenlosen. Langsam kam er in Fahrt, und da die beiden ihn nicht unterbrachen, erzählte er ausführlich von der Verfolgungsjagd im Land der Nuria und der Flucht vor den Feuerreitern. Als er an die Stelle kam, als der Irrling explodierte, schnappten die Wesen entsetzt nach Luft.
»Ihr seid einem Irrling begegnet …«, japste Bodan.
»Und konnten ihn nicht retten«, beendete Vince seinen Satz und betrachtete schweigend die kleinen runzligen Männchen, die vor ihm saßen. Uri trug sein Kinn stets etwas höher und strahlte dabei eine Würde aus, die fast erdrückend war. Bodan dagegen war durch und durch milde, warmherzig und gut. Er trug den kleinen wohlgenährten Bauch vor sich her, hatte stets ein Lächeln auf den Lippen, und seine Emotionen konnten jederzeit vom Gesicht abgelesen werden. Nun kullerten kupferfarbene Tränen über die Wangen, und er fragte leise: »Weißt du, wie selten Irrlinge in Eldrid sind?«
»Ja, die Wiar haben es mir erklärt. Es ist eine Tragödie.«
Die Spiegelwächter nickten betroffen, und er nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf.
»Irgendwann ging es nur noch darum, das Dorf der Wiar zu finden. Wir waren ständig auf der Flucht vor den Nuria und gleichzeitig damit beschäftigt, das Dorf der Wiar zu erreichen. Die anderen dachten, dass ich das nicht mitbekomme«, er lachte kurz auf, »aber ganz so blöd bin ich auch nicht.«
Die Spiegelwächter warfen sich einen kurzen Blick zu.
»Wer begleitet Ludmilla genau?«, fragte Uri.
»Dieser herrische Formwandler …«
»Lando«, ergänzte Bodan.
»Genau, er ist immer um sie herum, und auch der Unsichtbare weicht nicht von ihrer Seite. Ich finde ja, dass er wirklich merkwürdig aussieht, er glitzert in allen möglichen Farben und ist so lang und dünn, manchmal kann man sogar durch ihn hindurchschauen.« Vince grinste. »Irgendwie muss ich immer an ein Surfbrett denken, wenn ich ihn anschaue …«
»Eneas«, unterbrach ihn Uri mit einem strengen Blick.
»Ja, Eneas, eigentlich ist er ganz nett und umgänglich, gerade im Vergleich zu diesem Griesgram von Formwandler. Das ist so ein Großkotz.« Er verdrehte die Augen, bis er die Blicke der Spiegelwächter wahrnahm, die ihn anstarrten und offenbar nicht nachvollziehen konnten, was er meinte. Also riss er sich zusammen. »Und dann war da noch der Kobolddrache, Nouk.«
»Ein Kobolddrache?«, entfuhr es beiden gleichzeitig.
»Ja, genau, ein sehr unfreundliches und unhöfliches Wesen. Er muss Ludmilla gehorchen, was ihm schwerfällt, und er versucht, ihr Manieren beizubringen.« Vince musste lachen. »Aber eigentlich weiß sie ziemlich genau, was sie tut, und übernimmt Verantwortung. Das ist das Tolle an ihr.« Beide Spiegelwächter sahen ihn erstaunt an, doch Vince ließ sich nicht beirren. »Sie hat diesen Schattenfresser erschaffen, um Eldrid von den lebendigen Schatten zu befreien, zumindest vermute ich das, denn da war ich nicht dabei.« Dann erzählte Vince von seiner ersten Begegnung mit dem Willomitzer in den Bergen bei den robbenartigen Wesen und wie er ihn seitdem verfolgt hatte. Er berichtete so genau wie möglich von der Zerstörung des Waldes durch die Geister und von dem Willomitzer, der fasziniert das Geschehen beobachtete, bis Zamir kam und ihn aufscheuchte. »Erst sah es so aus, als wollte das Wesen nichts von ihm wissen, aber dann änderte sich sein Verhalten, und jetzt scheint er ihn zu begleiten. Für mich sieht es danach aus, als würde er sich Zamir anschließen, und das müssen wir verhindern. Deshalb versuche ich, Ludmilla zu finden, damit wir ihn gemeinsam stoppen können.«
»Zamir und ein schattenfressendes Monster«, stöhnte Uri ungläubig. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
Vince lachte bitter auf. »Ja, das sehe ich genauso.« Er erhob sich. »Ich sollte gehen. Vielleicht kann ich Zamir und den Willomitzer noch einholen. Ich weiß nur nicht, wie ich Ludmilla dabei finden soll, wenn ich gleichzeitig den Schattenfresser verfolge. Es tut mir leid, dass ich nicht länger bleiben kann, um eure Fragen zu beantworten, aber das ist wichtiger.«
»Nicht so schnell«, versuchte Uri ihn aufzuhalten. »Du hast uns viele Informationen geliefert, dafür sind wir dankbar, aber wir haben Fragen.«
»Ich habe euch alles erzählt, was ich erlebt habe und weiß. Jetzt muss ich los.« Mit diesen Worten wandte er sich dem Ausgang der Höhle zu, als Uri plötzlich in die Knie sank.
Fünftes KapitelKelby