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Eldrid in Gefahr – Die Dunkelheit breitet sich aus Nach der Flucht durch das Becken der Wahrheit haben Ludmilla, der Unsichtbare Eneas und der Formwandler Lando das Schattendorf gefunden: im Land der Nuria. Verfolgt von den feindseligen Feuerwesen setzen sie weiterhin alles daran, die magische Welt zu retten. Eine gefährliche Jagd durch das düstere flammende Land beginnt, bei der weitere ungeahnte Kräfte in Ludmilla erwachen. Auch der Spiegelwächter Uri sucht nach einem Weg, wie er Zamir unschädlich machen kann, und wird von einer neuen Bedrohung aus den eigenen Reihen überrascht. Währenddessen spitzt sich die Situation in der Menschenwelt immer mehr zu. Mina steht vor einem kaum mehr beherrschbaren Chaos. Der Kampf um das Licht von Eldrid und die Magie der Spiegel geht weiter. cht von Eldrid und die Magie der Spiegel geht weiter.
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Seitenzahl: 428
Im Land der Nuria
Für R.
Annina Safran
Im Land der Nuria
Die Saga von Eldrid
Dritter Band
Fünf Spiegel, fünf Spiegelfamilien, fünf Spiegelwächter, eine magische Welt: Eldrid.
Die 15-jährige Ludmilla entdeckt einen Spiegel im Haus ihrer Großmutter Mina, der nach Eldrid führt. Es ist eine magische Welt mit einem besonderen Licht, das es zu beschützen gilt, denn es ist von der Dunkelheit bedroht. Ursache dafür ist unter anderem der Schatten ihrer Großmutter, der dieser in jungen Jahren gestohlen wurde und nun als lebendiger Schattenkönig das magische Licht bedroht. Ludmilla wird zu Hilfe gerufen, um diesen Schatten zurück in die Menschenwelt zu bringen. Gemeinsam mit dem Spiegelwächter Uri und seiner Fee Pixi begibt sich Ludmilla auf eine Reise durch diese fantastische Welt und meistert viele Gefahren. Damit sie sich schneller fortbewegen kann, verleiht ihr Uri eine Kraft: Das Schnell-Laufen, wodurch nicht nur Ludmilla Magie erhält, sondern auch ihr Schatten erweckt wird. Dieser wird nun für den Schattendieb und bösen Spiegelwächter Zamir interessant, der seit Minas Schattenverlust vielen Wesen ihre Schatten gestohlen und diese an den Himmel geschickt hat. Eine dicke riesige Schattenwolke verdunkelt schon einen großen Teil von Eldrid. Die Ereignisse überschlagen sich seit Ludmillas Ankunft: Die mächtigsten und ältesten Geister, die Berggeister, sind erwacht, Bodan, ebenfalls ein Spiegelwächter und Vertrauter von Uri, verliert seinen Schatten, die Waldgeister stellen sich gegen die Spiegelwächter, und Zamir kann sich aus seiner Verbannung befreien.
Ludmilla reist auf eigene Faust mit ihren Freunden Lando, dem Formwandler, und Eneas, dem Unsichtbaren, in den dunklen Teil von Eldrid. Verfolgt von Wesen der Dunkelheit, erreichen sie schließlich das Dorf der schattenlosen Wesen. Dort finden sie zwar nicht Godal, den Schatten ihrer Großmutter, lernen aber viel über die Schattenlosen und treffen den Magier Mainart, der ihnen von einer alten Legende erzählt. Neben den fünf magischen Spiegeln, die nach Eldrid führen, können fünf mächtige lebendige Schatten erschaffen werden, die das Pentagramm der Schatten bilden. Dieses Pentagramm ist mächtiger als alles andere, was es in Eldrid gibt. Ludmilla und ihre Freunde müssen herausfinden, ob fünf lebendige mächtige Schatten geschaffen und zu dem Pentagramm zusammengefügt wurden.
In der Menschenwelt hält derweil das Spiegelbild von Ludmilla, das sie dort zurücklassen musste, ihre Großmutter und Arndt Solas, ein Mitglied der Solas-Familie und Wächter des Solas-Spiegels, auf Trab. Die Großmutter Mina erleidet einen Herzinfarkt, während die Familie des bösen Spiegelwächters Zamir, die Taranees, sich in das Geschehen einmischt.
Die Dena-Familie bewohnte eines dieser kleinen schmalen Stadthäuser, die durch die benachbarten Gebäude, die größer und prächtiger waren, fast untergehen. Es stand wie eingepfercht in deren Mitte und war, bei näherem Betrachten, ein Schmuckstück. Die Fassade war reich an Verzierungen aus dem letzten Jahrhundert, hell und mit farblich abgestimmten Schlagläden versehen. Nichts ließ von außen erahnen, was sich im Inneren dieses Hauses seit über fünfzig Jahren abspielte. Denn es war kein gewöhnliches Haus, für Margot Dena war es ein Gefängnis.
Margot lebte seit ihrer Geburt in denselben vier Wänden, was an für sich nichts Ungewöhnliches ist, mit dem Unterschied, dass sie diese Gemäuer seit ihrem 18. Lebensjahr nicht mehr verlassen hatte. Dafür sorgte ihre Familie, erst ihre Eltern und später ihre Geschwister. Sie waren davon überzeugt, dass es für Margot das Beste sei, wenn sie keinen Fuß mehr außerhalb des Hauses in diese Welt setzte. Sie wurden kreativ und erzählten allen, egal ob sie es hören wollten, dass Margot unter Panikattacken leide und deshalb das Haus nicht verlassen könne. Etwas später, als Margots Eltern die Befürchtung hatten, dass die Panikattacken als Begründung nicht ausreichten, erklärten sie: »Margot leidet unter Angstzuständen. Sie sind so schlimm, dass sie Angst hat, das Haus zu verlassen. Wir können sie nicht dazu bringen, nach draußen zu gehen. Es ist furchtbar. Es gibt sogar einen Fachausdruck für diese Krankheit: Agoraphobie.« Tatsache war jedoch, dass Margot Dena weder unter Panikattacken noch an Agoraphobie litt. Sie hatte ihren Schatten in Eldrid verloren. Er war ihr abhandengekommen, gestohlen und unwiederbringlich verschwunden. Margot Dena war schattenlos und dies sowohl in Eldrid als auch in dieser Welt. Ihre Familie war der Ansicht, dass sich ein schattenloser Mensch nicht gefahrenlos in unserer Welt bewegen könne. Deshalb schlossen sie Margot ein. Im Haus der Familie. Für den Rest ihres Lebens.
Nach Jahrzehnten der Gefangenschaft bewohnte inzwischen nur noch Margot das Haus. Ihre Familie war verstorben oder ausgezogen, und sie war eine alte verbitterte Frau. Niemand kümmerte sich mehr um sie oder verbat ihr, das Haus zu verlassen. Jedoch hatte sie sich an diesen Zustand gewöhnt, so dass sie gar nicht auf die Idee kam, das Haus zu verlassen oder sich von dem zu entfernen, was sie am meisten an das Haus band: dem Dena-Spiegel. Das Portal, das sie nach Eldrid führen konnte.
Ludmilla betrachtete nachdenklich ihre Begleiter, während sie die roten Haare zu einem festen Zopf zusammenband. Der Formwandler Lando lag erschöpft auf dem harten dunklen Boden und hielt sich den Schädel. Sein Hemd und die Hose aus dem typischen hellen Leinenstoff, den fast alle Wesen in Eldrid trugen, waren verschmutzt und verbeult. Er war noch hagerer als zu Beginn ihrer Reise, und seine unterschiedlich farbigen Augen funkelten matt. Daneben lag Eneas, der Unsichtbare. Sein riesiger Körper schimmerte durchsichtig in allen Facetten des dunklen Lichts, das sie umgab, während er seine tellergroße Hand auf die Stirn presste.
Als Lando ihren Blick bemerkte, blitzen seine Augen auf.
»Schau nicht so besorgt«, flüsterte er ihr zu. »Wir wollten wissen, ob das Schattendorf existiert. Das Dorf, in dem die lebendigen Schatten wohnen. Hier ist es. Genau vor uns. Wir müssen es nur noch auskundschaften.«
»Was ist mit Mainart und Gwendolyn?« Ihr Herz zog sich zusammen, als sie an den alten Magier und die junge Hexe dachte. Das Dorf der schattenlosen Wesen schien unendlich weit entfernt, und sie würden ihnen nicht helfen können. »Mainart hat uns zur Flucht verholfen. Ceres wird ihn sicherlich dafür bestrafen.«
Eneas sog die Luft scharf ein. »Das wissen wir nicht«, murmelte er mit piepsiger hoher Stimme, die nicht zu dem restlichen riesigen Körper passte. Dann wandte er sich an Lando und schob sein Gesicht dicht vor ihn: »Kannst du wirklich nichts erkennen?«
Der Unsichtbare deutete auf die große lila Beule, die auf seiner Stirn prangte. Offenbar wurden diese Wesen nicht so oft verletzt, denn in Ludmillas Augen führte er sich auf, als hätte er eine offene Platzwunde und bräuchte dringend medizinische Behandlung. Sie fuhr sich über das Gesicht, während Lando geduldig Eneas’ Beule untersuchte. Sie hatten sich alle drei bei dem Sprung durch das Becken der Wahrheit leicht verletzt. Außerdem waren sie ausgelaugt von den letzten Tagen, dem langen Marsch zum Dorf der schattenlosen Wesen und den Ereignissen, die sich dort zugetragen hatten. Ein Grund mehr, sich erst einmal zu sammeln und über die nächsten Schritte nachzudenken.
»Wie willst du sie auskundschaften? Es sind Schatten, da können wir nicht einfach reinspazieren«, murmelte Ludmilla, während sie nachdenklich die Umgebung betrachtete. Ein Schleier, der sich über die Landschaft gelegt hatte wie der der Nacht, lichtete sich. Und da erkannte sie es. Wohin ihr Auge reichte: Zelte. Mehr Zelte und immer mehr gab das wenige Licht, das aufkam, preis. Das Schattendorf war riesig. Größer als das Dorf der schattenlosen Wesen, so schätze sie.
Irritiert sah sie zu Lando, der erwiderte: »Das hatte ich auch nicht vor.«
»Sieh nur«, wisperte sie. »Das sind so viele. Zu viele.« Ihr stockte der Atem. »Wie kann das sein? Die Schattenwolke ist riesig, und zusätzlich gibt es all diese lebendigen Schatten?« Immer wieder schüttelte sie dabei den Kopf. »Denkt ihr, dass in jedem dieser Zelte ein lebendiger Schatten lebt?«
Eneas schlug sich die Hand vor den Mund. »Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, flüsterte er kaum hörbar. »Das kann nicht sein. Das darf nicht sein.«
Ludmilla erschauderte, während sie ungläubig auf das Dorf starrte. Instinktiv zog sie die Kapuze ihres Hoodies höher und suchte angestrengt die Landschaft ab. Wie weit reichten die Zelte? Was kam danach? Verzweiflung machte sich in ihr breit. Wenn es so viele lebendige Schatten gab, die nur darauf warteten, Schatten zu stehlen, dann würde es bald keine Wesen des Lichts mehr geben. Dagegen musste sie etwas tun. Sie konnten nicht tatenlos rumstehen und dabei zusehen, wie sich diese Schatten vermehrten. Es musste eine Lösung geben.
Gerade, als sich Ludmilla zu ihren Begleitern umwandte, meinte sie, ein sanftes Glühen am Horizont zu erkennen. Dort war nicht alles schwarz und grau, sondern es schimmerte rötlich. Wie noch nicht erloschene Asche. Es war mehr rot als golden, was sie an Fenris erinnerte. Dem dunklen Teil von Eldrid. Hier leuchtete nichts golden. Nichts war einladend an dieser Landschaft. Für einen kurzen Moment dachte sie an das Glitzern der Wälder, das goldene Leuchten der Nacht und die farbenprächtige Stadt Fluar. Doch dann wurde sie von Lando aus ihren Gedanken gerissen.
»Warum brauchen sie Zelte?«, murmelte er.
»Es sind Schatten, die mit Wesen verbunden waren«, flüsterte Ludmilla. »Sie wollen vielleicht genauso leben.«
»Die Frage ist nur, was machen die hier?«
Eneas brummte unschlüssig. »Ich habe keine Ahnung, Lando, aber du hattest recht. Es gibt es, das Schattendorf, und es ist riesig.« Ein kleiner Funkenregen sprang von seinem Körper.
»Wisst ihr eigentlich, wo wir hier sind?«, fragte sie zaghaft.
Lando hob die Schultern und betrachtete die Landschaft. Soweit das Augen blicken konnte, bedeckten glatte schwarze Steine den Boden. Es war ein Meer aus unterschiedlich hohen und blank polierten Steinen, das hohe Wellen schlug. Oder wie eine endlose Buckelpiste im Gebirge. Er hob die Hand vor die Augen, als würde ihn etwas blenden, und starrte über die Ebene.
»Eneas«, sprach er langsam. »Siehst du das?«
Lando deutete auf den Horizont, an dessen Ende Ludmilla das Glühen entdeckt hatte. Eneas folgte seinem Finger und kniff die Augen zusammen. Ein Unsichtbarer mit einem langgezogenen Schädel und runden Augen wie Murmeln sah schon merkwürdig aus. Ludmilla bewunderte jedes Mal aufs Neue, wie sich sein Gesicht durch eine Grimasse veränderte. Diese mit zu Schlitzen verengten Augen hatte etwas von einer Comicfigur. Sie überraschte sich selbst dabei, dass sie darüber nicht lachen musste. Vielleicht hatte sie sich an die verschiedenen Anblicke gewöhnt? Oder sie respektierte ihn zu sehr, als dass sie sich über ihn lustig machen könnte.
»Wenn es das ist, was ich vermute, dann sind wir im Land der Nuria gelandet.« In Eneas’ Stimme schwang Unsicherheit mit.
»Nuria?« Sie wandte sich an Lando. »Das Land der Nuria? Davon habe ich noch nie gehört.«
Lando lächelte sie belustigt an. »Das ist ein Gebiet, das nicht gerne bereist wird und von dem die Wesen von Eldrid nicht viel erzählen. Die Nuria sind keine Wesen des Lichts, auch wenn sie Schatten haben. Sie bezeichnen sich als Wesen des Feuers.« Er lachte kurz und hart auf. »Die Nuria bestehen im Wesentlichen aus Feuer und ihre Pferde auch. Stell dir einen Menschen auf einem Pferd vor, der von einer glühenden Feuerflamme eingehüllt ist. Beide haben Kontur, brennen gleichzeitig. Beispielsweise stehen die Haare der Nuria in Flammen, ebenso wie der Schweif und die Mähne des Pferdes, dabei verbrennen sie jedoch nicht. Sie sind eins mit dem Feuer. Genauso verhält es sich mit dem Land. Das Feuer breitet sich überall aus, so dass alles aus brennendem Material besteht oder bereits verbrannt ist. Schau dir die Landschaft genauer an: Die Kugeln, die den Boden bedecken, sind aus geschmolzenem Stein, den das Feuer glattpoliert hat wie Stahl. Die Nuria würden am liebsten alles niederbrennen. Zum Glück gibt es Ilios, das sie davon abhält, denn sie hassen das Licht und insbesondere das Sphärische.«
»Ilios? Der sphärische Teil von Eldrid?«
Eneas nickte. »Zwischen dem Land der Nuria und Ilios liegt das Gebiet der Unsichtbaren. Es ist genauso lichtdurchflutet wie Ilios, ändert aber ständig seine Farben. Es wird das Land der gleißenden Farben genannt, obwohl es eigentlich Glintir heißt.« Stolz sprach aus seiner Stimme, der sofort wieder verflog, als er fortfuhr: »Da, wo unser Land rötlich wird, hat sich das Feuer festgesetzt, und die Nuria sind entstanden. Sie scheuen das Licht, so dass sie unsere Grenze nicht überschreiten. Als hätten sie Angst zu verbrennen, jedoch haben sie es bis heute nicht aufgegeben, es zu versuchen.«
»Was zu versuchen?«, fragte Ludmilla.
Er sah sie mit traurigen Augen an. »Die Grenze zu überschreiten. Wir, die Unsichtbaren, schützen unsere Grenze zu den Nuria mit einem besonderen Zauber, den die Sphärischen uns gelehrt haben. Sie versuchen, den Bann zu brechen. Viele Unsichtbare sind durch ihre Feuerpfeile verletzt worden, manche sogar gestorben, aber der Zauber hält stand, und so sind sie in ihrem Land gefangen.«
»Gefangen? Befindet sich das Land der Nuria in der Mitte des Landes der gleißenden Farben oder grenzt es an andere Länder, die ihre Grenzen genauso schützen?« Die Fragen sprudelten ungebremst aus Ludmilla heraus. Sie wollte diese Welt unbedingt verstehen.
»Ich hatte ganz vergessen, wie neugierig du bist«, lachte Lando leise.
Eneas lachte nicht. »Das Land der Nuria ist ein riesiges Gebiet. Es hat schon mehrere Länder von Eldrid mit seinem Feuer aufgefressen. Es reicht bis zu den Grenzen von Glintir, und auf der anderen Seite ist das Meer.«
»In Eldrid gibt es ein Meer?«, platze es aus Ludmilla heraus.
»Ja, nicht nur hinter dem Land der Nuria, auch andere Gebiete grenzen ans Meer.«
»Also ist Eldrid eine Insel.«
Die Wesen blickten sie verständnislos an.
»Oder ein Kontinent?«, fügte sie unsicher hinzu.
»Eldrid besteht aus vielen verschiedenen Ländern. Auch jenseits des Meeres gibt es Land, und dieses Land gehört zu Eldrid. Jedoch kenne ich kein Wesen, das so weit gereist ist«, gestand Eneas. »Wir, die Wesen des Lichts, sind davon überzeugt, dass es dieses Land jenseits des Meeres gibt.«
»Dann wisst ihr es nicht mit Sicherheit?«
»Eldrid ist eine Welt, kein Kontinent«, zischte Eneas, als hätte Ludmilla ihn persönlich angegriffen, und von seinem Körper lösten sich Funken. Lando warf ihr einen warnenden Blick zu, während er Eneas’ Unterarm tätschelte, so dass sein Funkenregen sofort erlosch.
Sie ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern bohrte weiter: »Gibt es eine Karte? Von Eldrid?«
Lando schüttelte langsam den Kopf. »Wir wissen, wo sich die Länder befinden. Wir benötigen keine Karte.« Er sprach dies fast abfällig aus.
»Ich kann mich an Karten immer gut orientieren«, erklärte sie. Und mit einem Blick auf Eneas gerichtet: »Ich käme nie auf die Idee, Eldrid zu beleidigen oder abfällig von dieser Welt zu sprechen. Es interessiert mich nur. Zu gerne würde ich das Meer von Eldrid einmal sehen.«
Der Unsichtbare fing an zu lächeln, aber sein Lächeln erfror sofort wieder. »Das Meer, das an das Land der Nuria angrenzt, ist für uns unerreichbar. Es ist schon gefährlich genug, dass wir uns hier aufhalten.« Mit diesen Worten heftete er seinen Blick wieder auf die Zelte, die sich wie eine Hundertschaft vor ihnen aufreihten.
In Ludmillas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie konnte sich die Nuria gut vorstellen, nur – wie sprachen sie? Wie lebten sie? Sie hob zu einer Frage an, aber Lando legte einen Finger auf die Lippen.
»Wir sollten uns auf das Schattendorf konzentrieren. Dass die Schatten die Nähe der Nuria suchen, ist raffiniert. Darauf hätten wir auch kommen können. Sie brauchen sich nicht zu verstecken, denn hier ist alles dunkel, verbrannte Erde.«
Eneas presste die Lippen aufeinander. »Wir sollten uns nicht unnötig lange hier aufhalten. Früher oder später werden die Nuria uns entdecken. Alles, was nicht verkohlt riecht, können sie wittern. Wer weiß, ob sie ein Abkommen mit den Schatten geschlossen haben. Also lasst uns möglichst bald hier verschwinden.«
»Und wohin? Wisst ihr denn, in welcher Richtung das Meer beziehungsweise das Land der gleißenden Farben liegt?«
Lando warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Zu viele Fragen, Ludmilla«, mahnte er sie.
»Sie hat recht«, gab Eneas zu Bedenken. »Wir sollten das Schattendorf ausspionieren, aber wir brauchen einen Fluchtplan.«
»Wie wäre es mit überhaupt einem Plan?«
Die Wesen starrten sie genervt an.
»Was? Wir wollten uns davon überzeugen, dass es das Schattendorf gibt.« Sie deutete auf die Zelte. »Da ist es. Wir haben es gefunden, und es ist real. Was machen wir jetzt? Wollen wir weiterhin Godal suchen? Wir sind nicht vorbereitet, und meint ihr wirklich, dass wir ihn in einem dieser vielen Zelte finden? Und wenn wir ihn gefunden haben, was machen wir dann? Wir kennen den Zauber nicht, der ihn an mich binden soll. Außerdem habe ich selbst einen mächtigen Schatten. Dass Aik mächtig ist, darin seid ihr euch einig. Ihr zieht sogar in Erwägung, dass er der Eine ist. Der Eine – « Sie brach ab und schüttelte den Kopf. Dann zitierte sie zögerlich die passende Strophe aus dem Lied der Legende vom Pentagramm der Schatten, wie sie sie in Erinnerung hatte:
»Wenn die Schatten ersticken das Licht,
zeigt die dunkle Macht ihr wahres Gesicht,
und die mächtigen Fünf werden aufsteigen.
Vor ihnen wird den Kopf jeder neigen,
nur der Eine nicht,
um zu wahren das Licht.
Der Eine kann das Pentagramm zerstören,
wird er nur all seine Mächte beschwören,
für uns
und für das Licht.
Das ist das Licht,
das ist unser Licht,
das Licht von Eldrid.«
Ihre Freunde starrten sie an, und fast meinte sie, dass Eneas die Melodie des Liedes mitgesummt hätte. Sie hob die Schultern. »Unabhängig von der Frage, ob Aik der Eine ist, wird mich Godal nicht als seine Herrin anerkennen, solange ich einen Schatten habe. Also, was nun? Hierbleiben und uns etwas ausdenken können wir auch nicht, denn so, wie ich euch verstanden habe, scheinen sich die Nuria mit Gastfreundschaft nicht zu überschlagen. So langsam verhärtet sich mein Eindruck, dass ich zur Zeit nirgends in Eldrid ein gern gesehener Gast bin.«
Lando schürzte die Lippen.
»Stimmt doch«, widersprach Ludmilla. »Wir sollten einen groben Plan haben. Was bringt uns die Erkenntnis, dass es das Schattendorf gibt, wenn wir damit nichts weiter anfangen können? Wie sollen wir Godal an mich binden und zurückschicken, ohne den dafür benötigten Zauber zu kennen? Und wird das Eldrid helfen? Godal von Eldrid zu befreien war immer der Plan. Die Frage ist nur, ob das bei dem Kampf gegen Zamir und die Schattenwolke weiterhilft? Ist es das Risiko wert?«
Ihre Begleiter schwiegen. Lando hätte zu gern etwas erwidert, jedoch fehlten ihm die Argumente. Eneas legte seine Stirn in Sorgenfalten. Sie gaben es beide ungern zu, aber Ludmilla hatte recht. Sie hatten keinen Plan und waren nicht vorbereitet auf das, was als Nächstes geschehen würde.
»Nicht, dass ihr denkt, dass ich kneife«, fügte sie nach einer Weile hinzu. »Ich möchte wirklich helfen, obwohl ich nicht weiß wie.«
Sie hatte das Gefühl, dass Tränen in ihr hochstiegen. Sie fühlte sich leer und erschöpft. Die vielen Zelte bereiteten ihr Angst, ebenso wie die Dunkelheit und das bedrohliche Glühen, das über dem Land lag. Sie schaute schnell zur Seite und fuhr sich über das Gesicht.
»Ich finde, dass wir die Chance nutzen und die Schatten ausspionieren sollten«, sprach Lando nach einer Weile. »Wir sollten uns ein Bild von diesem Dorf machen, bevor wir das Land der Nuria wieder verlassen.«
Eneas nickte.
»Und was ist mit der Legende vom Pentagramm der Schatten?«, fragte Ludmilla. »So richtig sicher war sich Mainart nicht, ob tatsächlich fünf mächtige lebendige Schatten geschaffen wurden. Sollen wir versuchen, sie im Schattendorf ausfindig zu machen?«
»Das ist zu gefährlich«, fiel ihr Lando ins Wort. »Zumal sich diese Frage am einfachsten in deiner Welt beantworten lässt. Wenn jeweils ein Mitglied der Spiegelfamilien seinen Schatten verloren hat, dann ist es wahr und es gibt die Fünf. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass Zamir diese zum Pentagramm zusammengefügt hat, sehr hoch.«
»Wenn das Pentagramm existiert, müssten wir immer noch herausfinden, wer der Eine ist«, beharrte Ludmilla.
Der Unsichtbare stöhnte auf, als hätte er sich gestoßen.
»Was ist los, Eneas?« Sie wandte sich ihm voll zu. »Du glaubst nicht daran?«
Lando sah ihn erwartungsvoll an.
Eneas schüttelte unwillig den Kopf. »Das ist es nicht. Die Legende ist ein altes Kinderlied. Es kann auch alles nur ausgedacht sein, und wir klammern uns daran, als wäre es die einzige Hoffnung, die uns noch bleibt.«
Sie blickte die beiden Wesen verzweifelt an. War es das jetzt? War das das Ende ihrer Aufgabe? Konnte sie überhaupt noch etwas für Eldrid tun? Sie verdrängte diesen Gedanken und sprang auf.
»Also gut, fangen wir damit an, das Schattendorf zu erkunden. Vielleicht erfahren wir dort etwas, woraus sich die nächsten Schritte ergeben.«
»Seit wann hat sie eigentlich das Kommando?«, wisperte Eneas Lando zu, während sie hinter ihr her liefen.
Zamir ließ dem Enkel von Edmund Taranee, Vince, einen Vorsprung. Er, der mächtige Spiegelwächter und zukünftige Herrscher über Eldrid, wünschte weder eine Begleitung noch wollte er sich mit einem menschlichen Anhängsel belasten. Er brauchte seine ganze Energie und Magie für das, was vor ihm lag. Die Umsetzung seiner Pläne. Während der Jahrhunderte der Gefangenschaft, die ihm die Spiegelwächter von Eldrid beschert hatten, hatte er Pläne geschmiedet und bis ins letzte Detail geplant. Nun war es endlich an der Zeit, sie Realität werden zu lassen. Dafür brauchte er Ruhe, die ihm der Taranee-Sprössling jedoch nicht bescherte. Ganz im Gegenteil. Bei dem Gedanken an den Zischlaut, den der junge Mensch von sich gegeben hatte, wenn ein S im Wort vorkam, schüttelte es Zamir. Was für ein unangenehmer Jüngling! Der Spiegelwächter konnte es immer noch nicht fassen, dass es Edmund wagte, ihm solch ein Exemplar zu schicken. Und das nannte er Nachwuchs. Zamir schüttelte missbilligend den Kopf. Edmund Taranee war immer ein Mann mit Format gewesen, auch schon als junger Mensch. Zwar ein Narr und leicht zu täuschen, aber stets aufrecht und nie unterwürfig. Wäre er doch nicht so machtbesessen gewesen, sie hätten eine großartige gemeinsame Zukunft gehabt. Zamir seufzte gönnerhaft und lachte dann auf. »Nein«, murmelte er. »Edmund Taranee und ich hätten nie gemeinsam über Eldrid regiert. Er ist ein Mensch und schwach, jedoch das, was er seinen Enkelsohn nennt, ist noch viel schwächer als er.«
Kopfschüttelnd und in Gedanken versunken rief Zamir einen Croax-Wolf zu sich. Er liebte diese Kreaturen, die er in seiner Gefangenschaft erschaffen hatte. Ein wolfsartiges Geschöpf in der Größe eines Riesen auf allen vieren, dessen Hinterläufe ein Schwarm Späher bildete. Es gab in Eldrid kaum etwas Furchteinflößenderes, von den lebendigen Schatten abgesehen. Zamir freute sich, das Wesen nun endlich selbst reiten zu können, obwohl es ihm widerstrebte, seinen Spiegel schon wieder zu verlassen. Zu kurz war die Wiedervereinigung und zu wenig Kraft hatte er bisher aus der Reaktivierung gezogen. Er würde ihn gerne noch viel länger und viel öfter leuchten lassen, aber da stand der alte Taranee auf der anderen Seite und erwartete seinen Enkelsohn zurück. Fast liebevoll strich Zamir über den goldverzierten, reich geschmückten Rahmen und ließ ihn kurz aufleuchten. Wie ein Zittern. Dann schnippte er mit den Fingern und der Spiegel erlosch.
»Du leuchtest nur, wenn ich es dir erlaube. Lasse niemanden durch, verstanden?« Eine Antwort erwartete der Spiegelwächter nicht. Für einen kurzen Moment dachte er an Uri, seinen Bruder, der völlig geschwächt von dem Bruch des Verbannungszaubers war. Er lag in seiner Höhle und war so kraftlos und machtlos, während Zamir nun endlich frei war. Große Genugtuung durchströmte ihn. Uri war gebrochen und er frei. Es war an der Zeit, die Welt zu erkunden, die er in Dunkelheit getaucht hatte und die er so sehr liebte. Sein Reich: Fenris.
Zamir genoss den Ritt auf dem Croax-Wolf. Die mächtige Kreatur trug ihn durch den dunklen Teil des Waldes und hinaus auf die Moorebene. Er zerplatzte fast vor Stolz, während das schwere riesige Tier ihn knurrend und hechelnd über die schwarze Ebene trug. Der Croax-Wolf setzte nur mit den Vorderpfoten auf, während die Hinterläufe, getragen von den Spähern, über den Untergrund flogen. Er war auf dem Weg zu seinen Schatten. Zunächst beabsichtigte er, dem Dorf der schattenlosen Wesen einen Besuch abzustatten. Er wollte sich ein Bild von den unglücklichen Kreaturen machen, die er zu dem gemacht hatte, was sie waren: schattenlos. Zamir hatte kein Mitleid mit ihnen, weit gefehlt. Sie würden ihm noch von Nutzen sein, die schattenlosen Wesen, deshalb erhielt er sie am Leben. Solange ihre Schatten seine Armee waren, konnte er es nicht riskieren, sie zu verlieren. Jedoch mehr als lebensverlängernde Maßnahmen, indem sie mit dem nötigsten Licht versorgt wurden, konnte er sich nicht abringen. Obwohl er sie zu dem gemacht hatte, was sie waren, verabscheute er sie. Er hasste alle Wesen des Lichts, die sich an ihren Schatten klammerten, als wäre er der Grund für ihr Dasein. Die Schatten, ja, die Schatten waren die Mächtigen in Eldrid. Das hatte selbst Zamir längst verstanden. Deshalb hatte er die Alte Kunst erlernt und sprach mit seinem Schatten. Ein Grund war, dass er so verhindern konnte, dass ihm sein Schatten gestohlen wurde. Es fiel Zamir immer noch schwer, ihn als ebenbürtig anzuerkennen.
Das Dorf der schattenlosen Wesen würde ein Zwischenstopp sein, mehr nicht. Denn seine Schatten waren es, die ihn interessierten. Die Lebendigen und die Mächtigen. Davon hielten sich ein paar im Dorf der schattenlosen Wesen auf, die Mehrzahl jedoch lebte im Schattendorf. Gut versteckt und bereit für den großen Angriff. Zamir musste sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass alles nach Plan verlief.
Sofort kam ihm der Schattenkönig in den Sinn. »Godal«, knurrte er vor sich hin. Dieser ignorierte mal wieder seit längerem seinen Ruf. Das brachte Zamir zur Weißglut. Die anderen Schatten rief er in der Regel nicht. Nur, wenn er ihre Macht zum Pentagramm vereinigen musste, und dies sparte er sich für Großes auf. Für den Plan. Da Godal nicht auf seine Rufe reagierte, ging es Zamir nun darum, diesem mächtigen Schatten klar zu machen, wer sein Herr war. Jetzt, da der Spiegelwächter frei war, konnte er ihm das noch viel besser verdeutlichen. Zamir hasste es, wenn Godal ihm nicht gehorchte. Zu seinem Unmut war diesem das schon seit längerer Zeit zur Gewohnheit geworden. Ein Grund mehr, in das Schattendorf zu reisen und sich selbst ein Bild zu machen. Endlich konnte er seine Pläne in die Tat umsetzen. Jahrhunderte der Gefangenschaft hatten ihn ungeduldig werden lassen. Ungeduldig und wütend, aber auch sehr mächtig. Er verzog sein makelloses Gesicht zu einer diabolischen Fratze. Seine Pläne, wie sehr er sich darauf freute! Das würde ein Fest werden. Ein Fest für die Dunkelheit, ein Fest für die Schatten und vor allem ein Fest für ihn: Zamir, den Schöpfer der Dunkelheit und bald der Herrscher über Eldrid.
Er hatte das Dorf der schattenlosen Wesen fast erreicht. Auf einen einfachen Fingerzeig hin verlangsamte der Croax-Wolf seine Schritte, und die Späher verstummten. Zufrieden blickte Zamir auf das Meer von Baracken und Zelten, das sich an den Fuß des Gebirges schmiegte. Er sah die unzähligen kleinen Punkte in der Dunkelheit leuchten und die dicke Schattenwolke, die über diesem Teil von Eldrid hing. Sie musste schon mehrere Schichten haben, so dunkel war es. Auf seinem Gesicht breitete sich ein selbstgefälliges Lächeln aus.
»Bring mich zu Ceres«, befahl er der Bestie, von dessen Hinterläufen sich die Späher gelöst hatten. Der riesenhafte Wolf bewegte sich geschickt zwischen den Behausungen hindurch und erklomm die Anhöhe bis zu der Halle der Zeremonien fast anmutig. Die doppelflügelige Tür stand offen, und Zamir konnte Schreie vernehmen. Als die Kreatur ihn in die Halle trug, sah er gerade noch, wie der blonde Haarschopf des jungen Taranee von einem der lebendigen Schatten in dem Becken der Wahrheit versenkt wurde und der Rest des Körpers ebenfalls verschwand.
»Was geht hier vor sich?«, polterte Zamir los. Es befanden sich zwei Schatten am Becken der Wahrheit. Sie schwebten in ihren schwarzen Umhängen mit breiten Kapuzen über dem Boden, und ihre glühenden Augen wandten sich Zamir zu. Der größere der beiden ließ Mainart, den Magier, kopfüber über dem Becken baumeln. Er ließ ein ungeduldiges Zischen vernehmen, das selbst Zamir durch Mark und Bein ging.
Zamir trieb den Wolf an, die Halle zu durchqueren, und grollte: »Ceres!« Seine Stimme überschlug sich fast. »Erstatte mir Bericht, sofort!«
Der Schatten gab ein abscheuliches Lachen von sich. »Dieses Miststück von Scathan-Erbin hat sich aus dem Staub gemacht. Direkt durch das Becken zusammen mit dem Unsichtbaren und dem Formwandler.« Seine Stimme klang blechern und knarrte künstlich. »Wir konnten den Zauberer schließlich davon überzeugen, uns ihr Ziel zu verraten, und haben den Taranee-Erben hinterhergeschickt. Er war ganz versessen darauf, die Scathan zu verfolgen.«
Ein höhnisches knarrendes Lachen ertönte, gefolgt von einem markerschütternden Zischen.
Zamir nickte zufrieden. »Er wird seine Aufgabe erfüllen. Früher oder später. So ist er beschäftigt. Hauptsache, er hält mir dieses Mädchen vom Leib und sich selbst gleich dazu.«
Ceres ließ ein weiteres grausames krächzendes Lachen erklingen. »Das wird er, mein mächtiger Herrscher.«
Zamirs Blick wanderte zu Mainart, der noch immer kopfüber über dem Becken schwebte. Sein Gesicht war verbrannt, ebenso wie seine linke Hand. Ein Lächeln zuckte über Zamirs Lippen. »Was habt ihr mit ihm gemacht? Musstet ihr ihn so zurichten?«
Er wandte sich damit an den zweiten Schatten, der neben Ceres schwebte. Dieser wich zurück und neigte den Kopf.
»Wir haben ihn nur dazu bewegt, uns zu sagen, wohin die drei verschwunden sind. Mir war klar, dass er es wusste, bei der Wahrheitsfindung musste ich etwas nachhelfen«, erklärte Ceres.
»Ihr habt ihn ganz schön zugerichtet. Lebt er noch?«
Der Schatten nickte. Zamir machte eine ausladende Bewegung mit der Hand. »Schafft ihn weg.«
Mit einem lauten Knall ließ Ceres den leblosen Körper auf den Boden fallen. Der andere Schatten schulterte ihn mühelos und trug ihn aus dem Saal.
Zamir wandte sich dem mächtigen Schatten zu. »Gut, Ceres. Ich bin zufrieden mit deiner Arbeit. Du scheinst alles unter Kontrolle zu haben. Gehorchen sie euch? Sind sie gefügig?«
Ceres nickte. »Du kannst unbesorgt sein, mein mächtiger Herrscher, die Schattenlosen folgen unseren Anweisungen und widersetzen sich nicht.«
»Nun denn«, erwiderte Zamir selbstgefällig. »Dann mache ich mich auf den Weg in das Schattendorf. Ich nehme an, dass sich dort auch Godal aufhält.«
Der mächtige Schatten schien zusammenzuzucken. Er neigte den Kopf ein wenig tiefer. »Das kann ich nicht mit Sicherheit bestätigen. Meine Informationen erhalte ich direkt von dir, Herr. Was Godal betrifft, so weiß ich nicht, wo er sich aufhält. Hat er zurzeit keine Anweisung von dir?«
Zamir lachte hämisch auf. »Selbstverständlich hat er Anweisungen von mir. Ich gehe davon aus, dass er diese ausführt und sich dann in das Schattendorf begibt. Dort werde ich ihn erwarten. Wenn er hier auftauchen sollte, mache ihm das klar. Nur für den Fall, dass er vergesslich geworden ist.« Seine Stimme wurde laut und schrill. Der Schatten ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Dann wäre das ja auch geklärt«, knurrte Zamir und wendete den Wolf, so dass dieser sich wieder Richtung Ausgang bewegte.
»Gehe ich richtig davon aus, dass die schattenlosen Wesen nun wieder genährt werden dürfen?«, fragte der Schatten, und seine knarrende Stimme hallte durch den Saal.
Zamir drehte sich kurz zu ihm um. »Lass sie noch ein paar Tage warten, das kann nicht schaden. Sie haben sich dir widersetzt. Das sollten sie zu spüren bekommen, aber lass sie nicht sterben. Wir brauchen sie noch. Sorge dafür.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, trieb er die Bestie an, und diese stürmte aus dem Saal.
Seit Stunden schob Bodan Kieselsteine und Lehm in das kleine Loch, das noch vor ein paar Stunden mit Wasser gefüllt gewesen war. Es war eine sinnlose Arbeit. Die Berggeister hatten ihn gezwungen, die Wasserlache komplett mit Lehm zu ersticken. Und nachdem sie kein Wasser mehr rochen, und ja, diese Geister konnten riechen, hatten sie ihn weiterhin dafür eingesetzt, noch mehr Füllmaterial darauf aufzutürmen. Der Zweck war längst erfüllt. Die Flussgeister waren fort. Erstickt oder hoffentlich geflohen, denn Bodan sah und hörte keine mehr. Damit war das letzte Fünkchen Hoffnung auf Flucht in ihm erloschen. Sein Geist war erschöpft, genauso wie sein Körper, und der Verlust seines Schattens schmerzte noch immer. Es war, als hätte Bodan etwas Wesentliches verloren. Als wäre ihm etwas genommen worden, von dem er vorher nie realisiert hatte, dass es wichtig für ihn war. Zu seinem großen Erstaunen war es nicht die Magie, die ihm fehlte. Es war tatsächlich der Schatten. Sein Schatten, mit dem er nie ein Wort gesprochen hatte, weil er es nicht für nötig gehalten hatte. Bodan hatte stets auf seinen Schatten aufgepasst, aber mit ihm sprechen? Es hatte nie eine Veranlassung dazu gegeben. Also warum? Nun, da er fort war, hatte er plötzlich das Verlangen, mit ihm zu sprechen. Ihn Dinge zu fragen, und genau jetzt vermisste er ihn schmerzlich. Ging das allen Wesen so, wenn sie schattenlos wurden? Dass sie erst dann verstanden, wie wichtig der Schatten für sie war, wenn er ihnen für immer genommen wurde? Er ließ sich in die Hocke gleiten und verharrte so ein paar Minuten. Die Berggeister hatten das Interesse an ihm verloren. Einzig und allein ihr König Raan hatte seine Gesellschaft geschätzt, und dabei war es ihm nicht wichtig gewesen, ob er einen Schatten hatte oder nicht. Raan war fort und jagte Godal hinterher. Nun wollte keiner mehr mit Bodan reden, und die Geister bemerkten von Stunde zu Stunde mehr, wie nutzlos er war – ohne Macht und Magie. Sie wagten es wohl nicht, ihn zu verbannen, aus Angst, Raan könnte noch etwas mit ihm vorhaben.
Bodan seufzte. Er fühlte sich nutzlos und leer. Wenn sie ihn wenigstens zu den anderen Städtern lassen würden oder ihn einfach nur gehen ließen. Er konnte nichts mehr anrichten und ihnen nicht mehr schaden. Aus eigener Kraft würde es Bodan kaum ins Schneegebirge schaffen, um dort die Schneegeister davon zu überzeugen, dass es essenziell für Eldrid war, einen Pakt mit den Wesen des Lichts einzugehen. Sie würden ihm nicht zuhören. Ihm, dem schattenlosen Spiegelwächter Bodan.
Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Ein Berggeist kam, nur den steinernen Kopf zeigend, auf ihn zugefegt. Er sauste über Bodan hinweg, und es erschein ein einzelner Finger in der Luft.
»Geh«, dröhnte der Geist. »Geh zu den anderen, du Nichtsnutz.«
Bodan traute sich kaum, seinem Glück zu glauben. Er durfte gehen?
»Du unterstützt jetzt das Fußvolk dahinten. Du musst nicht auf eine Ebene, aber hier unten, allein und in der Nähe des Flusses, wollen wir dich nicht haben. Solange Raan weg ist, habe ich das Kommando, und mich interessieren deine Geschichten nicht. Ich will, dass wir schneller vorankommen, und du behinderst uns nur. Also unterstütze die anderen Wesen mit deinem Geschwätz oder zu was du sonst noch zunutze bist, dort hinten und nicht mehr hier.«
Erneut deutete der Finger in die andere Richtung des Kraters. Dort arbeiteten eine Handvoll Städter. Sie räumten den Schutt zur Seite, der von den oberen Ebenen auf den Boden des spiralförmigen Kraters herunterfiel. Die Arbeit war gefährlich, weil sie jederzeit getroffen werden konnten. Nur eine Hexe unterstützte sie dabei, jedoch war sie nicht in der Lage, die ganze Zeit ein Schutznetz über sie zu spannen. Die Luft war stickiger als in der Nähe des Flusses, und es war heiß. Schweiß ran Bodan über das Gesicht, als er sich dankbar zu den Arbeitern gesellte.
»Hallo«, murmelte er leise und sah sich scheu um.
Die Städter beachteten ihn nicht. »Achtung«, schrie gerade einer, der wie ein Gaukler aussah. Sie sprangen zur Seite, als ein besonders großer Gesteinsbrocken genau in ihre Mitte knallte.
»Du bist dran«, erklärte ein anderer und schubste den Spiegelwächter nach vorn. »Wegschaffen.«
Die Städter waren überanstrengt und entgegen Bodans Erwartungen nicht erfreut über seine Gesellschaft. Er machte sich sofort daran, den Stein zu einem Haufen in einer Ecke zu schieben, wobei er schnell feststellte, dass dies viel schwieriger war, als es aussah – so ganz ohne Magie. Der Brocken war schwer und unhandlich. Er ließ sich kaum bewegen, geschweige denn rollen. Er drückte sein gesamtes Körpergewicht dagegen, und nur sehr langsam bewegte sich der Stein. Doch plötzlich ging es leichter, und er bemerkte eine Gestalt neben sich, die ihm half. Dankbar nickte Bodan und wagte kaum hochzuschauen. Die Wärme des Wesens, das neben ihm stand und ihm half, war außergewöhnlich, das spürte Bodan, auch ohne hinzuschauen. Ein extrem gütiges Wesen mit einer Ausstrahlung voller Freundlichkeit und Wärme. Ihn durchfuhr es wie ein Blitz. Sein Kopf fuhr herum, und da stand er neben ihm und lächelte ihn an: Desmond.
»Desmond«, keuchte Bodan. »Desmond Solas, was in aller Welt machst du hier?«
Es war sein Schützling. Sein lang verloren geglaubter Schützling, der durch seinen Spiegel gereist war, so viele Male. Ein Mitglied der Solas-Familie. Seiner Spiegelfamilie. Desmond Solas. Ein großer Mann, schon fortgeschrittenen Alters, immer noch jung wirkend mit breiten Schultern und dunklen lockigen Haaren. Seine fast schwarzen Augen funkelten im Licht des Kraters, der von dem Brummen etlicher Feen erhellt wurde.
»Ja, Bodan. Ich bin es, und ich habe dich endlich gefunden.«
Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht, während er sich wieder mit aller Kraft gegen den Stein stemmte und diesen langsam aus dem Weg schaffte.
Sie schwiegen lange. Bodan blickte ihn immer wieder an, ungläubig, und fragte sich, ob er träumte. Er war jünger geblieben als Ada, obwohl die beiden fast zeitgleich nach Eldrid gekommen waren. Desmond war kein alter Mann, ergraut, voller Falten und mit gebückter Haltung. Er wirkte eher mittleren Alters, und Bodan fragte sich sofort, wie das möglich war. Wie konnte Desmond so langsam gealtert sein, vor allem im Vergleich zu Ada.
»Was machst du hier, Desmond«, fragte er erneut und unterbrach dabei seinen eigenen Gedankengang.
Desmond lächelte. »Ich habe dich gesucht. Es hat begonnen.«
Er war noch nie ein Mann der großen Worte gewesen. Bodan reichte diese Antwort jedoch nicht. »Was hat begonnen, Desmond, und warum hast du mich gesucht?«
Er antwortete nicht, sondern drückte nur Bodans Arm. »Wir müssen hier weg, und zwar schnell. Du musst erst zu Kräften kommen. Schaffst du das, Bodan? Kannst du noch ein wenig ausruhen, und dann verschwinden wir hier aus dem Höllenkrater?«
Der Spiegelwächter durchforschte das zarte Gesicht des Mannes, das er seit so vielen Jahren kannte. Die hohen Wangenknochen, die schmalen Lippen, die hohe Stirn, die vollen Haare, die ihm fast auf die Schultern fielen. War das vielleicht ein Traum? Ein Wunschtraum? Es würde so gut passen. Bodan war verzweifelt. Da war es logisch, dass er sich Desmond herbeiwünschte. Den Menschen, den er am meisten bewunderte.
Desmond schien seine Gedanken zu erkennen, denn er schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin kein Traum, Bodan, und wir müssen hier weg. Wir haben einen langen Weg vor uns. Schaffst du das? Ich brauche dich, und du musst mich begleiten.«
Bodan nickte benommen. »Lass mich noch ein wenig ruhen.« Die Worte verließen nur flüsternd seine Lippen. »Dann gehe ich überall mit dir hin. Hauptsache weg von hier.«
Desmond drückte erneut seinen Arm und führte ihn an den Rand. Dort setzte sich Bodan mit dem Rücken an den Felsen gelehnt und schloss die Augen.
»Er muss sich ausruhen«, hörte er Desmond zu den anderen Städten sagen. »Ich übernehme seine Schicht.«
Und dann war Bodan auch schon in einen tiefen traumlosen Schlaf gefallen.
Lando staunte, wie sich Eneas und Ludmilla wortlos verständigten und unsichtbar machten. Sie schienen ihn vollkommen vergessen zu haben.
»Hey«, zischte er. »Ich kann euch nicht sehen, so geht das nicht.«
Da er keine Reaktion bekam, verwandelte er sich in eine schwarze kleine Spinne.
»Wir sehen dich, und das garantiere ich dir, dieses Mal lassen wir dich nicht aus den Augen«, hörte Lando Eneas wispern.
Die kleine Spinne krabbelte los, kam jedoch nicht weit. Als sie das erste ihrer acht Beine an einem der Zelte vorbeischieben wollte, prallte es zurück. Neben sich hörte Lando Ludmilla aufstöhnen, als hätte sie sich gestoßen.
»Was ist denn hier los?«, schimpfte sie und unterdrückte weitere Flüche.
»Das ist ein Schutzzauber«, presste Eneas wütend hervor. Ein unkontrollierter durchsichtiger Funken rieselte zu Boden. »Rückzug«, piepste er. »Rückzug, bevor die Schatten uns entdecken.«
Als sie die Stelle erreicht hatten, an der sie aus dem Becken der Wahrheit herausgefallen waren, machten sich Eneas und Ludmilla wieder sichtbar, und Lando verwandelte sich zurück in seine Formwandlergestalt. »Diese Schatten sind nicht nur lebendig«, polterte er durch zusammengepresste Zähne. »Sie können auch Zauber aussprechen. Ich fasse es nicht.«
Ludmilla fuhr sich über die Stirn. »Es war, als würde ich gegen eine Wand laufen«, murmelte sie.
Keiner von ihnen wagte es, die Stimme zu erheben, aus Angst, gehört zu werden. Die Landschaft lag gespenstisch still da, so dass Ludmilla den Eindruck hatte, jedes noch so kleine Geräusch würde ein imaginäres Echo auslösen. Während sie sich verwirrt umschaute und überlegte, wie sie das Dorf erkunden könnten, meinte sie, eine Bewegung wahrzunehmen. Auf einem der glattpolierten Steine schien sich etwas zu regen. Etwas Kleines, nicht größer als ein Eichhörnchen, mit einem Schweif und … Flügeln? Sie blinzelte, um genauer hinsehen zu können, aber es war nur ein Stein. Sie musste sich geirrt haben. Irritiert ging sie ein paar Schritte auf die Stelle zu, da packte sie Lando am Arm.
»Was machst du?«, zischte er. Sie konnte seine Anspannung spüren.
»Nichts«, antwortete sie schnell. »Ich dachte nur, da wär’ etwas, aber ich hab mich wohl geirrt.«
Ihr entging Landos skeptischer Blick nicht. Außerdem meinte sie, ein leises, kaum hörbares Seufzen in ihrem Kopf zu vernehmen, jedoch hatte sie keine Gelegenheit, Aik zu fragen, ob etwas nicht stimmte, denn Eneas entlud seine Wut und Enttäuschung mit einem Funkenregen.
»Diese verdammten Schatten.«
Lando stürzte auf ihn zu. »Nicht jetzt, Eneas, beherrsche dich.«
Der Unsichtbare atmete tief ein und aus, und die Funken verglühten auf dem Stein. »Vielleicht sollte es nur einer von uns versuchen«, schlug er vor. »Ich werde einen Weg in dieses Dorf finden. Das verspreche ich euch.«
Noch bevor die beiden anderen reagieren konnten, war er auch schon verschwunden. Lando hob resigniert die Schultern.
»Lassen wir ihn es versuchen. Er hat, was unsichtbare Barrieren und Zauber anbelangt, die größten Chancen, sie zu überwinden.«
Ludmilla sah ihn verwundert an. »Nicht du? Du kannst dich doch so winzig machen. Findest du kein Schlupfloch?«
Er lachte leise. Seine tiefe angenehme Stimme hatte ihr gefehlt. Sie hatte eine beruhigende Wirkung auf sie.
»Ein Schutzzauber lässt keine Schlupflöcher zu«, gab er zu bedenken. »Ich kann mich noch so klein machen oder noch so schnell sein. Wenn ich nicht erwünscht bin, dann muss ich draußen bleiben.«
»Und wie soll es Eneas dann schaffen?«
»Unsichtbare haben eine andere Materie. Sie können mit einem solchen Zauber verschmelzen.«
»Kann ich das dann auch?« Ludmilla sprang voller Tatendrang auf. Lando packte sie am Handgelenk.
»Ludmilla, du bist ein Mensch. Du magst dich unsichtbar machen können, aber du hast deshalb nicht die gleiche Materie wie ein Unsichtbarer.«
»Also können wir nur abwarten? Mal wieder.« Schnaufend ließ sie sich auf einen der glatten Steine fallen.
»Sicherlich ist er gleich zurück«, mutmaßte Lando.
Sie starrte vor sich hin, als sie die Bewegung erneut wahrnahm. Dieses Mal ein Stückchen näher. Da war etwas.
Lando bemerkte ihre Anspannung und sah sie fragend an, während sie angestrengt auf dieselbe Stelle starrte. »Was ist los?«
Sie deutete darauf und legte einen Finger auf die Lippen.
Nun konnte sie es ganz genau erkennen. Es war ein Wesen. Schwarz wie die Nacht. Schuppige Haut, vier Beine, kleine Flügel und einen Schwanz. Es kroch blitzschnell über den Boden. Hatte sie da mehrere Köpfe gesehen?
Lando reckte sich. »Da ist nichts, Ludmilla. Was ist in dich gefahren? Bist du übermüdet? Du brauchst wahrscheinlich etwas Schlaf.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. Wie in Zeitlupe erhob sie sich und ging ganz langsam auf das Wesen zu. Der Formwandler wollte sie zurückhalten und griff nach ihrer Hand, bekam sie jedoch nicht zu fassen.
»Ludmilla«, brüllte er unterdrückt. »Lass das. Wir müssen auf Eneas warten. Er wird uns bei dem Licht nicht so leicht sehen können.«
Sie spähte stumm in die Dunkelheit. Und da war es. Eine kleine Stichflamme stieg über dem Boden in die Luft und dann erhob sich das Wesen in die Luft. Flügelschlagen wie von einer Fledermaus, nur schwerer, und ein tierartiger Kopf, der sie mit glühenden Augen anstarrte. Daneben schob sich ein weiterer Kopf hervor, der ihr die Zunge rausstreckte, bevor das Wesen in der Dunkelheit verschwand.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Was war das?«, keuchte sie.
»Was?«, fragte Lando ungläubig, der mit einem Satz neben ihr stand.
»Hast du es nicht gesehen? Dieses Eichhörnchen, das fliegen kann und mehrere Köpfe hat.«
Er starrte sie verständnislos an, und bevor er reagieren konnte, rannte Ludmilla los. Sie folgte dem Wesen auf die Ebene, die sich hinter der kugelförmigen Landschaft erstreckte.
»Ludmilla«, hörte sie Landos Stimme hinter sich.
Sie blieb stehen und starrte in den Himmel, aber das Wesen war verschwunden. Nur Aiks Seufzen war dieses Mal nicht zu überhören.
Das kohlrabenschwarze kleine Wesen erhob sich schwerfällig in die Luft. Es musste sich erst einmal sammeln, bevor es seiner Erweckerin gegenübertrat. Seine Flügel waren nach der langen Ruhezeit etwas steif und gehorchten ihm nur langsam wieder. Immer höher erhob es sich in die Luft, machte ein paar kräftige Schläge und ließ sich treiben. Große Kreise zog es über die rotleuchtende Landschaft. Verkohlte und teilweise noch glühende Steinhügel, wohin das Auge reichte. An den Anblick würde es sich nie gewöhnen können. Auch wenn es in diesem Land zu Hause war. Verärgert entfuhr ihm eine Stichflamme. Wie konnte sie es wagen, ihn, den mächtigen Kobolddrachen Nouk, zu wecken? Und warum hatte er das Gefühl gehabt, dass sie von seiner Erscheinung überrascht gewesen war? Sie hatte ihn geweckt. Was hatte sie erwartet? Nun gut. Er war nicht besonders groß für einen Drachen. Vielleicht hatte sie sich einen riesenhaften Drachen gewünscht und war nun enttäuscht. Umso besser. Dann waren seine Chancen größer, dass sie ihn schneller aus ihren Diensten entließ.
Kobolddrachen mussten ihren Erweckern solange gehorchen, bis sie aus den Diensten entlassen oder zum Schlafen geschickt wurden. Dies galt für jede Form von Drachen in Eldrid. Kaum einer lebte ohne Herrn in dieser Welt, dazu waren sie viel zu gefürchtet und verliehen zusätzlich Macht. Denn nur sehr mächtige Wesen mit ebensolchen Schatten waren in der Lage, Drachen zu erwecken. Da es nicht viele davon gab, schützte dieses Prinzip diese mächtigen und gefährlichen Wesen vor dem Erwecken und Eldrid vor zu vielen Drachen.
Es war erst das vierte Mal, dass Nouk geweckt worden war. Für einen Drachen war er noch recht jung. Er erzitterte bei dem Gedanken an den Schatten des Wesens, der ihn dieses Mal geweckt hatte. Er hatte die Magie des Schattens gespürt. Sowohl der Schatten als auch seine Herrin waren außergewöhnlich mächtig. Nouk schüttelte angewidert den Kopf. Wie lange würde er nun seiner Erweckerin dienen müssen? Was für ein Wesen war sie? Wie viele Jahrhunderte würde es dauern, bis sie endlich starb und er frei war oder wieder schlafen konnte? Er selbst war unsterblich, hatte ewig Zeit, seine Geduld jedoch währte nicht ewig. Nouk konnte die Wesen des Lichts nicht ausstehen, und selbstverständlich diente er ihnen nicht gerne. Glücklicherweise hatte der Kobolddrache schon bei seinem ersten Erwecker einen Weg gefunden, wie er relativ schnell wieder zu seiner Ruhe finden konnte: Er war ihm auf die Nerven gegangen. Der Drache hatte sich tollpatschig und dickköpfig gegeben, und das auf eine sehr ausdauernde Art und Weise. Am Ende hatte sein Erwecker ihn schlafen geschickt, nur um seine Ruhe zu haben. Genauso würde er jetzt wieder vorgehen. Nouk schnitt eine abfällige Grimasse.
Unter ihm explodierte etwas. Erschrocken flatterte er heftig mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen. Einer seiner Köpfe schickte einen Feuerschwall in die Richtung der Explosion. Der Kobolddrache schüttelte den Hauptkopf in der Mitte. So etwas Unsinniges. Im Land der Nuria explodierte ständig irgendetwas auf dem Boden. Das gehörte zu diesem Teil von Eldrid dazu, aber das hatte der Kopf, der Feuer spucken konnte, offenbar kurzweilig vergessen. Er hatte zu lange geschlafen, um sich an solche Nebensächlichkeiten zu erinnern. Die beiden Nebenköpfe machten zudem nicht immer das, was der Hauptkopf und Denker des Kobolddrachens wollte. Eine Eigenart an sich selbst, die Nouk nicht sehr schätzte. Er hätte es bevorzugt, wenn alle drei Köpfe ihm gehorchen würden.
Dann erblickte er etwas, das er noch nicht kannte. Ein riesiges Dorf voller schwarzer spitzer Zelte. Sie standen in Reih und Glied und erstreckten sich in Form eines Rechtecks über einen weiten Teil des Landes. Es waren unendlich viele Reihen, kaum zählbar, ebenso wie die Zelte. Wie symmetrisch angeordnet, ohne auch nur einen Fehler und ohne eine Mitte oder einen Platz, auf dem sich die Bewohner der Zelte hätten treffen können. Eine eher untypische Anordnung von Zelten eines Dorfes in Eldrid.
Ein Zucken durchzog den Körper. Er musste seine Erweckerin aufsuchen. Mehr Zeit verblieb ihm nicht. Der Drang, ihr zu dienen, wurde immer stärker. Sein Nebenkopf schnitt eine Grimasse nach der anderen und schüttelte sich unentwegt. Nouk drehte noch ein paar Runden über das verdorbene Land, erblickte in der Ferne ein paar Nuria, die über die Ebene ritten, als wäre der Teufel hinter ihnen her, und schoss ein paar Feuerstrahlen in die Tiefe. Das Feuerspucken war noch nie seine Stärke gewesen, und nach all den Jahren des Schlafens war er etwas eingerostet. Er wollte dem mächtigen Schatten imponieren, wenn er gleich vor ihn trat. Also drehte er noch ein letztes Looping, bevor er sich auf den Punkt konzentrierte, an dem er Ludmilla und ihren Begleiter witterte.
Es war wie eine Sucht. Eine Sucht, die Margot Dena Jahrzehnte erfolgreich bekämpft und unterdrückt hatte, und dies, obwohl der Dena-Spiegel nie aufgehört hatte, sie zu rufen. In ihrem Kopf hallte seine Stimme ununterbrochen wider. Einem Zusammentreffen stand nun eigentlich nichts mehr im Wege, da niemand mehr im Haus war, der dies verhindern würde, aber sie traute sich nicht, ihm zu begegnen. Margot betrachtete ausgiebig die Tür, hinter der der Spiegel stand. Eine schmucklose weißlackierte Tür mit Kassetten, so wie es in alten Häusern oft üblich ist. Der kupferne Türgriff war blank poliert und glänzte matt. Oft saß sie ganze Tage davor, so dass sie sogar das Essen vergaß, aber was hatte sie schon zu tun, hier, in diesem Haus? Ihre Familie war längst ausgezogen, hatte sie sich selbst überlassen, und nur manchmal kam jemand vorbei und schaute nach dem Rechten. Eine Putzfrau, ein Gärtner, ein Nachbar. Keine dieser Personen kannte den wahren Grund für ihre Gefangenschaft. Es war niemandem je aufgefallen, dass sie schattenlos war. Wie auch? Welcher Mensch kam auf die Idee, auf den Schatten des anderen zu achten? Kein Erwachsener zumindest. Kinder dagegen schon eher, so dass ihre Familie bei Kindern stets vorsichtig gewesen war. Sie hatten es gemieden, dass Margot Kontakt mit ihnen hatte. Abgeschottet und versteckt fristete sie ihr Dasein in dem Haus ihrer Familie.