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Neuer Schrecken in EldridLudmilla hatte den Willomitzer erschaffen, damit dieser die lebendigen Schatten frisst und Eldrid vom Pentagramm der Schatten befreit. Bevor der gewagte Plan umgesetzt werden kann, wird sie Opfers eines Angriffs Zamirs, und der Schattenfresser kann entkommen. Während Eneas und Lando versuchen, Ludmilla an einen heilenden Ort zu bringen, zieht der Willomitzer ungehindert eine Schneise des Grauens durch Eldrid. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis Zamir auf ihn aufmerksam wird. Die magische Welt droht unter der Wucht der vielen Kriege zu zerfallen, während sich die Lage in der Menschenwelt immer weiter zuspitzt. Das Geheimnis der Portale fällt in die falschen Hände, so dass sich die Spiegelfamilien gezwungen sehen, erneut zusammenzuarbeiten. Besteht für Eldrid und seine Wesen des Lichts noch Hoffnung?
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Seitenzahl: 426
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Die Jagd nach dem Willomitzer
Für meine Familie
4some 4ever
Annina Safran
Die Jagd nach dem Willomitzer
Die Saga von Eldrid
Vierter Band
Was bisher geschah
Fünf Spiegel, fünf Spiegelfamilien, fünf Spiegelwächter, eine magische Welt: Eldrid.
Die 15-jährige Ludmilla Scathan entdeckt einen Spiegel im Haus ihrer Großmutter Mina, der nach Eldrid führt. Es ist eine magische Welt mit einem besonderen Licht, das es zu beschützen gilt, denn es ist von der Dunkelheit bedroht. Ursache dafür ist unter anderem der Schatten ihrer Großmutter, der dieser in jungen Jahren gestohlen wurde und der nun als lebendiger Schattenkönig das magische Licht bedroht. Ludmilla wird zu Hilfe gerufen, um diesen Schatten zurück in die Menschenwelt zu bringen. Gemeinsam mit dem Spiegelwächter Uri und seiner Fee Pixi begibt sich Ludmilla auf eine Reise durch diese fantastische Welt. Damit sie sich schneller fortbewegen kann, verleiht ihr Uri eine Kraft: Das Schnell-Laufen, dadurch wird jedoch auch ihr Schatten erweckt. Dieser wird nun für den Schattendieb und bösen Spiegelwächter Zamir interessant, der seit Minas Schattenverlust vielen Wesen ihre Schatten gestohlen und diese an den Himmel geschickt hat. Eine dicke riesige Schattenwolke verdunkelt schon einen großen Teil von Eldrid. Die Ereignisse überschlagen sich seit Ludmillas Ankunft: Die mächtigsten und ältesten Geister, die Berggeister, sind erwacht, Bodan, ebenfalls ein Spiegelwächter und Vertrauter von Uri, verliert seinen Schatten, die Waldgeister stellen sich gegen die Spiegelwächter, und Zamir kann sich aus seiner Verbannung befreien.
Ludmilla reist auf eigene Faust mit ihren Freunden Lando, dem Formwandler, und Eneas, dem Unsichtbaren, in den dunklen Teil von Eldrid. Verfolgt von Wesen der Dunkelheit, erreichen sie schließlich das Dorf der schattenlosen Wesen. Dort finden sie zwar nicht Godal, den Schatten ihrer Großmutter, treffen aber den Magier Mainart, der ihnen von einer alten Legende erzählt. Neben den fünf magischen Spiegeln, die nach Eldrid führen, können fünf mächtige lebendige Schatten erschaffen werden, die das Pentagramm der Schatten bilden. Dieses Pentagramm ist mächtiger als alles andere, was es in Eldrid gibt. Ludmilla und ihre Freunde wollen herausfinden, ob fünf lebendige mächtige Schatten geschaffen und zu dem Pentagramm zusammengefügt wurden.
Dieses Vorhaben führt sie durch das Land der Nuria, in dem sie das Dorf der lebendigen Schatten, das Schattendorf, finden. Aber nicht nur die Schatten stellen eine Bedrohung dar, auch die feurigen Wesen Nuria jagen sie durch das dunkle trostlose Land. Durch Zufall erweckt Ludmilla den bis dahin schlafenden Kobolddrachen Nouk, der ihr Begleiter und Helfer wird. Außerdem erhält sie von einem Hexenvolk, den Wiar, den Rat, ein schattenfressendes Wesen, den Willomitzer, zu erschaffen, um sich so der lebendigen Schatten zu entledigen.
Vince, der Enkel von Edmund Taranee, wird nach Eldrid geschickt und erhält von Zamir den Auftrag, Ludmilla zu ihm zu bringen. Er verfolgt sie in das Land der Nuria, ist aber weder in der Lage noch Willens, seinen Auftrag zu erfüllen. Da Ludmilla ihm nicht vertraut, lässt sie ihn bei den Wiar zurück.
Währenddessen gerät auch die Gemeinschaft der Spiegelwächter weiter ins Wanken. Bodan verbannt sich in das Dorf der schattenlosen Wesen. Die Zwillinge Kelby und Arden überstimmen Uri in wichtigen Entscheidungen und Arden gewinnt den Eindruck, dass der einzige Weg, die magische Welt zu retten, darin besteht, die Spiegel zu entmachten oder zu zerstören. Auch er verliert daraufhin seinen Schatten.
In der Menschenwelt hält derweil das Spiegelbild von Ludmilla, das sie dort zurücklassen musste, die Mitglieder der Spiegelfamilien auf Trab. Ihre Großmutter Mina erleidet einen Herzinfarkt, während sich Edmund Taranee in das Geschehen einmischt. Margot Dena nimmt Kontakt zu den anderen Spiegelfamilien auf. Das Geheimnis um die Spiegel scheint von dem Hausmeister der Dena-Familie, Franz, und dem Chauffeur der Taranee-Familie, Georg, gelüftet worden zu sein. Ludmillas Spiegelbild, das bis zu Ludmillas Rückkehr, das Scathan-Haus nicht dauerhaft verlassen darf, damit sie in die Menschenwelt zurückkehren kann, wird von Minas Tochter mit nach Hause genommen und hat damit das Haus der Scathans endgültig verlassen.
Erstes Kapitel Vince im Land der Nuria
Fassungslos starrte Vince Ludmilla hinterher. Die Dunkelheit, die im Land der Nuria herrschte, verschluckte sie im Nu, und dennoch konnte der Enkelsohn von Edmund Taranee nicht anders, als den Flecken zu fixieren, an dem er sie zuletzt gesehen hatte. Ihm war schon lange klar, dass er mit ihr und den Wesen des Lichts, die sie begleiteten, nicht mithalten konnte. Das rothaarige Mädchen, der Formwandler und der Unsichtbare waren nicht nur zu schnell für ihn, sondern auch zu groß, zu unsichtbar oder zu sehr in der Lage, sich in jedes noch so beliebige Tier zu verwandeln. Ihm entfuhr ein genervtes Aufseufzen.
Wie macht sie das nur, dachte er verbissen, während er an sich hinunter blickte. Seine Jeans und Turnschuhe waren rußverschmiert, und als er die Hände vor die Augen hob, bemerkte er, dass sie ebenfalls von der schwarzen Schicht überzogen waren.
»Dieses verdammte Land«, fluchte er, während er sich einmal um sich selbst drehte. Nichts als Dunkelheit und glühende Asche, die im Begriff war, zu Stein zu erstarren, war zu erkennen. »Jetzt bräuchte ich Kräfte wie Ludmilla, um hier wegzukommen.« Er warf einen Blick auf seinen kaum sichtbaren Schatten, der auf dem Boden lag. »Die habe ich natürlich nicht. Sonst würden die Augen meines Schattens leuchten, und er würde neben mir laufen, statt teilnahmslos auf dem Boden zu liegen. Du bist komplett unbrauchbar«, flüsterte er und kniff die hellen Augen zusammen. Er, Vince Taranee, war nicht wie sie, die großartige und mächtige Ludmilla Scathan, oder doch? Langsam ließ er sich auf den Boden sinken. Er wusste so wenig über Eldrid und noch weniger über diesen dunklen Landstrich. Angestrengt starrte er in die Ferne. Auch das Schimpfen und Zetern des Kobolddrachen Nouk war verklungen. Jetzt herrschte nur noch eine Stille, die ihn trotz der Hitze frösteln ließ. Den Blick, den Lando ihm aus seinen Raubkatzenaugen zugeworfen hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Tiefe Abneigung hatte daraus gesprochen, und sie beruhte auf Gegenseitigkeit. Und noch etwas hatte darin gelegen. Etwas, das er nicht deuten und auf das er sich keinen Reim machen konnte. Genauso wenig wie auf Ludmillas verschmitztes Lächeln, als sie ihm sagte, dass sie einen Deal ausgehandelt habe. Was für einen und mit wem, hatte sie nicht erwähnt. Und wie konnte sie es wagen, über ihn zu bestimmen? Wut stieg in ihm hoch. Er hatte ihr von dem Herzinfarkt ihrer Großmutter erzählt. Und er hatte sie vor den Nuria gerettet. Okay, zugegebenermaßen hatte er die Chance genutzt, als sich der Irrling in die Luft gesprengt hatte, aber immerhin. Ohne seine geistesgegenwärtige Reaktion wäre sie sicherlich nicht so schnell losgerannt.
Ihm entfuhr ein Schnaufen. Einerseits konnte er verstehen, dass sie ihm nicht vertraute, andererseits nervte es ihn. Er war der Abgesandte von Zamir, dem mächtigen Spiegelwächter, der die Dunkelheit über Eldrid brachte. Das war schon an sich Grund genug, ihn zu hassen und ihm nicht zu trauen. Doch er hatte ihr bei der Flucht vor den Nuria geholfen und sich nicht bei den mächtigen Schatten vor dem Schattendorf bemerkbar gemacht. Er hatte alles getan, um ihr zu beweisen, dass er nicht auf Zamirs Seite stand. Was sollte er noch tun, damit sie das begriff? Die Frage war nur: War er, Vince, auf Ludmillas Seite? Und welche war das überhaupt? Er wusste viel zu wenig über diese Welt, um sich einer Seite zugehörig zu fühlen. Nur über eines war er sich mit Sicherheit klar: Zamir hatte ihn benutzt und hintergangen.
»Ludmilla einfangen und zu ihm bringen«, murmelte Vince wütend vor sich hin. »Kinderspiel.« War es natürlich nicht, und er war sich sicher, dass der Spiegelwächter das wusste. Diese Erkenntnis half ihm jedoch nicht weiter. Er hockte hier in dem trostlosen düsteren Land, irgendwo zwischen riesigen Steinhügeln, die glühten, und wusste nicht, was er jetzt tun sollte, geschweige denn, wohin er gehen könnte. Verzweiflung mischte sich in seine Wut. Er kam sich so hilflos vor. Hilflos und dumm. Er vergrub die Hände in seinen Haaren und strich sie zurück. Die mussten auch vollkommen von Ruß überzogen sein, denn nun waren seine Hände noch schwärzer als vorher. Wie sehr er sich nach einem Bad oder einer Dusche sehnte.
Während Vince so da saß und vor sich hin stierte, näherte sich ihm ein kleines Wesen. Es schwebte lautlos auf ihn zu. Als er die Bewegung wahrnahm, sprang er auf und sah sich um, ob er etwas entdeckte, das er als Waffe benutzen konnte, aber da war nichts. Nur blanker schwarzer Stein. Währenddessen kam das Wesen immer näher. Was hatte Ludmilla gesagt? Es tue ihr leid. Und dass sie gut auf ihn aufpassen würden. Dieses winzige Geschöpf vielleicht? Das konnte er sich kaum vorstellen. Es war nicht größer als sein Daumen, offensichtlich weiblich, denn es trug ein für seinen Geschmack zu aufreizendes Kleid und sah aus wie eine wunderschöne kleine Puppe. Noch während er überlegte, ob es sehr unhöflich wäre, sich einfach abzuwenden und abzuhauen, bemerkte er plötzlich, wie sich seine Glieder versteiften. Langsam hob sich seine Hand zum Gruß, ohne dass er es wollte, und winkte.
Die Däumeline – so nannte Vince das geheimnisvolle Wesen in seinen Gedanken – strahlte ihn an und winkte zurück. Sie kam nun ganz nah an ihn herangeflogen, während sich in Vince’ Kopf die Fluchtgedanken überschlugen.
Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Tststs. Nicht doch, nicht doch. Du brauchst keine Angst vor uns zu haben.«
Konnte sie etwa seine Gedanken lesen? Das Wesen schwebte auf einem Stein, dessen Form einem Skateboard glich, um ihn herum und betrachtete ihn eingehend. Vince’ Hand verharrte in der unfreiwillig grüßenden Geste, während er krampfhaft versuchte, sich zu bewegen. Es gelang ihm nicht. Er war wie gelähmt.
»Ich habe keine Angst«, entfuhr es ihm viel zu laut, da er nicht damit gerechnet hatte, dass er überhaupt sprechen konnte. Sein Mund und seine Zunge waren offenbar das Einzige, was er von sich aus bewegen durfte. Der Zischlaut, der ihm immer bei der Aussprache des »S« entfuhr, hallte regelrecht über das karge Land, aber die kleine Hexe zuckte nicht im Geringsten zusammen.
»Wir sind Wiar«, erklärte sie ungerührt. »Ein Hexenvolk, ein sehr mächtiges noch dazu, und wir lieben schöne Menschenjungen wie dich.« Amüsiert beobachtete sie ihn, als er die Lippen aufeinanderpresste, und ließ ein überhebliches Gelächter ertönen, das dem Gezwitscher eines Vogels glich. »Du wirst uns eine Weile Gesellschaft leisten. Erst einmal müssen wir dir natürlich Manieren beibringen und dich waschen. Du siehst schlimm aus.« Sie flog ganz nah an sein Gesicht heran. »Versuche gar nicht erst, dich zu wehren oder auch nur einen Gedanken an Flucht zu verschwenden«, wisperte sie nun. »Wie ich schon sagte, sind wir sehr mächtig und keine gewöhnlichen Hexen. Das heißt, dass wir jedes Wesen und jeden Menschen beeinflussen können, wie es uns gefällt. Das gilt auch für leblose Gegenstände, nur falls du dich das fragst.«
Sie kicherte, was jedoch künstlich klang. »Es ist kein Zufall, dass du dich nicht bewegen kannst. Das ist meine Macht. Ich möchte, dass du die Hand hebst und mir freudig winkst.« Sie hielt inne und blickte voller Genugtuung auf Vince’ Hand, die aufgeregt wedelte. Selbstgefällig nickte sie. »Von hier kommt keiner weg, wenn wir es nicht erlauben.«
Sein Herz begann zu rasen, und ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals. Das war also der Deal, den Ludmilla ausgehandelt hatte. Sie hatte ihn eingetauscht. Gegen ihre eigene Freiheit. Das musste es sein. Wut stieg erneut in ihm hoch. Und Panik. Kein Entkommen? Ruckartig wollte er herumfahren, aber nur sein Kopf bewegte sich ohne sein Zutun und nickte mechanisch. Schon nach den wenigen Augenblicken in der Gegenwart dieser Hexe fühlte sich Vince wie eine Marionette. Sein Puls raste, und noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, setzte sich sein Körper in Bewegung. Mit sehr abgehackten Bewegungen stakste er hinter dem fliegenden Stein her, auf dem die kleine Hexe mit wehendem Kleid stand und schallend lachte. Es war kein freundliches Lachen, und ihm rutschte das Herz noch tiefer in die Hose.
Er erreichte den Rand eines sehr kleinen Dorfes, das aus kugelförmigen Steinen bestand, die in symmetrischer Anordnung mehrere Kreise bildeten. Am äußeren Ring wurde er hingesetzt – er war vollkommen machtlos, und sein Körper gehorchte dieser Hexe. Einzig und allein seine Gedanken kontrollierte sie nicht. Nachdem er umständlich zum Sitzen gekommen war, strömten sofort kleine Hexen aus allen Richtungen auf ihn zu. Sie sahen alle genauso aus wie die auf dem fliegenden Stein. Die winzigen puppenartigen Wesen betrachteten Vince von allen Seiten, kommentierten seinen Körper, seine Haare, sein Aussehen, einfach alles. Er fühlte sich wie auf einem Viehmarkt. Nicht, dass er jemals auf einem gewesen wäre, aber genauso stellte er sich einen vor. Nachdem sich alle Wiar, es mochten um die 50 sein, ein eingehendes Bild von ihm gemacht hatten, wurde er, immer noch seines Körpers nicht mächtig, zu einem Platz hinter dem Dorf geführt. Dort legte er sich der Länge nach hin. Der Boden fühlte sich angenehm warm an. Die Wiar umschwirrten ihn wie Wespen ein Stück Kuchen, wisperten dabei vor sich hin und fingen an, ihn auszuziehen. Sie zogen und zerrten an der schweißverklebten Kleidung und beschwerten sich lautstark über den Geruch und den Dreck.
»Darf ich das nicht selbst machen?«, fragte er verzweifelt und voller Scham, aber sie kicherten nur im Chor und erwiderten nichts darauf. Offenbar genossen sie es, ihn zu demütigen.
Vince versuchte seine Gedanken unter Kontrolle zu halten, da er schon seit dem ersten Zusammentreffen davon ausging, dass sie sie lesen oder hören konnten. Woher sonst hätte die Wiar wissen sollen, dass er Fluchtgedanken hatte.
»Ganz genau«, ertönte sogleich eine sehr melodische hohe Stimme. »Wir können alles hören, was du denkst. Wir wären dir für etwas mehr Respekt dankbar. Auch wenn wir nicht deine bevorzugte Größe haben, so erwarten wir von dir, dass du unsere Schönheit würdigst. Denn …«, die Hexe, die sprach, holte tief Luft, und alle Wiar beendeten den Satz im Chor: »… wir sind wunderschön.«
Er versuchte krampfhaft zu lächeln und zu nicken, und es wurde ihm erlaubt. Alle weiteren Gedanken zu der Schönheit der Wiar verkniff er sich nach bestem Können. Das eine oder andere Kneifen in die Seite verriet ihm, dass er es offenbar nicht ganz schaffte. Er hatte für puppenhaftes Aussehen nichts übrig. Auch die üppige Oberweite der Wiar, die freizügigen Kleider und die aufreizenden Körper waren für ihn alles andere als anziehend. Schon in der Menschenwelt hatte ihn das Äußere von Mädchen nur bedingt interessiert. Kaum zu glauben, da er fast besessen von seinem eigenen Aussehen war, aber mit dem Mädchen seines Herzens wollte er sich lieber unterhalten, austauschen, Spaß haben, statt sich nur mit ihr zu schmücken. Die Richtige hatte er bisher nicht getroffen. Innerlich biss er sich auf die Lippen. Bei so viel Weiblichkeit um ihn herum war es schwer, an etwas anderes zu denken.
Als die Hexen begannen, seine Boxershorts runterzuziehen, fing er an, nach Leibeskräften zu protestieren.
»Das geht nun wirklich zu weit«, brüllte er und strampelte in Gedanken so heftig, dass sein Kopf unkontrolliert hin und her schwankte.
Eine Wiar trat an sein Ohr heran und flüsterte: »Entspann dich. Wir werden dich jetzt waschen, das machen wir am liebsten, also genieße es und wehre dich nicht. Du bist chancenlos gegen uns. Nur für den Fall, dass du das noch nicht begriffen hast.«
Vince’ Magen zog sich zusammen. Das war ihm alles zu viel. Er krampfte und würgte, bis ihn die Hexen erlösten und er sich zur Seite drehen und erbrechen konnte. Vorwiegend spuckte er Galle, aber er schaffte es, währenddessen die halbheruntergezogene Shorts wieder hochzuziehen und seinen sonst splitterfasernackten Körper ein wenig vor den Blicken der Hexen zu schützen.
»Was denkt ihr, was ich bin?«, keuchte er, nachdem sein Magen nichts mehr hergab. »Ich bin kein Spielzeug. Ich bin zwar nur ein Mensch und habe keine besonderen Fähigkeiten oder Mächte, aber ich habe Gefühle, und vor allem habe ich Scham. Also lasst mir ein wenig meiner Würde.«
Die Wiar fingen wieder an zu kichern. »Was regst du dich so auf? Männer lassen sich gerne verwöhnen«, tönten sie.
»Ich nicht«, gab er entschlossen zurück, und zu seiner Verwunderung konnte er sich aufsetzen. »Ich ziehe mich gerne selbst aus und das Gleiche gilt fürs Waschen.«
Schmollend zogen sie ihren Kreis enger um ihn, und er spürte den einen oder anderen wütenden Stupser in die Haut. Dennoch durfte er die Kontrolle über seinen Körper behalten.
»Bitte«, bettelte er und strich sich die schmutzigen Haare aus dem Gesicht. »Lasst mich das allein machen.«
Das Gekicher, das nun erklang, war höhnisch. »Wir sind gespannt, wie du das machst«, tönte die Wiar, die ihn abgeholt hatte. Er erkannte sie an ihrem schwebenden Stein. Sie deutete spöttisch auf winzige Eimer, die mit Wasser gefüllt waren und um ihn herum standen.
Das wird dauern, dachte er, aber er nickte. »Das schaffe ich schon.« Als die Hexen keine Anstalten machten zu gehen, fügte er hinzu: »Bitte! Ich hätte gerne etwas Privatsphäre.«
»Da du uns offenbar nicht anziehend findest und dich selbst versorgen möchtest«, sprach erneut die Erste, und sie klang beleidigt, »werden wir uns zurückziehen und deine Kleidung waschen. Wir gehen davon aus, dass du eine Weile damit beschäftigt sein wirst, dich ausgiebig zu waschen.« Sie deutete auf die Boxershorts und hob auffordernd die Augenbrauen. Als er nicht reagierte, fuhren seine Hände ohne sein Zutun zum Bund.
»Nein, bitte«, flehte er und kniff die Augen zusammen, die nun anfingen zu brennen.
»Sie steht vor Dreck, wir müssen sie waschen, oder hast du Ersatzkleidung dabei?«
Vince ließ den Kopf hängen und schüttelte ihn unmerklich.
Missbilligende Blicke, die wie Pfeile auf ihn abgeschossen wurden, trafen ihn, aber dann wandten sich die kleinen Hexen ab.
»Ich lasse sie holen, wenn du sie ausgezogen hast«, flüsterte es in sein Ohr, so dass er zusammenzuckte und herumfuhr, aber er entdeckte keines der Geschöpfe. Nur das Kichern vernahm er erneut, von fern oder nah? Er konnte es nicht ausmachen.
Vince vergewisserte sich, dass er wirklich allein war, und saß eine ganze Weile einfach nur da und starrte vor sich hin. Schließlich hatte sich sein Puls beruhigt, und er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, während er auf die unzähligen winzigen Eimer blickte, die um ihm herum standen. Die Hexen behielten Recht. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis er sich damit gewaschen hatte. Erneut blickte er sich um, und als er kein Wesen entdeckte, zog er rasch die Boxershorts aus und warf sie hinter sich, in der Hoffnung, dass die Hexen jetzt nicht wieder auftauchen würden. Dann fing er an, sich zu waschen. Schnell stellt er fest, dass sich die Eimer immer wieder wie von selbst füllten. Also schüttete er sie über sich aus, bis sein Körper komplett nass war. Als Nächstes nahm er ein paar von den winzigen Schwämmen und wollte gerade anfangen, sich abzuschrubben, als diese in seinen Händen wuchsen. Dankbar blickte er darauf und lächelte. Offenbar wollten sie ihm das Leben doch nicht so schwer machen.
Als er schließlich fertig war, sich zu waschen – er brauchte trotz der kleinen Hilfsmittel der Wiar sehr lange dafür, und er hatte es nicht eilig –, lag, ohne dass er es bemerkt hatte, ein Stapel nicht allzu winziger Handtücher neben ihm. Sie waren flauschig weich und hatten einen eigenartigen, aber angenehmen Geruch. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, schwebten seine Boxershorts und das T-Shirt geradewegs auf ihn zu. Beide waren strahlendweiß und trocken. Dankbar zog er sich an und sah sich nach seiner Jeans um.
»Die wirst du erst einmal nicht brauchen, es ist warm genug hier«, ertönte eine der Hexenstimmen. »Und nun komm, du hast viel zu lernen, und wir wollen uns endlich etwas amüsieren.«
Was die Wiar unter Amüsieren verstanden, wollte sich Vince nicht ausmalen. Zögerlich folgte er der Hexe auf dem fliegenden Stein und betrat das Dorf, was nicht so einfach war, da zwischen den einzelnen Steinkugeln kaum Platz für seine Füße war und er nicht auf die Behausungen treten wollte. In einem Balanceakt erreichte er den Platz in der Mitte, auf dem die Wiar bereits im Kreis saßen und auf ihn warteten. Wie von Zauberhand wichen die Steine zur Seite, so dass er sich setzen konnte, ohne das Dorf zu zerstören.
»Was erwartet ihr von mir?«, fragte er langsam, als sie ihn wieder eingehend und kichernd betrachteten.
»Wir möchten etwas über dein Leben in der Menschenwelt erfahren«, flötete eine Wiar, die sich direkt zu seinen Füßen niedergelassen hatte.
»Kannst du auch singen?«, fragte eine andere.
»Oder ein Instrument spielen?«
»Wir lieben Musik«, seufzten die Hexen im Chor.
Vince lächelte verlegen. »Ihr wollt, dass ich singe?«
Sofort rückten die puppenartigen Wesen noch ein Stück näher heran und sahen ihn mit großen Augen an.
»Das ist kein Problem. Ich kann etwas auf der Gitarre spielen und ein paar Songs dazu singen, wenn ihr eine Gitarre habt?« Suchend blickte er sich um.
»Alles was du willst, solange du damit Musik machen kannst«, antwortete die Wiar leise, die mit ihrem schwebenden Stein verwachsen schien und sich so von den restlichen Hexen unterschied, die ansonsten alle gleich aussahen und auch dasselbe trugen.
Er fing an zu nicken, erleichtert darüber, dass es um Musik ging und nicht um eine andere Art von Amüsement, in der sein Körper eine Rolle spielte.
Zweites Kapitel Ilios
Der Unsichtbare Eneas und der Formwandler Lando eilten auf die Stadt Ios zu, die im sphärischen Teil von Eldrid, in Ilios, lag. Den Blick hatten sie auf die Nebelwolke gerichtet. So bemerkten sie nicht, dass Ludmilla sich zurückfallen ließ und die Landschaft nachdenklich betrachtete. Ilios war nicht groß und die Stadt schon bald in Sichtweite. Ios thronte auf einem der höchsten Gipfel von Odil, dem Gebirgszug, der sich durch ganz Eldrid zog. Es war, als hätte jemand die Spitze des Bergs abgetrennt, eine Mulde geformt und in sie behutsam die Stadt hineingesetzt. So hoch über der magischen Welt, fast majestätisch, alles überschauend und normalerweise strahlend hell und wunderschön. Doch jetzt hing eine Nebelwolke über Ilios und erstickte das sphärisch helle Licht, von dem die Wesen von Eldrid so schwärmten. Ludmilla hatte eine atemberaubende Aussicht erwartet, aber sie blieb ihr verwehrt. Ob, bei normaler Sicht, die Schattenwolke auch von der Stadt aus zu sehen gewesen wäre? Der dunkle Teil von Eldrid? Ludmilla verzog das Gesicht. Schon bei dem Gedanken an Zamir und sein Schattengefolge zog sich ihr der Magen zusammen. Zamir, der dunkle Spiegelwächter, der die Dunkelheit über das Land brachte und eine Schattenarmee geschaffen hatte. Warum hasste er dieses wundervolle magische Licht so sehr, fragte sie sich. Was trieb ihn nur an?
Der Formwandler Lando riss sie aus ihren Gedanken.
»Ludmilla«, rief er ungeduldig von Weitem und winkte.
Sie zuckte zusammen, sah, wie sich auch Eneas zu ihr umwandte und lächelte. Auf ihre beiden Freunde war Verlass. Sie waren so unterschiedlich, nicht nur äußerlich, selten einer Meinung, aber loyal, und halfen ihr bei ihrer Mission. Die beiden würden ihr Leben für sie geben und für Eldrid. Bei dem Gedanken lief ihr eine Gänsehaut über die Unterarme. Es stand so viel auf dem Spiel, und dennoch war es schwer zu begreifen, wie leichtfertig diese Wesen ihre Schatten und Leben riskierten. Dann fiel ihr Blick auf den Willomitzer, der geräuschlos hinter ihr schwebte. Der Schattenfresser, ihrer Fantasie entsprungen, sollte Eldrid retten, wenn Uri damit einverstanden war, dass sie ihn gegen die lebendigen Schatten einsetzte. Wenn. Geräuschvoll atmete sie aus. Sie hoffte, dass der Willomitzer die Lösung war, denn sie wollte nach Hause zu ihrer Großmutter, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Doch vorher musste sie ihre Aufgabe erfüllen und dafür sorgen, dass der Schattenfresser keinem anderen Wesen ein Leid zufügte. Nachdenklich betrachtete sie wieder die Landschaft, die so friedlich vor ihr lag. Wie gerne würde sie eine Pause machen, um über alles in Ruhe nachzudenken. Die letzten Tage waren so anstrengend gewesen. Tage? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und fühlte sich nur noch müde und ausgelaugt. Die Erschaffung des Willomitzers hatte sehr an ihren Kräften gezehrt, was sie beunruhigte, da sie sie brauchte, um das Wesen zu kontrollieren. Es gehorchte nur ihr. Und da war noch Nouk, der kleine Kobolddrache, der Eneas und Lando den letzten Nerv raubte und sich nichts sehnlicher wünschte, als aus ihren Diensten entlassen zu werden. Das erlaubte sie ihm natürlich nicht. Er war ein machtvoller Begleiter, auch wenn seine Größe das nicht erahnen ließ. Wo war er überhaupt? Suchend blickte sie sich um, entdeckte das kleine pechschwarze Wesen mit den drei Köpfen jedoch nirgends. Lando und Eneas blieben stehen und warteten auf sie. Sie nickte, winkte und beeilte sich, die beiden einzuholen.
»Lauft ruhig schon vor, ich komme ja«, rief sie ihnen zu und drehte sich erneut um, um nach Nouk Ausschau zu halten. Wo steckte er bloß?
In diesem Moment geschah es: Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, und Zamirs Stimme erklang in ihrem Kopf: Und, Menschenmädchen, machst du dich endlich auf den Weg zu mir? Ihre Glieder versteiften sich, und sie merkte, wie ihre Schritte langsamer wurden. Er drang in ihren Kopf ein und wühlte darin, wie in einer Schachtel voller Krimskrams. Entspann dich. Ich finde deine Macht. Du brauchst dich nicht zu wehren, denn ich bin stärker als du.
Ohne es zu realisieren, blieb sie stehen und griff sich mit beiden Händen an den Kopf.
»Du kommst nicht in meinen Kopf. Ich erlaube es nicht«, schrie sie. Ihr Körper bäumte sich auf, und sie sank auf die Knie, den Kopf weiterhin in beiden Händen.
Nouk tauchte hinter dem Willomitzer auf und flatterte auf sie zu. Ihm entfuhr eine kleine Stichflamme, während er sich neben sie setzte und sie kritisch beäugte.
»Was machst du da?«, fragte er, und der Nebenkopf schnitt eine gehässige Grimasse und schüttelte sich. »Der Formwandler ist schon ganz ungeduldig.« Er rollte genervt mit den Augen. »Da du so viel Wert auf seine Meinung und Befinden legst, solltest du ihn nicht warten lassen. Also weiter, keine Zeit zum Ausruhen.« Rauchwölkchen kamen aus seinen Nüstern, während er offenbar überlegte, welche Gemeinheit er hinzufügen könnte, als er innehielt und sie kritisch beäugte. Ludmilla starrte ins Leere, krallte ihre Finger in die Haare und fing an zu zittern. Nouk schnupperte an ihr, und die Augen von allen drei Köpfen weiteten sich gleichzeitig.
»Was soll das werden, wenn es fertig ist?« Empört riss er den Kopf hoch. »Wenigstens antworten könntest du«, meckerte er, während der Blick seines Hauptkopfes immer kritischer wurde. Hier stimmte etwas nicht. Er spürte eine zusätzliche Energie, die von dem Menschenmädchen ausging. Er schnupperte erneut und wich zurück. Er mochte keinen Schatten haben und zählte sicherlich nicht zu der »guten« Seite der Wesen in Eldrid, aber von Ludmilla ging eine böse Macht aus, die er noch nie zuvor gespürt hatte. Nervös trippelte er auf der Stelle, und seine Köpfe schwangen hin und her.
Derweil tobte ein Kampf in Ludmilla, und sie nahm ihr Umfeld nicht wahr. Mit aller Macht verschloss sie ihre Gefühle, ihre Magie sowie ihren Schatten und Geist vor dem Angreifer.
Was willst du von mir?, fragte sie den mächtigen Spiegelwächter. Ihre Worte klangen fest und klar, auch wenn sie nur in Gedanken mit ihm kommunizierte. In der nächsten Sekunde bereute sie die Frage. Sie wollte sich mit ihm nicht unterhalten, und erst recht interessierten sie seine Motive nicht. Er drang in ihren Kopf ein – das war beängstigend, und es fühlte sich schrecklich an, wie sich Zamir in ihren Gedanken und Erinnerungen breitmachte. Nicht mehr lange, das spürte sie, und er würde ihre Magie finden. Ihre Magie und die Verbindung zu Aik. Das musste sie verhindern.
Ich habe dir nichts zu bieten, was du nicht schon längst hast, plapperte sie darauf los und versuchte, ihr Inneres vor ihm zu verschließen. Du zerstörst diese wunderschöne Welt mit deiner Dunkelheit, deinen Schatten und deiner Boshaftigkeit. Dazu brauchst du mich nicht.
Ein höhnisches Lachen ertönte in ihrem Kopf. Natürlich brauche ich dich nicht. Mich interessiert dein Schatten. Er scheint sehr mächtig zu sein. Bring ihn mir, und ich quäle dich nicht länger.
Mein Schatten interessiert dich? Sie krümmte sich immer mehr und legte den Kopf zwischen den Knien auf den Boden. Das ist gut zu wissen, aber du wirst ihn nicht bekommen. Und mich auch nicht. Zumindest nicht freiwillig und auch nicht kampflos.
Ach nein? Zamir unterdrückte einen Aufschrei. Sie war stark, stärker, als er erwartet hatte. Er raste vor Wut und erzwang sich immer gewaltvoller den Eintritt in ihre Gedanken. Das wird ein kurzer Kampf, und denk nur an all deine Freunde und Begleiter, die dabei auch ihre Schatten verlieren werden, wenn du mir gegenüber trittst. Du solltest allein kommen und dich ergeben. Damit würdest du nicht nur dir einen Gefallen tun.
Sie bäumte sich auf und schüttelte sich, als säße Zamir auf ihren Schultern. Nein, du wirst meinen Freunden nichts tun. Wir werden dich zur Strecke bringen. Du hast keine Chance gegen uns. Das wirst du schon noch sehen, brüllte sie in Gedanken. Mit all der Kraft, die sie aufzubringen vermochte, wehrte sie sich. Und plötzlich erschien ein Bild in ihrem Kopf: eine Festung, und diese barg alle ihre Geheimnisse, Macht und Magie, all ihr Wissen. Sie sah aus wie eine mittelalterliche Burg, war umgeben von einem Wassergraben, und eine Zugbrücke bildete die einzige Zugangsmöglichkeit. Sie stellte sich vor, wie sie darauf zu rannte, auf diese Festung, in der sie Schutz vor Zamirs Angriff finden und ihren Geist vor ihm in Sicherheit bringen könnte. In ihrer Vorstellung hechtete sie über die Zugbrücke und sah die eiserne Kette, die aufgerollt auf einer Winde neben dem schweren doppelflügeligen Tor der Burg lag. Sie betätigte den Hebel; ächzend bewegte sich langsam die Winde, und die Kette knirschte. Ihr gesamtes Gewicht darauf legend, drehte und drehte sie daran und beobachtete, wie sich die Brücke langsam hob. Kurz blickte sie zu der Burg empor, in deren Hof sie stand und war davon überzeugt, dass ihr gesamter Geist darin vor Zamir sicher war. Sie konnte die Zornesschreie des Spiegelwächters deutlich vernehmen, aber sie verstand seine Worte nicht. Krachend verschloss die Zugbrücke den Zugang zur Burg. Mit zitternden Händen fixierte Ludmilla das Ende der Kette an dem stählernen Ring im Boden und wandte sich dem Tor zu. Dieses sorgte zusätzlich zu der Zugbrücke für noch mehr Sicherheit. Mit letzter Kraft schob sie die schweren Flügel aufeinander zu, bis sie mit einem knirschenden Geräusch ineinander fielen und sicherte sie mit einem dicken Bolzen aus Stahl. Schwer atmend ließ sie sich zu Boden fallen. In ihrem Kopf rauschte es, aber da war sonst nichts mehr, Zamirs Stimme war verschwunden. Sie war in Sicherheit, eingeschlossen in eine Festung, in der eine eigenartige Stille herrschte. Noch nicht einmal ihren eigenen Atem hörte sie, alles war wie in Watte gepackt, und in dem Moment realisierte sie, dass sie sich wirklich im Inneren dieser Burg befand und es sich nicht nur vorgestellt hatte.
Ludmillas Körper sackte leblos in sich zusammen.
Nouk schrie auf und flatterte kreischend auf Lando und Eneas zu.
»Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«
Eneas riss den Kopf herum und war mit wenigen galoppartigen Schritten bei Ludmillas Körper.
»Ludmilla«, murmelte er leise, kniete sich neben sie und rüttelte sanft an ihrer Schulter. Als sie nicht reagierte, wurde seine Stimme lauter und höher. »Ludmilla, was ist passiert?«
Hilflos blickte er zu Lando hinauf, der in diesem Moment neben ihm zum Stehen kam. »Sie reagiert nicht«, piepste er.
Der Formwandler kniff die Augen zusammen, kniete sich ebenfalls neben das Menschenmädchen und packte sie am Arm. »Ludmilla, kannst du mich hören?«
Keine Reaktion.
»Sie atmet aber noch«, krähte der Kobolddrache über ihren Köpfen.
Der Unsichtbare warf ihm einen bösen Blick zu, und er verstummte.
Lando jedoch stand auf. »Was ist passiert, Nouk? Was hast du gesehen?«
»Sie war plötzlich ganz aufgeregt und hat sich merkwürdig verhalten«, antwortete der Drache und ließ sich neben seiner Herrin auf dem Boden nieder. »Sie hat geschrien und sich an den Kopf gefasst. Es sah aus, als wäre sie nicht ganz bei Sinnen.«
Die Wesen warfen sich besorgte Blicke zu.
»Es sah richtig komisch aus«, wollte der Drache weiter ausführen, als Lando ihn anherrschte: »Wir haben verstanden, vielen Dank.«
Maulend und grimassenschneidend erhob er sich in die Luft.
»War es ein Angriff? Von Zamir? War es Zamir, Ludmilla?«, versuchte es Eneas erneut.
Seine Worte erreichten sie nicht. Stattdessen fing der Kobolddrache an zu brüllen: »Haaallloooo! Ihr wisst schon, dass sich dieses Schattenfresser-Monster gerade aus dem Staub macht? Mir kann es ja egal sein, denn i-c-h habe keinen Schatten zu verlieren.«
Beide Wesen drehten sich gleichzeitig um und sahen entsetzt, wie der Willomitzer unbekümmert weiter auf die Hauptstadt von Ilios zuschwebte.
Der Unsichtbare japste auf. »Was sollen wir denn jetzt machen? Wir haben keine Kontrolle über ihn. Nur sie kann ihn stoppen.« Er deutete auf das weiterhin bewegungslose Mädchen.
»Ludmilla!« Lando rüttelte sie unsanft an der Schulter. »Du musst jetzt aufstehen und den Willomitzer einfangen, sonst frisst er die Schatten der Bewohner von Ios.«
Als sie nicht reagierte, hob der Formwandler vorsichtig beide Lider an und blickte ihr in die Pupillen. Doch diese starrten abwesend an ihm vorbei. Seine unterschiedlich farbigen Augen funkelten, als er versuchte, in ihren Kopf einzudringen, so wie er es von den Spiegelwächtern gelernt hatte, aber auch auf diese Weise kam er nicht zu ihr durch.
»Ich kann sie nicht erreichen. Da ist nichts.«
»Was meinst du damit, da ist nichts?«, piepste Eneas aufgeregt.
Der Formwandler sprang auf. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Wir müssen das Schattenfresser-Wesen aufhalten. Nimm sie und dann ihm nach.«
Eneas hob Ludmilla vorsichtig vom Boden auf und nahm sie auf den Arm. Er trug sie wie ein Baby, nicht wie einen Kartoffelsack über der Schulter, was er sonst immer tat, wenn es schnell gehen musste. Er dachte wohl, sie habe Schmerzen, aber die hatte sie nicht. Ganz im Gegenteil, sie fühlte überhaupt nichts mehr.
Drittes Kapitel Ludmilla
Ludmilla hatte kurz geschlafen. In ihrem Kopf pulsierte es immer noch heftig, aber sie fühlte sich besser und schlug langsam die Augen auf. Schlagartig wurde sie wach, als sie ihre Umgebung wahrnahm, und sah sich erschrocken um. Sie lag neben dem schweren hölzernen Tor der Burg, die sie sich ausgedacht hatte, um ihre Gedanken und Geheimnisse vor Zamir zu schützen. Mühsam richtete sie sich auf und sah sich im Hof der Festung um. Es drehte sich alles, und sie fasste hinter sich, um Halt an der Wand zu finden. Ihr Puls fing an zu rasen, während sie versuchte zu begreifen, wo sie war.
»Hallo«, rief sie, aber ihr Wort hallte nur in ihrem eigenen Kopf wider. »Ist hier jemand?«, versuchte sie es weiter, und ihr Tonfall wurde hysterisch. Sie atmete schwer und griff sich an den Hals und den Kopf. »Was geht hier vor? Wo bin ich?«
Diese Frage kannst nur du beantworten, ertönte eine vertraute Stimme.
»Aik«, atmete sie erleichtert auf. »Wenigstens bin ich nicht allein.«
Oh doch, du bist allein, denn eigentlich bin ich gar nicht hier. Nur gerade jetzt erlaubst du mir, dich in deinem Verlies zu besuchen.
»Wie meinst du das?« Sie schaute sich verzweifelt um in der Hoffnung, etwas ihr Vertrautes zu entdecken.
Du hast dich selbst eingeschlossen, Ludmilla. Weißt du das nicht?
Sie antwortete nicht sofort, sondern versuchte weiter, die Watte in ihrem Kopf zu übertönen.
»Was soll das heißen? Mich selbst eingeschlossen?« Fast schrie sie.
Erinnerst du dich, wie du hierhergekommen bist?
»Ja, natürlich. Mein Gedächtnis funktioniert noch wunderbar.«
Sie erntete nur ein missbilligendes Pfeifen. Mühsam atmete sie ein und aus und versuchte, die Panik in den Griff zu bekommen. Sich auf das Gespräch mit Aik zu konzentrieren, half ihr, sich etwas zu beruhigen.
»Entschuldige bitte, Aik, aber ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht. Wie kommt es, dass ich mich in meinem eigenen Kopf befinde? Ich träume wohl noch. Es fühlt sich nur verdammt wirklich an.«
Das liegt daran, dass du nicht träumst.
»Das ergibt gar keinen Sinn. Irgendwie schlafe ich ja doch, oder nicht?«
Ihr Schatten schwieg.
»Ich habe versucht, dich zu beschützen«, murmelte sie mehr zu sich selbst. »Ich wollte Zamir aus meinem Kopf verbannen.«
Das ist dir gelungen. Du hast dich aber selbst damit von der Außenwelt abgeschnitten und eingeschlossen.
»Es fällt mir schwer, das zu glauben. Leider kommt mir das hier alles nicht sehr bekannt vor. Ich habe diese Festung erschaffen, allerdings nur ganz grob in Gedanken und nur für meine Erinnerung und mein Wissen. Wie kann ich mich dann miteingeschlossen haben?«
Du hast ein Bewusstsein. Das hast du eingeschlossen und damit dich selbst.
Sie nickte langsam und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Wie kann man sich in einen Ort in seinem eigenen Kopf einschließen?«
Langsam trat sie einen Schritt von der Wand weg, schwankte etwas, und ihr wurde schwarz vor Augen. Mit ein paar Atemzügen war die Übelkeit überwunden, und sie wandte sich dem Tor zu. Energisch rüttelte sie an dem Bolzen, der das Tor der steinernen Burg sicherte. Er saß fest. Suchend sah sie sich nach einem Werkzeug um, konnte aber nichts entdecken.
»Aik«, wollte sie brüllen, aber es kam nur ein Flüstern hervor. »Hilf mir, ich muss hier raus.«
Ich kann dir nicht helfen. Du sprichst doch nur mit mir, weil es dir gerade gefällt und dann schließt du mich wieder aus.
Sie zuckte zusammen.
»Was soll das heißen? Ich schließe dich aus?« Fassungslos blickte sie sich um. Ihr Schatten stand nicht neben ihr. Hier, in ihrem Kopf war sie schattenlos und offenbar auch ohne Magie, denn sie war nicht in der Lage, sich aus ihrem eigenen Gefängnis zu befreien. Sie rüttelte weiter an dem Bolzen, zog und trat dagegen, aber er rührte sich nicht. Irgendwann ließ sie sich wieder erschöpft auf den Boden sinken und lehnte sich an das verschlossene Holztor.
»Das darf doch alles nicht wahr sein«, murmelte sie noch, bevor sie die Augen schloss.
Viertes Kapitel Zamir
Wutentbrannt stierte Zamir ins Feuer. Dieses Menschenmädchen hatte es erneut geschafft, sich ihm zu widersetzen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Die lebendigen Schatten, die mit ihm am Feuer saßen, fixierten ihn mit ihren glühenden Augen und schienen zu warten.
»Verschwindet«, zischte er sie an. Er brauchte nun einen klaren Kopf und keine Untergebenen, die auf Anweisungen warteten. Kaum hatten sie sich aus dem Zelt entfernt, erhob er sich ruckartig und lief im Kreis um das Feuer herum. Wie konnte sie es wagen, dieses K-i-n-d? Was befähigte sie, ihm und seiner Macht zu widerstehen? Ihm, dem mächtigsten aller Spiegelwächter, ihm, Zamir! Was nur? Er biss sich auf die zur Hand geballten Faust, um einen Aufschrei zu unterdrücken, und kochte dabei vor Wut. Sie hatte einen so außergewöhnlichen besonderen und mächtigen Schatten, das hatte er genau gespürt, und nun musste er ihn einfach haben. Warum hatte er sie nicht bezwingen können? War er zu schwach gewesen? Etwa weil noch ein Bruder seinen Schatten verloren hatte und dies auch seine Kraft kurzzeitig gemindert hatte? Das war auch an Zamir nicht spurlos vorbei gegangen. War das der Grund für sein Versagen? Hätte er mit dem Angriff auf Ludmilla warten sollen, bis seine Kräfte sich regeneriert hatten? Aber die Gelegenheit war so günstig gewesen, und mit solch einem Widerstand hatte er nicht gerechnet. Langsam beruhigte sich sein Atem, und er trat nach draußen.
Sein Zorn war immer noch groß und er würde hier unmöglich Ruhe finden. Bei seinem Spiegel, dort würde er den Kopf frei bekommen und nicht im Dorf der schattenlosen Wesen, entschied der Spiegelwächter für sich. Nachdenklich ließ er seinen Blick schweifen. Wie es dalag. Dunkel und erbärmlich wirkte es. Die Notunterkünfte waren Baracken, und keiner ihrer Bewohner wagte es, ein anständiges Feuer zu entfachen. Es lag ein unangenehmer Geruch in der Luft, und die Trauer, die die Schattenlosen umgab, hing über der gesamten Siedlung. Der Spiegelwächter ertrug ihren Anblick nicht länger. Wie konnten sie sich nur so bemitleiden? Wie konnten sie sich überhaupt der Scham beugen und sich selbst verstoßen, in dieses Dorf? Er hielt nichts von dem unausgesprochenen Gesetz, das die Schattenlosen verbannte, er fand es albern, und für ihn war es ohnehin einerlei. Er benötigte nur die Schatten, um die Welt zu verdunkeln. Das Schicksal der dazugehörigen Wesen war ihm vollkommen gleichgültig. Sie waren nichts wert ohne ihre Schatten und Magie, das war ein Fakt. Er lachte böse und martialisch auf. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze, während er einen Croax-Wolf zu sich rief.
»Stöbere mir das Menschenmädchen Ludmilla Scathan auf und bringe sie zu mir«, befahl er ohne Umschweife dem monströsen Wesen, das sich zur Hälfte aus einem riesenhaften schwarzen Wolf und zur anderen aus einem Späherschwarm formte. Das Ungetüm hechelte und senkte den Kopf als Zeichen dafür, dass es verstanden hatte.
Als Nächstes wandte sich der Spiegelwächter an die lebendigen Schatten, die mit rotglimmenden Augen auf ihn warteten. »Formt weiter meine Armee, sammelt so viele Kräfte, wie ihr stehlen könnt. Ich gebe euch bald neue Anweisungen.«
Er warf einen letzten Blick auf das Dorf der schattenlosen Wesen, entschied sodann, dass es keiner weiteren Ansprache von ihm bedurfte, und erhob sich langsam in die Luft. Sein Gehrock flatterte, während er ein paar Späher zu sich rief, die ihn bei dem Flug zu seiner Höhle begleiteten. Innerlich tobte er immer noch vor Wut auf Ludmilla, die ihm den Zutritt zu ihrem Kopf und ihren Geheimnissen verweigert hatte. Und noch eine Frage plagte ihn schon seit geraumer Zeit: Was führte Uri im Schilde? Seinen Sieg wollte er nicht dem Zufall überlassen. Und irgendwie sagte ihm sein Gefühl, dass dieses Mädchen ihm gefährlich werden könnte, auch wenn er das niemals zugeben würde und es ihm schwerfiel, sich dies einzugestehen.
Fünftes Kapitel Die Drei Weißen
Lando jagte dem Willomitzer hinterher, während Eneas ihm mit Ludmilla auf dem Arm folgte.
»Hey«, schrie der Formwandler, als er das dunkle schwebende Wesen fast eingeholt hatte, und fuchtelte mit den Armen hin und her. »Siehst du mich, du Schattenfresser? Habe ich nicht einen wunderbaren Schatten? Du hast sicherlich Hunger. Komm und hol ihn dir.«
Das Wesen hielt in der Luft an und wandte sich ihm zu. Doch bevor es sich auf ihn stürzen konnte, schob sich Eneas mit riesigen Schritten an seinem Freund vorbei, reckte sich in die Höhe und tönte: »Wie wäre es denn mit meinem Schatten? Er ist viel größer und bestimmt auch schmackhafter, schau nur, wie schön ich glitzere.«
Der Körper des Unsichtbaren schimmerte in allen nur erdenklichen Farben. Der Willomitzer grollte und fuhr auf ihn herab, doch darauf schien Eneas gewartet zu haben, denn er hielt Ludmilla in die Höhe und rief: »Schau her! Ich halte deine Herrin auf dem Arm. Du hast ihr zu gehorchen, und sie hat dir befohlen, keine Schatten zu fressen, es sei denn, sie erlaubt es dir.«
Das Dröhnen des Umhangwesens verstummte, und es sah fast so aus, als würde es verdutzt innehalten, da fuhr Eneas fort: »Solange ich sie auf den Armen halte, wird dem Schatten des Formwandlers hier und meinem eigenen nichts geschehen. Du wirst den Anweisungen deiner Herrin Folge leisten und keine Schatten fressen, verstanden?«
Der Willomitzer stieß ein ohrenbetäubendes Grollen hervor und schwebte unaufhaltsam auf Eneas zu, wagte es aber nicht, seinen Umhang zu öffnen.
»Da wir mit deiner Herrin reisen, wirst du uns ebenfalls begleiten«, fügte dieser nun mit fester Stimme hinzu, während seine Knie weich geworden waren.
Stumm und ohne ein weiteres Geräusch des Widerspruchs folgte der Schattenfresser den beiden, während diese auf die Stadtmauern der Stadt Ios zuliefen.
»Bin gespannt, wie lange das gut geht«, wisperte Eneas. Lando warf ihm einen besorgten Blick zu und nickte kurz. Die sonst strahlendhelle Stadt war genauso in einen Nebelschleier getaucht wie das Land selbst. Automatisch verlangsamten sie ihren Schritt.
»Wir müssen die Bewohner warnen«, raunten sie sich gegenseitig zu, und wie auf Kommando fingen sie an, lauthals zu verkünden: »Wir werden von einem bösartigen Wesen verfolgt. Geht in eure Häuser, versteckt euch. Bringt euch in Sicherheit.«
Die Wesen von Ios strömten erschrocken auseinander, als sie das Gespann aus Formwandler, Unsichtbarem mit Mädchen auf dem Arm, Kobolddrache und einem schwarzen schwebenden Wesen erblickten. Sie retteten sich in die nächstgelegenen Gebäude, so dass die engen Gassen, in die die Freunde einbogen, wie leergefegt waren. Der Willomitzer hatte mit seiner riesenhaften Gestalt Mühe, ihnen zu folgen. Offenbar benötigte er in der Luft einen gewissen Raum, um sich schnell bewegen zu können. Je schmaler die Wege waren, desto mehr Vorsprung konnten sie herausholen. Die Bewohner von Ios drückten ihre Nasen an den Fensterscheiben platt oder widerstanden ihrer Neugier nicht und kamen trotz allen Rufens und Warnens aus ihren Behausungen.
Nouk übernahm die Aufgabe, sie von der Straße und den Gassen zu verscheuchen. »Zurück in eure Häuser«, dröhnte er unter dem keckernden Gelächter seines Nebenkopfes. »Ein Monster überfliegt die Stadt, rettet euch!«
Manchmal übertrieb er es auch und rief: »Rette sich wer kann, ein Monster!«, was ihm missbilligende Blicke von Eneas einbrachte. Der Nebenkopf streckte ihm dann die Zunge heraus, und sein Hauptkopf brüllte noch lauter: »Achtung, ein Monster, und ich bin es nicht. Wir führen einen Schattenfresser mit uns. Also aus dem Weg. Aus dem Weg!«
Die Stadt war nicht groß, so dass sie schnell den Platz erreichten, auf dem das Haus der Drei Weißen stand. Es thronte majestätisch in der Mitte und nahm damit die Umgebung komplett für sich ein. Es war das einzige Gebäude auf dem Platz, kein Baum oder Blumenkübel umgaben es. Nur dieser Bau, der an eine Kathedrale erinnerte. Strahlend weiß und golden schimmernd, so dass er den Rest der Stadt überragte.
»Wir dürfen nicht zögern«, keuchte Lando. Er deutete kurz auf den Anbau des riesenhaften Gebäudes. »Bleib du hier, ich locke ihn hinein«, sagte er und sprintete los. Der Unsichtbare ließ sich ein paar Schritte zurückfallen und spürte den Lufthauch, als der Willomitzer über ihn hinwegrauschte.
»Hier herüber, hier drin sind ganz viele Schatten, die du fressen darfst. Deine Herrin hat es erlaubt«, rief Lando und winkte mit beiden Armen.
Der Schattenfresser wandte sich kurz zu Eneas um, der wie angewurzelt in der Mitte des Platzes stand und Ludmilla an sich presste. Dann stürzte er dem Formwandler hinterher. Dieser sprang auf eine Tür zu, die in einen Seitenanbau der Kathedrale führte. Er riss sie auf und betrat das Gebäude. Eneas erkannte gerade noch, wie sich Lando in ein kleines katzenartiges Wesen verwandelte, das aus seinem Hinterteil schwarzen Rauch in dem Raum versprühte. Innerhalb von Sekunden war dort nichts mehr zu erkennen. Der Willomitzer, den dies nicht zu beeindrucken schien, schwebte Lando hinterher, und der dunkle Rauch verschluckte ihn sofort. Kaum war er darin verschwunden, sprang das Katzenwesen hinaus, wickelte seinen Schwanz um die Klinke und ließ so die Tür krachend ins Schloss fallen. Noch während sich Lando wieder zurückverwandelte, ertönte das Grollen des Schattenfressers aus dem Inneren des Gebäudes. Eneas sprang seinem Freund zur Hilfe, und gemeinsam versuchten sie, die Tür zu sichern.
»Wir brauchen einen mächtigen Versiegelungszauber«, schrie Lando. »Die Drei Weißen müssen uns helfen. Bitte sie um einen solchen Zauber, ich schaffe das hier kurz allein.«
Noch bevor Eneas reagieren konnte, ertönte eine Stimme aus dem Inneren des kathedralenartigen Baus, und ein Wesen von der Größe eines Zwergs kam heraus. Es hatte einen langen hellen Vollbart, kurze weiße Haare und trug einen weißen zylinderförmigen Hut. Es stellte sich neben Lando an die Tür, legte seine Hände flach dagegen, und Sekunden später fingen diese an zu glühen. Noch ein Moment später, und die Tür und deren Rahmen glühten ebenso.
»Erledigt«, sagte das Wesen fröhlich, trat einen Schritt zurück und lüftete den Hut. »Ihr dürft nun eintreten. Die Drei Weißen erwarten euch schon und …«, es klopfte kräftig an die Tür, so dass das Grollen des Schattenfressers noch lauter wurde, »… keine Sorge, so schnell kommt er da nicht raus.« Und mit einem ›Ping‹ verschwand es.
Die beiden tauschten verwunderte Blicke aus und traten zögerlich auf das Portal des kathedralenartigen Baus zu. Die doppelflügelige schwere Tür aus hellem, fast weißem Holz stand zur Hälfte offen. Erstaunt sahen sie sich an. Der Formwandler atmete hörbar aus, schob sich an Eneas vorbei und überschritt die Schwelle. Eneas, mit Ludmilla auf den Armen, folgte ihm zögerlich.
»Hey, und was ist mit mir?«, schrie Nouk, der über dem Platz seine Loopings in der Luft drehte.
»Würdet ihr uns gestatten, mit den beiden Wesen des Lichts zunächst allein zu sprechen?«, ertönte eine tiefe Stimme aus dem Inneren. »Wir werden euch zu angemessener Zeit hereinbitten, mächtiger Nouk.«
Lando konnte sich ein abfälliges Lachen nicht verkneifen.
»Mächtiger Nouk«, flüsterte er Eneas zu, während sie den Drei Weißen gegenübertraten. Es waren hochgewachsene uralte Wesen, die komplett in Weiß gekleidet waren. Alles an ihnen war weiß: Die Haare, die Bärte, die fast den Boden berührten, und auch die langen Kapuzengewänder, in die sie sich hüllten. Einzig und allein ihre Haut leuchtete golden und sah so dünn und zerbrechlich aus wie Glas. Über ihren Köpfen hing eine goldenhelle Aura. Die Drei Weißen saßen nebeneinander in riesigen Armlehnstühlen an einer langen weißen Tafel aus Holz, die der Tür zugewandt war. Hinter ihnen befand sich eine schmucklose Wand, ebenfalls in weiß gestrichen. Rechts und links führten Türen weiter in das Gebäude hinein, jedoch waren diese geschlossen. Nichts ließ erahnen, wie das restliche kathedralenartige Bauwerk innen aussah. Die riesige, nicht enden wollende und spitz zusammenlaufende Decke deutete an, dass sie sich in einer Art Vorraum eines prächtigen Baus befinden mussten, ebenso wie die hohen verzierten Fenster, die das Licht von Ilios hereinließen.
»Kommt herein, Lando, der Formwandler, und Eneas, der Unsichtbare«, sprach der Weiße, der in der Mitte saß.
»Legt das Mädchen auf der Bank dort ab«, sagte ein zweiter und deutete auf eine Bank, die links an der Wand stand.
»Sie muss sich ausruhen«, sprach der dritte.
Eneas bettete Ludmilla vorsichtig auf die Bank. Sie hatte weiterhin die Augen geschlossen und sah aus, als würde sie friedlich schlafen.
Der Weiße, der am nächsten saß, erhob sich langsam. Würdevoll, sein langes blütenreines Gewand schleifte über den Boden, trat er auf sie zu. Seine hellen, goldschimmernden Augen blickten milde, während er ihr behutsam eine Hand auf die Stirn legte.
»Schlaf, Ludmilla. Du brauchst jetzt viel Ruhe, damit du wieder zu Kräften kommst. Schließe uns nicht aus, wir wollen dir nichts anhaben.«
Er wandte sich ihren beiden Freunden zu und machte eine einladende Handbewegung. Das zwergähnliche Wesen mit dem weißen Zylinder auf dem Kopf erschien mit einem ›Ping‹ und rückte zwei Armlehnstühle vor dem Tisch, gegenüber der Drei Weißen, zurecht.