Das Schicksal in Person - Agatha Christie - E-Book
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Agatha Christie

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Beschreibung

Mit der Nachricht vom Tod Jason Rafiels erhält Miss Marple einen rätselhaften Auftrag. Denn in seinem Testament bittet sie ihr verstorbener Freund darum, ein lang zurückliegendes Verbrechen aufzuklären und sich dafür auf eine Reise zu Englands schönsten Gärten zu machen. Miss Marple kann ihm diesen letzten Wunsch nicht abschlagen, muss aber bald feststellen, dass eine unglückselige Liebe und ein tragischer Mord aus Jason Rafiels Vergangenheit sie selbst in Gefahr bringen.

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Seitenzahl: 385

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Agatha Christie

Das Schicksal in Person

Ein Fall für Miss Marple

Aus dem Englischen von Julian Haefs

Atlantik

Für Daphne Honeybone

1Ouvertüre

Für gewöhnlich widmete sich Miss Marple nachmittags ihrer zweiten Zeitung. Denn jeden Morgen wurden ihr zwei Zeitungen nach Hause gebracht. Die erste las Miss Marple, während sie ihren morgendlichen Tee nahm – allerdings nur, wenn sie auch pünktlich zugestellt wurde. Der Junge, der die Zeitungen auslieferte, war für seine unstete Zeiteinteilung berüchtigt. Außerdem wechselten die Jungen oft, und es gab immer wieder welche, die nur zwischendurch oder als Aushilfe einsprangen. Und jeder von ihnen hatte seine eigenen Vorstellungen bezüglich der besten Route für die Auslieferung. Vielleicht half ihnen das gelegentlich dabei, der Eintönigkeit ein Schnippchen zu schlagen. Aber die Empfänger, die daran gewöhnt waren, ihre Zeitung früh morgens zu lesen, damit sie die pikanten Neuigkeiten des Tages aufgeschnappt hatten, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Bus, Zug oder sonstigen Fortbewegungsmitteln machten, um ihr Tagewerk zu verrichten, waren natürlich verärgert, wenn sie zu spät kam. Wobei es die Damen mittleren und fortgeschrittenen Alters, die friedlich in St Mary Mead lebten, ohnehin meistens vorzogen, ihre Zeitung auf den Frühstückstisch drapiert zu konsumieren.

Miss Marple hatte heute schon die Titelseite und ein paar weitere Artikel in der Tageszeitung studiert, die sie gern als ›das Tägliche Allerlei‹ bezeichnete. Eine satirische Anspielung darauf, dass in ihrer Zeitung, dem Daily Newsgiver, dank eines Besitzerwechsels – und sehr zur Verstimmung Miss Marples und einiger ihrer Freunde – mittlerweile Artikel zu finden waren, die sich mit Herrenmode, Damenkleidern, Frauenschwärmen, Wettbewerben für Kinder und Beschwerdebriefen von Frauen befassten; ja, die Zeitung hatte es sogar fertiggebracht, alle wirklichen Nachrichten mit Ausnahme derer auf der Titelseite in gänzlich versteckte Ecken zu verbannen, die kaum zu finden waren. Miss Marple, die etwas altmodisch war, zog es vor, wenn ihre Zeitungen auch wirklich Zeitungen waren und Nachrichten enthielten.

Am Nachmittag, nachdem sie ihr Mittagessen vollendet und sich ein Nickerchen von zwanzig Minuten gegönnt hatte, das sie in einem speziell dafür angeschafften, aufrechten Lehnstuhl absolvierte, der den Ansprüchen ihres rheumatischen Rückens Rechnung trug, hatte sie die Times aufgeschlagen, auf die immerhin noch etwas Verlass war. Nicht, dass die Times noch gewesen wäre, was sie früher einmal war. Was einen bei der Times wirklich verrückt machen konnte, war die Tatsache, dass man auch darin nichts mehr fand. Statt sich einfach von der Titelseite aus nach hinten vorzuarbeiten, in dem Wissen, wo genau alles zu finden war und dass man ohne Probleme von allen interessanten Artikeln Notiz nehmen würde, musste man sich jetzt mit höchst seltsamen Unterbrechungen dieses altbewährten Prinzips herumschlagen. Auf einmal waren zwei ganze Seiten mit großen Illustrationen einer Reise nach Capri gewidmet. Sport nahm einen viel größeren Stellenwert ein als früher. Immerhin hielten sich Nachrichten vom Hofe und Todesanzeigen noch halbwegs an die Gepflogenheiten. Geburten, Hochzeiten und Todesfälle, die Miss Marples Aufmerksamkeit früher in erster Linie dank ihrer prominenten Platzierung erregt hatten, waren in einen anderen Teil der Times abgewandert – und hatten in letzter Zeit, wie Miss Marple auffiel, einen offenbar endgültigen Platz auf der Rückseite gefunden.

Zuerst widmete sich Miss Marple der Titelseite. Dort stand allerdings mehr oder weniger das Gleiche, was sie schon am Morgen gelesen hatte, nur vielleicht etwas feinsinniger formuliert. Sie ließ ihren Blick über das Inhaltsverzeichnis wandern. Artikel, Kommentare, Wissenschaft, Sport; dann folgte ihr übliches Prozedere – sie drehte die Zeitung um und überflog die Geburten, Hochzeiten und Todesfälle, um sich danach der Seite mit den Leserbriefen zu widmen, auf der sie fast immer etwas Erfreuliches fand. Von da aus ging es weiter zum Court Circular, auf dessen Seite neben Neuigkeiten aus dem Palast auch die neuesten Auktionen zu finden waren. Oft gab es dort auch einen kurzen wissenschaftlichen Artikel, den sie aber nicht zu lesen gedachte. Er leuchtete ihr nur selten ein.

Nachdem sie also die Zeitung gewendet hatte, um sich die Geburten, Hochzeiten und Todesfälle anzusehen, dachte Miss Marple wie schon so oft: Es ist wirklich betrüblich, aber heutzutage scheint man sich nur noch für die Todesfälle zu interessieren!

Einige Leute hatten Kinder bekommen, aber es war unwahrscheinlich, dass diese Leute Miss Marple auch nur dem Namen nach bekannt waren. Hätte es eine Spalte gegeben, in der Neugeborene als Enkel aufgelistet worden wären, hätte sie sich womöglich gefreut und gedacht: Nein wirklich, Mary Prendergast hat schon ihre dritte Enkeltochter bekommen! Obwohl selbst das eher unwahrscheinlich gewesen wäre.

Sie überflog die Hochzeiten, aber auch die betrachtete sie nicht wirklich genau, da die meisten Töchter oder Söhne ihrer alten Freunde schon vor einigen Jahren geheiratet hatten. Dann kam sie zur Spalte mit den Todesfällen, und der widmete sie mehr Aufmerksamkeit. Sie bemühte sich sogar, keinen einzigen Namen zu übersehen. Alloway, Angopastro, Arden, Barton, Bedshaw, Burgoweisser … Du liebe Zeit, was für ein deutscher Name – aber der Verstorbene schien aus Leeds zu stammen. Carpenter, Camperdown, Clegg. Clegg? War das vielleicht einer von den Cleggs, die sie kannte? Nein, offenbar nicht. Janet Clegg. Irgendwo in Yorkshire. McDonald, McKenzie, Nicholson. Nicholson? Nein. Auch kein Nicholson, den sie kannte. Ogg, Ormerod – das muss eine der Tanten gewesen sein, dachte Miss Marple. Ja, wahrscheinlich. Linda Ormerod. Nein, die hatte sie nicht gekannt. Quantril? Ach du meine Güte, das musste Elizabeth Quantril sein! Fünfundachtzig. Nicht zu fassen! Sie hatte gedacht, Elizabeth Quantril wäre schon vor einigen Jahren gestorben. Kaum zu glauben, dass sie so lange gelebt hatte! Wo sie doch immer so anfällig gewesen war. Keiner hätte damit gerechnet, dass sie sich so lange halten würde. Race, Radley, Rafiel. Rafiel? Da klingelte etwas. Dieser Name kam ihr bekannt vor. Rafiel. Belford Park, Maidstone. Belford Park, Maidstone. Nein, die Adresse sagte ihr nichts. Bitte keine Blumen. Jason Rafiel. Ein eher ungewöhnlicher Name. Wahrscheinlich hatte sie ihn einfach irgendwo gehört. Ross-Perkins. Also das könnte doch – nein, war er nicht. Ryland? Emily Ryland. Innigst geliebt von Ehemann und Kindern. Nun, sehr schön oder sehr traurig. Je nachdem, wie man das sehen wollte.

Miss Marple legte die Zeitung beiseite und warf einen kurzen Blick auf ihr Kreuzworträtsel, während sie versuchte, sich daran zu erinnern, warum ihr der Name Rafiel bekannt vorkam.

»Das wird mir schon noch einfallen«, sagte sie sich, da sie aus langer Erfahrung wusste, wie das Gedächtnis von alten Menschen funktioniert.

»Es fällt mir noch ein, da bin ich mir sicher.«

Sie schaute durchs Fenster auf den Garten, dann wandte sie den Blick ab und versuchte, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Für Miss Marple war ihr Garten viele, viele Jahre ein Quell großer Freude und jeder Menge harter Arbeit gewesen. Und jetzt war ihr dank der Betulichkeit der Ärzte die Gartenarbeit verwehrt worden. Anfangs hatte sie versucht, sich gegen dieses Verbot aufzulehnen, hatte dann aber einsehen müssen, dass sie doch lieber tat, wie ihr geheißen. Also hatte sie den Sessel so aufgestellt, dass ihr der Blick in den Garten erschwert wurde, es sei denn, sie wollte unbedingt etwas Bestimmtes sehen. Sie seufzte, griff nach ihrem Strickzeug und holte eine kleine Kinderwolljacke hervor, die gerade im Begriff war, vollendet zu werden. Der Rücken und die Vorderseite waren schon fertig. Jetzt würde sie mit den Ärmeln weitermachen müssen. Ärmel waren immer langweilig. Zwei Ärmel, genau gleich. Sehr lästig. Dafür hatte die rosa Wolle einen sehr schönen Farbton. Rosa Wolle. Moment mal, wozu passte das? Ja – ja – das passte zu dem Namen, den sie eben in der Zeitung gelesen hatte. Rosa Wolle. Blaue See. Die Karibik. Ein Sandstrand. Sonnenschein. Sie selbst beim Stricken und – ja natürlich, Mr Rafiel! Ihre Reise in die Karibik. Die Insel St Honoré. Ein Geschenk von ihrem Neffen Raymond. Und sie erinnerte sich daran, wie Joan, die Frau ihres Neffen, gesagt hatte: »Lass dich nicht wieder in irgendwelche Morde verstricken, Tante Jane. Das bekommt dir nicht.«

Sie hatte ja nicht vorgehabt, sich in irgendwelche Morde verstricken zu lassen, es war einfach passiert. Mehr nicht. Alles dank eines greisen Majors mit Glasauge, der darauf bestanden hatte, ihr mehrere ausufernde, langweilige Geschichten zu erzählen. Der arme Major – wie hatte er noch gleich geheißen? Das war ihr offenbar entfallen. Mr Rafiel und seine Sekretärin, Mrs – Mrs Walters, ja, Esther Walters, und sein Heilmasseur Mr Jackson. Jetzt fiel ihr alles wieder ein. Sieh mal einer an. Der arme Mr Rafiel – er war also gestorben. Er hatte gewusst, dass er nicht mehr lange leben würde. Hatte es ihr fast wortwörtlich gesagt. Aber es schien, als habe er länger durchgehalten, als die Ärzte prognostiziert hatten. Er war ein starker Mann gewesen, ein starrköpfiger Mann – und ein sehr reicher Mann.

Miss Marple war in Gedanken versunken, ihre Stricknadeln arbeiteten gleichmäßig, aber sie war nicht wirklich bei der Sache. Sie dachte an den verstorbenen Mr Rafiel und versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie über ihn gewusst hatte. Tatsächlich war er kein Mann gewesen, den man so schnell vergaß. Sie konnte sich noch genau an sein Aussehen erinnern. Ja, eine echte Persönlichkeit, ein schwieriger Mann, ein reizbarer Mann, manchmal geradezu schockierend unhöflich. Aber daran hatte sich nie jemand gestört. Auch das wusste sie noch genau. Aufgrund seines enormen Reichtums hatte niemand etwas gegen seine unhöfliche Art gehabt. Ja, er war wirklich sehr reich gewesen. Seine Sekretärin und ein persönlicher Diener, ein ausgebildeter Masseur, hatten ihn auf seiner Reise begleitet, denn Mr Rafiel war auf die Hilfe anderer angewiesen, um sich einigermaßen bewegen zu können.

Dieser Pfleger hatte wie ein etwas zwielichtiger Kerl gewirkt, dachte Miss Marple. Mr Rafiel war manchmal ziemlich grob mit ihm umgesprungen. Aber das schien ihn nicht gestört zu haben. Und natürlich hatte auch das an Mr Rafiels Reichtum gelegen.

»Niemand sonst würde ihm auch nur halb so viel zahlen wie ich«, hatte Mr Rafiel gesagt, »und das weiß er genau. Aber dafür leistet er auch ganze Arbeit.«

Miss Marple fragte sich, ob Jackson? – Johnson? in Mr Rafiels Dienst geblieben war. Ob er weiter für ihn gearbeitet hatte – vielleicht noch für ein Jahr? Ein Jahr und drei oder vier Monate? Wahrscheinlich eher nicht. Mr Rafiel war ein Freund von Veränderungen gewesen. Er wurde der Menschen schnell überdrüssig, ihrer Eigenheiten, ihrer Gesichter, ihrer Stimmen.

Miss Marple konnte das verstehen. Ab und an war es auch ihr so gegangen. Besonders bei einer ihrer zeitweiligen Haushälterinnen, einer netten, zuvorkommenden, unerträglichen Frau mit einer gurrenden Stimme.

»Ah«, sagte Miss Marple, »was für eine Erleichterung, seit …«, ach herrje, jetzt hatte sie auch noch ihren Namen vergessen – Miss – Miss Bishop? – nein, nicht Miss Bishop. Du liebe Güte, wie schwierig das alles manchmal war.

Sie besann sich wieder auf Mr Rafiel und auf – nein, er hatte nicht Johnson, sondern Jackson geheißen, Arthur Jackson.

Oh je, dachte Miss Marple wieder, immer bringe ich all diese Namen durcheinander. Und natürlich war es Miss Knight, an die ich eben gedacht habe. Nicht Miss Bishop. Warum denke ich bei ihr an Miss Bishop? Und dann fiel ihr die Antwort ein. Schach natürlich. Eine Schachfigur. Ein Springer. Ein Läufer.

Das nächste Mal, wenn ich an sie denke, nenne ich sie in Gedanken wahrscheinlich schon Miss Castle oder Miss Pawn. Obwohl sie ja eigentlich alles andere als ein Bauerntrampel ist. Wirklich. Und wie hieß doch gleich die nette Sekretärin, die Mr Rafiel bei sich hatte? Ah ja, Esther Walters. Richtig. Ich frage mich, was wohl aus ihr geworden ist? Ob sie etwas geerbt hat? Wahrscheinlich kann sie jetzt damit rechnen.

Sie erinnerte sich daran, dass Mr Rafiel ihr davon erzählt hatte, oder hatte sie selbst …? Ach herrje, was für ein Kuddelmuddel doch entstand, wenn man versuchte, sich wirklich genau an etwas zu erinnern. Esther Walters. Diese Geschichte in der Karibik hatte sie schwer getroffen, aber mittlerweile war sie sicher darüber hinweg. War sie nicht verwitwet gewesen? Miss Marple hoffte, dass Esther Walters wieder geheiratet hatte, irgendeinen netten, fürsorglichen, verlässlichen Mann. Aber leider schien ihr das eher unwahrscheinlich. Esther Walters, so dachte sie, hatte ein ziemliches Talent dafür gehabt, sich die falsche Sorte Mann zum Heiraten auszusuchen.

Wieder wanderten Miss Marples Gedanken zu Mr Rafiel. Bitte keine Blumen, hatte da gestanden. Nicht, dass sie selbst auch nur im Traum daran gedacht hätte, Mr Rafiel Blumen zu schicken. Er hätte sämtliche Gärtnereien in ganz England aufkaufen können, wenn er denn gewollt hätte. Und außerdem hatten sie sich dafür nicht gut genug gekannt. Sie waren weder Freunde noch einander besonders zugetan gewesen. Sie waren – wie sollte man es nennen? – Verbündete gewesen. Ja, ganz kurz waren sie Verbündete gewesen. Eine sehr aufregende Zeit. Und er hatte sich als nützlicher Verbündeter erwiesen. Daran hatte sie auch gedacht, als sie durch eine dunkle, tropische Nacht in der Karibik gelaufen war, um ihn aufzusuchen. Ja, sie konnte sich erinnern, dass sie rosa Wolle getragen hatte, ein – wie hatte man das genannt, als sie noch jung war? – einen Fascinator. Diese nette Kreuzung von Halstuch und Schal aus rosa Wolle, die sie sich um den Kopf gewunden hatte und ihm, als er sie angesehen hatte, ein seltenes Lachen entlockt hatte. Später – nun, bei der Erinnerung daran, musste sie selbst lächeln –, als sie ein bestimmtes Wort gesagt hatte, hatte er erneut gelacht. Aber am Ende war es mit dem Lachen vorbei gewesen. Nein, er hatte getan, worum sie ihn gebeten hatte, und deshalb – »Ach!« Miss Marple seufzte. Das war alles sehr aufregend gewesen, das musste sie schon zugeben. Und sie hatte weder ihrem Neffen noch der lieben Joan je davon erzählt, denn schließlich war es genau das gewesen, wovon sie ihr abgeraten hatten, nicht wahr? Miss Marple nickte. Dann murmelte sie leise: »Armer Mr Rafiel, ich hoffe doch, dass er nicht gelitten hat.«

Wahrscheinlich nicht. Er war sicher von teuren Ärzten mit Beruhigungsmitteln versorgt worden, um ihm das Ende zu erleichtern. Diese Wochen in der Karibik hatten ihm sehr zugesetzt. Er hatte fast immer Schmerzen gehabt. Ein tapferer Mann.

Ja, ein tapferer Mann. Es tat ihr leid, dass er tot war, denn obwohl er betagt und invalide und krank gewesen war, fand sie doch, dass die Welt mit seinem Hinscheiden etwas verloren hatte. Sie machte sich lieber keine Vorstellung davon, wie er wohl in Geschäftsangelegenheiten gewesen sein mochte. Skrupellos, dachte sie, und rüde und überwältigend und aggressiv. Ein großer Angreifer. Aber – aber vielleicht auch ein guter Freund, dachte sie. Und irgendwo tief im Innern mit einer Herzensgüte ausgestattet, die er immer sorgfältig verborgen hatte. Ein Mann, den sie bewundert und respektiert hatte. Sie war wirklich traurig, dass er gestorben war, und hoffte, dass er sich zum Schluss nicht allzu sehr gegrämt hatte und sein Tod ohne Komplikationen verlaufen war. Und jetzt würde er sicher eingeäschert und in ein große, schicke Gruft aus Marmor gebettet werden. Sie wusste nicht einmal, ob er verheiratet gewesen war. Er hatte nie Frau oder Kinder erwähnt. Ein einsamer Mann? Oder hatte er auch allein ein so erfülltes Leben verbracht, dass er sich nicht hatte einsam fühlen müssen? Sie wusste es nicht.

An diesem Nachmittag saß sie noch lange Zeit da und dachte über Mr Rafiel nach. Sie hatte nie erwartet, ihn nach ihrer Rückkehr nach England noch einmal wiederzusehen, und das hatte sie auch nicht. Trotzdem fühlte sie sich ihm immer noch seltsam verbunden. Wäre er an sie herangetreten oder hätte vorgeschlagen, dass sie sich treffen sollten, weil auch er sich ihr wegen des Lebens verbunden fühlte, das sie gemeinsam gerettet hatten, oder vielleicht auch aus einem ganz anderen Grund heraus …

»Also wirklich«, sagte Miss Marple, entgeistert von dem Gedanken, der ihr da gerade gekommen war, »es kann doch sicher keine Verbundenheit aufgrund gemeinsamer Skrupellosigkeit zwischen uns geben?« Könnte sie, Jane Marple, je skrupellos sein? »Ich muss schon sagen«, murmelte Miss Marple, »es ist doch merkwürdig, so habe ich darüber noch nie nachgedacht. Tatsächlich könnte ich mir vorstellen, skrupellos zu sein …«

Die Tür ging auf, und ein dunkler, lockiger Kopf wurde ins Zimmer gesteckt. Es war Cherry, die willkommene Nachfolgerin von Miss Bishop – Miss Knight.

»Haben Sie etwas gesagt?«, fragte Cherry.

»Ich habe nur mit mir selbst geredet«, sagte Miss Marple, »ich habe mich gerade gefragt, ob ich je skrupellos sein könnte.«

»Was, Sie?«, sagte Cherry. »Niemals! Sie sind die Liebenswürdigkeit in Person.«

»Trotzdem«, sagte Miss Marple, »glaube ich, dass ich skrupellos sein könnte, wenn es die Situation verlangte.«

»Was für eine Situation soll das sein?«

»Im Dienste der Gerechtigkeit«, sagte Miss Marple.

»Dem kleinen Gary Hopkins wollten Sie schon ans Leder, das ist wohl wahr«, sagte Cherry. »An dem Tag, als Sie ihn beim Katzenquälen erwischt haben. Hätte nie gedacht, dass Sie das in sich haben, jemanden so anzugehen! Haben dem eine Riesenangst eingejagt. Das wird der nie vergessen.«

»Ich hoffe, er hat zumindest keine anderen Katzen mehr gequält.«

»Na wenn, dann muss er sichergegangen sein, dass Sie nicht in der Nähe waren«, sagte Cherry. »Ich glaub’ sogar, dass er nicht der einzige Bursche ist, dem Sie Angst eingejagt haben. Wenn man Sie so sieht mit Ihrer Wolle und den schönen Sachen, die Sie so stricken und überhaupt – da würde Sie doch jeder für lammfromm halten. Aber manchmal kann ich mir schon denken, dass Sie sich wie ein Löwe aufführen würden, wenn man Sie dazu reizt.«

Miss Marple sah nicht ganz überzeugt aus. Sie konnte sich nicht wirklich in der Rolle sehen, die Cherry da mit ihr besetzt hatte. Hatte sie denn je … sie verharrte in der Überlegung und rief sich verschiedene Situationen in Erinnerung – mit Miss Bishop hatte es heftige Spannungen gegeben – Miss Knight. (Also wirklich, sie konnte doch nicht einfach so Namen vergessen.) Aber diese Anspannung hatte sich mehr oder weniger in ironischen Bemerkungen erschöpft. Vermutlich benutzten Löwen keine Ironie. Ein Löwe hatte nichts Ironisches an sich. Er sprang. Er setzte seine Klauen ein, nahm wahrscheinlich große Bissen von seiner Beute.

»Nein wirklich«, sagte Miss Marple, »ich glaube nicht, dass ich mich je in dieser Form betragen habe.«

Als sie an diesem Abend langsam und mit dem üblichen Verdruss durch ihren Garten wanderte, dachte Miss Marple weiter darüber nach, was Cherry gesagt hatte. Vielleicht ließ sie der Anblick des Gemeinen Leinkrauts wieder daran denken. Also wirklich, sie hatte dem alten George wiederholt gesagt, dass sie nur schwefelfarbene Löwenmäulchen haben wollte, nicht diesen wirklich unschönen lila Farbton, den Gärtner immer so zu schätzen schienen. »Schwefelgelb«, sagte Miss Marple laut.

Auf der anderen Seite des Zauns, der den Garten von der Straße hinterm Haus abgrenzte, drehte jemand den Kopf und fragte: »Pardon? Was haben Sie gesagt?«

»Ich fürchte, ich habe Selbstgespräche geführt«, sagte Miss Marple, drehte sich um und guckte über den Zaun.

Es war jemand, den sie nicht kannte, und sie kannte die meisten Leute in St Mary Mead. Wenn nicht persönlich, dann zumindest vom Sehen. Es war eine untersetzte Frau in einem abgetragenen, aber soliden Tweedrock. Sie trug gute, ländliche Schuhe, einen smaragdgrünen Pullover und einen gestrickten Wollschal.

»Ich fürchte, in meinem Alter macht man so was«, fügte Miss Marple hinzu.

»Einen hübschen Garten haben Sie da«, sagte die andere Frau.

»Mittlerweile nicht mehr besonders hübsch«, sagte Miss Marple. »Als ich mich noch selbst um ihn kümmern konnte …«

»Ach ja, verstehe. Ich weiß genau, was Sie meinen. Sie haben wohl auch einen von diesen – mir fallen da eine ganze Menge Namen ein, alle ziemlich unanständig – älteren Burschen, die behaupten, alles übers Gärtnern zu wissen. Manchmal stimmt das wohl, aber manchmal haben sie auch überhaupt keine Ahnung. Sie kommen vorbei und trinken eine Tasse Tee nach der anderen und rupfen hier und da etwas Unkraut aus. Manche von ihnen sind sehr nett, aber trotzdem wird man doch ziemlich ungehalten.« Dann fügte sie hinzu: »Ich bin selbst passionierte Gärtnerin.«

»Wohnen Sie hier?«, fragte Miss Marple neugierig.

»Also, momentan logiere ich bei einer Mrs Hastings. Ich glaube, dass sie mir von Ihnen erzählt hat. Sie sind Miss Marple, nicht wahr?«

»So ist es.«

»Ich bin als eine Art Gartenhilfe hier. Ich heiße übrigens Bartlett. Miss Bartlett. Es gibt dort nicht wirklich viel zu tun«, sagte Miss Bartlett. »Sie hat sich auf einjährige Pflanzen und so etwas verlegt. Nichts, worin man sich wirklich verbeißen könnte.« Während sie das sagte, öffnete sie den Mund und zeigte die Zähne. »Natürlich mache ich auch noch die eine oder andere kleine Besorgung. Sie wissen schon, gehe einkaufen und dergleichen. Wie dem auch sei, wenn Sie etwas Zeit in den Garten stecken wollen, könnte ich Ihnen schon ein oder zwei Stunden zur Hand gehen. Ich wage zu behaupten, dass ich mein Handwerk besser verstehe als der Bursche, den Sie im Moment beschäftigen.«

»Das wäre auch keine Kunst«, sagte Miss Marple. »Ich habe Blumen am liebsten. Gemüse kann ich nicht allzu viel abgewinnen.«

»Bei Mrs Hastings kümmere ich mich auch um das Gemüse. Eintönig, aber notwendig. Na gut, ich muss dann mal weiter.« Sie musterte Miss Marple von Kopf bis Fuß, als wolle sie sich ihr Aussehen einprägen, dann nickte sie fröhlich und stapfte davon.

Mrs Hastings? Miss Marple konnte sich keiner Mrs Hastings entsinnen. Ganz sicher war Mrs Hastings keine alte Freundin. Sie war bestimmt nie eine Gartenkameradin gewesen. Ach, natürlich, sie wohnte wahrscheinlich in einem der Neubauten am Ende der Gibraltar Road. Da waren im letzten Jahr mehrere Familien eingezogen. Miss Marple seufzte, guckte abermals verdrießlich auf ihr Leinkraut, erspähte an mehreren Stellen Unkraut und sehnte sich danach, es auszuzupfen. Außerdem entdeckte sie ein oder zwei vorwitzige Schösslinge, denen sie liebend gerne mit ihrer Gartenschere zu Leibe gerückt wäre. Schließlich machte sie seufzend – und tapfer der Versuchung widerstehend – einen Umweg an der Straße entlang und ging zurück ins Haus. Wieder kehrten ihre Gedanken zu Mr Rafiel zurück. Er und sie, sie waren – wie lautete der Titel dieses Buchs, den man in ihrer Jugend so oft zitiert hatte? Schiffe, die nachts sich begegnen. Je länger sie daran dachte, desto passender schien ihr der Titel zu sein. Schiffe, die einander des Nachts passieren … Mitten in der Nacht hatte sie ihn aufgesucht, um ihn um Hilfe zu bitten – nein, um seine Hilfe einzufordern. Um zu insistieren, dass keine Zeit zu verlieren war. Und er hatte zugestimmt und die Dinge sofort ins Rollen gebracht! Vielleicht hatte sie sich in dieser Situation tatsächlich ziemlich löwenmütig gebärdet? Nein. Nein, das passte gar nicht. Sie hatte sich nicht zornig an ihn gewandt. Sie hatte schlicht darauf bestanden, dass absolut unverzüglich etwas hatte getan werden müssen. Und er hatte das verstanden.

Armer Mr Rafiel. Dieses Schiff, das sie des Nachts passiert hatte, war ein interessantes gewesen. Hätte er sich am Ende doch noch als ein recht umgänglicher Mann erwiesen, wenn sie sich erst an seine Unverfrorenheit gewöhnt hätte? Nein! Sie schüttelte den Kopf. Mr Rafiel hätte niemals ein umgänglicher Mann sein können. Sie würde Mr Rafiel wohl vergessen müssen.

Schiffe, die nachts sich begegnen,

nur flüchtig Seite an Seite reden;

Nur ein kurzes Signal und eine ferne Stimme

in der Dunkelheit.

Vermutlich würde sie nie wieder an ihn denken. Vielleicht würde sie noch nachsehen, ob die Times einen Nachruf veröffentlichte. Aber sie hielt es für wenig wahrscheinlich. Er war nicht allzu bekannt, dachte sie. Nicht berühmt. Er war einfach nur sehr reich gewesen. Natürlich gab es in der Zeitung durchaus viele Nachrufe auf Leute, bloß weil sie reich gewesen waren; aber es kam ihr so vor, als hätte Mr Rafiel über einen Reichtum von einem anderen Schlag verfügt. Er war kein wichtiger Industrieller gewesen, kein großes Finanzgenie oder prominenter Bankier. Er hatte lediglich sein ganzes Leben lang enorm viel Geld verdient …

2Codewort Nemesis

I

Ungefähr eine Woche war seit Mr Rafiels Tod vergangen, als Miss Marple einen Brief von ihrem Frühstücksbrett nahm und ihn vor dem Öffnen einen Moment lang betrachtete. In den beiden anderen Umschlägen, die an diesem Morgen per Post gekommen waren, steckten Rechnungen oder Quittungen. Sie waren jedenfalls nicht besonders interessant. Dieser Brief sah schon besser aus.

Eine Briefmarke aus London, maschinengeschriebene Adresse, ein langer Umschlag von guter Qualität. Mit dem Brieföffner, den sie immer griffbereit auf der Ablage verwahrte, schlitzte Miss Marple ihn säuberlich auf. Im Briefkopf standen die Herren Broadribb und Schuster, Rechtsanwälte und Notare mit einer Adresse in Bloomsbury. In angemessen höflicher und juristisch korrekter Form wurde Miss Marple gebeten, sie an einem Tag der kommenden Woche in ihrer Kanzlei aufzusuchen, um einen Vorschlag zu besprechen, der für sie von Vorteil sein könnte. Es wurde Donnerstag, der 24. vorgeschlagen. Sollte das Datum nicht ihren Zuspruch finden, möge sie doch bitte ein anderes in der näheren Zukunft vorschlagen, an dem sie wahrscheinlich in London weilen würde. Dann folgte noch der Hinweis darauf, dass sie die Anwälte des verblichenen Mr Rafiel seien, mit dem Miss Marple, so man es richtig verstand, ja bekannt gewesen war.

Etwas verdutzt legte Miss Marple die Stirn in Falten. Ein bisschen langsamer als gewöhnlich erhob sie sich und dachte weiter über den Brief nach. Sie wurde von Cherry ins Erdgeschoss eskortiert, die morgens immer sorgfältig im Flur auf sie wartete, um sicherzugehen, dass sich Miss Marple kein Leid antat, weil sie ohne Begleitung die Treppe nahm. Es war eine altmodische Treppe mit scharfer Biegung auf halber Strecke.

»Sie geben wirklich gut auf mich acht, Cherry«, sagte Miss Marple.

»Muss ich auch«, sagte Cherry. »Jemand so anständigen wie Sie findet man nicht oft.«

»Na, dann danke ich für das Kompliment«, sagte Miss Marple, nachdem sie den letzten Schritt auf sicheren Boden gemacht hatte.

»Sonst alles in Ordnung?«, fragte Cherry. »Sie gucken ein bisschen, na ja, verunsichert aus der Wäsche, Sie wissen schon.«

»Nein, nein, es geht mir gut«, sagte Miss Marple. »Ich habe nur einen ziemlich ungewöhnlichen Brief von einer Anwaltskanzlei bekommen.«

»Aber es verklagt Sie doch hoffentlich keiner, oder?«, fragte Cherry, für die Briefe von Anwälten unweigerlich mit irgendeiner Art Unheil verbunden waren.

»Ach nein, ich glaube nicht«, sagte Miss Marple. »Nichts dergleichen. Man hat mich nur darum gebeten, sie nächste Woche in London aufzusuchen.«

»Vielleicht haben Sie ein Vermögen geerbt«, sagte Cherry hoffnungsvoll.

»Das ist, fürchte ich, sehr unwahrscheinlich«, sagte Miss Marple.

»Na, man weiß ja nie«, sagte Cherry.

Nachdem sie es sich in ihrem Sessel bequem gemacht und ihr Strickzeug aus dem bestickten Täschchen geholt hatte, wägte Miss Marple die Möglichkeit ab, dass Mr Rafiel ihr etwas hinterlassen hatte. Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger glaubte sie daran. Mr Rafiel war nicht der Typ für unerwartete Legate gewesen, befand sie.

Den Termin am vorgeschlagenen Datum konnte sie nicht wahrnehmen. Da ging sie zu einem Treffen des Frauenverbands, bei dem darüber diskutiert werden sollte, wie man eine bestimmte Summe aufbringen könnte, um ein paar zusätzliche Räume zu errichten. Also schrieb sie einen kurzen Brief und schlug darin einen Tag in der darauffolgenden Woche vor. Kurze Zeit später kam eine Antwort, und der Termin wurde bestätigt. Sie fragte sich, was für Leute die Herren Broadribb und Schuster wohl waren. Der Brief war von J.R. Broadribb unterzeichnet worden, offensichtlich also der Seniorpartner. Es wäre natürlich möglich, dachte Miss Marple, dass Mr Rafiel ihr in seinem Testament ein kleines Andenken oder ein Souvenir zugedacht hatte. Vielleicht ein Buch oder seltene Blumen, die er in seiner Bibliothek gehabt hatte, und die seiner Meinung nach eine alte Dame erfreuen könnten, die sich für Gartenarbeit begeisterte. Oder vielleicht eine Kamee-Brosche, die einer seiner Großtanten gehört hatte. Sie sponn gerne solcherlei flüchtige Phantasien. Mehr war es nicht, dachte sie, denn gäbe es eine solche Hinterlassenschaft, würden ihr die Testamentsvollstrecker – falls diese Anwälte solche waren – das fragliche Objekt einfach per Post zukommen lassen. Man hätte sie nicht um ein persönliches Gespräch gebeten.

Tja, dachte Miss Marple, nächsten Dienstag weiß ich mehr.

II

»Ich frag’ mich, was für ein Typ sie ist«, sagte Mr Broadribb zu Mr Schuster und warf einen Blick auf die Uhr.

»Sie sollte in einer Viertelstunde hier sein«, sagte Mr Schuster. »Ob sie pünktlich ist?«

»Ach, das glaub’ ich schon. Soweit ich weiß, ist sie schon älter und damit sicher pünktlicher als diese jungen Wirrköpfe heutzutage.«

»Fett oder dünn, frag’ ich mich«, sagte Mr Schuster.

Mr Broadribb schüttelte den Kopf.

»Hat Rafiel sie Ihnen gegenüber nie beschrieben?«, fragte Mr Schuster.

»Er war bemerkenswert zugeknöpft bei allem, was er über sie gesagt hat.«

»Mir kommt die ganze Sache ziemlich komisch vor«, sagte Mr Schuster. »Wenn wir nur ein bisschen mehr über diese Angelegenheit wüssten …«

»Vielleicht hat es etwas mit Michael zu tun«, sagte Mr Broadribb nachdenklich.

»Was? Nach all den Jahren? Das kann nicht sein. Wie kommen Sie darauf? Hat er etwas erwähnt …?«

»Nein, er hat gar nichts erwähnt. Er hat mir überhaupt keine Hinweise darauf gegeben, was in seinem Kopf vorging. Nur Instruktionen.«

»Glauben Sie, er ist gegen Ende etwas exzentrisch geworden?«

»Kein bisschen. Sein Verstand war so scharf wie eh und je. Seine körperlichen Gebrechen haben sich ja auch vorher nie auf seinen Geist ausgewirkt. In den letzten zwei Monaten seines Lebens hat er noch mal zweihunderttausend Pfund verdient. Einfach so.«

»Er hatte schon eine Gabe«, sagte Mr Schuster mit gebührender Ehrfurcht. »Ganz eindeutig.«

»Ein brillanter Finanzmann«, sagte Mr Broadribb, ebenfalls in einem angemessenen Tonfall der Ehrerbietung. »Leute wie er sind selten, das macht die Sache noch betrüblicher.«

Auf dem Tisch läutete die Gegensprechanlage. Mr Schuster nahm den Hörer ab. Eine Frauenstimme sagte: »Miss Jane Marple ist hier für einen Termin mit Mr Broadribb.«

Mr Schuster sah seinen Partner an, zog eine Augenbraue hoch und wartete auf Bestätigung. Mr Broadribb nickte.

»Bitten Sie sie herauf«, sagte Mr Schuster. Dann fügte er hinzu: »Jetzt werden wir ja sehen.«

Miss Marple betrat ein Büro, in dem sich ein Gentleman mittleren Alters mit schmalem, schlankem Körper und langem, ziemlich melancholischem Gesicht erhob, um sie zu begrüßen. Das war augenscheinlich Mr Broadribb, dessen Äußeres in einem gewissen Gegensatz zu seinem Namen stand. Neben ihm erhob sich noch ein etwas jüngerer Gentleman mittleren Alters mit wesentlich üppigeren Proportionen. Er hatte schwarze Haare, kleine, scharfsinnige Augen und einen Hang zum Doppelkinn.

»Mein Partner, Mr Schuster«, stellte Mr Broadribb ihn vor.

»Ich hoffe, die Stufen waren nicht allzu anstrengend für Sie«, sagte Mr Schuster. Mindestens siebzig – vielleicht schon eher an die achtzig, dachte er bei sich.

»Ich komme treppauf immer etwas außer Atem.«

»Ja, ein altmodisches Gebäude hier«, sagte Mr Broadribb entschuldigend. »Kein Aufzug. Aber wir sind nun mal eine alteingesessene Firma und halten nicht sonderlich viel von modernen technischen Spielereien, auch wenn das manche Klienten vielleicht erwarten.«

»Ihr Büro ist sehr hübsch geschnitten«, sagte Miss Marple höflich.

Sie nahm dankend Platz, als Mr Broadribb einen Stuhl für sie heranzog. Mr Schuster verließ unauffällig den Raum.

»Ich hoffe, der Stuhl ist bequem«, sagte Mr Broadribb. »Ich werde die Vorhänge etwas zuziehen, wenn Sie gestatten? Die Sonne blendet sonst ein wenig.«

»Sehr freundlich«, sagte Miss Marple dankbar.

Sie saß da, aufrecht wie immer. Sie trug einen dünnen Tweedanzug, Perlenkette und eine kleine Haube aus Samt. Eine klassische Dame aus der Provinz, dachte sich Mr Broadribb. Der verlässliche Typ. Nettes altes Mädchen. Möglicherweise ein bisschen schusselig – vielleicht aber auch nicht. Ziemlich durchtriebener Blick. Ich frage mich, wo Rafiel über sie gestolpert ist. Vielleicht jemandes Tante, irgendwo auf dem Land?

Während er sich derlei Gedanken machte, führte er den üblichen Small Talk, sprach über das Wetter, die unglücklichen Auswirkungen des Frosts noch so spät im Frühling und Ähnliches, das er für passend hielt.

Miss Marple gab die erwarteten Antworten und saß bedächtig da, während sie auf den Auftakt des eigentlichen Gesprächs wartete.

»Sie wundern sich vermutlich, was das alles zu bedeuten hat«, sagte Mr Broadribb, der einige Zettel vor sich auf dem Tisch umherschob und ihr ein zweckmäßiges Lächeln schenkte. »Sie haben zweifellos von Mr Rafiels Tod gehört, oder darüber vielleicht in der Zeitung gelesen.«

»Ich habe es in der Zeitung gelesen«, sagte Miss Marple.

»Wenn ich richtig verstehe, waren Sie befreundet.«

»Ich habe ihn erst vor einem knappen Jahr kennengelernt«, sagte Miss Marple. »In der Karibik.«

»Ah, ich erinnere mich. Wenn ich mich recht entsinne, war er wegen seiner Gesundheit dort. Vielleicht hat es ihm auch gutgetan, aber er war damals schon sehr krank und so gut wie gelähmt, wie Sie wohl wissen.«

»Ja«, sagte Miss Marple.

»Kannten Sie ihn gut?«

»Nein«, sagte Miss Marple, »das würde ich so nicht sagen. Wir waren beide Gäste im selben Hotel. Ab und an haben wir uns unterhalten. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, nachdem ich nach England zurückgekommen bin. Wissen Sie, ich wohne sehr beschaulich auf dem Land, und soweit ich weiß, hat er sich voll und ganz seinen Geschäften gewidmet.«

»Stimmt, er hat bis zum Schluss Geschäfte abgewickelt – man könnte sogar sagen, bis zu seinem Tod«, sagte Mr Broadribb. »Ein in finanziellen Dingen überaus scharfer Verstand.«

»Da bin ich mir sicher«, sagte Miss Marple. »Ich habe sehr schnell festgestellt, dass er ein – na ja, eine überaus bemerkenswerte Person war.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie irgendeine Vorstellung davon haben – ob Mr Rafiel Ihnen gegenüber je etwas erwähnt hat –, um was für einen Vorschlag es sich hier handelt, den Ihnen zu unterbreiten man mich beauftragt hat?«

»Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte Miss Marple, »was für eine Art Vorschlag Mr Rafiel mir hätte machen sollen. Das kommt mir sehr unwahrscheinlich vor.«

»Er hielt große Stücke auf Sie.«

»Das war nett von ihm, aber wohl kaum gerechtfertigt«, sagte Miss Marple. »Ich bin ein sehr einfacher Mensch.«

»Ihnen ist sicher bewusst, dass er als sehr reicher Mann gestorben ist. Die Bestimmungen in seinem Testament sind größtenteils sehr einfach. Er hat schon einige Zeit vor seinem Tod Verfügungen bezüglich seines Vermögens erlassen. Fonds und andere wohltätige Einrichtungen.«

»Soweit ich weiß, ist das heutzutage die übliche Vorgehensweise«, sagte Miss Marple, »aber ich kenne mich in finanziellen Dingen überhaupt nicht aus.«

»Der Zweck dieses Treffens«, sagte Mr Broadribb, »ist mein Auftrag, Ihnen mitzuteilen, dass eine Geldsumme beiseitegelegt worden ist, die Ihnen nach Ablauf eines Jahres in voller Höhe zusteht – allerdings unter der Bedingung, dass Sie einem gewissen Vorschlag zustimmen, mit dem ich Sie jetzt vertraut machen werde.«

Er nahm einen langen, versiegelten Briefumschlag zur Hand und reichte ihn Miss Marple über den Tisch.

»Wahrscheinlich ist es besser, wenn Sie erst einmal selbst lesen, worum es sich handelt. Es hat keine Eile. Nehmen Sie sich Zeit.«

Miss Marple nahm sich Zeit. Mittels eines kleinen Brieföffners, den Mr Broadribb ihr reichte, schlitzte sie den Umschlag auf, nahm den Inhalt heraus – ein maschinengeschriebenes Blatt – und las ihn. Sie faltete es zusammen, dann las sie es noch einmal und guckte Mr Broadribb an.

»Das ist alles andere als konkret. Gibt es überhaupt keine näheren Erläuterungen?«

»Soweit ich weiß nicht. Ich sollte Ihnen das hier übergeben und Ihnen die Höhe der Hinterlassenschaft nennen. Die Summe, um die es hier geht, beläuft sich auf zwanzigtausend Pfund – steuerfrei.«

Miss Marple saß da und schaute ihn an. Sie war sprachlos vor Verblüffung. Auch Mr Broadribb schwieg fürs Erste. Er beobachtete sie aufmerksam. Ihre Verblüffung war zweifellos echt. Es war offenbar das Letzte, womit Miss Marple gerechnet hatte. Mr Broadribb war neugierig, was ihre ersten Worte an ihn sein würden, nachdem sie nun im Bilde war. Sie sah ihn so direkt und so streng an, wie es auch eine seiner eigenen Tanten hätte tun können. Als sie sprach, klang es beinahe vorwurfsvoll.

»Das ist sehr viel Geld«, sagte Miss Marple.

»Nicht mehr ganz so viel, wie es früher war«, sagte Mr Broadribb (und verkniff sich gerade noch, ›Heutzutage bloß Kinkerlitzchen‹ zu sagen).

»Ich muss gestehen«, sagte Miss Marple, »dass ich erstaunt bin. Höchst erstaunt, um genau zu sein.«

Sie nahm das Dokument abermals zur Hand und las es ein drittes Mal gründlich.

»Ich gehe davon aus, dass Sie mit dem Inhalt vertraut sind?«, fragte sie.

»Ja. Er ist mir von Mr Rafiel persönlich diktiert worden.«

»Und er hat es Ihnen nicht weiter erläutert?«

»Nein, hat er nicht.«

»Sie haben ihn womöglich darum gebeten?«, fragte Miss Marple. In ihrer Stimme lag jetzt eine gewisse Schärfe.

Mr Broadribb lächelte dünn.

»Da haben Sie absolut recht. Das habe ich getan. Ich habe ihm zudem gesagt, dass Sie es schwierig finden könnten, genau – genau zu verstehen, worauf er hinauswill.«

»Sehr merkwürdig«, sagte Miss Marple.

»Sie müssen sich natürlich«, sagte Mr Broadribb, »nicht gleich entscheiden.«

»Nein«, sagte Miss Marple, »das sollte ich mir besser durch den Kopf gehen lassen.«

»Es handelt sich, wie Sie schon sagten, um eine beträchtliche Summe.«

»Ich bin alt«, sagte Miss Marple. »Betagt, wie man so sagt, aber alt passt besser. Definitiv alt. Es ist nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass ich das Jahresende, zu dem ich das Geld erhalten soll, nicht mehr erlebe. Im äußerst fragwürdigen Fall, dass ich in der Lage wäre, es zu verdienen.«

»Geld sollte man in keinem Alter verachten«, sagte Mr Broadribb.

»Ich könnte verschiedene Stiftungen unterstützen, die mir am Herzen liegen«, sagte Miss Marple, »Und dann gibt es da noch gewisse Menschen. Menschen, denen man gerne etwas Gutes täte, was die eigenen Mittel aber nicht erlauben. Und ich will nicht leugnen, dass es auch bestimmte Annehmlichkeiten und Wünsche gibt – Dinge, denen man nicht frönen kann, die man sich nicht leisten kann – Mr Rafiel war sich sicherlich bewusst, dass es einer alten Frau sehr viel Freude machen würde, sich doch noch dazu in der Lage zu sehen.«

»Ja, in der Tat«, sagte Mr Broadribb. »Eine Kreuzfahrt vielleicht? Eine dieser exzellenten Touren, die heutzutage organisiert werden. Theater, Konzerte – die Möglichkeit, die eigenen Kellerbestände aufzustocken.«

»Meine Wünsche wären etwas bescheidener«, sagte Miss Marple. »Rebhühner«, sagte sie nachdenklich, »es ist mittlerweile sehr schwierig geworden, an Rebhühner zu kommen, außerdem sind sie sehr teuer. Über ein Rebhuhn – ein ganzes Rebhuhn – nur für mich würde ich mich sehr freuen. Eine Schachtel marrons glacés ist ein teures Vergnügen, das ich mir meist nicht leisten kann. Vielleicht ein Opernbesuch. Dafür braucht man einen Wagen, der einen nach Covent Garden und zurück bringt, und das nötige Geld für eine Nacht im Hotel. Aber das ist alles müßiges Geplauder«, sagte sie. »Ich werde diesen Brief mit nach Hause nehmen und darüber nachdenken. Also wirklich, was um Himmels willen hat Mr Rafiel … Sie haben wirklich keine Ahnung, warum er diesen konkreten Vorschlag hätte machen sollen und warum er der Meinung war, dass ich ihm in irgendeiner Form behilflich sein könnte? Ihm war doch bewusst, dass es über ein Jahr, fast zwei Jahre, her ist, seit wir uns getroffen haben, und dass ich in der Zwischenzeit sehr viel gebrechlicher geworden sein könnte und damit auch wesentlich weniger in der Lage, die kleinen Begabungen, die ich vielleicht habe, anzuwenden. Da ist er ein Risiko eingegangen. Es gibt doch sicher andere Leute, die für eine Ermittlung dieser Art viel geeigneter sind?«

»Offen gesagt sehe ich das ähnlich«, sagte Mr Broadribb, »aber er hat sich für Sie entschieden, Miss Marple. Bitte verzeihen Sie meine Neugier, aber haben Sie – tja, wie soll ich sagen? – irgendeine Verbindung zu Verbrechen und deren Aufklärung?«

»Streng genommen sollte ich antworten: nein«, sagte Miss Marple. »Zumindest nicht in professioneller Hinsicht. Ich war nie Bewährungshelferin und habe nie einem Schiedsgericht beigesessen oder für eine Detektei gearbeitet. Um es Ihnen zu erklären, Mr Broadribb, was meines Erachtens nur anständig von mir wäre und was, wie ich finde, schon Mr Rafiel hätte tun sollen – um es irgendwie zu erklären, kann ich nur sagen, dass wir beide während unseres Aufenthalts in der Karibik mit einem Verbrechen zu tun gehabt haben, das dort vorgefallen ist. Ein ziemlich unwahrscheinlicher und rätselhafter Mord.«

»Und Sie haben ihn gemeinsam mit Mr Rafiel aufgeklärt?«

»So würde ich das nicht behaupten«, sagte Miss Marple. »Mr Rafiel und ich haben dank seiner Entschlossenheit erfolgreich einen zweiten Mord verhindert, der beinahe stattgefunden hätte, indem wir ein oder zwei offensichtliche Hinweise zusammengesetzt haben, die mir aufgefallen waren. Alleine hätte ich das nicht geschafft, ich bin viel zu gebrechlich. Auch Mr Rafiel hätte es allein nicht geschafft, denn er war Invalide. Wir haben allerdings als Verbündete agiert.«

»Ich habe nur noch eine weitere Frage, Miss Marple. Sagt Ihnen der Begriff ›Nemesis‹ etwas?«

»Nemesis«, sagte Miss Marple. Es war keine Frage. Ganz langsam und unvermittelt erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. »Ja«, sagte sie, »das sagt mir etwas. Es war sowohl für mich als auch für Mr Rafiel von Bedeutung. Ich habe es zu ihm gesagt, und er war höchst amüsiert darüber, dass ich mich mit diesem Namen beschreibe.«

Was auch immer Mr Broadribb erwartet hatte – das war es nicht. Er sah Miss Marple genauso verdutzt an wie einst Mr Rafiel in einem Schlafzimmer am Karibikstrand. Eine nette und recht intelligente alte Dame. Aber Nemesis – also wirklich!

»Es geht Ihnen wohl genauso«, sagte Miss Marple.

Sie erhob sich.

»Sollten Sie irgendwelche weiteren Anweisungen in dieser Sache finden oder erhalten, seien Sie so gut und lassen es mich wissen, Mr Broadribb. Es käme mir doch sehr merkwürdig vor, sollte es nichts dergleichen geben. Ich tappe vollkommen im Dunkeln, worum Mr Rafiel mich bittet, oder was ich versuchen soll.«

»Sie sind nicht etwa bekannt mit seiner Familie, seinen Freunden, seinen …«

»Nein. Das sagte ich doch. Er war ein Mitreisender in einem fremden Erdteil. Wir haben im Zuge einer rätselhaften Geschichte miteinander zu tun gehabt. Das ist alles.« Als sie schon auf dem Weg zur Tür war, drehte sie sich plötzlich um und sagte: »Er hatte eine Sekretärin, Mrs Esther Walters. Wäre es ein Bruch der Etikette, wenn ich fragte, ob Mr Rafiel ihr fünfzigtausend Pfund hinterlassen hat?«

»Sein Nachlass wird ohnehin in der Zeitung stehen«, sagte Mr Broadribb. »Ich kann Ihre Frage bejahen. Mrs Walters heißt mittlerweile übrigens Mrs Anderson. Sie hat wieder geheiratet.«

»Das freut mich zu hören. Sie war Witwe mit einer Tochter und eine überaus fähige Sekretärin, wie mir schien. Sie hat Mr Rafiel sehr gut verstanden. Eine nette Frau. Ich freue mich, dass sie begünstigt worden ist.«

 

Am Abend saß Miss Marple auf ihrem Stuhl mit der geraden Rückenlehne und hatte die Füße in Richtung Kamin ausgestreckt, in dem ein kleines Holzfeuer brannte. Das war dem plötzlichen Kälteeinbruch zu verdanken, der, wie es in seiner Natur liegt, England jederzeit nach eigenem Ermessen heimsuchen kann. Sie nahm einmal mehr das Dokument aus dem langen Umschlag, der ihr morgens übergeben worden war. Immer noch in einem Zustand gewissen Unglaubens las sie es abermals, murmelte hier und da Wörter halblaut mit, wie um sie sich besonders einzuprägen:

»An Miss Jane Marple, wohnhaft im Dorf St Mary Mead.

Dieses Schreiben wird Ihnen nach meinem Tod durch die guten Dienste meines Anwalts, James Broadribb, übergeben werden. Er ist der Mann, den ich mit jenen legalen Angelegenheiten betraue, die mich persönlich und nicht geschäftlich betreffen. Ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Anwalt. Wie der Großteil der menschlichen Rasse ist er für die Sünde der Neugier empfänglich. Ich habe seine Neugier nicht gestillt. In gewisser Hinsicht bleibt dies eine Angelegenheit zwischen Ihnen und mir. Unser Losungswort, werte Dame, lautet Nemesis. Sie haben sicherlich nicht vergessen, an welchem Ort und unter welchen Umständen Sie mir gegenüber dieses Wort zum ersten Mal benutzt haben. Im Zuge all der Geschäfte meines mittlerweile doch recht langen Lebens habe ich gelernt, bei den Menschen, die in meinen Diensten stehen, auf eins zu achten. Sie müssen eine Gabe besitzen. Eine Gabe für die spezielle Arbeit, die Sie für mich erledigen sollen. Es geht nicht um Wissen, auch nicht um Erfahrung. Das einzige Wort, das es treffend beschreibt, ist Gabe. Ein natürliches Talent für eine bestimmte Sache.

Sie, meine Liebe, wenn ich Sie so nennen darf, haben eine natürliche Gabe für Gerechtigkeit, die Sie dazu gebracht hat, eine natürliche Gabe für Verbrechen zu entwickeln. Ich möchte, dass Sie ein bestimmtes Verbrechen untersuchen. Ich habe eine gewisse Summe hinterlegen lassen, die, so Sie dieser Bitte nachkommen und das betreffende Verbrechen im Zuge Ihrer Ermittlungen ordnungsgemäß aufgeklärt wird, gänzlich Ihnen gehören soll. Ich habe ein Jahr veranschlagt, innerhalb dessen Sie diese Mission durchführen können. Zwar sind Sie nicht mehr die Jüngste, aber Sie sind, wenn ich das so sagen darf, zäh. Ich glaube, dass ich mich dahingehend auf das Schicksal verlassen kann, dass es Sie noch für mindestens ein Jahr am Leben hält.

Ich bin der Ansicht, dass die Arbeit, um die es geht, Ihnen nicht unangenehm sein wird. Sie haben, wie ich finde, eine natürliche Begabung für Ermittlungen. Die nötigen Mittel für das, was ich als Betriebskapital für diese Ermittlung bezeichnen würde, werden Ihnen im Laufe dieser Frist zur Verfügung gestellt, wann auch immer Sie solcher bedürfen. Ich biete Ihnen dies als Alternative zu dem an, was momentan Ihr Leben ausmachen dürfte.

Ich stelle mir vor, wie Sie in einem Sessel sitzen, einem Sessel, der angenehm und zuträglich für jene Sorte Rheuma ist, die Sie plagt. Alle Menschen Ihren Alters leiden, glaube ich, an der einen oder anderen Form von Rheuma. Sollte dieses Leiden Ihre Knie oder den Rücken betreffen, kommen Sie wahrscheinlich nicht allzu viel aus dem Haus und vertreiben sich die Zeit meist mit Stricken. Ich sehe Sie, wie ich Sie einst in der Nacht gesehen habe, als Sie mich abrupt aus dem Schlaf rissen, in eine Wolke aus rosa Wolle gehüllt.

Ich sehe vor mir, wie Sie mehr Jacken, Kopftücher und eine Menge anderer Dinge stricken, deren Namen mir nicht einmal bekannt sind. Sollten Sie es vorziehen weiterzustricken, so ist das Ihre Entscheidung. Sollten Sie es jedoch vorziehen, der Gerechtigkeit zu dienen, so hoffe ich, dass Sie es zumindest unterhaltsam finden werden.

Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser

Und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.

Amos 5:24«

3Miss Marple handelt

I

Miss Marple las den Brief noch drei weitere Male – dann legte sie ihn beiseite und saß mit gerunzelter Stirn da, während sie über Mr Rafiels Zeilen und die damit verbundenen Konsequenzen nachdachte.

Als Erstes musste sie abermals feststellen, dass sie überraschend wenig handfeste Informationen hatte. Würde Mr Broadribb ihr irgendwelche weiterführenden Anhaltspunkte zukommen lassen? Sie war sich fast sicher, dass nichts dergleichen passieren würde. Das hätte nicht zu Mr Rafiels Plan gepasst. Aber wie um alles in der Welt konnte Mr Rafiel von ihr erwarten, überhaupt etwas in einer Sache zu unternehmen, von der sie nichts wusste? Das war spannend. Nachdem sie noch ein paar Minuten nachgedacht hatte, entschied sie, dass Mr Rafiel diese Spannung wohl beabsichtigt hatte. Sie dachte wieder an ihn und die kurze Zeit, während derer sie ihn kennengelernt hatte. Seine Behinderung, seinen Jähzorn, seine Geistesblitze, seinen scharfsinnigen Humor. Er hatte es sicher genossen, Leute zu necken, dachte sie. Sie hatte das Gefühl, und dieser Brief machte es recht offensichtlich, dass er es genossen hatte, Mr Broadribbs Neugier zu wecken und unbefriedigt zu lassen.

Nirgends in dem Brief, den er ihr geschrieben hatte, fand sich auch nur der kleinste Hinweis darauf, worum es überhaupt ging. Er war ihr absolut keine Hilfe. Mr Rafiel, dachte sie, hatte es auf jeden Fall darauf angelegt, dass ihr der Brief keine Hilfe war. Er hatte – wie sollte sie es nennen? – andere Vorstellungen gehabt. Trotzdem konnte sie nicht einfach ins Blaue hinein loslegen, ohne irgendetwas zu wissen. Man hätte es fast als Kreuzworträtsel beschreiben können, bei dem jegliche Hinweise fehlten. Es musste aber Hinweise geben. Sie musste