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Die impulsive Sharon erbt von ihrer Großmutter eine Villa. Dort will sie ihren Traum verwirklichen, einen Antiquitätenladen zu eröffnen. Bei Umbauarbeiten lernt die sommersprossige junge Frau ihren Nachbarn Victor kennen, der als Zimmermann arbeitet. Das zumindest denkt sie und heuert ihn an, ihr beim Renovieren zu helfen. Victor ist reserviert, aber trotzdem ist Sharon von ihm angezogen. Victor ist jedoch nicht der, der er vorzugeben scheint. Als Sharon erfährt, wer er wirklich ist, weiß sie nicht, ob ihre Liebe noch zu retten ist.
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Seitenzahl: 298
Nora Roberts
Das schönste Geschenk
Roman
Aus dem Amerikanischen von Patrick Hansen
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
1. KAPITEL
Die Morgensonne schien hell über die Berggipfel und ließ mit ihren Strahlen die ersten bunten Herbstblätter im tiefdunklen Grün der Bäume golden erscheinen. Sharon ging den Weg neben den mit Heckenkirschen überwucherten Zäunen entlang. Die letzten Blüten verbreiteten einen süßen Duft, Vögel zwitscherten, und in der Ferne holte ein Bauer auf seinem Feld das letzte Heu ein. Ein Auto fuhr vorbei. Der Fahrer hob freundlich grüßend die Hand. Sharon winkte zurück. Es war schön, wieder zu Hause zu sein.
Wie sie es so oft als Kind getan hatte, brach Sharon im Vorbeigehen eine Blüte der Heckenkirschen ab. Wenn man die rosafarbenen Kelche zwischen den Fingern zerrieb, verstärkte sich der süße Duft, der für Sharon ebenso zum Sommer gehörte wie der Rauch des Gartengrills und der Geruch von frischem grünen Gras. Doch der Sommer neigte sich bereits seinem Ende zu.
Sharon freute sich auf den Herbst, denn dann waren die Berge und Wälder am schönsten. Die Luft war klar und frisch. Und wenn Wind aufkam, wirbelte das bunte Laub durch die Luft, der Waldboden raschelte geheimnisvoll, und es roch nach Holzfeuer.
Nach vier Jahren in der Stadt war Sharon nach Hause zurückgekehrt. Das schmale zweistöckige Haus ihrer verstorbenen Großmutter gehörte jetzt ihr und auch das dazugehörige Wäldchen.
Die Berge und Wälder waren dieselben geblieben, Sharon jedoch hatte sich verändert …
Zwar sah sie noch genauso aus wie damals, als sie Maryland verlassen hatte, um eine Stelle an einer höheren Schule in Baltimore anzunehmen. Sharons zierliche Figur hatte nie die üppigen Kurven entwickelt, die sie sich immer erträumt hatte. Wenn sie lächelte, zeigten sich in ihrem herzförmigen Gesicht mit dem glatten pfirsichfarbenen Teint zwei Grübchen. Dabei hätte Sharon viel lieber hohe Wangenknochen gehabt. Ihre Stupsnase war übersät mit Sommersprossen, die ihrem Gesicht einen lebhaften, fröhlichen Ausdruck verliehen.
Die Augen leuchteten groß und dunkelbraun unter den schmalen geschwungenen Brauen. Jede Gefühlsregung spiegelte sich in ihnen wider. Sharon trug ihr Haar kurz, die honigfarbenen Locken gaben einen reizvollen Rahmen für ihr Gesicht.
Die meisten Leute bezeichneten sie als niedlich. Sharon hasste dieses Wort, aber sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Sie war eben keine Schönheit mit Sex-Appeal. Daran ließ sich nichts ändern. Ihre Attraktivität bestand in einer gesunden Vitalität.
Als sie um die letzte Wegbiegung kam und der Ort vor ihr auftauchte, sah sie sich sekundenlang als Kind, als junges Mädchen und als fast erwachsene junge Frau diesen Weg gehen. Hier war ihr Zuhause, ihre Heimat.
Fröhlich lief Sharon die letzten Meter und stürmte in das Lebensmittelgeschäft ihrer Freundin Donna. Die Ladenglocke bimmelte laut, als sie ungestüm die Tür hinter sich zuschlug.
»Hallo!«, begrüßte sie die Freundin vergnügt.
»Guten Morgen«, sagte Donna lachend. »Du bist aber heute schon früh unterwegs.«
»Als ich aufstand, merkte ich, dass mir der Kaffee ausgegangen ist.« Sie entdeckte eine Schachtel mit frischen Krapfen auf dem Ladentisch und leckte sich genüsslich die Lippen. Zielstrebig ging sie auf das frische Gebäck zu. »Oh Donna, sind die mit Konfitüre gefüllt?«
»Ja.« Donna seufzte, während sie mit einem Anflug von Neid zusah, wie Sharon einen Krapfen nahm und herzhaft hineinbiss. Fast zwanzig Jahre lang hatte sie die Freundin jede Menge essen sehen, und dabei hatte Sharon nicht ein Gramm zugenommen.
Obwohl die beiden praktisch zusammen aufgewachsen waren, unterschieden sie sich in jeder Hinsicht voneinander. Sharon war blond, Donna war dunkel, Sharon war klein, Donna war groß und besaß üppige Kurven. Von klein auf hatte sie Sharon die Führungsrolle überlassen. Denn Sharon war immer die Abenteuerlustige gewesen, während Donna sie stets zu bremsen versucht hatte, um dann jedoch jeden Plan, den Sharon ausheckte, mitzumachen.
»Na, hast du dich gut eingelebt?«, erkundigte sich Donna.
»Ziemlich«, erwiderte Sharon mit vollem Mund.
»Ich habe dich seit deiner Rückkehr kaum zu Gesicht bekommen.«
»Es gibt so viel im Haus zu tun. Großmutter hat sich in den letzten Jahren nicht mehr so recht um alles kümmern können.« In ihrer Stimme schwangen Zärtlichkeit und Trauer. »Sie hat sich immer mehr für ihren Garten als für das undichte Dach interessiert. Wenn ich bei ihr geblieben wäre …«
»Oh, fang doch nicht wieder an, dir Vorwürfe zu machen«, unterbrach Donna sie. »Du weißt, wie sehr sie sich wünschte, dass du die Stelle als Lehrerin annahmst. Sie ist vierundneunzig Jahre alt geworden. Den wenigsten Menschen ist ein so langes Leben vergönnt. Und sie war bis zur letzten Minute eine energische alte Dame.«
Sharon lachte. »Da hast du recht. Manchmal habe ich das Gefühl, sie sitzt in ihrem Schaukelstuhl in der Küche und passt auf, dass ich auch das Geschirr spüle.«
»Ich bin froh, dass du wieder hier bist«, meinte Donna lächelnd. »Wir haben dich vermisst.«
Sharon lehnte sich lässig an die Theke. »Wo ist Benji?«
»Dave passt auf ihn auf.« Donna sah richtig stolz aus, wenn sie von ihrem Mann und dem kleinen Sohn sprach. »Wenn ich den Wildfang frei im Laden herumlaufen lasse, gibt es immer Ärger. Nach dem Mittagessen übernimmt Dave das Geschäft, und ich gehe nach oben.«
»Es ist schon sehr praktisch, dass ihr direkt über eurem Laden wohnt«, bemerkte Sharon.
Das war das Stichwort, auf das Donna gewartet hatte. Sofort ging sie auf das Thema ein. »Sharon, trägst du dich immer noch mit dem Gedanken, dein Haus umzubauen?«
»Ich bin fest entschlossen«, erklärte Sharon. »Ein kleiner Antiquitätenladen hat in dieser Gegend bestimmt Aussicht auf Erfolg, zumal mit dem Museum, das ich angliedern will.«
»Aber ein eigenes Geschäft ist ein solches Risiko«, gab Donna zu bedenken, die der Glanz in Sharons Augen beunruhigte. Er zeigte sich immer dann, wenn sie einen ihrer waghalsigen Pläne ausheckte. »Denk doch nur an die Ausgaben …«
»Ich habe genug Geld«, tat Sharon Donnas pessimistischen Einwand ab. »Und genug Ware, um den Laden fürs Erste zu füllen. Das Haus ist vollgestellt mit Antiquitäten. Ich werde diesen Plan verwirklichen, Donna«, versicherte sie, um die Skepsis der Freundin zu zerstreuen. »Mein eigenes Haus, mein eigenes Geschäft.« Sie deutete auf die gefüllten Regale ringsum. »Gerade du solltest das doch verstehen.«
»Ja, aber ich habe Dave, der mir hilft und in jeder Situation zur Seite steht. Ich glaube nicht, dass ich das Geschäft ganz allein führen könnte.«
»Es wird schon gut gehen. Ich weiß bereits ganz genau, wie alles aussehen wird, wenn es fertig ist.«
Versonnen blickte sie vor sich hin.
»Aber bedenke doch nur die Umbauten.«
»An der Architektur des Hauses werde ich nichts ändern«, erklärte Sharon. »Das Wichtigste sind die Reparaturen, und die hätte ich ohnehin vornehmen müssen.«
»Aber du brauchst einen Gewerbeschein und alle möglichen anderen Papiere.«
»Ich habe bereits alles beantragt.«
Donnas resignierten Seufzer tat sie mit einem sorglosen Lachen ab. »Die Lage meines Landes ist zwar nicht erstklassig, aber ich weiß genug über Antiquitäten, und ich kann dir jede Schlacht des amerikanischen Bürgerkrieges auswendig hersagen.«
Donna konnte auf diese Behauptung nicht näher eingehen, denn in diesem Moment bimmelte die Ladenglocke, und ein Kunde trat ein. »Hallo, Stuart«, begrüßte sie den jungen Mann, mit dem sie die nächsten zehn Minuten die Neuigkeiten des kleinen Ortes besprach, während sie seine Einkäufe zusammenpackte und das Geld kassierte.
»Stuart ist noch immer ganz der Alte«, sagte Donna, nachdem der junge Mann den Laden verlassen hatte. »Kannst du dich noch an unsere Schulzeit erinnern? Er war ein paar Klassen über uns, Kapitän der Fußballmannschaft und sogar im verschwitzten Trainingsanzug noch der bestaussehende Junge.«
»Dafür hat er nie viel im Kopf gehabt«, bemerkte Sharon trocken.
»Ich weiß, du warst immer mehr für die intellektuellen Typen. Hej,«, fuhr sie fort, ehe Sharon etwas erwidern konnte, »ich habe vielleicht einen für dich.«
»Was hast du?«
»Einen Intellektuellen. So kommt er mir wenigstens vor. Er ist außerdem dein Nachbar«, fügte sie mit verschmitztem Lächeln hinzu.
»Mein Nachbar?«, fragte Sharon verständnislos.
»Er hat das Haus vom alten Farley gekauft. Letzte Woche ist er eingezogen.«
»Das Haus vom alten Farley?« Fragend hob Sharon die Brauen. »Nach dem Feuer damals ist doch von dem Haus nicht mehr viel übrig geblieben. Welcher Dummkopf kauft denn so einen heruntergekommenen Schuppen?«
»Er heißt Victor Banning und kommt aus Washington«, erklärte Donna.
Sharon zuckte die Schultern. »Das Land ist wahrscheinlich einiges wert, auch wenn mit dem Haus nicht mehr viel anzufangen ist.« Sie ging zu einem Regal, nahm sich ein Pfund Kaffee heraus und stellte die Dose auf den Ladentisch. »Bestimmt hat er das Grundstück gekauft, damit er etwas von der Steuer abschreiben kann.«
»Das glaube ich nicht.« Donna tippte die Preise für den Pfannkuchen und den Kaffee in die Ladenkasse und wartete, bis Sharon ein paar Geldscheine aus ihrer Hosentasche gefischt hatte. »Er renoviert das Haus.«
»Der Typ muss Unternehmungsgeist besitzen.« Abwesend steckte Sharon das Wechselgeld ein.
»Und er macht alles ganz allein«, fügte Donna hinzu, während sie ein paar Schachteln mit Süßigkeiten auf dem Ladentisch zurechtrückte. »Ich glaube nicht, dass er viel Geld dafür ausgeben kann. Er hat nämlich keine Arbeit.«
»Oh.« Sofort war Sharons Mitleid geweckt.
»Ich habe gehört, er soll sehr geschickt sein. Archie Moler hat ihm vor ein paar Tagen eine Ladung Bauholz geliefert. Er sagte, dass er die alte Veranda schon durch eine neue ersetzt hätte. Aber der Mann besitzt kaum Möbel. Kisten voller Bücher, sonst nichts. Und …« Sie hielt einen Moment inne und meinte dann verträumt: »Er sieht toll aus.«
»Du bist eine verheiratete Frau. Vergiss das nicht«, erinnerte Sharon sie lachend, während sie bereits überlegte, welche Möbel sie dem Mann abtreten könnte.
»Ich schaue ihn trotzdem gern an«, seufzte Donna. »Er ist groß und dunkelhaarig, mit einem etwas verschlossenen Gesicht, sehr markant. Etwas schüchtern. Und erst seine Schultern!«
»Breite Schultern hast du ja schon immer gemocht.«
Donna lachte. »Mir wäre er ein bisschen zu schlank. Aber mit dem Gesicht würde ich ihn trotzdem nehmen. Er lebt sehr abgeschieden, spricht kaum ein Wort.«
»Es ist nicht einfach hier für Fremde. Vor allem, wenn man keine Arbeit hat. Was glaubst du …«
Hier wurde sie vom Läuten der Ladenglocke unterbrochen. Sie blickte auf und vergaß, was sie die Freundin hatte fragen wollen.
Victor Banning war groß, so wie Donna gesagt hatte. In den wenigen Sekunden, in denen sie sich anschauten, nahm Sharon jedes Detail seiner Erscheinung in sich auf. Ja, er war schlank. Die Schultern waren breit und die Arme muskulös. Sein Gesicht war gebräunt. Sharon fiel das feste energische Kinn auf, das dichte dunkle Haar, das ihm in die hohe Stirn fiel. Und vor allem der Mund. Sein Mund war richtig schön. Seine klaren dunkelblauen Augen blickten kühl. Er hatte etwas Arrogantes, Entrücktes an sich und strahlte doch geballte Energie aus.
Sharon lächelte. Der Mann nickte ihr knapp zu und ging dann in den hinteren Teil des Ladens.
»Wann willst du dein Geschäft eröffnen?«, fragte Donna, während sie aus dem Augenwinkel den Mann beobachtete.
»Was?«, fragte Sharon zerstreut.
»Ich spreche von deinem Geschäft«, erklärte Donna vielsagend.
»Oh, in drei Monaten wahrscheinlich.« Abwesend schaute sie sich um, als sähe sie den Laden ihrer Freundin heute zum ersten Mal. »Es gibt noch eine Menge zu tun, bevor es so weit ist.«
Er kam mit einem Liter Milch zurück, den er auf die Ladentheke stellte, während er seine Brieftasche zog. Als Donna ihm sein Wechselgeld zurückgab, warf sie Sharon einen verstohlenen Blick zu. Und dann verließ der Mann den Laden, ohne dass er auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte.
»Das«, erklärte Donna großspurig, »war Victor Banning.«
»Ja«, sagte Sharon und atmete unwillkürlich tief aus. »Das habe ich mir gedacht.«
»Jetzt kannst du dir vielleicht vorstellen, was ich gemeint habe. Er sieht großartig aus, aber als freundlich kann man ihn nicht bezeichnen.«
»Nein.« Mehr sagte Sharon nicht dazu. Sie ging zur Tür. »Bis später, Donna.«
»Sharon!«, rief Donna ihr lachend hinterher. »Du hast deinen Kaffee vergessen.«
»Was? Nein, danke«, meinte sie zerstreut. »Ich trinke später eine Tasse.«
Die Tür fiel hinter ihr zu. Donna stand mit der Büchse Kaffee in der Hand da und schaute ihr verständnislos nach. »Was ist denn jetzt in sie gefahren?«, fragte sie sich laut.
Es war, als hätte sie ihr ganzes Leben lang auf dieses kurze stumme Zusammentreffen mit diesem Mann gewartet. Wiedererkennen. Warum kam ihr dieses Wort plötzlich in den Sinn?
Ja, sie hatte ihn erkannt, und zwar nicht aufgrund von Donnas Beschreibung, sondern aus einem instinktiven Wissen um ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte heraus. Er war der Mann, auf den sie immer gewartet hatte.
Lächerlich, dachte sie. Vollkommen idiotisch. Sie kannte ihn nicht, hatte nicht einmal seine Stimme gehört. Kein vernünftiger Mensch konnte einem Fremden gegenüber so stark empfinden. Wahrscheinlich hatte sie so heftig auf ihn reagiert, weil sie und Donna gerade über ihn gesprochen hatten.
Sie bog von der Hauptstraße ab und stieg den steilen Feldweg bergan, der zu ihrem Haus hinführte.
Durch die Bäume konnte sie das Gebäude sehen, und wie immer erfüllte sie dieser vertraute Anblick mit Stolz und Freude. Es gehörte ihr. Der Wald, der schmale gewundene Bach, die Felsen, das alles gehörte ihr.
Sanfte grüne Hügelketten, Wälder und die blauen Berge am Horizont bildeten den Hintergrund für das vor über hundert Jahren aus grauem Feldstein errichtete Haus.
Ihre Großmutter hatte stets darauf geachtet, dass niemand in ihre Abgeschiedenheit eindrang. Von ihrem Grundstück aus konnte Sharon kein anderes Gebäude sehen. Wenn sie Gesellschaft haben wollte, musste sie fast einen halben Kilometer laufen. Und wenn sie keine Lust hatte, jemanden zu sehen, blieb sie einfach zu Hause. Nach vier Jahren in überfüllten Klassenzimmern freute sie sich auf das einsame Leben hier draußen.
Und mit etwas Glück würde sie bis Weihnachten ihren Antiquitätenladen eröffnet haben. Sobald das Dach und die Veranda repariert waren, würde sie mit den Umbauten im Haus beginnen. Sie wusste schon ganz genau, wie alles aussehen sollte.
Das Erdgeschoss wollte sie in zwei Bereiche unterteilen. Der eine Teil sollte Museum werden, in dem anderen würde sie ihre Antiquitäten zum Verkauf anbieten. Sie besaß genug Familienerbstücke, um ein kleines Museum damit zu füllen. Darüber hinaus waren die sechs Zimmer des Hauses vollgestopft mit antiken Möbeln. Wenn sie außerdem noch zu ein paar Auktionen ging, um ihren Bestand zu erweitern, würde sie einen guten Start haben.
Sie hatte ein wenig Geld gespart, und da das Haus mit keiner Hypothek belastet und auch ihr Auto abbezahlt war, konnte sie jeden Cent in ihr Geschäft stecken.
Während Sharon auf das Haus zuging, blieb sie kurz stehen und blickte auf den überwucherten Feldweg, der zu dem ehemaligen Besitz des alten Farley führte. Sie war neugierig, was denn dieser Victor Banning mit dem verkommenen Haus anstellte. Und, das gestand sie sich ehrlich ein, sie wollte ihn einfach wiedersehen. Schließlich würden sie Nachbarn sein. Es war vielleicht ratsam, dass sie sich vorstellte, um von Anfang an ein freundschaftliches Verhältnis mit ihm herzustellen.
Das Haus war noch nicht in Sicht, da hörte Sharon bereits das gedämpfte Echo von Hammerschlägen. Ihr gefiel dieses Geräusch. Es bedeutete Arbeit und Fortschritt. Sie beschleunigte ihre Schritte.
Sharon befand sich noch im Schatten der Bäume, als sie Victor Banning sah.
Er stand auf der neu gebauten Veranda und war gerade damit beschäftigt, das Geländer anzubringen. Er hatte sein Hemd ausgezogen, und seine gebräunte Haut glänzte in der Sonne.
Als er das schwere Geländer aufhob und auf die Stützpfosten legte, traten die Muskeln auf seinem Rücken und seinen Schultern hervor. Er konzentrierte sich so auf seine Arbeit, dass er Sharon, die am Waldrand stand und ihn beobachtete, gar nicht bemerkte. Trotz der anstrengenden Arbeit schien er völlig entspannt zu sein. Jetzt wirkte sein Mund nicht mehr hart, und auch der Ausdruck von Kälte war aus seinen Augen verschwunden.
Sharon betrat die Lichtung, und im selben Moment blickte Victor Banning abrupt auf. Sofort nahm sein Gesicht einen verärgerten, misstrauischen Ausdruck an. Doch Sharon sah darüber hinweg. Lächelnd ging sie auf ihn zu.
»Hallo.« Die Grübchen in ihren Wangen vertieften sich. »Ich bin Sharon Abbott. Mir gehört das Haus am anderen Ende des Feldwegs.«
Victor betrachtete sie stumm. Was will sie von mir?, dachte er, während er den Hammer hob, um das Geländer festzunageln.
Sharon lächelte noch immer. Eingehend betrachtete sie das Haus. »Sie haben sich ja ein schönes Stück Arbeit vorgenommen«, erklärte sie unbefangen und steckte die Hände in die Hosentaschen. Sie blickte an dem Haus empor. »Es ist jammerschade, dass das Feuer einen so großen Schaden angerichtet hat. Und dann hat sich jahrelang niemand um das Haus gekümmert.« Interessiert schaute sie ihn an. »Sind Sie Schreiner?«
Victor zögerte einen Moment und zuckte dann gleichgültig die Schultern. Es entsprach ja teilweise der Wahrheit. »Ja«, sagte er knapp.
»Wie praktisch.« Sharon erklärte sich sein Zögern damit, dass es ihm peinlich war, arbeitslos zu sein. »Wenn Sie aus Washington kommen, muss das Leben hier ja eine ziemliche Umstellung für Sie bedeuten.« Als er daraufhin fragend die Brauen hob, lachte sie. »Entschuldigen Sie. Das ist der Fluch der Kleinstadt. Neuigkeiten verbreiten sich rasend schnell. Vor allem, wenn jemand aus dem Flachland zuzieht.«
»Flachland?« Victor lehnte sich an den Pfosten des Geländers.
»Sie kommen aus der Stadt. Das ist für uns Flachland.« Sie lachte vergnügt. »Auch wenn Sie zwanzig Jahre hier wohnen, sind Sie noch ein Zugereister. Genauso wie dieses Haus immer das Haus des alten Farley bleiben wird.«
»Es ist mir ziemlich egal, wie man dieses Haus nennt«, bemerkte er abweisend.
Bei dieser unfreundlichen Antwort fiel ein Schatten über ihr Gesicht. Sie ahnte, dass er viel zu stolz war, um einen Gefallen von ihr anzunehmen. Sie musste es anders anfangen.
»Auch ich renoviere gerade mein Haus«, sagte sie vorsichtig. »Meine Großmutter hat es nie über sich gebracht, etwas wegzuwerfen. Können Sie nicht vielleicht ein paar Stühle gebrauchen? Ich muss sie sonst auf den Dachboden schleppen. Es wäre mir ganz lieb, wenn ich sie loswerden könnte.«
Ausdruckslos schaute er sie an. »Ich habe alles, was ich benötige.«
Sharon hatte mit dieser Antwort gerechnet. »Falls Sie Ihre Meinung ändern, sie stehen auf dem Speicher. Das ist ein hübsches Stück Land«, bemerkte sie, während sie über die grünen Weiden schaute, die zu dem Anwesen gehörten. »Wollen Sie Vieh halten?«
Er betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Warum?«
Die Frage klang kalt und unfreundlich. Doch Sharon bemühte sich, darüber hinwegzuhören. »Ich kann mich noch daran erinnern, dass es hier einmal Kühe gab. Das war vor dem Feuer. Ich war damals noch ein kleines Mädchen. Wenn ich nachts im Bett lag, konnte ich im Sommer die Kühe muhen hören. Ich fand das wunderschön.«
»Ich habe nicht vor, mir Kühe zu halten«, antwortete er knapp und nahm wieder seinen Hammer in die Hand. Die Geste besagte eindeutig, dass er sie loswerden wollte.
Überrascht schaute Sharon ihn an. Nein, er war nicht schüchtern, sondern ganz einfach grob und unhöflich. »Ich bedaure, Sie bei Ihrer Arbeit gestört zu haben«, erklärte sie kühl. »Da Sie ein Fremder sind, möchte ich Ihnen einen Rat geben: Wenn Sie keine Eindringlinge wünschen, dann stellen Sie Verbotsschilder an den Grenzen Ihres Grundstücks auf.« Damit wandte sie sich ab und verschwand zwischen den Bäumen.
2. KAPITEL
So eine naseweise kleine Person, dachte Victor, während er nachdenklich mit dem Hammer gegen seine Hand klopfte. Er wusste, dass er sich unhöflich verhalten hatte, aber das störte ihn nicht im Geringsten. Er hatte nicht ein abgelegenes Stückchen Land in einem gottverlassenen Nest gekauft, um Gäste zu empfangen. Er kam sehr gut ohne Gesellschaft aus, vor allem ohne dieses blonde Naturkind mit seinen großen braunen Augen und den Grübchen.
Was erwartete sie nur von ihm? Wollte sie sich mit ihm unterhalten? Oder das Haus sehen? Er lachte verächtlich. Sie war wohl auf gute Nachbarschaft bedacht? Mit drei heftigen Schlägen trieb er einen Nagel in das Geländer. Er brauchte keine Nachbarn. Was er brauchte, war Zeit für sich selbst. Wie viele Jahre war es her, dass er sich diesen Luxus hatte leisten können?
Erneut schlug er einen Nagel in das Geländer. Es hatte ihm sehr missfallen, dass er sich vorhin in dem Lebensmittelladen sekundenlang so stark zu ihr hingezogen fühlte. Frauen spürten solch eine Schwäche mit sicherem Instinkt. Aber er würde sich nicht noch einmal ausnutzen lassen. Zu viele Narben erinnerten ihn daran, dass sich hinter großen unschuldigen Augen meist Berechnung verbarg.
Jetzt bin ich also Schreiner, dachte er. Das heruntergekommene Haus wieder aufzubauen war eine sinnvolle Arbeit, eine Arbeit, die ihm dabei helfen würde, wieder zu sich selbst zu finden. Der Vizepräsident seines Bauunternehmens konnte die Firma ruhig einmal für ein paar Monate allein führen. Er hatte einen Urlaub nötig. Und die kleine Blonde sollte sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Er war an einer nachbarschaftlichen Beziehung nicht interessiert.
Victor hörte plötzlich Blätter rascheln und drehte sich um. Sharon war zurückgekommen.
Zielstrebig ging sie auf ihn zu. Er fluchte leise vor sich hin. Langsam legte er den Hammer aus der Hand, um sie verärgert anzuschauen. »Nun?«, fragte er.
Sharon ließ sich von Victors Zurückhaltung nicht einschüchtern. An der untersten Verandastufe blieb sie stehen, um seinen abweisenden Blick ebenso zu erwidern. »Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind«, erklärte sie kühl. »Aber ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, dass sich direkt am Weg ein Nest mit Mokassinschlangen befindet, und zwar auf Ihrer Seite des Grundstücks.«
Skeptisch schaute Victor sie an. Unbeweglich hielt sie seinem prüfenden Blick stand. Als er nichts erwiderte, wandte sie sich zum Gehen. Sharon hatte sich kaum zwei Meter von ihm entfernt, als er sie zurückrief. »Warten Sie einen Moment. Sie müssen mir zeigen, wo es ist.«
»Ich muss Ihnen überhaupt nichts zeigen«, fing Sharon an, bevor ihr auffiel, dass er im Haus verschwunden war. Warum hatte sie ihm nur etwas von dem Nest gesagt? Warum war sie nicht einfach weitergegangen und hatte es ignoriert?
Sie hörte die Haustür zufallen und schaute auf. Mit einem Gewehr in der Hand kam Victor auf sie zu. »Gehen wir«, sagte er knapp und ging voraus, ohne sich nach ihr umzuschauen.
Stumm ging Sharon an ihm vorbei, um die Führung zu übernehmen. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen und deutete auf ein paar Felsbrocken und vermoderte Blätter. »Hier ist es.«
Victor trat einen Schritt näher. An dem Muster der kupferfarbenen Schlangenleiber konnte er die gefährlichen Tiere erkennen. Er hätte das Nest bestimmt nicht entdeckt. Es sei denn, er wäre direkt hineingetreten.
Schweigend beobachtete Sharon, wie er mit einem dicken Stock die Felsbrocken umdrehte. Im selben Moment hörte sie das drohende Zischen der Schlangen.
Weil Sharon die gereizten Tiere ansah, bemerkte sie nicht, wie Victor das Gewehr anlegte. Als der erste Schuss fiel, zuckte sie zusammen. Erschrocken schaute sie zu, wie Victor mit vier weiteren Schüssen den Giftschlangen den Garaus machte.
Nachdem er die Waffe gesichert hatte, schaute er Sharon an, deren Gesicht eine grünliche Färbung angenommen hatte. »Was ist los?«, erkundigte er sich.
»Sie hätten mich warnen sollen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Dann hätte ich das eben nicht mit ansehen müssen.«
Victor warf einen Blick auf das Bild des Grauens. Im Stillen verwünschte er sich für seine Unachtsamkeit. »Kommen Sie mit mir zurück ins Haus«, sagte er und nahm sie an ihrem Arm.
»Es geht mir schon wieder besser«, entgegnete Sharon abwehrend, während sie sich seinem Griff zu entziehen versuchte. Es war ihr peinlich, dass sie in seiner Gegenwart die Nerven verloren hatte. »Ich brauche Ihre Gastfreundschaft nicht«, setzte sie verärgert hinzu.
»Ich will nur vermeiden, dass Sie auf meinem Grundstück in Ohnmacht fallen«, gab er zurück, fasste ihren Arm fester und zog sie in Richtung der Veranda. »Warum sind Sie nicht einfach weitergegangen, nachdem Sie mir das Nest gezeigt hatten?«
»Oh, entschuldigen Sie«, sagte Sharon betreten. »Sie sind der unfreundlichste, unhöflichste Mann, der mir je begegnet ist.«
»Und ich dachte, meine Manieren seien tadellos«, entgegnete Victor, während er die Haustür öffnete und sie durch einen großen leeren Raum in die Küche führte.
Interessiert schaute sich Sharon in der Küche um. Victor hatte die Fensterrahmen erneuert, sie gebeizt und mit farblosem Lack überzogen. Er hatte die tragenden Balken freigelegt und das Holz aufgearbeitet, den alten Eichenfußboden abgezogen, versiegelt und gewachst. Er schien zu wissen, wie man mit Holz umging. Bei der Veranda hatte es sich nur um einfache Schreinerarbeit gehandelt. Doch die Renovierung der Küche bewies, dass er Stilempfinden und Sinn fürs Detail besaß.
Es erschien ihr unfair, dass ein Mann mit solchen Talenten arbeitslos war. Wahrscheinlich hatte er all seine Ersparnisse aufbringen müssen, um die Anzahlung für das Anwesen zu leisten. Denn selbst wenn er das Haus billig hatte erwerben können, so war das Grundstück erstklassiges Land und bestimmt sehr teuer gewesen. Dass er hier in diesen kahlen Räumen leben musste, tat ihr leid. Mitfühlend schaute sie ihn an.
Victor stellte einen Kessel mit Wasser auf den Herd. »Ich werde Ihnen Kaffee kochen.«
»Vielen Dank«, sagte sie lächelnd.
Victor hatte ihr den Rücken zugekehrt, um einen Becher vom Regal zu nehmen. »Sie müssen sich aber mit Pulverkaffee begnügen«, bemerkte er.
Sharon seufzte. »Mr. Banning … Victor«, verbesserte sie sich nach einigem Zögern und wartete darauf, dass er sich umdrehte. »Vielleicht haben Sie einen falschen Eindruck von mir gewonnen. Ich bin keine neugierige, naseweise Nachbarin. Es hat mich interessiert, was Sie aus dem alten Haus machen und wer Sie sind. Ich kenne jeden hier in einem Umkreis von fünf Kilometern.« Sie zuckte die Schultern und stand auf. »Ich wollte Sie nicht belästigen.«
Als sie an ihm vorbeigehen wollte, fasste Victor sie beim Arm. Sie war noch immer sehr blass, und ihre Haut fühlte sich kalt an. »Setzen Sie sich … Sharon«, sagte er.
Sekundenlang studierte sie sein Gesicht. Er wirkte distanziert und unnachgiebig, doch sie spürte, dass sich Freundlichkeit dahinter verbarg. Das stimmte sie etwas milder. »Ich trinke meinen Kaffee mit Unmengen von Milch und Zucker«, warnte sie.
Er ließ sich zu einem zurückhaltenden Lächeln herab. »Das ist ja abscheulich.«
»Ja. Ich weiß. Haben Sie Zucker im Haus?«
»Auf dem Küchentisch.«
Victor goss kochendes Wasser in den Becher, und nachdem er einen Moment gezögert hatte, nahm er einen zweiten Becher vom Regal, um auch sich einen Kaffee aufzubrühen. Dann stellte er die beiden Becher auf einen alten Klapptisch und setzte sich zu Sharon.
»Das ist wirklich ein wunderschönes Stück«, meinte Sharon und strich mit den Fingern über die Tischplatte. »Wenn es erst restauriert ist, wird es einiges wert sein.« Sie füllte drei gehäufte Löffel Zucker in ihren Kaffee. »Verstehen Sie etwas von Antiquitäten?«
»Nicht allzu viel.«
»Sie sind meine Leidenschaft. Ich habe vor, einen Antiquitätenladen zu eröffnen.« Abwesend strich sie sich die blonden Locken aus der Stirn. »Komisch, wir lassen uns beide zur gleichen Zeit hier nieder. Ich habe die letzten vier Jahre amerikanische Geschichte an einer höheren Schule in Baltimore unterrichtet.«
»Und Sie haben Ihren Beruf aufgegeben?« Victor bemerkte, dass ihre Hände ebenso zierlich waren wie ihre übrige Gestalt. Ihre Handgelenke waren schmal, ihre Finger schlank.
»In diesem Beruf muss man sich an zu viele Vorschriften halten«, erklärte Sharon.
»Und Vorschriften mögen Sie nicht?«
»Nur meine eigenen.« Lachend schüttelte sie den Kopf. »Ich war eigentlich eine recht gute Lehrerin. Nur mit der Disziplin hatte ich Probleme.«
»Und Ihre Schüler haben das ausgenutzt?«
Sharon nickte zustimmend. »Bei jeder nur möglichen Gelegenheit.«
»Trotzdem haben Sie vier Jahre lang unterrichtet?«
»Ich konnte doch nicht so schnell aufgeben.« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hände. »Wie so viele Leute, die in der Kleinstadt groß geworden sind, habe auch ich mir eingebildet, in der Stadt mein Glück zu finden. Ich wollte teilhaben an dem hektischen Leben, mich amüsieren. Aber die vier Jahre haben mir gereicht.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Und dann wiederum gibt es Leute, die aus der Stadt aufs Land ziehen, um Tomaten zu züchten und sich Ziegen zu halten. Man ist eben nie zufrieden mit dem, was man hat.«
»Da mögen Sie recht haben«, sagte er abwesend, während er sie beobachtete. Victor entdeckte winzige goldene Pünktchen in ihrer Iris.
»Warum sind Sie ausgerechnet nach Sharpsburg gezogen?«, fragte Sharon.
Victor zuckte lässig die Schultern. Fragen zu seiner Person wich er aus. »Ich habe in Hagerstown zu tun gehabt. Dadurch wurde ich auf diese Gegend aufmerksam. Sie gefiel mir.«
»Das Leben in dieser Abgeschiedenheit kann manchmal sehr unbequem sein. Besonders im Winter. Obwohl es mir nie etwas ausgemacht hat, eingeschneit zu werden. Einmal ist der Strom zweiunddreißig Stunden lang ausgefallen. Großmutter und ich haben uns am Holzofen abgewechselt, wir haben sogar darauf gekocht. Wir hatten das Gefühl, die einzigen Menschen auf der Welt zu sein.«
»Und das hat Ihnen nichts ausgemacht?«
»Zweiunddreißig Stunden lang fand ich es schön«, meinte sie lachend. »Ich bin kein Einsiedler.«
»Sie lieben die Berge, nicht wahr?«
Sharon schaute ihn an. »Ja.«
Sie wollte ihn anlächeln, doch so weit kam es nicht. Als sich ihre Blicke trafen, war es so wie bei ihrem ersten Zusammentreffen in Donnas Laden. Nur viel beunruhigender. Sharon ahnte, dass es immer wieder passieren würde. Sie brauchte Zeit, um zu entscheiden, was sie dagegen unternehmen konnte. Unvermittelt stand sie auf, trug ihren Becher zur Spüle und wusch ihn aus.
Ihre Reaktion gefiel Victor. »Sie sind eine attraktive Frau«, sagte er. Er verstand es, seiner Stimme einen weichen, schmeichelnden Klang zu geben.
Lachend drehte Sharon sich zu ihm um. »Das perfekte Gesicht für eine Haferflockenreklame, was?« Ihr verschmitztes Lächeln war äußerst anziehend. »Ich wäre zwar lieber sexy, aber ein gesundes Aussehen ist auch nicht zu verachten.«
Ihr Verhalten war arglos und unbefangen. Wieder fragte Victor sich, was wohl dahintersteckte. Nachdenklich beobachtete er sie.
Sharon war so damit beschäftigt, die Küche anzuschauen, dass ihr sein prüfender Blick entging. Eifrig drehte sie sich zu ihm um. »Ich habe eine Idee«, verkündete sie. »Bevor ich meinen Laden eröffnen kann, muss ich noch eine Menge Umbauten und Reparaturen vornehmen. Die einfacheren Arbeiten und das Streichen kann ich selbst erledigen, aber mit den Schreinerarbeiten werde ich nicht allein fertig.«
Aha, dachte Victor. Jetzt lässt sie die Katze aus dem Sack. Sie will einen Dummen finden, der ihr die Arbeit macht. Sie mimt das hilflose Weibchen und glaubt damit, an meine Eitelkeit und meine männlichen Beschützerinstinkte zu appellieren.
»Ich habe genug mit meinem Haus zu tun«, erwiderte er kühl.
»Oh, ich weiß, dass Sie nicht viel Zeit aufbringen können. Aber vielleicht finden wir trotzdem einen Weg.« Ihre Idee gefiel ihr so gut, dass sie nicht mehr zu bremsen war. »Ich kann Ihnen natürlich nicht das zahlen, was Sie in der Stadt bekommen würden. Vielleicht fünf Dollar die Stunde? Wenn Sie zehn oder fünfzehn Stunden pro Woche bei mir arbeiten könnten …« Sie biss sich auf die Unterlippe. Es war ein jämmerlicher Betrag. Aber mehr konnte sie im Moment wirklich nicht aufbringen.
Ungläubig schaute Victor sie an. »Sie wollen mir einen Job anbieten?«
Sharon errötete ein wenig. Sie hatte ihn doch hoffentlich nicht beleidigt? »Nur einen Teilzeitjob, falls Sie daran Interesse hätten. Ich weiß, dass Sie woanders mehr verdienen können, und wenn Sie eine andere Arbeit finden, wäre ich Ihnen nicht böse, wenn Sie bei mir wieder aufhörten. Aber in der Zwischenzeit …« Sie hielt inne, um seine Reaktion abzuwarten.
»Meinen Sie das ernst?«, fragte Victor nach einer Weile.
»Nun … ja.«
»Warum?«
»Ich brauche einen Schreiner, und Sie sind einer. Es gibt eine Menge Arbeit in meinem Haus. Vielleicht wollen Sie damit nichts zu tun haben. Aber warum denken Sie nicht darüber nach und kommen morgen bei mir vorbei, um sich das Haus anzusehen?«
Sie ging zur Tür und hatte schon die Klinke in der Hand, da drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Vielen Dank für den Kaffee.«
Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, stand Victor einige Minuten da und blickte nachdenklich die Tür an. Dann fing er an zu lachen. Es war zu komisch, was ihm da gerade widerfahren war.
Am nächsten Morgen stand Sharon schon früh auf. Sie hatte sich eine Menge vorgenommen und wollte ihre Pläne systematisch durchführen.
Sie brauchte eine Aufstellung der Dinge, die sie behalten, zum Verkauf anbieten oder im Museum ausstellen würde.
Sharon hatte beschlossen, im Erdgeschoss anzufangen und sich dann langsam ins zweite Stockwerk vorzuarbeiten. Jetzt stand Sharon mit einem Notizblock im Wohnzimmer und betrachtete ihre Schätze. Sie durfte jetzt nicht sentimental werden. Wäre ihre Großmutter noch am Leben gewesen, dann hätte sie ihr den Rat gegeben, ihren Plan durchzuführen, solange sie von seiner Richtigkeit überzeugt war. Und Sharon wusste, dass ihr Vorhaben richtig war.
An einer Wand hing ein Regal, auf dem ein paar Stücke standen, die für ihr Museum bestimmt waren. Sie riss ein Blatt Papier von ihrem Block. Da lagen eine Soldatenmütze aus dem Bürgerkrieg und eine Gürtelschnalle, eine zerbeulte Trompete, der Säbel eines Kavallerie-Offiziers und eine Feldflasche. Sharon wollte jedes Stück auflisten, datieren und in Glasvitrinen ausstellen.
Ebenso wie ihre Großmutter hing auch Sharon an den Erinnerungsstücken der Geschichte. Doch sie ging bei Weitem nicht so nachlässig damit um. Und deshalb war sie darauf bedacht, diese Dinge endlich angemessen aufzubewahren und auszustellen. Gedankenverloren nahm sie die alte Trompete vom Regal und legte sie in einen Karton. Vorsichtig packte sie ein Stück nach dem anderen in Seidenpapier, bis das Regal fast leer war. Nur auf dem obersten Bord standen noch ein paar Dinge, die sie jedoch nicht erreichen konnte.
Weil sie keine Lust hatte, die schwere Leiter herbeizuschleppen, zog sie sich einfach einen Stuhl heran. Sie war gerade daraufgestiegen und reckte sich nach dem obersten Bord, als es an der Tür klopfte.
»Es ist offen!«, rief sie, während sie einen gefährlichen Balanceakt auf dem Stuhl vollführte. Als sie trotz aller Bemühungen das oberste Bord immer noch nicht erreichte, schimpfte sie unterdrückt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte es noch einmal. In diesem Moment packte sie jemand beim Arm. Sie verlor die Balance und wurde im selben Augenblick von Victor Banning aufgefangen. »Sie haben mich zu Tode erschreckt!«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Wissen Sie nicht, dass man nie einen Stuhl als Leiter benutzen sollte?« Er fasste sie um die Taille und hob sie vom Stuhl. Ihr Haar war zerzaust, und sie hielt sich an seinen Armen fest, während sie zu ihm auflächelte. Ohne zu überlegen, was er tat, beugte sich Victor zu ihr hinab.
Sharon wehrte sich nicht dagegen. Im Gegenteil, sie stellte fest, dass sie freudig überrascht war. Dann entspannte sie sich. Obwohl sie mit diesem Kuss so früh noch nicht gerechnet hatte, war ihr klar gewesen, dass es irgendwann so kommen musste. Und deshalb gab sie sich ganz ihren Empfindungen hin.
Sein Kuss war hart, ohne jede Spur von Zärtlichkeit, keine Geste der Zuneigung oder gar Liebe. Doch sie fühlte, dass Victor auch zärtlich sein konnte. Sharon hob die Hand, um seine Wange zu streicheln und den Aufruhr der Gefühle zu besänftigen, den sie in ihm spürte. Sofort ließ Victor sie los. Die Berührung ihrer Hand war zu vertraulich gewesen.
Irgendwie ahnte Sharon, dass sie auf sein impulsives Verhalten besser nicht einging. Auch wenn sie sich danach sehnte, noch einmal von ihm in die Arme genommen zu werden. Lächelnd blickte sie zu ihm auf. »Guten Morgen«, sagte sie so unbefangen wie möglich.
»Guten Morgen«, erwiderte er zurückhaltend.